bookmark_borderDiego Valverde Villena: Feuerzungen

Feuerzungen… der Titel ruft viele Assoziationen hervor, das Sinnliche, Körperliche, Elementare, Verzehrende einer Liebesleidenschaft ebenso wie das Mystische, Spirituelle, Geistige des biblischen Pfingstwunders, das ja auch als großes Sprachereignis geschildert wird. In Diego Valverde Villenas Gedichtband spielt all das mit hinein, er ist eine Feier der Liebe wie der Worte, und aus jeder Zeile geht hervor, dass eine Sprache ohne Sinnlichkeit für den Dichter nicht vorstellbar ist.

Diego Valverde Villena, 1967 als Sohn einer Bolivianerin und eines Spaniers in Peru geboren, hat schon zahlreiche Gedichtbände in seiner spanischen Mutter- und Vatersprache veröffentlicht. Feuerzungen ist eine Zusammenstellung von insgesamt 75 Gedichten, die hier nun zum ersten Mal auf deutsch erscheinen, in einer nah am Original entlanggeführten Übersetzung von Harry Oberländer, die eine schöne Brücke von der linksseitig abgedruckten spanischen Fassung zur deutschen Fassung auf der rechten Seite schlägt. Auch wenn man des Spanischen nicht oder nur wenig mächtig ist, lässt sich so der Originalklang erahnen und der ursprüngliche Ton Vers für Vers nachvollziehen.

Valverde Villena reiht sich mit seinen Gedichten in die große Tradition der Liebeslyrik ein, und er macht aus dieser Intertextualität keinen Hehl. Im Vorwort, das er diesem Band gewidmet hat, liest man von der Bedeutung der mittelalterlichen Gattung des Minnesangs für sein Werk, Walther von der Vogelweides Lieder „ebener“, also erfüllter Liebe von gleich zu gleich werden in ihrer Heiterkeit geradezu zum Programm erhoben, sein „tandaradei“ zum mystischen Zauberspruch einer dem Leben und der Liebe zugewandten Haltung. Auch in Valverde Villenas Gedichten selbst findet sich immer wieder eine spielerische Hervorkehrung der Traditionslinien, die vom Mittelalter über Renaissance und Barock bis in die Gegenwart reichen. Die Feuerzungen versammeln vor allem kurze und auch einige Kürzestgedichte, die alle in luftig-leichtem Gewand daherkommen und zugleich assoziations- und bedeutungsreich sind; in wenigen Zeilen durchquert das lyrische Ich Zeiten und Länder, schweift vom All zum Körper, und umgekehrt, lässt den Makrokosmos der Sterne aufblitzen, um zum Mikrokosmos winziger Insekten zu gelangen.

Eine Handvoll Einzeiler sind darunter, die den verdichteten, mit Traditionen spielenden Stil besonders eindrücklich veranschaulichen. In „Ungehorsam des Schlafs“ scheint mit der Antithese das Petrarchistische der Liebesqualen des lyrischen Ich auf, der seine Liebste nicht vergessen kann, nur um es im selben Atemzug zu unterlaufen: Hier erscheint das hartnäckige Traumbild der Einen, die es dem lyrischen Ich verwehrt, sich Anderen (im Plural!) zuzuwenden:

Ungehorsam des Schlafs
Quiero soñar con otras, y apareces tú
Träumen möchte ich von Anderen, und Du erscheinst

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Ein weiteres Kürzestgedicht, „Mund“, vermilzt die Ebenen der Sinnlichkeit und der Transzendenz zu einem unauflösbaren, den Widerspruch in sich tragenden, christlich-barbarischen Bild:

Mund
Tu boca es una planta carnívora que se ha hecho carne
Dein Mund ist eine fleischfressende Fleisch gewordene Pflanze

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

In den Gedichten dieses Bandes, auch in den etwas längeren, werden immer wieder die seit Petrarcas Canzoniere in den Lyrikkanon eingegangenen Metaphern der Schmerzliebe aufgerufen, nicht ohne sie zugleich aus den ja inzwischen nicht mehr allzu festen Angeln einer in sich schon vielgestaltigen Tradition zu lösen und in Bewegung zu versetzen. So etwa, wenn einem topischen Gegensatz wie dem von Feuer und Schnee eine Vergänglichkeit eingeschrieben wird, in der sich die lyrischen Traditionen kreuzen: wenn die Glut der romantischen Begegnungen zum Schnee vom letzten Jahr wird, leuchtet neben der barocken vanitas mit der Metro und dem Nahverkehrszug auch die Flüchtigkeit der Großstadt auf, wie sie bei Charles Baudelaire, dem Dichter der Moderne, zum ersten Mal poetisch erfahrbar wurde. Auch aus dem sinnlichen Bildmaterial der Mythologie und der Märchen schöpft Valverde Villena in seinen Gedichten, um es — zu neuer Form zerfließend wie das Wachs in Odysseus‘ Ohren, das in den Feuerzungen dem zersetzenden Gesang der Sirenen nicht standzuhalten vermag, nicht standhalten will? — zu variieren, zu verfremden, in andere Kontexte zu setzen. Auch sprachlich-stilistisch scheint die Tradition der Liebeslyrik vielerorts in Valverde Villenas Gedichten auf, die bereits erwähnten zum Topos gewordenen Antithesen spielen eine Rolle, und auch an die barocke Erscheinungsform des Conceptismo, der mit einfachem Vokabular und Wortspielen nach Witz und Doppelsinnigkeit strebt, erinnern viele seiner luftig-sinnliche Pointen schlagenden Verse.

Mystik, Religion, heilige Liebe

Soy un cirio encendido por tus ojos
¿A quién miraré si no?
Ich bin eine Kerze entzündet durch deinen Blick
Wen schaue ich an wenn nicht?


Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Das Schauen ist in fast allen Gedichten zentral, die Augen werden, wie in den hier aufgeführten Anfangsversen eines Gedichts mit dem Titel „Liturgie“, zu Akteuren der Liebe. Dabei vermischen sich die Sphären des Heiligen und des Erotischen, werden ununterscheidbar. Was in früheren Zeiten Blasphemie genannt worden wäre, lässt sich in Valverde Villenas zeitgenössischen Gedichten eher als eine moderne Transzendenzerfahrung beschreiben. Seine liebsten Vorbilder scheinen jedenfalls gerade die Dichter zu sein, die das Lebendige feiern und die auf diese Weise mitunter auch provoziert haben, von der sinnenfreudigen griechischen Mythologie über die schon erwähnte „ebene“ Minne Vogelweides, den katalanischen Dichter Ausías March (14. Jh.), der die Idealisierung des Weiblichen in seiner erneuerten Troubadourlyrik über Bord warf, über John Donne (17. Jh.) bis hin zu Dylan Thomas (20. Jh.). Für eine Sakralisierung des Erotischen nach dem Vorbild John Donnes etwa gibt es in den Feuerzungen viele Beispiele: „Deine Augen sind die Schrift Gottes“ und „Nackt betrete ich deinen nackten Altar“, um nur ein paar Verse aus dem dreifaltigen Minizyklus mit dem Titel „Ikonen (I), (II) und (III)“ zu zitieren. Mit dem immer wieder in den Gedichten der Feuerzungen aufleuchtenden Motivkreis der Religion und auch des Mystischen verbindet sich, und das ist das Aufregende, ein sich von der Tradition wieder freimachender neuer, unerwarteter Blick, der auch ein Aufblitzen der Offenbarung, des Geheimnisses, der Liebe sein kann, drei Begriffe, die bei Valverde Villena miteinander verschmelzen, um, wie das flüssig gewordene Wachs des Odysseus, immer neue Gestalt anzunehmen. Wie die Erotik eine sakrale Ebene erhält, wird auch das Mystische vom schreibenden Ich als eine zutiefst körperliche Erfahrung erlebt. Und so gibt es noch Wunder in den zugleich sehr in der Gegenwart verankerten Gedichten, wenn diese Wunder auch andere, neue Erscheinungsformen wählen. In „Beim Verlassen der Messe“ etwa findet die Epiphanie ganz unerwartet außerhalb des sakralen Raumes, mitten im Leben, statt.

Das wandernde Muttermal — die Feuerzungen des Körpers

Deshalb spielt auch Körperliches eine große Rolle in den Feuerzungen: Haut und Hände, Lippen, Wimpern, all die Körper-Topoi, die man aus der Tradition der Liebeslyrik kennt, und auch Körperteile, die seltener darin vorkommen, wie Fingernägel und Muttermale, verselbständigen sich, schlagen irgendwann im Wechsel der meist kurzen Verse einen unerwarteten Weg ein. Am schönsten zeigt sich das vielleicht in dem Gedicht „Muttermale“, in dem sich das liebende Ich darüber empört, dass die Muttermale auf dem Körper der Geliebten nicht an derselben Stelle bleiben. Sie scheinen zu wandern, jeden Tag an einer anderen Stelle aufzutauchen — wandernde Muttermale, Quell der Faszination und der Verunsicherung. Mit dieser in Bewegung gesetzten Körpermetapher wendet Valverde Villena eine tradierte Motivik um, gewinnt ihr eine neue Bedeutung ab, lenkt den Blick auf die Instabilität, das Wankelmütige, Spielerische einer Liebesbeziehung, während das Muttermal, ähnlich wie eine Narbe, ehedem als in die Haut eingeschriebenes und damit zuverlässiges, unverrückbares Zeichen des Schicksals gelesen wurde.

Dass die Annäherung zweier Liebender ein Wagnis ist, das es sich jedoch einzugehen lohnt, geht aus den Gedichten immer wieder hervor, der Körper der Liebenden ist Territorium ebenso für Schmerz und für Hingabe, für Verachtung und für Verschmelzung, Empfindlichkeit wird zur Voraussetzung der Empfindsamkeit oder vielleicht besser des Empfindens als solchem. Eine erotische Berührung wird etwa mit der Invasion eines Heeres von Insekten verglichen, das traditionelle Kipp-Motiv von Eroberung und Überwältigung experimentierfreudig variiert. Trotz der Feuerzungen, die in den Körpern wühlen, ist hier keine dominante Männlichkeit zu spüren, diese erscheint oft eher in jungenhafter Hilflosigkeit und Offenheit, jedoch ohne die Geliebte deshalb zur Domina zu stilisieren. Auch sie ist ein Körper, der sich spürt, ein Sparringspartner, ein Gegenüber, das sich im Anderen erfährt. In dem in wenigen Versen neu erzählten Märchen „Der Prinz auf der Erbse“ werden die Geschlechterrollen sogar ganz umgekehrt.

Der Dichter als Übersetzer — die Feuerzungen der Sprache

Die für den Titel gewählte Metapher der Feuerzungen lässt sich, wie schon angedeutet, nicht bloß als Körpermetapher lesen, ist nicht bloß Ausdruck der sinnlich erfahrenen Liebesleidenschaft, sondern verweist hier ganz klar auch auf das Pfingstwunder der Apostelgeschichte. So wie auf einmal jeder die Offenbarung durch die geistgeflügelten Zungen der Apostel in seiner eigenen Muttersprache hören und verstehen kann, wird auch der Dichter der Feuerzungen zum Übersetzer und Zeichendeuter für seine Leser. Das ist im Text immer wieder spürbar, fast programmatisch im Gedicht „Der Regen in Cherrapunji“, in dem der Regen als göttliches Zeichen gedeutet wird („Als hätte der scharfe Finger Gottes / das Herz der Wolken aufgerissen“), sich dann zur Tinte der Schreibkraft (des Dichters) wandelt, mit der dieser wiederum dem Schicksal Gestalt verleihen kann. Auch im Gedicht „Betende Polinnen“, in dem in wenigen Versen ein anspielungsreiches Netz aus Körperlichkeit, Mythologie, Mysterium und Liebe gewoben wird, zeigt Valverde Villena, wie man allein mit Sprache auf den ersten Blick ganz einfache Bilder evozieren kann, die im Kontext des Gedichts und des ganzen Gedichtbandes mehrsinnig zu leuchten beginnen.

Sus ojos lenguas de fuego

Entregadas al misterio
Su cuerpo se vuelve hostie

Existe la comunión
por una tercera especie

Ihre Augen Feuerzungen

Dem Mysterium hingegeben
wandelt sich ihr Leib zur Hostie

Es gibt die Kommunion
auf eine dritte Weise.


Diego Valverde Villena: „Betende Polinnen“, aus den Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Valverde Villena sieht seine Aufgabe als Dichter darin, ein Bild von einem Kontext in einen anderen zu übersetzen, als Vermittler zwischen Lateinamerikanischem und Europäischem ebenso wie zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen mystischer und weltlicher Liebeslyrik. Er geht dabei vor wie ein Kerzengießer, verschmilzt das Wachs, das Odysseus sich in die Ohren stopft, um der gefährlichen Erotik der Sirenen nicht zu erliegen, mit dem heiligen Wachs der Kerzen, die die polnischen Kirchgängerinnen entzünden und mit dem profanen Wachs der Ohrstöpsel seines lyrischen Ichs. Mit der sinnlichen Beredsamkeit der Zungen des Heiligen Geists offenbaren die Sprachbilder seiner Gedichte einem ein universales Gefühl des existentiellen Wagnisses der Liebe, die mystische Vollendung in der Wunde, der Verletzung, der Sinnlichkeit.

Bibliographische Angaben
Diego Valverde Villena: Feuerzungen, Edition Faust 2024
Aus dem Spanischen übertragen von
ISBN: 9783949774263

Bildquelle
Diego Valverde Villena, Feuerzungen
© 2024 Edition Faust in der Faust Kultur GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderSafiye Can: Rose und Nachtigall

Wer Gedichte liebt — aber auch wer sich mit Gegenwartslyrik eher schwer tut, dem sei die intuitiv zugängliche und zugleich so intensiv nachwirkende Poesie von Safiye Can wärmstens an Herz gelegt!

Die Lyrikerin und Übersetzerin, die 2014 mit ihrem nun neu aufgelegten Gedichtband Rose und Nachtigall debütierte, verwebt in ihren Gedichten türkisch-orientalische Stoffe mit urbanen und alltagskulturellen Motiven, die sich immer wieder auf eine universelle Ebene hin öffnen und vertiefen — immerhin studierte die Autorin auch Philosophie.

Da die Form für die Lyrik und besonders für Cans teilweise konkrete Poesie eine wichtige Rolle spielt, darf man durchaus erwähnen, wie ästhetisch anziehend die Neuauflage im Wallstein Verlag gestaltet ist: eine stilisierte weiße Nachtigall auf durchdringendem Rot, Farbe der Rose, Symbol der Liebe und der Innigkeit, in der die Gedichte geschrieben sind und mit der sie ihre ebenso durchdringende Wirkung auf den Leser entfalten. Die Lektüre der Gedichte findet auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung statt: auf einer intellektuellen, einer emotionalen und eben auch einer visuellen Ebene. Besonders im ersten Teil „Kein Synonym für die Liebe“, befinden sich einige Beispiele für die sinnliche Kraft konkreter Poesie, wie etwa das von einem blitzartigen Riss im Schriftbild visuell zerklüftete Gedicht über den Schmerz des Verlassenen, der Fotos verbrennt, und seinen Freund, der in einer überraschenden Wendung in den letzten Zeilen über den noch größeren Schmerz klagt, nie solchen Schmerz empfunden zu haben.

Manche der Gedichte sind sehr kurz und verdichtet, und eigentlich sind auch die Kapitelüberschriften selbst schon poetische Einzeiler: „Weniger ist Nichts“, „Inkognito Minkognito“. Und alle kreisen sie um die auf die orientalische Dichtung verweisenden Titel-Motive der Rose und der Nachtigall, mit der Can eine an Variationen reiche Tradition der Liebeslyrik fortsetzt, die von der mystischen Liebe zu Gott bis zur sinnlichen Sehnsucht nach dem Geliebten reicht und die sie auf eine ganz persönliche Weise in der von ihr erlebten Gegenwart weiterspinnt.

So sind ihre Gedichte mit vielen Assoziationen und Anspielungen in der Gegenwart verankert, mit der urbanen Kultur und der Erfahrungswelt junger Menschen, in der sich Verzweiflung, Liebeskummer, Popmusik und Daseinsfragen vielschichtig überlagern. Mal sind die Texte modern, hip und flapsig, im nächsten Moment schon wieder tief metaphorisch und hochpoetisch verknappt. Auf diese Weise entsteht ein faszinierendes Ineinander von alltäglicher Erfahrung und tiefem, existenziellem Gefühl.

Am liebsten mochte ich die Gedichte des letzten, wiederum „Rose und Nachtigall“ betitelten Kapitels, da hier die poetisch verdichtete und gleichzeitig von einer sinnlichen Leichtigkeit geprägte Sprache der Autorin meiner Empfindung nach ihren Höhepunkt erreicht. Metaphern der Sehnsucht setzen sich über die einzelnen Texte hinweg fort, mit feinen, aber bedeutsamen Veränderungen, so dass ein loses Langgedicht entsteht, das eine unheimliche poetische Kraft entfaltet, der man sich nicht entziehen mag!

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
lese ich verblasste Träume auf
und pflanze sie in Blumentöpfe. (…)

An manchen Tagen
mag man sich in den eigenen
Schatten hineinlegen
sehnt sich nach der Furche
einer fremden Handfläche. (…)

Unterwegs lese ich verlorene Träume auf
stricke sie zum Strophen-Schal zusammen
damit er wärmt, irgendwen da draußen
wärmt, den, der friert,
wer nie gefroren hat, weiß nicht
um die, die Kälte erleben. (…)

Unterwegs lese ich durchnässte Träume auf
und hänge sie an die Wäscheleine
in meinem Herzen das Herz einer Nachtigall
weiß nicht, wohin die Lebensleiter anlegen
wohin mit Händen und Füßen
an welches Postfach
die Enttäuschung adressieren. (…)

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
verwandelt sich zu Stein
was ich berühre
aus einem Stein wird keine Rose.

Safiye Can, Rose und Nachtigall

Safiye Can: Rose und Nachtigall, Wallstein (2020)
ISBN: 9783835336094

bookmark_borderAlfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens

Taucht mit ein in die „Nacht des Sehens“, in diese Sammlung wunderschöner Gedichte von schlichter Anmut und großer Poesie, in denen man sich verlieren und immer wieder augenblicksweise finden kann, an der Schwelle von Schatten und Licht, auf der sich alle Texte fragend, suchend, hoffend, (ver)zweifelnd bewegen. Aus dem Titel sprechen bereits die Melancholie und die große poetische Spannung, die diesen schmalen, edlen Gedichtband aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Alfred Kolleritsch auszeichnen. Kolleritsch schreibt schon sein Leben lang Gedichte und auch Prosa, promovierte einst über die Philosophie Martin Heideggers und ist auch bekannt als Herausgeber der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ und früher Förderer von Talenten wie Ernst Jandl und Peter Handke, mit dem ihn eine enge (Brief-)Freundschaft verbindet.

Mit seinem jüngst im Wallstein Verlag erschienenen neuesten Gedichtband „Nacht des Sehens“ schöpft er eine Poesie des Widerspruchs, wie ich es nennen würde, die unter die Haut geht und zugleich sehr nachdenklich ist.

Wer ersetzt das Wunder
und macht die Nacht des Sehens
zum Tage?

(…)

Das ist das Spiel.

Es spricht mit uns,
dunkel und licht zugleich,
Unvergängliches ohne Dauer.

Die Nacht des Sehens, S. 46f.

Kolleritschs Gedichte sprechen eine Sprache des Verschwindens, des Sich-Entziehens, des Widerspruchs, der auch als Widersprechen, als Protest, als Aufbäumen gegen eben jenes Verschwinden gemeint ist. Sie gliedern sich in zwei Teile, denen jeweils ein melancholisch-poetischer Vers wie ein Motto vorangestellt ist: „Die Melodien vollenden die Begegnung“ und „Sag mir etwas, das nicht verschwindet“.

Die auffällig kurzen Texte haben mich mit ihrer klaren, melodischen Sprache und ihren ahnungsvoll poetischen Bildern, die nicht überfrachtet sind, sondern von tiefer, aufrichtiger und noch lange nachklingender Poesie, sofort in ihren Bann geschlagen. Sie verwehren sich eines eindeutigen Lesens, doch trotz ihrer Vielsinnigkeit und manchmal auch Rätselhaftigkeit, die zum Immer-Wieder-Lesen ermuntern, fühlt man sich sofort vertraut mit der suchenden, findenden und wieder verwerfenden Bildersprache, die aus dem Dunkel ans Licht drängt, die hofft und bangt, trauert und wehmütig ist, die in den Schmerz des Abschieds dringt — aber all das eben nicht dramatisch oder pathetisch, sondern zart und schonungslos, sich öffnend und hinterfragend.

Immer wieder musste ich beim Lesen an Motive aus Paul Eluards surrealistischer Poesie denken, besonders an seinen Gedichtband „Capitale de la douleur“. Die Nacht assoziiert Eluard dort mit Schlaf und Tod, der Tod wird surrealistisch aufgewertet als Erfüllungsraum, als Raum der Kreativität, in dem sich die Distanz zum Tag, zum Licht, zur Frau überwinden lässt. Die surrealistische Nacht beinhaltet ein schöpferisches Sehen, der Widerspruch wird aufgelöst, indem der Blick umgekehrt wird, sich nun von der inneren Welt auf die äußere richtet. Erkenntnis und intensives Erleben erheben sich auch aus Alfred Kolleritschs metaphorischer Nacht, die gleichwohl den schmerzhaften Widerspruch nicht auflösen will:

Erleuchtet aus dem Entschwinden
bewegt uns die Erfahrung,
sie ereignet den „höchsten Augenblick“
den unvergleichbaren,
den Untergang,
als Beginn des Schönen,
verdammt außerhalb der Sprache.

Die Nacht des Sehens, S. 49

Auch der kunstvolle Umgang mit einem im philosophischen Sinne elementaren Wortschatz, die aufs Wesentliche konzentrierte Sprache, die höchste Verdichtung durch wechselnde Bezüge und durch die Überlagerung verschiedener Bildbereiche erlangt, lassen sich nicht nur bei Eluard, sondern genauso in der Lyrik Kolleritschs finden:

er mähte die Blumen fort
und löschte das Abendlicht,
er vergrub es in der Mulde

Die Nacht des Sehens, S. 23

Das Licht lässt sich freilich nicht vergraben, wohl aber die Blumen, doch begräbt der von seiner Liebe Verlassene hier nicht auch seine hell leuchtende Hoffnung? Immer wieder eröffnen solche poetischen Verschiebungen den Blick auf das Unerwartete und lenken ihn in eine neue Richtung. Die Sprache entwickelt auf diese Weise ein gewisses Eigenleben, das sich auch über die Grenzen der einzelnen Gedichte hinweg fortsetzt, denn im Kontext entfalten die Verse wieder neue Bedeutungen, und alle gemeinsam formen sie einen verschlungenen, Zickzacklinien folgenden Pfad. Michael Krüger spricht im Nachwort auch von „Gegenwegen“, die Kolleritsch in seiner Lyrik einschlägt.

Im Unterschied zum Surrealismus ist es in Kolleritschs „Nacht des Sehens“ weniger das Freud’sche Unterbewusstsein, das an die Oberfläche geholt wird, als vielmehr das Sein und das Dasein des Menschen an sich. Es sind zutiefst philosophische Fragen, um die Kolleritschs Verse kreisen; es geht um eine existenzielle Suche, in deren Zentrum der Tod als Schmerz und als Herausforderung steht. Und immer wieder drückt sich dabei der Zwiespalt aus, das Hin- und Hergerissen-Sein — „sie stürmt fort, um dazubleiben“ (S. 9) — und die Vergänglichkeit, auch der Worte:

Sag mir etwas,
das nicht verschwindet.
Was war,
ist weggeraten.
Auf der Hand klebt der Gedanke
den Flügelschlag
eines Vogels lang.

Die Nacht des Sehens, S. 69

In den Gedichten wird danach gerungen, angesichts des großen Widerspruchs des Daseins eine Sprache zu finden, es wird nach Worten gesucht für das „unfassbar Gewordene“ (S. 8). Die Nacht zeigt sich auch als letzter Schrei vor dem Verstummen. Doch des Dichters Sprache vermag es trotz aller Zweifel, Gegensätzliches zusammenzubringen, um aus dem Widerspruch den Augenblick der Poesie freizusetzen!

Sie schrieb sich in das Tal ein,
verletzte die Luft mit ihrer Sprache,
riss sich los in die Not.

Es entstanden die zerbrechlichen Reste des Sagens.
Sie versprach den Wiesen den Weg,
schuf sich die Spur durch das Geröll,
das andere Schweigen zu finden.

Die Nacht des Sehens, S. 61

Schönheit und Schmerz des Daseins offenbaren sich auch in der Begegnung mit dem Anderen. Die Personalpronomen wechseln, wir treffen auf ein Er, auf eine Sie im dunklen Kleid, ein Sie im Plural, ein Wir. Eine Umarmung kann dabei ins Gewaltsame kippen oder aber das Paar wie einen poetischen Klang zusammenbringen :

Im Gesang verschwinden,
im Geflecht der Töne,
Mann und Frau.

Das Gefühlte hoch im Klang
schweißt zusammen,
keines verliert sich
in Ängsten des Verschwindens.
Die Melodien vollenden
die Berührung

Die Nacht des Sehens, S. 12

Was sich dem Verschwinden widersetzt, sind auf jeden Fall die Gedichte und mit ihnen das Gefühl, die Reflexion und das Gedächtnis, das Tod und Gewalt, Natur und Schönheit, Schmerz und Lust in sich vereint. Sie berühren einen wie ein sanft herabsegelndes Herbstblatt, das einen nur zart anzustupsen scheint, aber eine umso innigere Melancholie entwickelt, die weiter in einem klingt, eine Begegnung voll Melodie, schmerzhaft und schön.

Alfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens, Wallstein (2020)
Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger
ISBN: 9783835336728

bookmark_borderZum Welttag der Poesie, ein melancholisches Frühlingsgedicht

Menschentrauben, geschrumpft zu Rosinen
Die Natur atmet auf
Man hört das Summen der Bienen
Ein Jogger – noch – in seinem einsamen Lauf

Keine zertretenen Halme, die Vögel nisten in Ruh‘
Die Natur atmet ein
Kaum einer sieht ihr mehr dabei zu
Unsere Luft zwischen den vier Wänden ist rein

Wir bleiben rücksichts- oder angstvoll im Haus
Begrenzen unsere Freiheit aufs Virale
Die Natur atmet aus
Uns bleibt der stumpfe Abglanz des Lebens: das Digitale

Wie lange trägt die Erinnerung, wovon zehrt die Imagination
Wenn die Sinne sich nicht mehr frei bewegen
Woher kommen Menschlichkeit und Inspiration
Die nicht virtuell sind, sondern duften, sich lebendig regen!

Die Natur braucht uns nicht
Aber wir brauchen den Atem der freien Natur
Die Begegnung, das gemeinsam gelesene Gedicht
Wir atmen ein, wir atmen aus – und kommen aus der Spur.

Lisa Evertz, 21.3.2020

bookmark_borderHenrik Wergeland: Im wilden Paradies

Im Werk Henrik Wergelands (1808-1848) ist die Romantik wahrhaft eins mit der Moderne — das geht aus der schönen Auswahl der bei Wallstein erschienenen und von Heinrich Detering ins Deutsche übertragenen Texte des norwegischen Nationaldichters ganz deutlich hervor: Mal pointiert, mal nachdenklich, mal satirisch, mal introspektiv, zeugen sie von einer großen stilistischen Experimentierfreude und bringen eine Freiheit und Vielfalt der Form zum Ausdruck, die von streng komponierten Oden über Naturgedichte in freien Versen bis zum Prosagedicht reicht. Einiges erinnert an Baudelaire, etwa die ungewöhnliche Darstellung des Wahnsinns einer unmöglichen Liebe in der „Romanze des Schneeglöckchens“ oder die erotisch-hymnische Reflexion über einen Totenschädel, die im Lobpreis des knöchernen Skeletts mündet, von dessen „herrliche[r] Konstruktion aus Schönheitslinien, die nun ewig sind wie der Marmor“:

Welch fein geformte Hirnschale, die fortgerollt ist unters Laub! Sie muss einer jungen Schönheit gehört haben. (…) Wie töricht, die samtenen Rosenwangen der Geliebten zu besingen (…). Geh in das Wesen der Dinge! Fühl die Entzückung, Sterblicher, im Umarmen dieser Wirbelsäule: noch zierlicher ist sie als die Schlankheit der Jungfrau!

Auszug aus: Der Totenschädel, in der Übersetzung von H. Detering, S. 146-149

Einheit von Romantik und Moderne ist in Wergelands Biographie und Werk auch in dem Sinne zu verstehen, dass der Dichter sich sein Leben lang für einen noch im Entstehen befindlichen Nationalstaat Norwegen — das sich 1814 von Dänemark löste, die Unabhängigkeit von Schweden jedoch erst 1905 erreichte — einsetzte. Er kämpfte für ein demokratisches Heimatland, für die Gleichberechtigung der Juden, und er nutzte dafür auch intensiv den Journalismus, das aufstrebende Medium dieser Zeit. Auch in einige Gedichte hat die journalistische Meinungsäußerung Eingang gefunden, in denen er so manche dichtungstheoretische oder politische Debatten austrug.

Die zweisprachige Ausgabe ist mit knappen, aber sehr hilfreichen Kommentaren zu den einzelnen Texten im Anhang sowie mit einem Vorwort des Übersetzers versehen, das ich für sehr wertvoll halte, da es in den historischen und literarischen Entstehungskontext des Werks eines Autors einführt, der in Deutschland dem breiten Publikum weitgehend unbekannt sein dürfte. Auch mir als Literaturwissenschaftlerin und Lyrikliebhaberin, die Baudelaire, Heine, Ibsen, Rilke — all die Schriftsteller, die H. Detering in seinem Vorwort mit Wergeland in eine literarische Beziehung setzt — verehrt, war der Norweger Henrik Wergeland zuvor kein Begriff, zum Glück hat sich das jetzt geändert. Übrigens finde ich, dass das Nebeneinander von norwegischem Original und deutscher Übertragung, für die sich die Herausgeber entschieden haben, ein großer Gewinn auch für einen des Norwegischen unkundigen Leser ist; denn hat man sich einmal inhaltlich mit der wirklich schön zu lesenden und bis ins Detail durchdachten deutschen Übersetzung vertraut gemacht, erschließt sich einem darüber hinaus so manches im norwegischen Text einfach durch seinen poetischen Klang, der gerade bei Lyrik ja ein unverzichtbares Sinnelement ist.

Henrik Wergeland: Im wilden Paradies – Gedichte und Prosa
Aus dem Norwegischen übertragen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Detering
Wallstein (2019)
ISBN 9783835334984

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner