Es ist schon interessant, dass die Corona-Pandemie einige literarische Texte inspiriert hat, in denen sich das Krisenhafte in Paarbeziehungen manifestiert; die Erfahrung der Isolation legt augenscheinlich auch literarisch das Kammerspielhafte nahe, das wiederum Unstimmigkeiten und Missklänge zum Vorschein bringt, über die man ohne äußere Krise vielleicht weiter hinweggelebt hätte. Wie in Daniela Kriens gleichfalls während der Pandemie spielendem Roman Der Brand (vgl. Rezension vom 23.5.2023) beschränkt sich die Erzählgegenwart in Ulrich Woelks Mittsommertage auf genau eine Woche im Leben eines Paares, das schon lange zusammen ist und bisher eigentlich ziemlich gut miteinander ausgekommen ist. Und auch wenn die Pandemie in Woelks Roman an der Oberfläche keine große Rolle spielt und der Handlungsrahmen der Geschichte über den kleinen privaten Beziehungskern weit hinausreicht, beherrscht ein wachsendes Gefühl der Isolation das Fühlen und Handeln der Protagonistin. Während diese beginnt, scheinbar irrelevante Vorfälle als Vorzeichen für eine sich ankündigende Krise in ihrem Leben zu deuten, macht der Erzählverlauf deutlich, dass sich in dieser persönlichen Krise einer glücklich verheirateten und beruflich erfolgreichen Frau übergreifendere Krisensymptome unserer Gegenwart spiegeln. Gerade das Ineinandergreifen von Privatem und Politischen macht diese Romane überhaupt relevant und lesenswert, wobei Ulrich Woelk im Vergleich zu Daniela Krien noch ein bisschen politischer schreibt.
Ein literarisches Gespür für die individuellen Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen hat Ulrich Woelk schon in Der Sommer meiner Mutter in einer beeindruckenden Erzählung unter Beweis gestellt, in der er eine berührend-ehrliche coming-of-age-Geschichte auf überzeugende Weise mit einer so beispielhaften wie traurigen Emanzipationsgeschichte verschränkte: Während die Mondlandung eine ganze Welt in Atem hält, lernt ein Junge zusammen mit einem älteren Nachbarsmädchen das im Umbruch begriffene und verwirrende Geschlechterrollenverständnis kennen, das von seiner Mutter, in mehrfacher Hinsicht die heimliche Hauptfigur der Erzählung, zur allgemeinen Bestürzung infrage gestellt wird. Der gesellschaftliche Aufbruch überkreuzt sich hier mit einer privaten Tragödie, die einem vor allem deshalb so nahegeht, weil Ulrich Woelk die Perspektive des Jungen erzählerisch-stilistisch in großer Glaubwürdigkeit einzunehmen versteht.
Für Mittsommertage wählt Woelk die Perspektive der Protagonistin Ruth, und auch diesmal gelingt die literarische Einfühlung wieder ganz wunderbar, ja der Roman ist ein schönes Beispiel dafür, dass gute Literatur geschlechtsunabhängig ist, dass sich ein männlicher Autor auch in eine weibliche Erzählerin hineinversetzen kann, und umgekehrt.
Wer ist nun dieses Paar, dessen Welt innerhalb einer Woche aus den Angeln gehoben wird? Die Erzählerin Ruth ist Professorin für Umweltethik an der philosophischen Fakultät in Berlin und wurde, eine Auszeichnung ihrer fachlichen und zwischenmenschlichen Kompetenz, gerade frisch in den Ethikrat gewählt. Ihr Mann Ben erfährt gerade seinerseits berufliche Anerkennung, er hat mit seinem Büro einen wichtigen Architekturwettbewerb gewonnen. Seine Tochter, Ruths Ziehtochter, ist vor kurzem ausgezogen, eine klimabewusste Studentin, die sich für students for future engagiert. Soweit die alles andere als umwälzenden und ja eigentlich eher vielversprechenden Veränderungen im Leben der kleinen Familie. Zu Beginn der Erzählung steht jedoch ein auf den ersten Blick nebensächlicher Vorfall; Ruth wird beim frühmorgendlichen Joggen von einem Hund angesprungen und gebissen. Die Verletzung nimmt sie mehr mit, als sie gedacht hätte, körperlich und psychisch, und die anfängliche Irritation darüber nimmt mehr und mehr die Gestalt einer nachhaltigen Verstörung an, einer existentiellen Verunsicherung, die sich im Lauf der Woche in kleinen und größeren Katastrophen in ihrem Leben Bahn bricht.
Woelk verleiht seinem schmalen Roman eine große Dichte, indem er verschiedene Einflüsse aus Vergangenheit und Gegenwart ineinandergreifen lässt. So war Ruth als Studentin, halb aus Liebe, halb aus politischer Überzeugung, selbst an einer illegalen umweltaktivistischen Aktion beteiligt, die ihr jetzt, da sie eben in den Ethikrat gewählt worden ist, zum Verhängnis zu werden droht. Immer wieder überkreuzen sich persönliche und politische Motive, auch die Liebe existiert nicht unabhängig von ethischer Verantwortung. Die Protagonisten von Mittsommertage sind, wie auch diejenigen in Daniela Kriens Roman Der Brand, allesamt intellektuelle, gesellschaftsbewusste Menschen, die ihr Denken und Handeln reflektieren und dennoch die Macht des Gefühls bisweilen unterschätzen. Auch weil der Autor dieses Spannungsverhältnis in die Entwicklung der Handlung einfließen lässt, vermeidet er die durchaus naheliegende Gefahr eines Thesenromans. Nicht zuletzt ist es der sehr lebensnah und glaubwürdig gestalteten Erzählerin zu verdanken, dass man die zahlreichen philosophisch-ethischen und politischen Fragen und Zweifel fast unwillkürlich und mit intellektuellem Gewinn mit ihr zusammen durchlebt und durchdenkt.
Bibliographische Angaben
Ulrich Woelk: Mittsommertage, C. H. Beck 2023
ISBN: 9783406806520
Bildquelle
Ulrich Woelk, Mittsommertage
© 2024 Verlag C.H.Beck oHG, München