bookmark_borderBernd Jaumann: Banksy und der blinde Fleck

Nach NS-Raubkunst und Artnapping bestimmt im dritten Fall, in dem der Autor Bernd Jaumann seine fiktive Münchner Kunstdetektei von Schleewitz ermitteln lässt, wieder eine brisante Erscheinung in der Welt der Kunst und des ihr eng verbundenen Markts die Krimihandlung.

Scheinbar kreuz und quer in München verteilt tauchen sogenannte Stencils, mithilfe einer Schablone aufgetragene Graffiti, auf, die auf den ersten Blick ganz klar die Handschrift des berühmten britischen Streetartkünstlers Banksy tragen, der trotz wilder Spekulationen seine Identität bis heute geheimhalten konnte. Eine Sensation — die von verschiedenen, Profit witternden Akteuren vorangetrieben wird, offensiv von der Lokalzeitung, etwas mehr im Verborgenen, doch nicht weniger skrupellos von einer namhaften Kunstgalerie, einem Münchner Auktionshaus sowie einem ansässigen Antiquitätenhändler.
Die bereits aus den ersten beiden Bänden bekannten Kunstdetektive Rupert von Schleewitz (Chef und Inhaber der Detektei, mit deren Finanzen es gerade nicht zum Besten steht), Klara Ivanovic (Kunstwissenschaftlerin und Tochter eines eigenwilligen ehemaligen Performancekünstlers mit Parkinson) und Max Müller (Familienvater und für die Recherche zuständig) lassen sich natürlich nicht so leicht blenden und gehen den zahlreichen Ungereimtheiten nach, die im Kontext der fortwährend auf mysteriöse Weise auftauchenden Graffiti zu beobachten sind.

Dem Autor gelingt es auch diesmal, ganz aus einer überzeugenden Romanhandlung heraus ein spannendes und streitbares Phänomen der Kunst, das der Streetart, bewundernswert vielschichtig zu verhandeln: die umstrittene Existenz dieser Kunstform an der Grenze zwischen Kunst und Sachbeschädigung, ihre Flüchtigkeit, die im skandalträchtigen Widerspruch zu ihrer Vermarktung zu teils absurd anmutenden Preisen steht, die Frage nach ihrer Authentizität und ihrem künstlerischen Wert, der weniger in ihr selbst als im mit ihr zu einer Marke verschmolzenen Namen liegt. Zugleich, und das hat mir besonders an dem Text gefallen, problematisiert der Autor in Verbindung mit dem Thema Streetart auch die Großstadt und ihre weniger glanzvollen Erscheinungen der Verwahrlosung und des Prekariats, die im himmelschreienden Widerspruch zur profitorientierten Realitätsferne prominenter Auktionskunst stehen, die ihrerseits mit dem Ideal einer uneigennützigen Kunst, deren Urheber hinter seinem Werk und seiner Botschaft zurücktritt, in einen spannungsvollen Kontrast tritt.

All das hat Bernd Jaumann in eine stimmige Krimihandlung integriert, in der Gänsehaut nicht durch die Schilderung spektakulärer Mordfälle entsteht, sondern durch eine sich immer deutlicher aufdrängende Ahnung, dass Achtlosigkeit und Ignoranz genauso gewaltsam sein können und viele Taten im Moloch der Großstadt ebenso anonym bleiben wie der Urheber der angeblichen Banksy-Graffiti in dieser Geschichte.

Bibliographische Angaben
Bernd Jaumann: Banksy und der blinde Fleck, Galiani-Berlin 2023
ISBN: 9783869712734

Bildquelle
Bernd Jaumann, Banksy und der blinde Fleck
© 2023 Verlag Galiani Berlin bei Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderJoël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622

Joël Dickers neuer Roman, in dem ein Schriftsteller namens Joël, der vor ein paar Jahren einen weltweiten Überraschungserfolg mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert feierte, einen neuen Roman zu Ehren seines kürzlich verstorben Verlegers Bernard de Fallois zu schreiben beginnt, erschien letztes Jahr im Verlag Editions de Fallois, zwei Jahre nach dem Tod von Bernard de Fallois, dem Verleger und väterlichen Freund des jungen Schweizer Schriftstellers, der mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert tatsächlich einen überraschenden Welterfolg feierte.

Aber Achtung! So augenzwinkernd Joël Dicker hier auch ein Spiel mit den Ebenen von Fiktion und Realität, von Dichtung und Wahrheit treibt, die verschachtelte, wendungsreiche und turbulente Agenten-, Liebes- und Bankiersgeschichte, die er hier entspinnt, ist dann doch wieder ganz das kreative Produkt seiner schriftstellerischen Imagination, die der Autor in seinen Vorgängerromanen bereits mehrfach bewiesen hat. Die Ausgangskonstellation erinnert an seine anderen Romane, ein unglücklich verliebter Schriftsteller trifft in einem distinguierten Hotel in den Schweizer Bergen nicht weit von Genf, dem Palace de Verbier, eine spitzfindige und abenteuerlustige weibliche Muse, und gemeinsam machen sie sich auf die Spur des geheimnisvollen Mordes, der vor vielen Jahren in eben jenem Hotel auf Zimmer 622 geschah. Puzzlestück für Puzzlestück setzen sie die Geschehnisse zusammen und gehen dafür auch immer weiter in die Vergangenheit zurück, um die verwickelten Intrigen rund um eine Schweizer Bankdynastie zu entwirren. Anfangs meint man, dem Schriftsteller beim Entstehen des neuen Romans direkt über die Schulter schauen zu können — doch so ganz passt das alles dann doch nicht zusammen, woher kommen die Wissensvorsprünge des Erzählers, warum bleibt seine selbst ernannte attraktive Agentin und Co-Ermittlerin so seltsam abstrakt? Und ist der Teufel wirklich ein machthungriger Bankier oder verbirgt sich jemand ganz anderes dahinter?

Joël Dicker ist ein Meister der Konstruktion und sein neues Buch wieder ein äußerst unterhaltsames, bis zur letzten Seite spannendes Intrigenspiel, bei dem der Teufel die Kunst der Maskerade so virtuos beherrscht wie der Schriftsteller das spannungserzeugende Ineinander der verschiedenen Erzählebenen. Immer wenn es romantisch wird, nähert der Roman sich zwar auch dem Kitsch an, doch dient eben diese etwas gröbere Figurenzeichnung, das immer etwas Überzogene, zu dick Aufgetragene dann an anderer Stelle auch wieder so manch köstlicher Gesellschaftssatire. Denn in dieser Welt des äußeren Glanzes, im Milieu der Reichen, Mächtigen und Schönen, die im Dunstkreis der Schweizer Finanzwelt ihren Intrigen nachgehen, ist hinter den Kulissen und den zur Schau getragenen Rollen so einiges am Brodeln. Kein Wunder, dass sich in diesem Biotop auch so mancher Hochstapler tummelt, von denen einer ganz besonders talentiert ist und das Spiel um Geld und Macht, das letztlich alle spielen, zur Perfektion getrieben hat.

Nach über 500 atemlos durchjagten Seiten löst sich dann, teils im fiktionsironischen Wortsinne, teils aber auch in romantischem Wohlgefallen, alles endgültig auf…

— Noch ein Nachtrag: Mein absoluter Liebling von Dicker bleibt Die Geschichte der Baltimores, hier finde ich die Figurenpsychologie einfach am stimmigsten, das Ineinander und Gegeneinander der beiden Familienzweige einfach faszinierend erzählt! Aber auch Die Wahrheit über den Fall Harry Québert, auch Das Verschwinden der Stephanie Mailer sind richtige Schmöker, die ich jedem, der intelligent unterhalten werden will, wärmstens empfehle! Übrigens lesen sie sich auch gut im Original, wer gewisse Vorkenntnisse hat, kann hier ganz nebenbei auch noch wunderbar sein Französisch auffrischen.

Bibliographische Angaben
Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622
Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
ISBN: 9783492070904

Bildquelle
Joël Dicker, Das Geheimnis von Zimmer 622
© 2021 Piper Verlag GmbH, München


bookmark_borderStefan Slupetzky: Im Netz des Lemming

Der Antiheld ist im Kriminalroman heute längst etabliert, ja, letzterer fußt im Spannungsaufbau oft sogar ganz wesentlich auf den aus den Schwächen und Versuchungen der ermittelnden Haupt- und Identifikationsfigur rührenden Konflikten. Doch während etwa im skandinavischen Krimi der Antiheld oft als gebrochene, vom Schicksal gezeichnete Figur auftritt, kommen die Antihelden im österreichischen Krimi — oder vielleicht noch spezifischer in seiner Wienerischen Ausprägung (Heinrich Steinfest, Wolf Haas!) — auf den ersten Blick deutlich unspektakulärer daher. Mit weniger Tragik, dafür mit viel abseitigem Humor. Diese Antihelden sind skurril, schrullig, eigen — aber sie schauen genau hin und decken Abgründe auf, die die anderen nicht sehen, oder nicht sehen wollen.

Leopold Wallisch alias „der Lemming“ ist so einer. Wie so manche seiner internationalen Krimikollegen ist er dem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, versucht aber gar nicht erst, diesem in einem kräftezehrenden, von Gewissensqualen begleiteten Wechsel von Askese und Rückfall abzuschwören. Sich das Leben unnötig schwer zu machen und auf ein traditionelles und bewährtes Trost- und Genussmittel zu verzichten, ist des Lemming Sache nicht. Auch wenn er infolge einer solchen alkoholischen Eskapade einst aus der Kriminalpolizei geworfen wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, die lange Jahre zurückliegt und 2004 im ersten Band der Lemming-Reihe erzählt wurde — der übrigens keine Voraussetzung für das Verständnis des aktuellen sechsten Bandes Im Netz des Lemming darstellt. Als Wachmann im Wiener Tierpark, der ohne Kripoausweis, dafür zeitweise mit peinlichem falschen Bart und Pornobrille ermittelt, wird er hier ganz antiheroisch in einen Kriminalfall hineingezogen, der zu einem wesentlichen Teil im Netz ausgetragen wird und ihn mit den Dynamiken der sozialen Medien konfrontiert, deren Existenz er bisher, ganz altmodisch, erfolgreich verdrängt hat. Aber er ist ja auch Familienvater, Vater eines Sohnes, Ben, der gerade dem Kindesalter zu entwachsen beginnt, aber bereits deutlich mehr Ahnung vom Internet und seinen Gefahren hat als sein Vater. Und Ben drückt sich seit neuestem nicht nur im ätzend-komisch wirkenden pubertären Kurznachrichten- und Hashtagsprech aus, sondern er hat sich vor kurzem auch, ganz uncool, mit Mario angefreundet, der nicht nur das Stigma einer Hasenscharte trägt, sondern auch das einer in den Medien hochgekochten Familientragödie.

Als Mario bei der gemeinsamen Heimfahrt in der Tram mit dem Lemming, die geprägt ist von stockenden Dialogen, aus Verlegenheit angebotenen Bonbons (österr. „Zuckerl“) und plingend eintreffenden Handynachrichten, auf einmal Hals über Kopf aus der Tram springt und sich von der Brücke in den Tod hinabstürzt, kann der Lemming nichts mehr tun, um ihn zu retten. Auf den Schock folgt allerdings bald ein weiterer, nämlich als der Lemming am eigenen Leib die Hetze der Onlinemedien zu spüren bekommt: als vermeintlich pädophiler Psychopath, der sein Opfer mit Zuckerln angelockt und in den Tod gestoßen habe. Dass der Tod des Jungen mit der fatalen Dynamik der sozialen Medien, mit dem Steigerungspotential des Internets zusammenhängt, dass Hatern und Mobbern eine große Öffentlichkeitswirkung gewährt, ist — zumindest dem Lemming und den Lesern — rasch klar, doch der „Scheißsturm“ (O-Ton Lemming), typisch für die Konfusion und sündenbockgierige Schnellschussartigkeit der medialen Erregtheit, prasselt erst einmal ausgerechnet über dem Lemming nieder und verhindert so, dass die Polizei nach den eigentlichen Drahtziehern sucht. Also ermittelt der Lemming, zusammen mit seinem alten Siez- und beinahe Duz-Freund, und in jedem Falle unbedingt Trinkfreund, dem in Folge des Shitstorms ebenfalls beurlaubten Wiener Bezirksinspektor Polivka — übrigens auch außerhalb der Lemming-Reihe Titelfigur eines Krimis von Slupetzky, Polivka hat einen Traum (2014) — auf eigene Faust und gegen das bald nicht mehr nur metaphorische Feuer der medialen Empörung.

Denn es schwelen nicht nur alle möglichen Spreng- und Brandsätze, deren Explosivität allzu oft die ganz reale Folge virtueller Hetzreden ist, etwa wenn gesellschaftliche Themen wie die Flüchtlingspolitik emotionsgeladen und manipulativ aufgegriffen und polarisierend zugespitzt werden, sondern auch so manche politisch-mediale Intrige, ihrem Wesen nach heute eng verbunden mit der Inszenierung im Netz. Augenzwinkernd wird hier am Rande auch die Ibiza-Affäre angedeutet, was natürlich wie die Faust auf österreichische rechte, aber nicht nur rechte, Auge passt, da in dieser Intrige, wie sich im Nachhinein herauskristallisiert, mediale Inszenierung, Manipulation, Macht und Erpressung perfide kriminell zusammengespielt haben. Es gibt also nicht nur diejenigen, die unter dem Schutz der Anonymität des Netzes boshafte Kommentare posten und sich so ihren Frust und ihre Vorurteile wohl vergeblich vom Leib zu schreiben versuchen, sondern — auf gefährliche Weise kaum von diesen zu trennen — auch die Manipulatoren, den bewusst geschürten Hass, die künstlich gesteigerte Polarisierung:

So viel Schmerz, denkt er [der Lemming]. Kann es ein Spiel geben, das nur Verlierer kennt? Wohl kaum. Sogar das schlimmste Spiel — der Krieg — hat seine Profiteure. Nicht die Menschen, die ihn ausfechten, noch nicht einmal die Staaten, die ihn führen, sondern die Leute, die man niemals zu Gesicht bekommt, die Männer hinter schallgeschützten Türen und dunklen Fensterscheiben, die den Hass schüren, ohne selbst zu hassen […] Für sie gibt es kein Miteinander, sondern nur das goldene Kalb des so genannten Wettbewerbs, in dem sie alle mühelos besiegen, weil sie mit gezinkten Würfeln spielen. […] Mehr gelten, mehr erreichen, mehr besitzen zu wollen als die anderen: ein bizarres Hobby. Leider eines, das die Menschheit in den Abgrund stürzt.

Slupetzky, Im Netz des Lemming, S. 178 (Hervorhebung im Original)

In der Krimihandlung realisiert sich dieses metaphorische Bild des Abgrunds ganz wörtlich, vergegenständlicht sich auf tragische Weise in den Menschen, die sich hier tatsächlich in den Abgrund stürzen, die sozusagen zu selbstmörderischen Lemmingen werden, um den inzwischen falsifizierten Mythos aus der Welt der Tiere aufzugreifen. Sprachlich wird diese dem Kern der Krimihandlung innewohnende Tragik freilich immer wieder durch entlarvende und amüsante Wortspiele, die in der Wiener Tradition der ironisch-bösen Selbstkritik und wortgewandten Satire stehen, konterkariert. Was nicht heißt, dass in der Geschichte nicht auch Empathie und aufrichtige Empörung mitschwingen. Doch wird diese, nicht zuletzt dank des Humors, skeptisch reflektiert und bleibt frei von jeder missionarischen Hybris oder Naivität. Slupetzky setzt sprachliche Direktheit und manchmal recht plakativen Wortwitz bewusst als Stilmittel ein; Schmutziges wird nicht sprachlich beschönigt, durch keine anglisierte Form veredelt, sondern als solches benannt; und ein Shitstorm ist nun einmal nichts anderes als ein Scheißsturm. Das lässt einen schmunzeln, aber oft trifft es auch genau ins eben nicht mehr hell verklärte Schwarze hinein:

„[…] Was glauben mir die Leute? Wo bewirke ich das Gegenteil? Wo zaubere ich etwas herbei, wo rücke ich etwas zurecht, wo kehre ich etwas unter den Tisch? Nicht jeder ist ein guter Influencer…“

„Influenza“, unterbricht der Lemming abfällig, „ist eine Krankheit.“

„In gewisser Weise stimmt das. Man ist ein Erreger, man versucht, den Mob zu infizieren. Man steht vor einem ungeheuren Sprengstofflager, das nur darauf wartet, in die Luft zu gehen, und man hat nur ein Streichholz, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen.“

Slupetzky, Im Netz des Lemming, S. 155

Welch fatale Kettenreaktion eine solch medienwirksam inszenierte Erregung auslösen kann, zeigt sich im Verlauf der humorvoll, intelligent und dazu noch äußerst spannend geschriebenen Krimihandlung von Im Netz des Lemming.

Bibliographische Angaben
Stefan Slupetzky: Im Netz des Lemming, Haymon (2020)
ISBN:9783709934975

bookmark_borderJulia Phillips: Das Verschwinden der Erde

Von der ersten Seite an lässt uns die Autorin lesend eine fremde Welt entdecken, die uns trotz der unzähligen Kilometer, die uns von ihr trennen, sofort auch unheimlich vertraut erscheint. Der Schauplatz der Geschichte ist Kamtschatka, diese Halbinsel ganz am asiatischen Rande Russlands, auf der es die faszinierendsten Naturformationen gibt, Vulkane, Geysire, schneebedeckte Steppen und wilde, exotische Tiere, Bären, Robben und Riesenseeadler. Doch indem auf psychologisch sehr stimmige Weise alles durch die Augen der Figuren gesehen, aus ihrem individuellen und eben auch zutiefst menschlichen Blick erzählt wird, wirkt außer der Landschaft nichts exotisch.

Die Amerikanerin Julia Phillips debütiert hier mit einem Roman, für den sie viele Jahre recherchiert hat, auch vor Ort, sie verbrachte einige Zeit in Kamtschatka, und das merkt man dem Buch an, das nicht nur fesselnd geschrieben ist, sondern auch ein differenziertes Porträt der Bevölkerung von Kamtschatka ist und sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt.

Ausgangspunkt und erzählerischer Rahmen ist ein Kriminalfall: Zwei kleine russische Mädchen verschwinden bei einem Ferientagesausflug an den Strand von Petropawlowsk, zuletzt werden sie gesehen, als sie zu einem unbekannten Mann in den Wagen steigen. Doch obwohl sich dieser Entführungsfall wie ein roter Faden durch die Kapitel schlängelt, bezieht die geschickt konstruierte Geschichte ihre Spannung bei weitem nicht nur aus dem mutmaßlichen Verbrechen. Mindestens ebenso spannend ist das, was wir aus den einzelnen Kapiteln, in denen jeweils eine andere Figur im Vordergrund steht, vom Leben der Menschen in Kamtschatka erfahren, von ihren ganz persönlichen Schicksalen, ihren Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Plänen. In dreizehn Kapiteln, die mit Ausnahme des zusätzlich eingeschobenen Silvester-Kapitels von Monat zu Monat springen, erleben wir ein ganzes Jahr auf der Halbinsel: vom August, in dem die Mädchen verschwinden, bis zum Juli des folgenden Jahres. Und in jedem dieser Kapitel oder Monate erklingt eine neue Stimme, die auch eine neue Perspektive auf die Ereignisse und einige der bereits aufgetretenen Figuren wirft, die zur Freude des aufmerksamen Lesers immer wieder unerwartet in anderen Kontexten auftauchen.

So unterschiedlich das Alter, der Charakter, die persönliche Lebenssituation, die gesellschaftliche oder ethnische Herkunft der Figuren sind, eines ist allen diesen Stimmen doch gemeinsam: Es handelt ausschließlich um Frauen bzw. Mädchen, deren weibliche Perspektive die Autorin dank ihrer geschickten Erzählkonstruktion überzeugend in ihrer Vielfalt und Differenziertheit darstellen kann. In die komplexe Auseinandersetzung mit den verschiedenen Fremd- und Selbstbildern dieser Frauen lässt die Autorin auch die gesellschaftliche Position und die familiäre Verankerung mit hineinfließen, und ebenso die Geschichte des Landes, seinen keineswegs unproblematischen Übergang von der Sowjetzeit in die postsowjetische Gegenwart, sowie das auf einer kolonialen Unterdrückungsgeschichte und Vorurteilen beruhende Verhältnis von Indigenen, Russen und Einwanderern.

Ob es sich um eine aus einer indigenen Familie stammende junge Studentin handelt, die von ihrem russischen Freund aus der Ferne kontrolliert wird und sich eine Freiheit herausnimmt, die sie schier überwältigt; um eine Frau, die mit der von ihr erwarteten Rolle seit der Geburt ihres Kindes so überhaupt nicht klarkommt, die sich eingesperrt fühlt in ihrem Zuhause, in dem sie nurmehr Mutter oder Gastgeberin ist, und die sich in Lügen und Ausweichmanöver flüchtet, um ihrem Gefängnis momenteweise zu entkommen; oder um ein verzweifeltes junges Mädchen, dessen Beziehung zur besten Freundin in die Brüche geht, da deren Mutter der Meinung ist, sie sei als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die beruflich viel unterwegs ist, kein Umgang für die eigene Tochter: Alle diese Geschichten, von denen eine jede ungemein aufrichtig und berührend erzählt ist, sind Variationen des Verschwindens, dem all diese Frauen in unterschiedlichsten Formen ausgesetzt sind und gegen das sie sich mit all ihrer Kraft aufzulehnen versuchen. Immer stehen die Figuren an einem Kipppunkt in ihrem Leben, an dem sie sich selbst, ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihre Entscheidungen und Abhängigkeiten in Frage stellen, sie neu betrachten und bewerten, und das ist fast immer schmerzhaft, überwältigend, mutig, oft ungerecht, empörend und manchmal auch sehr traurig oder richtig tragisch.

Das Verhalten der Protagonistinnen wird im Übrigen durchaus ambivalent dargestellt, nicht immer denken und handeln sie so, wie man sich das wünschen würde, aber gerade dadurch gewinnen sie eine Eigenwilligkeit, die dazu beiträgt, sie aus einer einseitigen Opferrolle herauszuholen. Der erzählerische Akt wird dabei zu einem Akt der Selbstbehauptung, wie es besonders eindrücklich in der Rahmengeschichte der entführten Mädchen deutlich wird. Aljona, die ältere der beiden, erzählt ihrer Schwester Sofija vom titelgebenden Verschwinden der Erde, eine Legende, mit der sie die etwas nervige kleine Schwester beim Spielen am Strand erst erschrecken wollte und die sie nun etwas anders erzählt, um Sofija und sich selbst in der existentiellen Situation der Bedrohung Mut zu machen. So wird das Erzählen zur Überlebensstrategie, zum verzweifelten Protest gegen das Schweigen der Gewalt. Der Gewalt der Auslöschung, Unterdrückung oder Indifferenz, die viele verschiedene Gesichter hat und auf das Verhältnis von Frauen und Männern, Indigenen und Zuwanderern, aber auch von Mensch und Natur bezogen werden kann.

Ihr ausgeprägtes Stilgefühl lässt die Autorin intensive emotionale Momente erschaffen, ohne Pathos oder unehrlichen Kitsch aufkommen zu lassen. Immer konzentriert auf das Wesentliche, schreibt sie einfühlsam und kritisch, lebendig, realitätsnah und existenziell. Auch auf inhaltlicher Ebene gelingt es ihr, die Balance zu halten zwischen der literarischen Darstellung der Eigentümlichkeiten des Landes und seiner so vielfältigen Bevölkerung und der Individualität ihrer Figuren. So verknüpft sie die fiktiven Biographien mit der kolonialen und (post)sowjetischen Geschichte Kamtschatkas, um sie doch zugleich als ganz persönliche Schicksale zu gestalten, in die man sich als Leser wunderbar hineinfühlen kann. Und so wie ihre Protagonisten das, was ihnen in der Geschichte widerfährt, als existenziell erleben, so durchweht auch das ganze Buch der zugleich erdverbundene und befreiende Atem menschlicher Universalität.

Bibliographische Angaben
Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde, dtv 2021
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda
ISBN: 9783423282581

Bildquelle
Julia Phillips, Das Verschwinden der Erde
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderMartin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens

Dass Kanada dieses Jahr Gastland der Buchmesse war, hat hierzulande einige tolle literarische Entdeckungen mit sich gebracht, und der Québecer Thrillerautor Martin Michaud mit seiner in jeder Hinsicht packenden Krimireihe um den Ermittler Victor Lessard ist eine davon!

Mich hat es richtig hineingezogen in die bis zur letzten Seite geschickt und vertrackt und überraschend gesponnene Krimihandlung, die vom Selbstmord eines Obdachlosen im Montréal unserer Gegenwart bis zurück in die 1960er Jahre und zum Attentat an John F. Kennedy führt, in der eine geheimnisvolle alte juristische Akte, fragwürdige psychologische Experimente und sogar der Geheimdienst eine Rolle spielen und in die zahlreiche namhafte Personen verwickelt sind, von denen eine nach der anderen auf brutale Weise ermordet aufgefunden wird. Will hier jemand etwas vertuschen oder im Gegenteil eine haarsträubende Geschichte ans Tageslicht bringen? Geht es um Erpressung oder um Rache, oder beruht doch alles nur auf den schizophrenen Wahnvorstellungen eines alten verwahrlosten Mannes, der sich aus Verzweiflung in den Tod gestürzt hat?

Zugegeben, am Anfang war ich etwas skeptisch, der Wechsel zwischen den Perspektiven und Zeiten wirkt erst einmal verwirrend. Doch mit jeder Seite nimmt das komplexe Konstrukt mehr Gestalt an, einzelne Puzzleteile fügen sich zueinander und bald jagt man gemeinsam mit dem Sergent Détective Victor Lessard und seinem Team atemlos neuen Spuren und Erkenntnissen hinterher. Auch die brutalen Szenen, die zu Beginn abschreckend wirken können, werden im weiteren Verlauf nicht grundlos weiter ausgeschlachtet. Der Fokus liegt vielmehr auf den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Figurenpsychologie, nicht nur der Täter, sondern auch, und das macht meiner Ansicht nach das Buch so lesenswert, die des Ermittlerteams und selbst der nur kurz auftretenden Randfiguren. Der Autor nimmt seine Figuren ernst, gibt jeder eine eigene Geschichte, so dass auch die Polizisten nicht auf ihre Ermittlerfunktion beschränkt dargestellt werden, sondern — vor allem durch die vielen lebendigen Dialoge — genauso der familiäre Kontext und ihre Rolle im Team sichtbar gemacht werden. Man hat daher beim Lesen wirklich Menschen vor Augen, die mit all ihren Schrullen und Eigenheiten, Ängsten und Dämonen, mal amüsiert, mal kritisch, und immer einfühlsam gezeigt werden.

Da ist etwa die aufbrausende Jacinthe, die mit einer Frau verheiratet ist, einen rasanten Fahrstil und schier unstillbaren Appetit hat und Victor mit ihrer impulsiven Art und ihren Sticheleien immer wieder auf die Palme bringt, die sich aber insgeheim rührend um ihn sorgt und eine treue und mutige Kollegin ist, auf die er sich jederzeit verlassen kann. Victor Lessard selbst hat der Autor als ganz besonders vielschichtige Persönlichkeit angelegt, in der Summe vielleicht sogar ein bisschen zu vielschichtig, wovon die in einer Reihe erscheinenden Krimis stofflich aber natürlich noch weiter zehren können: Er ist eine sympathische und gepeinigte Figur, ein brillanter Ermittler, ein feinfühliger, aber keineswegs von Fehlern und Charakterschwächen freier Mensch, der schon einige Schicksalsschläge hinter sich hat, die ihre Spuren hinterlassen haben, übrigens im negativen wie im positiven Sinn. So wird auf ein schlimmes Verbrechen in seiner Kindheit angespielt, das ihn
zum Waisenkind gemacht hat, aber ebenso auf die liebevolle und ihn sehr prägende Ersatzfamilie, die er bei einem schwulen Polizisten und dessen Lebensgefährten fand. Außerdem ist er trockener Alkoholiker, geschieden und Vater zweier inzwischen erwachsener Kinder, von denen der Junge Martin ihm immer wieder Sorgen macht. Und auch die Beziehung zu seiner neuen großen Liebe Nadja, wie er im Polizeidienst, aber um einiges jünger, wird im Verlauf der Geschichte auf eine schwere Probe gestellt.

Besonders gefallen hat mir auch, dass in die große und wendungsreich erzählte Kriminalgeschichte so viele kleine Szenen eingebaut sind, in denen nicht nur die Hauptfiguren nochmal von einer anderen Seite gezeigt werden, sondern auch die Randfiguren so an Anschaulichkeit gewinnen, dass insgesamt ein dichtes und lebendiges Bild der kanadischen bzw. nordamerikanischen Gesellschaft entsteht. In einer solchen Szene tritt ein schwarzer Taxifahrer, der mit Witz und Courage ganz selbstverständlich eingreift, als Victor in Dallas verprügelt wird, für einen Moment in den Vordergrund der Handlung. Auch die Scharmützel mit Jacinthe und die erzählerischen Miniaturen, in denen auf tragikomische Weise Victors Duelle mit dem Alkohol geschildert werden, dem er in seiner Verzweiflung mehrfach beinahe wieder verfällt, bleiben einem noch lang in Erinnerung.

„Je me souviens“, „Ich erinnere mich“, heißt das Buch im französischen Original. Das Motiv der Erinnerung und des Fortwirkens der Vergangenheit durchzieht eindrücklich den ganzen Roman. Michaud erzählt eine Geschichte von Unrecht und Gewalt, die nicht selten eine schreckliche Eigendynamik entwickelt, und er stellt auf mehreren Ebenen die Frage, wie Kinder mit dem Erbe ihrer Väter umgehen, wo die Schuld ihren Ursprung hat und wo die eigene Verantwortung einsetzt.

Wer die Kriminalromane von Fred Vargas, Jean-Christophe Grangé oder Olivier Norek mag, der wird bestimmt auch an Martin Michaud seine Freude haben — ich habe ihn jedenfalls schon in die Runde meiner französischsprachigen Lieblingskrimischriftsteller eingereiht.

Bibliographische Angaben
Martin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens, Hoffmann und Campe (2020)
Aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer und Anabelle Assaf
ISBN: 9783455010077

Bildquelle
Martin Michaud, Aus dem Schatten des Vergessens
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderScott Thornley: Der gute Cop

Gute 5oo Seiten komplexer und dichter Krimistoff aus Kanada: Der erste Band der Reihe um den eigenwilligen Ermittler MacNeice, der im Original bereits 2012 erschien, ist etwas für anspruchsvollere und geduldigere Krimileser. Denn auch wenn ein Psychopath in diesem Buch eine wichtige Rolle spielt, handelt es sich hier keinesfalls um einen Gänsehautthriller. Es geht vielmehr um gesellschaftliche und politische Strukturen, die, natürlich in Verbindung mit bestimmten individuellen Biographien, Verbrechen und Gewalt begünstigen.

Der zentrale Schauplatz ist die fiktive Stadt Dundurn in Ontario. Hier ereignen sich gleich mehrere Fälle, in denen sich Gewalt auf erschreckende Weise Ausbruch verschafft und die Polizei, lokale Institutionen und Öffentlichkeit in Atem halten. Zum einen wird das große Hafenbauprojekt der Stadt, das nicht nur dem Bürgermeister sehr am Herzen liegt, von brutalen Morden überschattet: Bei den Bauarbeiten werden im Beton völlig entstellte Leichname gefunden. Gleichzeitig finden im Biker-Milieu mehrere Morde statt. Handelt es sich um Rachefeldzüge konkurrierender Banden oder gibt es einen Zusammenhang mit den Leichen im Hafen? Die Spur führt nämlich nicht nur in ein weit entferntes Pub in den USA, dem Stammlokal einer Gruppe von Afghanistanveteranen, sondern auch zu den ortsansässigen Betonunternehmen, für die einige der Biker Securityjobs übernommen haben.

Parallel dazu wird Dundurn von einer weiteren grausamen Mordserie heimgesucht: Der Täter scheint es auf erfolgreiche junge Frauen mit Migrationshintergrund abgesehen zu haben und es darauf anzulegen, in der Presse und vor allem in den sozialen Medien eine zweifelhafte Berühmtheit zu erlangen. So führt die Spur auch rasch zu einem jungen Mann mit Motorrad, der sich vor kurzem aus dem sozialen Leben zurückgezogen hat. Davor hatte er als Demograph und Statistiker gearbeitet; ein brillanter Kopf, ein introvertierter, arroganter Nerd mit einem maskenhaften Dauerlächeln im Gesicht, so beschreiben ihn die ehemaligen Kollegen, der sich in einem wirren Gespinst aus rassistischen und demographischen Theorien verloren hat. Wir Leser lernen ihn in einigen kurzen Kapiteln persönlich kennen, als eine etwas unheimliche, manisch-besessene Figur, die ununterbrochen Monologe bzw. Zwiegespräche mit ihrem Spiegelbild führt. Der Autor gibt uns auf diese Weise einen kleinen Einblick in die Perspektive des Täters, in seine Logik, sein wahnsinniges, aber eben doch methodisches Denken, ohne ihn und seine Motive jedoch ganz zu Ende zu erklären. So bleibt dieser zugleich kalte und rasende Mensch schwer greifbar, er entzieht sich immer wieder, da ergeht es den Lesern genauso wie den Ermittlern, die ihm nur entgegentreten können, indem sie sich auf sein tödliches Spiel einlassen. Denn eine der Polizistinnen, die für MacNeice mehr ist als eine geschätzte Kollegin, die junge und attraktive promovierte Kriminologin Fiza Aziz, fällt genau in das Beuteschema des Täters und soll der Lockvogel werden, mit dem die Ermittler ihn zu Fall bringen wollen. Ein riskantes Spiel…

Immer wieder ringen die Figuren darum, sich nicht zu stark in den Fall hineinziehen zu lassen, professionell zu bleiben und doch das Äußerste zu geben. Dass das alles andere als ein leichtes Unterfangen ist, zeigt Scott Thornley, indem er seine Figuren genau beobachtet und mit einem Gespür für psychologische Feinheiten immer wieder indirekt charakterisiert:

„Ich glaube nicht, dass seine Erkrankung mit dem Tod seiner Eltern zu tun hat. Er muss schon länger krank sein. Ihr Tod war möglicherweise der Auslöser für alles…“ MacNeice fiel auf, dass Aziz sehr darum bemüht war, jeglichen Abscheu, den sie gegenüber William Dance vielleicht empfand, zu unterdrücken. „Wenn er sich ein Kapitel in den Psychopathologie-Lehrbüchern sichert, dann nicht durch die Morde, sondern durch seinen Gebrauch des Internets“, fügte sie hinzu.

Thornley, Der gute Cop, S. 264

Das ist es im Übrigen auch, was auch den Autor in diesem Fall besonders zu interessieren scheint: nicht die psychopathische Gewalt an sich, als Selbstzweck der Spannung, sondern ihre hinterfragende Einbettung in den gesellschaftlichen und medialen Kontext.

Was ich beim Lesen außerdem sehr wohltuend fand, war der feine Humor, etwa in so manchen Wortwechseln des Ermittlerteams: ein befreiender, menschlicher Gegenpol zur Schwere der fast omnipräsenten Gewalt. Auch wenn es dem Autor ernst mit den Themen und Diskursen ist, die er in seinen Roman einfließen lässt, wirkt seine Geschichte dennoch alles andere als belehrend oder moralisierend. Das gelingt ihm auch dadurch, dass er die verhandelten gesellschaftspolitischen Konflikte von Zeit zu Zeit ironisch bricht, ohne jedoch polemisch zu werden oder sie ins Lächerliche zu ziehen. Immer steht der einzelne Mensch im Vordergrund, nicht der Diskurs, so auch im folgenden Beispiel, einem Auszug aus einem Dialog von MacNeice mit seinem afrokanadischen Mitarbeiter, der gerade Kontakt mit den Kollegen in den USA aufgenommen hat:

„Das macht richtig Spaß, diese grenzüberschreitende Polizeiarbeit. Demetrius wollte wissen, ob ich aus der Karibik stamme. Er konnte nicht glauben, dass meine Familie schon seit Generationen in Kanada ansässig ist — und aus einem Ort namens Africville stammt.“ — „Woher wusste er, dass Sie schwarz sind?“ — „Das weiß man, Sir. Das weiß man einfach.“

Thornley, Der gute Cop, S. 363

Auch wenn MacNeice‘ Ermittlerkollegen individuelle Züge bekommen, die das Potential haben, in den Folgebänden noch weiter ausgeschöpft zu werden, steht im Zentrum doch ganz klar der Kommissar selbst, Detective Superintendent MacNeice. Er ist der „gute Cop“ des Titels, der, so knapp und affirmativ er formuliert ist, es fast schon erzwingt, dass man sich während des Lesens die Frage stellt, ob man diesen Cop wirklich ohne Abstriche einen guten nennen kann. MacNeice ist auf jeden Fall eine äußerst interessante Figur, sympathisch mit all seinen Schrullen, unbestechlich, aufrichtig, mutig und voller Einsatz für die Gerechtigkeit, wenngleich seine guten Eigenschaften mitunter dazu neigen, ins Extrem zu kippen. Mehrfach im Roman riskiert er nicht nur sein Leben, sondern setzt ungewollt auch das seiner Kollegen aufs Spiel. Trotz seiner unbestreitbaren Qualitäten als Chef eines loyalen und gewitzten Teams ist er nämlich auch eine gebrochene, psychisch angeschlagene Figur; den Tod seiner Frau vor vier Jahren hat er noch nicht wirklich verarbeitet, er wird von Alpträumen, Halluzinationen und Schlaflosigkeit geplagt und tröstet sich in seinen einsamen vier Wänden mit dem einen oder anderen Grappa oder der einen oder anderen übersinnlichen Kommunikation mit der Verstorbenen. Diese etwas spleenig anmutende Sensibilität macht ihn jedoch gerade zu dem genialen — nicht fehlerfreien — Ermittler, der er ist: Er ist empathisch, hat feine Antennen und ein großes psychologisches Gespür. Insgesamt also ein Cop, der „irre cool, aber auch irre verrückt“ ist:

„Meiner Meinung nach, Mac, hätten Sie mitsamt Ihrem Team ums Leben kommen können. Es war reines Glück, dass es anders ausgegangen ist.“ — „Glück hat viel damit zu tun, da stimme ich zu. Aber das Risiko, das ich eingegangen bin, war wohlkalkuliert.“ (…) „Gut, in Ordnung. Hören Sie, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, trotzdem frage ich mich, ob Sie nicht manchmal eine Todessehnsucht umtreibt.“ — „Eigentlich nicht.“ MacNeice tat so, als würde er wirklich darüber nachdenken — und musste erkennen, dass es tatsächlich so gewesen war, und mehr als einmal. „Es gibt da nämlich einen verwundeten Polizisten im Dundurn General, der ist der Ansicht, dass dem so sein. Er hat sie als ‚irre cool, aber auch irre verrückt‘ beschrieben.“ MacNeice zuckte mit den Schultern.

Thornley, Der gute Cop, S. 339

Der einzige Vorwurf, den man dem Roman machen könnte, ist, dass er vielleicht etwas vollgepackt ist mit krassen Verbrechen, Explosionen und lebensgefährlichen Einsätzen. Doch zum Glück bewahrt sich der Autor einen sehr realistischen, lebensnahen Stil, sehr lebendig und frei von Plattitüden; auch die viele Action ist kein sensationsheischender Selbstzweck. Bei den spektakulären Einsätzen der Polizei, ebenso wie auch bei den Vernehmungen, werden genauso die langen Zeiten der Vorbereitung und des Abwartens dargestellt. In den vielen Dialogen, in denen übrigens eine der großen Stärken des Romans liegt und die auch sehr idiomatisch ins Deutsche übersetzt sind, bringt Thornley überzeugend das Nervenspiel und die manchmal schier unerträglichen Geduldsproben zum Ausdruck, die Teil der Polizeiarbeit sind. Hinzu kommt, dass die Frage, wie man in Momenten handelt, in denen man überfordert ist, in denen alles gleichzeitig über einem zusammenbricht, gerade ein wichtiges Thema, dem der Autor in seinem Krimi nachgeht. So dient ihm die Dichte der Handlung und die Komplexität der Fälle gerade dazu, die Herausforderung darzustellen, die es bedeutet, wenn man binnen Sekunden eine folgenschwere Entscheidung treffen, den Einsatz von Menschenleben kalkulieren oder Moral und Würde, Professionalität und Gerechtigkeit gegeneinander abwägen muss. Wie groß darf das Risiko sein, dass man eingeht, wie viel Rücksicht ist geboten, auch gegenüber sich selbst, wie weit muss man, wie weit darf man gehen?

Manchmal hätte ich mir noch ein bisschen mehr von den eindringlichen einsamen Szenen im Haus von MacNeice gewünscht, in denen der Polizist auf sein Seelenleben zurückgeworfen ist und die fast wie geschriebene Stillleben anmuten. Aber dieser Krimi war ja erst der Auftakt der Reihe um MacNeice, ich bin also mehr als zuversichtlich, dass da in den folgenden Bänden mit ihm noch einige existentialistische Momente zu erleben sind.

Bibliographische Angaben
Scott Thornley: Der gute Cop, Suhrkamp 2020
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und Andrea O’Brien
ISBN: 9783518470817

bookmark_borderJo Nesbø: Ihr Königreich

Es waren einmal zwei Brüder, der eine etwas älter, in sich gekehrter, der andere offener, draufgängerischer und doch schutzbedürftiger, die verbrachten ihre Kindheit in einem abgelegenen norwegischen Bergdorf, bis nach dem tragischen Unfalltod der Eltern der jüngere der beiden das Dorf verließ, nach Amerika ging — und nun, viele Jahre später, mit einer schönen Frau und hochtrabenden Zukunftsplänen wieder an den Ort der gemeinsamen Vergangenheit zurückkehrt und dadurch ungewollt eine Dynamik in Gang setzt, die seine Familie und schließlich das ganze Dorf in einem Strudel aus Scham, Schuld und Gewalt zu verschlingen droht.

Der neue Krimi Jo Nesbøs hat ein geradezu mythisches Antlitz: Es geht um Liebe in all ihren Extremen, um familiäre Bindung, um Begehren, das immer wieder in Gewalt ausschlägt, um Rivalität und Loyalität, um die Macht des Verdrängten und die Möglichkeit von Vergebung. Ja, das ist nahe am Pathos der griechischen Tragödie, der in einem in der Gegenwart spielenden Spannungsroman schnell fehl am Platz wirken könnte; ja, der Autor schreibt sich hier wirklich ganz nah an die ungezähmten Ursprünge des Menschen heran, ohne seinen Roman jedoch mythisch zu überfrachten. Denn Ihr Königreich ist nicht nur ein düsteres Familiendrama, sondern auch eine epische Milieustudie und ein fein konstruierter psychologischer Krimi, der menschliches Verhalten in Bedrängnis erforscht und seelischen Nöten, widerstreitenden Gefühlen und ethisch-moralischen Konflikten auf den Grund geht. Es ist ein dichtes und beklemmendes Handlungs- und Seelengewebe, das der Autor da entspinnt. Tief und sehr überzeugend durchdringt er die Gefühle und Gedanken seines Ich-Erzählers Roy, des älteren der Brüder, aus dessen Perspektive der Kreislauf der Scham, Schuld und Gewalt Seite für Seite mehr Gestalt annimmt. Es ergreifen einen Mitgefühl und Entsetzen, das Jammern und Schaudern der Tragödie, doch da zugleich immer wieder eine Ebene der Reflexion eingeschoben wird, weist die Geschichte über sich hinaus und geht der Frage nach, was Begriffe wie Loyalität, Familie oder Liebe eigentlich bedeuten, und in welchen seelischen Tiefen man die Wurzeln der Gewalt suchen muss, um vielleicht irgendwann doch einen Ausweg aus der verhängnisvollen Spirale, die sie entfaltet, zu finden:

Manche Geschehnisse — ein kleiner Diebstahl, eine eigentlich vollkommen unwichtige Abfuhr — lassen einen nie mehr los. Sie stecken wie Kugeln im Körper, die sich eingekapselt haben, an kalten Tagen aber schmerzen oder nachts auf seltsame Weise in Bewegung geraten. Man kann hundert Jahre alt sein und spürt trotzdem noch, wie einem die Schamesröte in die Wangen steigt.

Jo Nesbø, Ihr Königreich

Auffällig häufig greift Nesbø hier auch auf Metaphern aus dem Tierreich zurück, vielleicht, um die oft nur schmale Grenze auszuloten, die den vernunftbegabten Menschen von der instinktgetriebenen Animalität unterscheidet — oder eben gerade nicht. So manche biologische Verhaltenslehre gibt anschaulich, wenngleich nicht allzu überraschend, Aufschluss über verschiedene Dynamiken in sozialen Gefügen, über Schwarmverhalten und Herdentrieb, aber auch über Solitäre, über Einzelgänger, die auf Abstand zur Gruppe gehen. Eher ungewöhnlich ist jedoch der Vergleich mit dem exotisch anmutenden Komodowaran, der sich mit seinem schleichend wirkenden Gift der Abgeschlossenheit seiner Umwelt angepasst hat, mit der im Kontext der Romanhandlung natürlich die Unzugänglichkeit des abgeschotteten Bergdorfes gemeint ist:

Giftige Tiere, die an eng begrenzten Orten leben, von denen ihre Beutetiere aus praktischen oder anderen Gründen nicht fliehen können, brauchen kein besonderes, schnell wirkendes Gift. Sie können auf diese schrecklich langsame Art vorgehen.

Jo Nesbø, Ihr Königreich

Das Animalische, Elementare tritt also auch in der Geographie zu Tage: im zerklüfteten, dem Wetter und den Naturgewalten besonders ausgesetzten Schauplatz der norwegischen Berglandschaft, an deren extremstem Punkt das Familiengut der Brüder liegt. Von dort tun sich Abgründe auf: Dort ist das Auto der Eltern abgestürzt, nicht weit entfernt befindet sich auch der See, in dessen Abgrund ein ehemaliger Dorfpolizist versunken ist, und dann gibt es natürlich all die seelischen Abgründe, die Abgründe der Liebe, der Scham, der Gewalt, die gleichfalls dort ihren Ursprung haben.

Zur Freude des spannungshungrigen Krimilesers nimmt die Handlung immer wieder überraschende Wendungen. Im ersten Teil des Romans wird man auf die eine oder andere falsche Fährte gelockt und hegt manch furchtbaren Verdacht; doch sind es wirklich falsche Fährten oder nicht potentielle Abgründe, die in allen Menschen lauern? Auf jeden Fall gelingt Nesbø hier ein vielschichtiges und komplexes Handlungsgefüge, in dem er vergangenes und gegenwärtiges Geschehen spannungsreich miteinander verknüpft, analytisches (die Vergangenheit aufdeckendes) und synthetisches (einem noch offenen Ausgang zusteuerndes) Drama in einem.

Zur mythischen Struktur, die seiner Erzählung zugrunde liegt, gehört auch das so genannte „mimetische Begehren“, das der berühmten Theorie des Literaturwissenschaftlers und Anthropologen René Girard zufolge der zentrale und durch Religion, Kultur, Gesellschaftsinstitutionen zu bändigende Auslöser gewaltsamer Konflikte im menschlichen Zusammenleben ist. Es hätte der expliziten Nennung Girards in der Krimihandlung gar nicht bedurft, illustriert doch das oft ambivalente Verhalten der Protagonisten hier besser als jede vereinfachte Erläuterung der komplexen Theorie dieses zwiespältige Movens menschlichen Verhaltens, von dem so viele alte Mythen erzählen. Wie in vielen dieser Geschichten (Kain und Abel, Romulus und Remus, Polyneikes und Eteokles) baut auch Ihr Königreich auf einer Grundkonstellation auf, in der zwei Brüder einander zugleich in inniger Liebe und unterschwelliger Rivalität verbunden sind. Bei Nesbø liest sich die Kurzfassung der Theorie mimetischen Begehrens übrigens so:

Wenn dein Held sich in eine Frau verliebt, wird es dein unbewusstes Ziel, dieselbe Frau für dich zu gewinnen.
— Hm. Und in wen ist man dann wirklich verliebt? In den Held oder die Frau?

Jo Nesbø, Ihr Königreich

Der mimetische und in Gewalt abgleitende Konflikt, der sich horizontal auf der Ebene der Brüder und der Dorfgemeinschaft manifestiert, ist allerdings schon in vertikaler Linie angelegt. Denn da gibt es auch den übermächtigen, und zugleich gegenüber seinen eigenen Trieben so ohnmächtigen, schwachen Vater, der die eigene Schuld den Söhnen vererbt, die nach seinem Tod erst recht in dessen Bann zu geraten scheinen. Jo Nesbø hat für seinen Krimi wohl auch Freuds psychoanalytische Kulturtheorie vom Vatermord studiert. All dem liegt ein mythisch-zyklisches Weltbild zugrunde, das, so begreifen die Brüder nach und nach, den Kreislauf der Gewalt auf fatale Weise immer weiter nährt:

Wir alle drehen uns im Kreis. Der einzige Ort, an den es uns wirklich zieht, ist der, an dem alles losgegangen ist.

Jo Nesbø, Ihr Königreich

Im Laufe des Romans wird das Thema des mimetischen Begehrens und seines gefährlichen Gewaltpotentials in vielen Variationen ausgelotet: nicht nur bei den beiden Brüdern, sondern auch in den Biographien der anderen Figuren, auf deren Charakterisierung der Autor im Übrigen viel Sorgfalt verwendet.

Jo Nesbø ist, man muss es einfach zugeben, ein begnadeter Krimischreiber, mit einem ganz besonderen Talent für psychologisch dichte, spannende, mitreißende Handlungsgewebe, für Charaktere, die einem beim Lesen ganz lebendig vor Augen treten und deren literarische Überzeugungskraft vielleicht gerade darin liegt, dass sie aufs Ganze gehen, ohne Helden zu sein, dass sie vielmehr eine Verletzlichkeit an sich haben, die zugleich ihre Stärke ist, obwohl ihr auch ein selbstzerstörerisches Moment innewohnt: wie verwundete Tiere, die sich verzweifelt aufbäumen mit aller ihnen noch verbliebenen Kraft.

Bibliographische Angaben
Jo Nesbø: Ihr Königreich, Ullstein (2020)
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
ISBN: 9783550050749

Bildquelle
Jo Nesbø, Ihr Königreich
© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH

bookmark_borderKlüpfel/Kobr: Funkenmord

Juhu, ein neuer „Kluftinger“ zum Mitfiebern und Mitkichern! Ich gestehe — obwohl es sich strenggenommen um einen so genannten Regionalkrimi handelt — dass ich dem schrullig-sympathischen Allgäuer Kommissar und vor allem auch dem Humor seiner beiden Erfinder schon seit langem hoffnungslos verfallen bin.

Dem Allgäuer Autorenduo ist hier aber auch wirklich eine köstliche Fortsetzung des letzten Kluftinger-Falls gelungen, in dem ja noch einiges ungelöst und offen war. Wer hat den Kommissar im Wald bedroht und seine Waffe gestohlen? Und wer hat damals, vor vielen vielen Jahren, als Kluftinger ganz frisch im Polizeidienst war, die junge, attraktive Lehrerin am so genannten Funkensonntag tatsächlich getötet und im Funkenfeuer verbrannt, wenn es der, dem der junge Kluftinger übereifrig ein Geständnis entrang, nun doch nicht gewesen sein kann?

Im neuesten Teil der Kluftinger-Reihe wird ein alter Fall wieder aufgerollt, ein „cold case“, und das ist nicht der einzige neumodische Begriff, über den der Kommissar in diesem Roman stolpert, in dem wie erhofft viele weitere Fettnäpfchen auf ihn warten. Doch wie erhofft werden auch nicht alle Probleme und Krisen einfach so weggelacht. Seit Kluftinger im Zuge des letzten Falls unmittelbar bedroht und der allseits geschätzte Kollege Strobl getötet wurde, liegen die Nerven nicht nur bei Kluftingers zuhause blank, sondern auch bei seinem Team, das den Schock noch nicht richtig verarbeitet hat.

Es gibt aber auch frischen Wind in Kluftingers Abteilung, und zwar in Gestalt einer neuen, jungen Kollegin, die zum anfänglichen Entsetzen des dezimierten männlichen Teams alles andere als damenhaft und unterwürfig auftritt und mit ihrer Aufrichtigkeit und Kompetenz den Kollegen so manches Vorurteil auszutreiben versteht. So entstehen natürlich einige äußerst komische Szenen, mit denen die Autoren einen humorvollen und intelligenten Blick auf das gerade viel diskutierte Thema von Gender- und Gleichstellungsfragen werfen. In diesem Kontext lässt sich auch der Fall verorten, in dem Kluftinger und seine Kollegen ermitteln und in dem es, diesmal durchaus ernsthaft, um von Vorurteilen geprägte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit geht.

Genau das mag ich auch so gerne an dieser Krimireihe, die sich von den meisten anderen „Regionalkrimis“ im Niveau deutlich abhebt: die gute Balance zwischen charmant-witziger Unterhaltung und gesellschaftlich und psychologisch überzeugend recherchiertem Fall, sowie zwischen komischer Distanzierung und Empathie erzeugender Einfühlung in die Charaktere.

So darf man sich auch diesmal wieder auf ein spannendes Krimierlebnis freuen, wobei die Spannung sowohl durch den stimmigen Krimiplot als ganz besonders auch durch die von den beiden Autoren geschickt angewendete Methode einer retardierenden Komik erzeugt wird, also einer Komik, die mit der auf Andeutungen und erst später ausgefüllten Leerstellen basierenden Technik des „suspense“ arbeitet.

Bei mir ist jedenfalls auch diesmal der Funke sofort übergesprungen, und wer Krimis vorzieht, die man abends lesen kann, ohne danach in panische Alpträume zu verfallen, der kann sich mit Klüpfels und Kobrs Funkenmord bestens unterhalten lassen.

Bibliographische Angaben
Volker Klüpfel und Michael Kobr: Funkenmord (= Band 11 der Kluftinger-Reihe), Ullstein 2020
ISBN: 9783550081804

Bildquelle
Volker Klüpfel und Michael Kobr, Funkenmord
© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH

bookmark_borderZoë Beck: Paradise City

Zoë Beck hat sich als Autorin anspruchsvoller Spannungsliteratur in der Vergangenheit bereits einen Namen gemacht, zuletzt in Die Lieferantin und Schwarzblende, in denen sie gesellschaftlich konfliktreiche und komplexe Stoffe der Gegenwart oder einer beunruhigend realistisch erdachten nahen Zukunft auf intelligente und unterhaltsame Weise gestaltet hat. Vielleicht kann man sie ein wenig mit dem französischen Schriftsteller Olivier Norek vergleichen, der in seinen Kriminalromanen ebenfalls sehr überzeugend ein ähnliches Ineinander von Spannung und gesellschaftlicher Wachsamkeit anstrebt. In seinem Roman Entre deux mondes (dt. All dies ist nie geschehen, Blessing 2019) zum Beispiel verarbeitet Norek am Beispiel des „Dschungel“ genannten Flüchtlingslagers in Calais auf vielschichtige Weise das Thema Flucht und Migration, indem er, ähnlich wie das auch Zoë Becks Stärke ist, über die Figurenebene viele ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Thema psychologisch nachvollziehbar und authentisch ins Geschehen einzubinden versteht.

In Becks neuestem Roman, Paradise City, entspinnt sich die Kriminalhandlung vor dem detailreich und durchdacht geschilderten Hintergrund unserer Gesellschaft, wie sie in einer v.a. medizin- und sicherheitstechnisch konsequent weitergeführten Fortentwicklung der Gegenwart in einigen Jahrzehnten aussehen könnte. Auch diesmal wirft die Autorin viele gesellschaftspolitische und ethische Fragen auf und regt über die vielfach ambivalenten Implikationen eines schon heute relevanten Themas zum Nachdenken an, anstatt moralisch eindeutige Antworten zu geben.

Der Klimawandel und das Sicherheitsbedürfnis der Menschen haben ihre Spuren hinterlassen in dem Deutschland, das Zoë Beck sich für ihren neuen Roman ausgemalt hat. So fliegt schon mal ein Papagei vorbei, es gibt heftige Winterstürme und Sturmfluten, so manche Stadt im Norden ist dem gestiegenen Meeresspiegel anheimgefallen, statt Berlin, das nur noch als historisches Ausflugsziel geschätzt wird, als Museum der Vergangenheit —

Wie alle Kinder war sie (die Hauptfigur Liina) mit ihrer Familie schon mal in Berlin gewesen, gebucht hatten sie die Geschichtserlebniswoche „Berlin 2021“

Beck, Paradise City, S. 45

— ist Frankfurt am Main zur Hauptstadt geworden, man reist auch fast nicht mehr und nur innerhalb eines überschaubaren Radius, exotische Länder besucht man höchstens virtuell, gelten sie doch mehr als Gefahrenquelle denn als attraktives Reiseziel, und auch gesundheitstechnisch hat sich einiges getan: Die Bedrohung durch lebensgefährliche Krankheiten wurde minimiert, nachdem Aids und Krebs nun medizinisch geheilt werden können, die schlimmsten bevölkerungsdezimierenden Infektionswellen hat man bereits hinter sich gebracht, und damit sich am erreichten Fortschritt auch nichts ändert, wird alles engmaschig überwacht und kontrolliert. Ein so genanntes Smartcase, der Nachfolger unseres Smartphones, speichert alle Gesundheitsdaten, registriert die kleinsten Anzeichen medizinischer Gefährdung, auf die der auf Prävention eingestellte Algorithmus unmittelbar reagiert, etwa mit der Anweisung bestimmte Tabletten einzunehmen, der vorbeugenden Erhöhung einer Dosis, mit Vorladungen zum Arzt oder ins Krankenhaus. So praktisch das ist und so sehr es die Gesundheitsvorsorge der Menschen verbessert, erinnert ein solcherart mit eigenmächtigen Algorithmen ausgestattetes Gesundheitssystem doch beängstigend an das Sozialkreditsystem, das in China längst Realität ist. Auch in Becks deutscher Zukunftsgesellschaft gibt es etwa für Sport oder regierungspolitische Konformität Zusatzpunkte und eine schönere Wohnung.

Niemand geht ohne Smartcase raus. Mit dem Smartcase bezahlt man, es dient als Personalausweis, sämtliche Zugangsberechtigungen — ebenso wie die Bereiche, für die man gesperrt ist — sind darauf gespeichert, die Gesundheitsdaten sind darüber im Notfall abrufbar, einfach alles. Das Smartcase ist ein flexibler Körperteil, und seit gefühlten Ewigkeiten reden Tech-Konzerne davon, dass es bald komplett unter der Haut verschwindet.

Beck, Paradise City, S. 37

Wichtig zu wissen ist, dass Beck ihr Buch vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie geschrieben hat, es somit Ausdruck eines sich schon länger abzeichnenden gesellschaftlichen Wandels ist und die Autorin darin längerfristige Strukturen untersucht, die uns von der gegenwärtigen Pandemiesituation nur schlaglichtartig ins Bewusstsein gebracht werden.

Im Zentrum dieser immer wieder erschreckend aktuell wirkenden Geschichte steht die junge Liina. Auf ihre Figur konzentriert sich die Autorin am meisten, in ihr laufen alle Fäden der Handlung, des Kriminalfalls zusammen und in ihr kristallisieren sich auch alle thematischen Konfliktfelder des Romans. Liina ist heimliche Mitarbeiterin der im Untergrund tätigen Agentur Gallus, die von Özlem Gerlach und Yassin Schiller geleitet wird. Sie sind in gewissem Sinne Investigativjournalisten, sie recherchieren unermüdlich, wollen Staub aufwirbeln, sie hinterfragen und überprüfen die staatlich monopolisierten Nachrichten und versuchen auf diese Weise aus dem Untergrund heraus eine Art Opposition zu erzeugen und die Regierung zum Handeln zu zwingen: eine durchaus nicht ungefährliche Form des Widerstands. Yassin, einer der Chefs und außerdem Liinas Exfreund aus Studienzeiten, mit dem sie vor kurzem wieder eine Affäre begonnen hat, landet zu Beginn der Geschichte — vermutlich gewaltsam — auf den Gleisen einer einfahrenden S-Bahn und schwebt nun in Lebensgefahr. Dass trotz strenger Kameraüberwachung genau rund um den angeblichen Unfall verschwommene Gestalten auf den Videobildern zu sehen sind, die sich mit ausgefeiltesten technischen Tricks unkenntlich zu machen wussten, schürt den Verdacht von Liina und ihren Kollegen, zumal kurz darauf ein zweiter Anschlag stattfindet, dem Kaya Erden, eine Investigativjournalistin alten Schlags, zum Opfer fällt. Sie hatte mit Yassin wohl eine Recherche geplant, die irgendwer um jeden Preis verhindern will…

Auch Vergangenheit und Gegenwart werden über die Protagonistin Liina miteinander verbunden. Einige Kapitel sind Rückblenden, in denen Liinas Biographie und damit auch die für die gegenwärtigen Ereignisse wichtige Vorgeschichte Gestalt annimmt. Man erfährt, warum sie damals mit Yassin Schluss gemacht und nach Skandinavien gegangen ist, und dass sie selbst aus einem bestimmten Grund, der hier nicht verraten wird, in höchstem Grad von den Fortschritten des Gesundheitssystems abhängig ist, das nun jedoch eine Entscheidung von ihr erzwingt, die sie so nicht treffen will. Man erfährt auch vom schwierigen Verhältnis zu ihrem behinderten Zwillingsbruder, das einen Schatten auf die ansonsten so couragiert gezeichnete Protagonistin wirft, und von ihrer inzwischen als Gesundheitsministerin amtierenden Freundin aus Kindheitstagen, mit der sie damals im abgelegenen, nicht vom GPS erfassten Frankfurter Hinterland eine merkwürdige Dorfgemeinschaft entdeckte. Die Menschen dort waren irgendwie anders, das spürte Liina, auch wenn sie nicht genau verstand, in welcher Weise. In der Stadt hatte sie von den Menschen dort bereits gehört, die man als „die Parallelen“ bezeichnete:

so nannte man die Menschen, die nicht dazugehören wollten. Es gab nur wenige Informationen über sie, und viele Gerüchte.

Beck, Paradise City, S. 125

Liina, die sich mit dem Desinteresse, den Vorurteilen und auch der unbestimmten Angst der Menschen bereits als Kind nicht zufrieden gibt, will sich selbst ein Bild machen und kehrt noch ein paarmal in das verbotene Dorf zurück. Doch erst viel später wird ihr klar, dass die ihr ungewohnt zutraulich begegnenden Kinder dort zum Großteil behindert waren und in ihrer eigenen Gesellschaft, der sichtbaren, offiziellen, nicht gewünscht und nicht vorgesehen waren. Tatsächlich ist diese aus der Zeit und der Norm fallende Gruppe irgendwann aus dem Hinterland verschwunden, und auch zu ihr führt eine der Spuren des kompliziert gestrickten Kriminalfalls, in den Liina Jahre später verwickelt wird.

Während man gespannt der Entwicklung der Geschichte folgt und mit Liina die Puzzlestücke zusammensetzt, nimmt einen eine andere Art von Spannung fast noch mehr gefangen: eine Spannung, die sich aus den ethischen Ambivalenzen ergibt, mit denen man über die Figuren beim Lesen auch selbst konfrontiert wird. Ohne tendenziös oder auf irgendeine Weise voreingenommen zu sein, macht die Autorin aus der Geschichte heraus die große Verantwortung spürbar, die mit den Entscheidungen der Gesellschaft und des Einzelnen verbunden ist, und sie zeigt die Beeinflussbarkeit und Relativität auch bei ethischen Werturteilen, die je nachdem, ob sich die Waagschale durch das Sicherheitsbedürfnis der Menschen auf der Seite der Vorsorge- und Präventionskompetenz des Staates nach unten senkt oder auf derjenigen der (Entscheidungs-) Freiheit, eine ganz andere Richtung oder Gewichtung nehmen können. Auch die künstliche Intelligenz spielt in diese ethische Unsicherheit mit hinein, wenn ein Algorithmus über Leben und Tod, Abtreibung oder Mutterschaft entscheidet. Und auf einmal stellt sich das moralische Gewissen nicht ein, wenn man über eine Abtreibung nachdenkt, sondern wenn man der Gesundheitssoftware (in Becks Roman heißt sie abgekürzt KOS) wertvolle Daten vorenthält:

Eine Schwangerschaft abzubrechen ist so unkompliziert wie eine Zahnreinigung. Es genügt, einen Termin zu machen. Beratung ist jederzeit möglich, aber anders als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird den Frauen kein schlechtes Gewissen gemacht. (…) Die allermeisten Schwangerschaften werden sehr schnell festgestellt, weil fast alle jeden Monat standardisiert Blut und Urin zu Hause mit KOS überprüfen und auswerten lassen.

Beck, Paradise City, S. 58

Warum lassen die Menschen in Paradise City das alles so ungefragt mit sich geschehen? Machen sie sich zu unmündigen Bürgern, indem sie ihre Handlungsfreiheit freiwillig begrenzen? Oder gebieten Vernunft und Gemeinschaftssinn eine derartige Unterordnung unter das technisch verwaltete größere Ganze, zumal auf diese Weise bereits eine sichtbare Verbesserung des allgemeinen Wohlstands erreicht wurde? Ist es überraschend, wenn die Mehrheit dafür ist, es zur Pflicht zu machen, sich auf genetisch bedingte Suchtanfällligkeiten testen zu lassen? Immer wieder umkreist die Autorin in ihrem Roman die Frage der Akzeptanz:

Liina kann sich gut vorstellen, wie die Leute massenhaft diesen Tests zustimmen. Alles wissen wollen, alles planen wollen, nichts dem Zufall überlassen.

Beck, Paradise City, S. 107

Kein Zufall ist es jedenfalls, dass man bei der Lektüre mehr als einmal an den französischen Soziologen Jean Baudrillard erinnert wird, der in seinen Schriften über die Verdrängung von Tod und Krankheit aus den zeitgenössischen Gesellschaften geschrieben hat, die mehr und mehr einem reibungslos funktionierenden, technisch perfektionierbaren System gleichen wollen. Bei Beck liest man: „Bedrohliche medizinische Unklarheiten sind nicht erwünscht. Sie sind nicht Teil des Systems“ (S. 145); der technisch-medizinische Fortschritt ist auch in ihrer romanesken Zukunftswelt an das Modellbild eines gesunden, also „normalen“, „funktionierenden“ Menschen gekoppelt, während alle aus der Norm fallenden Außenseiter der Gesellschaft als Störfaktoren betrachtet werden. Auch ein „unnatürlicher“ Tod, ein Mord oder ein Selbstmord, wird hier zum Skandal, da er das Gesellschaftssystem in Frage stellt und in seiner Logik eigentlich nicht vorkommen darf. Schon ein Unfall ist kritisch und das Höchstmaß des Sagbaren:

Sie checkt die Nachrichten, obwohl sie weiß, wie wenig das bringt. (…) „Unfall“ könnte genauso gut „Selbstmord“ bedeuten, aber man spricht nicht gern von Selbstmorden. Weil sich offiziell so gut wie niemand umbringt. (…) Bei allem, was die alltäglichen Abläufe stört, wird erst einmal ein Anschlag vermutet, was sich nie bestätigt. Andere stellen leise die Sicherheitsvorkehrungen an Bahnhöfen in Frage.

Beck, Paradise City, S. 21

Alles, was die reibungslosen Abläufe durcheinanderbringt, wird in Becks erdachtem Zukunftsdeutschland als Gefahr eingestuft, und das geradezu mythische Sinnbild dieser Gefahr ist das Selbstmordattentat, das, so liest man es bei Baudrillard, das System sprengt und dennoch oder gerade deshalb als Angstvorstellung vor dem Unvorhersehbaren, Gewaltsamen, Irrationalen permanent unter der Oberfläche lauert.

Eine weitere Kehrseite besteht darin, zusammen mit allem Systemfremden, Ineffizienten, Unkontrollierbaren auch die Kontroverse, die Kunst, das Andersartige in den Hintergrund zu drängen, ja auszulöschen. Die Existenz der Untergrundorganisation, für die Liina arbeitet, ist ein starker Hinweis auf die autoritären Züge, die diese Gesellschaft angenommen hat. Handelt es sich um eine schleichend eingeführte Diktatur? Es ist nicht die Rede von einem militärischen Übergriff des Staates und die meisten Menschen heißen die staatlichen Maßnahmen gut, die ihr Leben verlängern und seine Qualität verbessern, aber schrauben sie nicht auch ihre Selbstbestimmung zurück…?

Sie haben saubere Luft zum Atmen, sauberes Trinkwasser, gute Lebensmittel, die beste medizinische Versorgung. Es fehlt ihnen an nichts, weil sie daran glauben, dass es ihnen an nichts fehlt, und Freiheit ist ein viel zu abstraktes Konzept.

Beck, Paradise City, S. 173

An einigen Stellen musste ich an Cécile Wajsbrots jüngsten Roman mit dem deutschen Titel Zerstörung denken (vgl. Rezension vom 19.3.2020), ein stilistisch ganz anders gearteter, poetisch-vielstimmiger Text, der aber eine ähnliche Grundstimmung heraufbeschwört und auf ähnliche Tendenzen aufmerksam macht. Wie in Zerstörung werden auch in Paradise City Museen als Orte der Erinnerung und des reflektierten freiheitlichen Bewusstseins zurückgedrängt zugunsten staatlicher Gebäude und eines zweckrationalen Denkens; hier ein Auszug aus einem Dialog Liinas mit einer Freundin:

„Irgendwo musste ja Platz für die ganzen Bundesministerien geschaffen werden. Die Museen sind jetzt im Quartier Bad Vilbel.“ — „Alle Museen auf einem Haufen?“ — „Praktisch und rentabel, heißt es. Ein Highlight für die Freizeitgestaltung. (…)“ — „Aber das Theater steht noch. In dieser Lage. Erstaunlich. “ — „Noch behält man es für Staatsempfänge, um auf Kultur zu machen. (…)“

Beck, Paradise City, S. 92 f.

Paradise City ist vielleicht weniger ein Thriller, wie es auf dem Buchdeckel angekündigt wird, als ein intelligent und unterhaltsam geschriebener Spannungsroman, der nicht zuletzt auch von seinen erfrischenden Dialogen lebt und die vielfältigen ethischen Dilemmata einer „schönen neuen Welt“ glaubhaft zur Sprache bringt. Auch wenn ich manche Nebenfigur gerne noch ein bisschen näher kennengelernt hätte und mir eine tiefere Zeichnung der Charaktere gewünscht hätte, hat mich der Roman durch seine romaneske Aufbereitung eines gesellschaftlich relevanten Stoffes absolut überzeugt!

Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Paradise City, Suhrkamp (2020)
ISBN: 9783518470558

bookmark_borderJess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas

Ein ganz außergewöhnlicher Kriminalroman mit einer überraschenden und komplexen Handlung, eigenwilligen Charakteren und einem erfrischend „anderen“ Stil, der die Genregrenzen überschreitet und einen durchgehend in Atem hält. Man rätselt und staunt, welche sinnlichen und übersinnlichen Richtungen die Handlung alles beschreitet, die für ihre Leser vom Schaudern bis zum Schmunzeln die ganze Palette der Faszination des Kuriosen bereithält, mit dem sich der Roman im Übrigen auch inhaltlich auf spannende Weise auseinandersetzt.

Ausgangspunkt der Handlung ist eine Kindesentführung: Ein kleines Mädchen verschwindet über Nacht zusammen mit ihrem Kindermädchen vom Schloss des vermeintlichen Vaters, einem unermüdlichen Sammler und Erforscher des Meeres und seiner Geschöpfe. Und dieser Raub gibt Anlass zu verschlungenen Ermittlungen, die in immer finsterere Gefilde und Winkel gesellschaftlicher und menschlicher Abseitigkeit führen, dabei auch immer tiefer in die Vergangenheit reichen und vor allem die Rationalität und den Wirklichkeitssinn couragierter Detektivarbeit zunehmend auf die Probe stellen. Denn je weiter die Recherchen fortschreiten, desto merkwürdiger und suspekter wird die ganze Geschichte. Um das entführte Mädchen ranken sich immer abwegigere Mythen, die sich jedoch durch so manch unheimliches Indiz zu bestätigen scheinen. Immer tiefer blickt man in dämonische Abgründe, immer weniger ist allen Beteiligten zu trauen. So erfährt man, dass fast niemand das Mädchen tatsächlich zu Gesicht bekommen hat, da der Schlossherr es vor neugierigen Blicken schützen wollte — oder war es zum Schutz seiner eigenen Experimente? Das Bild eines mythischen Meer- oder Fischmädchens drängt sich mit irritierender Intensität in die Vorstellung der Ermittler sowie der Leser, doch wohnt das aus der Naturgewalt des Wassers schöpfende Raubtierhafte und Bedrohliche tatsächlich in der Gestalt des sonderbaren Mädchens, oder vielleicht mehr noch in der Gier und der Schaulust der Menschen oder auch in der gefährlichen Dynamik von elenden sozialen Verhältnissen und entarteten Rachebedürfnissen verlorener Seelen…?

Die Erzählung spielt virtuos mit diesem Spannungsfeld von Mythos, Märchen und Übersinnlichkeit einerseits und Sozialrealismus, Forschergeist und Naturwissenschaft andererseits. In den mythische Bilder heraufbeschwörenden Kuriositätenkabinetten und die Exotik ihrer Darbietungen anpreisenden Zirkusattraktionen treffen diese Sphären aufeinander, deren Verwobensein als ambivalenter Kern des Romans auszumachen ist.

Trotz des Entsetzens über die menschlichen Abgründe, die übrigens mehr poetisch-suggestiv als reißerisch und gerade dadurch sehr eindringlich erzählt werden, leuchten doch immer wieder auch Empathie und Barmherzigkeit auf, sowie ein schwarzer Humor, mit dem die Autorin auch durchaus amüsiert und mitfühlend auf die Figuren blickt. Und dann ist da noch die starke und eigensinnige Ermittlerin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, die in ihrer Fülligkeit attraktive, Tabak rauchende und rothaarige Bridie Devine, die im 19. Jahrhundert, in dem der Roman spielt, eine ebenso faszinierende wie provozierende Figur darstellt.

Ebenso eigenwillig wie die Ermittlerin ist auch der ganz eigene, lebhafte und zwischen Suggestion, Realismus und pointierter Direktheit, zwischen Innenschau und Distanz changierende Stil, der mit frechen Dialogen aufwartet und sich jenseits aller heute gängigen Krimiklischees befindet. Dafür knüpft er an eine viel frühere Tradition an, an die des viktorianischen Schauerromans und der mysteriösen und fantastischen Literatur des 19. Jh., wie man sie etwa bei E. A. Poe vorfindet.

Synästhetische Elemente verbinden sich mit mysteriösen und übersinnlichen und verleihen dem Realismus eine nicht endgültig von diesem zu trennende surrealistische Komponente, wie es nur die polyvalente Literatur vermag. So taucht etwa als ständiger mokanter und doch treuer Begleiter der durchscheinende Geist des verstorbenen Boxers Ruby auf, den nur Bridie sehen kann und mit dem sie ein einschneidendes Erlebnis ihrer frühen Kindheit verbindet, an das sie sich jedoch erst ganz am Ende der Geschichte erinnern wird. Der Kriminalfall dient somit auch der Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit der Ermittlerin, die selbst als Waisenkind bei verschiedenen, mehr oder weniger zuverlässigen Mentoren aufwuchs, früh ein auffälliges Interesse für medizinische Eingriffe zeigte und sich auch als Erwachsene nicht einschüchtern lässt von den gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts, die eine weibliche Frau als Ärztin oder Pathologin ebenso verpönen wie eine weibliche Detektivin, sondern in immer wieder angestrengten, mutigen und erfindungsreichen Akten der Selbstbehauptung — von Travestie übers Pfeiferauchen bis zur angemaßten Witwenhaube — den Weg zu gehen versteht, den sie auch ethisch-moralisch als richtig erkennt.

Bibliographische Angaben
Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas, DuMont 2019
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN: 9783832181055

Bildquelle
Jess Kidd, Die Ewigkeit in einem Glas
© 2019 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

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