bookmark_borderChris Whitaker: In den Farben des Dunkels

In den Farben des Dunkels ist Krimi und Gesellschaftsroman in einem, ein sehr amerikanisches Romanepos, das nicht ganz ohne Pathos sehr viel Liebe in die Ausgestaltung der handelnden Figuren legt. Im Laufe der spannend konstruierten und die Neugier der Leser immer wieder geschickt schürenden Handlung entfaltet sich eine an Komplexität gewinnende Geschichte, die hinter den offensichtlicheren moralischen und individualpsychologischen auch gesellschaftspolitischen Fragen einen literarischen Diskussionsraum gibt.

Die Geschichte, die sich anfangs viele Seiten Zeit nimmt, anrührend die entstehende Freundschaft zweier Außenseiter, Saint und Patch, in einer Kleinstadt in den USA zu schildern, schlägt dann, schicksalsgleich, jäh um, als ein schlimmes Verbrechen geschieht. Patch beobachtet, wie ein Mädchen aus seiner Schule von einem Unbekannten angegriffen wird und geht dazwischen. Das Mädchen kann fliehen, Patch aber wird entführt und ist monatelang von der Bildfläche verschwunden. Später erfährt man, dass er die ganze Zeit in völliger Dunkelheit eingesperrt war. Seiner Freundin Saint gelingt es, ihn aus seiner Gefangenschaft zu befreien, der unbekannte Täter jedoch ergreift die Flucht. Danach ist alles anders, für den traumatisierten Jungen Patch ebenso wie für Saint, die verzweifelt an ihrer alten Freundschaft festzuhalten versucht, und auch für die gesamte Kleinstadt, die von weiteren Entführungen erschüttert wird. Patchs Version seiner Geschichte, und dies ist das zentrale psychologische Moment des Romans, glaubt niemand, alle halten seine Behauptung, nicht der einzige Gefangene gewesen zu sein, sondern den dunklen Raum mit einem Mädchen namens Grace geteilt zu haben, die ihn mit ihrer Stimme letztlich am Leben gehalten habe, für die Halluzinationen eines schwer traumatisierten Opfers. Patch wird sein Leben lang nach dieser geheimnisvollen Grace suchen und sein eigenes Leben ganz dieser Suche unterordnen, und Saint wird ihm dabei, aus Freundschaft, aus Liebe, zur Seite stehen, wird es in Kauf nehmen, dass ihre Gefühle nicht erwidert werden und dass auch ihr Leben einen ganz anderen Lauf nehmen wird.

Die private Mission wird dabei mehr und mehr eine gesellschaftliche, es geht um die Aufdeckung einer schrecklichen Serie von Mädchenmorden, die Patch und Saint auf ganz unterschiedlichen Wegen, die sich nur punktuell kreuzen, quer durch die USA führen. Gewalt an Frauen ist das zentrale Thema, das im Lauf der Handlung, im privaten und öffentlichen Raum, immer weiter ausdifferenziert wird. Ganz aus der Handlung heraus, und das ist wirklich die Stärke dieses fast ein wenig zu fesselnd geschriebenen Buches, entfalten sich weitere gesellschaftliche Dimensionen dieses Themas, Themen, die im Amerika der 1970er bis 1990er Jahre größtenteils tabuisiert wurden, es geht um ungewollte Schwangerschaften, um Abtreibungen, um Gewalt in der Ehe, um Scheidung, es geht auch um Homosexualität, um allein erziehende Väter und Mütter, und um die Abgründe der Todesstrafe.

Die meisten dieser wunden Punkte einer nach außen hin liberal auftretenden Gesellschaft werden im Roman eher skizziert, schraffiert, mehr angedeutet als auserzählt. Im Vordergrund steht das individuelle Erleben der Figuren, ihre Schicksale und ihr individueller Umgang damit. Und hier bleibt der Roman doch sehr im amerikanischen, westlichen Wunschbild des Individuums als selbstwirksamer, Schicksale schulternder und sich selbst ermächtigender aufrichtiger Charakter. Richtig handelt, wer unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen weiß, wer sich von der inneren Überzeugung tragen lässt, Courage zeigt. Und wer die Last des Schicksals ohne zu jammern trägt, dabei aber nicht resigniert, sondern sein Opferdasein in Handlungskraft verwandelt. An einigen Stellen scheint dahinter die Frage auf, wie weit ein solch resilientes und engagiertes Handeln in einem krisenhaften gesellschaftlichen Umfeld möglich ist, und welcher Preis, Einsamkeit, Isolation, Ächtung, dafür zu zahlen ist. Solidarität, Freundschaft, Liebe scheinen immer wieder auf, als Gegengift, als Leuchttürme, die dem strauchelnden Individuum im Dunkeln zurück auf den rechten Weg verhelfen können oder einfach nur zeigen, dass es auch in seinem Wahn, seiner Trauer, seiner Verzweiflung, nicht alleine ist. Das mag eine idealisierende Tendenz haben, dass es ins Kitschige gerät, wird aber durch eingebaute Unschärfen an den Rändern verhindert; Saints Liebe zu Patch etwa ist von ihrer Freundschaft nicht klar abzugrenzen, und auch bei vielen weiteren Figurenkonstellationen baut der Autor kleine Ambivalenzen ein. Patch übrigens arbeitet als Maler mit einer immer weiter reifenden Begabung daran, mit den Farben des Dunkels zu experimentieren und so die Unschärfe der Erinnerung zu überwinden, seiner eigenen an das Mädchen Grace und an alles, was sie über sich verriet, und in einem zweiten Schritt auch die ihm ganz fremder Leute, er nimmt Kontakt zu den Familien anderer Opfer auf und verwandelt in einer Art geteilter Trauerarbeit den schmerzhaften Verlust in Kunstwerke, die wiederum in die Realität übergreifen und eine wichtige Spur zur Aufklärung der Verbrechen werden.

Unschärfe und Andeutungsreichtum bekommen an manchen Stellen jedoch auch etwas Fragwürdiges, die zahlreichen historischen Katastrophen und Verbrechen, die quasi als Unterfütterung der fiktiven Handlungselemente immer wieder in die Erzählung gestreut werden, erinnern an vorbeirauschende Infoleisten im Fernsehen oder aufploppende Sensationsnachrichten im Netz. Auf fiktionaler Ebene werden etwa die Alkoholsucht von Patchs Mutter oder das Kriegstrauma seines Vaters ähnlich knapp abgehandelt. Da der Plot und das Erzeugen von Spannung letztlich klar Vorrang haben, drohen die gesellschaftspolitischen Themen an manchen Stellen in eine reißerische Katastrophenkulisse für die unbestritten aufwühlende und berührende Geschichte der Hauptfiguren zu erstarren.

Bibliographische Angaben
Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Piper, 2024
Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch
ISBN: 9783492071536

Bildquelle
Chris Whitaker, In den Farben des Dunkels
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderMartin Suter: Allmen und Herr Weynfeldt

Der Kunstdetektiv Allmen trifft den Kunstsammler Weynfeldt — zwei von Martin Suters malerischsten Figuren in einer Geschichte, das verspricht allen Fans des gepflegt-humorvollen Stils des Schweizer Autors einen ganz besonderen Lesegenuss. Das Versprechen wird zum Teil auch eingelöst, zumindest was die Freude betrifft, mit der sich Martin Suter für seine beiden Figuren subtil anspielungsreiche Szenen ausdenkt, in denen er sie aneinander Gefallen finden lässt. Die beiden, wie könnte es auch anders sein, mögen sich und verstehen sich ziemlich schnell auch ohne große Worte. Es sind andere Dinge, die für sie sprechen, winzige Details in ihrem gegenseitig geschätzten stilsicheren und doch bescheidenen Auftreten, und natürlich die gemeinsame Liebe zu den Wohlgeschmäcken geistiger Getränke, der bevorzugt italienischen, aber wie in einem Understatement auch mal schweizerisch-gutbürgerlichen Küche, und natürlich zur Kunst.

Die Kunst stellt dann auch den Auftakt zum neuen Fall von Allmens Kunstdetektei dar, wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass das Verschwinden eines nicht mit hundertprozentiger Sicherheit Picasso zuzuschreibenden Kleinods aus Weynfeldts Wohnung weit mehr die Freundschaftsgeschichte von Allmen und Weynfeld als die eher belanglose Krimihandlung motiviert. Ich habe mich beim Lesen schon gefragt, warum Weynfeld so an diesem kleinen Bild liegt, dessen kunsthistorische Besonderheit, dessen Bedeutung für Weynfeldt ja auch bei fast jedem Gespräch mit seinen zwangsläufig verdächtigten Freunden andeutungsreich hervorgehoben wird. Eine Erklärung bekommt man aber nicht, nicht einmal andeutungsweise. Und auch die Rolle Lorenas, der dame fatale, die schon in Der letzte Weynfeldt entscheidend in die Kunstintrigen verwickelt war, bleibt hier ein wenig hinter der Erwartung zurück; ihr Auftritt liegt seit den ersten Seiten in der Luft, um dann ziemlich spät, aber erstaunlich unspektakulär und eher kursorisch abgewickelt zu werden.

Wenn auch der Fall eher nebensächlich wirkt, was ein bisschen schade ist, zumal ja sogar ein Mord in Weynfeldts direktem Umfeld passiert, und auch die Geschichte des Bildes Potential zu einer ungewöhnlichen Kunstkrimihandlung hätte, wird in dieser Hommage an die so viele Leser verführende Romanwelt des Autors das Nebensächliche zur eigentlichen Hauptrolle aufgewertet. So kann man sich auf viele kleine humorvolle, augenzwinkernde Szenen freuen, in denen vor allem Carlos und María, die Angestellten und Teilhaber von Allmen, Raum zur Entfaltung ihrer bezaubernden Charaktere bekommen. Carlos hat inzwischen übrigens so viel Geld beiseitegelegt, dass er, in einer Diskretion, die der seines Herrn in nichts nachsteht, der deutlich vermögendere und vor allem liquidere Partner bei Allmen International Inquiries ist. Überhaupt kostet Martin Suter die subtile Vertauschung der Rollen, das Wechselspiel von Schein und Sein, Wahrheit und Lüge wieder nach Herzenslust aus, so dass der Roman auch eine Satire über die Macht des Geldes ist, die allenfalls durch die des Stils gebrochen werden kann, wenn man sie mit der Geschicklichkeit eines Allmen zu kombinieren versteht. Der sich hier übrigens noch das ein odere andere Detail von Weynfeldt abschaut, wie die berühmte Olive im Martini, zu der hier weiter nichts gesagt werden muss.

Also: eine vergnügliche Lektüre für Suterfans, Neueinsteiger sollten aber vielleicht lieber direkt zu Der letzte Weynfeldt greifen, um Martin Suters Gespür nicht nur für Stilfragen, sondern auch für spannend konstruierte Intrigen in der Welt der Kunst und des Geldes kennenzulernen.

Bibliographische Angaben
Martin Suter: Allmen und Herr Weynfeldt, Diogenes 2024
ISBN: 9783257072792

Bildquelle
Martin Suter, Allmen und Herr Weynfeldt
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderRaphaela Edelbauer: DAVE

Mit DAVE bewegt sich die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer in einem gänzlich anderen Genre als mit ihrem so entlarvenden wie witzigen wie sinnlichen Vorgängerroman Das flüssige Land über die verdrängte braune Vergangenheit Österreichs (vgl. Rezension vom 7.5.2020) und auch als mit dem 2023 erschienenen Nachfolgeroman Die Inkommensurablen über das Freudsche Unterbewusstsein der kakanischen Bevölkerung kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Rezension folgt!). Die Geschichte von DAVE spielt in der sogenannten „nahen Zukunft“ und gehört damit einer unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpfenden Science-Fiction an, der Near-Future, mit der etwa auch Zoë Beck in Memoria (vgl. Rezension vom 18.12.2023) oder Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) experimentiert.

Und doch finden sich beim Lesen von DAVE Ähnlichkeiten zu Edelbauers auf den ersten Blick historisch verwurzelteren Stoffen, man könnte von einer metaphorischen Verwandtschaft all ihrer Texte sprechen. Denn alle entwerfen sie eine Welt, die zu bröckeln beginnt, die um die Figuren herum immer poröser wird, in der Gewissheiten erschüttert werden und in der das Ich sich zusammen mit dieser im Einsturz begriffenen Welt aufzulösen droht. Die künstliche Intelligenz DAVE ist so fluide wie die Erinnerung und das Unterbewusstsein in Edelbauers anderen Romanen, und auch sie entspringt einer Welt, in der Verunsicherung und Manipulation in einer mehr als riskanten Beziehung stehen.

In einer solchen Umgebung erstaunt es nicht, dass auch der Ich-Erzähler selbst, der sich Syz nennt, ein unzuverlässiger Erzähler ist. Syz ist Programmierer und trotz seiner seit Kindertagen manifesten mathematischen Begabung, von der man im Laufe der Erzählung erfährt, nur ein Rädchen im Getriebe eines riesigen von der Informationstechnik beherrschten Komplexes, in dem eine Unzahl an Menschen arbeiten und existieren. Es ist eine Welt, deren dystopische Fremdheit und Entfremdung einem nach und nach immer plastischer vor Augen tritt, und die aus nur einem, dafür aber monströsen Gebäude zu bestehen scheint, in dem die Menschen von einer angeblich durch eine Katastrophe unbewohnbar gewordenen Außenwelt abgeschottet ihr gesamtes Dasein verbringen. Der Komplex ist nach einer strengen Hierarchie in verschiedene Etagen gegliedert, unten befindet sich alles, was zur materiellen Produktion gehört, oben residieren die Rechner und diejenigen, die sie bedienen, die Techniker und Informatiker. Auf dieser Ebene befindet sich auch, als quasireligiöses Zentrum, das wie ein Hochsicherheitstrakt abgesperrte Labor, in dem die Computer mit DAVE stehen, dem Programm, das zur heilbringenden künstlichen Intelligenz transformiert werden soll.

Der unscheinbare Syz, dessen Begabung aus einem anfangs unklaren Grund bisher in keiner gehobenen Position in dieser computerbeherrschten Hierarchie gemündet ist, sieht sich auf einmal mit einer streng geheimen und verantwortungsvollen, ja höchst riskanten Mission betraut. Ohne dass diese Information die Mauern des heiligen Zentrums verlassen darf, soll von seinem persönlichen Gedächtnis ein Abbild gemacht und Schritt für Schritt, in immer größerer Perfektion und Datenfeinheit, DAVE eingespeist werden. Der Computer soll nach einer ganz individuellen Menschenpersönlichkeit geformt werden, damit auf diese Weise endlich der entscheidende Entwicklungsschritt gelingen kann, nämlich eine bewusste K.I. hervorzubringen, die sich von den Vorgängern, die alle mehr oder weniger schnell und genau rechnende, aber letztlich unpersönliche Datenspeicher waren, grundlegend unterscheidet. Syz, der nach und nach begreift, in was für ein gefährliches Projekt er da involviert ist, gerät in einen Strudel von Ereignissen, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und sein Gewissen, seine Identität, sein ganzes Leben in Zweifel stürzen. Er beginnt, heimlich Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, was mit seinem verschollenen Vorgänger passiert ist, der vor ihm für DAVEs Bewusstseinsspeisung zuständig war, und worum es sich bei DAVE wirklich handelt: um ein fortschrittliches Projekt, um eine gemeinnützige Forschung zur Rettung der Menschheit, um ein perfides Instrument zur Überwachung und Unterdrückung oder schlichtweg um heillosen Größenwahn.

Die hier nur in den gröbsten Zügen zusammengefasste Handlung liest sich wie ein Thriller, und mindestens ebenso spannend sind die vielfältigen wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurse, die Raphaela Edelbauer in ihren Text hineinstrickt: Geschichtliches zur K.I. und zum Thema Mensch und Maschine, das die Menschheit schon seit Jahrhunderten fasziniert und provoziert, Mathematisch-Philosphisches zum Paradox der Möglichkeit eines künstlichen Bewusstseins, detailreiche Hintergründe zu Mnemotechniken und Gedächtnistheorien, deren praktische Anwendung anschaulich in die Handlung eingebaut wird. Das ist literarisch bewundernswert zusammengefügt, einzig die sehr mit Fremdwörtern angereicherte Sprache und der inzwischen ja leider häufiger zu lesende transitive Gebrauch von „erinnern“ haben mein stilistisches Empfinden beim Lesen mitunter leicht irritiert. Was mir umso mehr gefallen hat, ist der auch in diesem Buch, das ja augenfällig stark dystopische Züge aufweist, unterschwellig nie versiegende Humor, der immer wieder für befreiende und entlarvende Momente sorgt. Die erste Begegnung zwischen Syz und der Frau, mit der sich im Roman eine Liebesgeschichte andeutet, gestaltet die Autorin in einem Dialog, der exemplarisch für ihren intelligent-humorvollen Stil ist:

„Hast du Sofware- oder Maschinendesign studiert? Wofür schule ich dich überhaupt ein?“ —
„Weder noch — ich gehöre zu den unteren zwanzig Prozent“, sagte sie grinsend und ließ sich auf einen Stuhl an einem freien Tisch fallen. „Ich bin Medizinerin.“ — „Du arbeitest mit Menschen?“

Raphaela Edelbauer, DAVE

Eine grundlegende Skepsis gegenüber einer durchdigitalisierten, von künstlichen Intelligenzen bevölkerten Gesellschaft scheint im Text immer wieder durch. Edelbauer denkt das, was gegenwärtig passiert, konsequent weiter und malt es in drastischen Farben aus, um zu erproben, ob die in DAVE angestrebte Optimierung selbst lernender Datensysteme in der Form erstrebenswert oder aber überhaupt möglich ist.

„Wenn DAVE jedes Detail der Welt kennt, jeden Blickwinkel gleichzeitig einnimmt, ist er gelähmt, weil keine Handlung, kein Satz mehr vor den anderen Vorrang besitzt“, sagte Garaus [ein Freund von Syz].

Raphaela Edelbauer, DAVE

Das Argument wird schon länger diskutiert, wenn es etwa um die Problematik ethischer Verantwortung bei autonom fahrenden Automobilen geht. Doch die Gefahren, die für die Gesellschaft entstehen können, wenn Computer die menschliche Intelligenz immer genauer nachbilden oder sogar übertreffen können, sind vielleicht weniger akut als der Umkehrschluss. Denn liegt nicht ein weit größeres und wahrscheinlicheres Risiko in dem Umfang, in dem die Gesellschaft computerförmig gemacht wird? Diese Entwicklung ist längst in Gang gesetzt, schleichend, unsichtbar hinter den scheinbar so rationalen Prozessen der digitalisierten, smarten Systeme verborgen. Wenn wir Menschen uns mehr oder weniger freiwillig in Algorithmen pressen lassen, unser Denken, unser Handeln an deren rein zahlenbasierte — und menschlicher Manipulation ausgelieferter — Logik anpassen, ist das im Grunde weitaus erschreckender und ethisch fragwürdiger als der eher unwahrscheinliche Coup einer zum Leben erweckten K.I. Auf science-fictionalem Wege weitergedacht mündet eine solche Algorithmengläubigkeit darin, dass wir, wie Syz in Edelbauers Roman, in den Alptraum einer Simulation geraten — und zwar mit vollem Bewusstsein. DAVE führt uns zugespitzt den Schrecken einer ewigen Gleichförmigkeit und Wiederholung in einer solchen nur aus Algorithmen bestehenden Welt vor Augen, die uns zu Gefangenen ohne jede Autonomie und Entscheidungsfreiheit macht, welche ja gerade die zentralen Werte unseres Menschseins sind.

Raphaela Edelbauer lässt ihre Leser jedoch zum Glück nicht ohne jede Hoffnung. Das ambitionierte Projekt DAVE ist keineswegs so perfekt durchdacht, wie es seine Erfinder glauben lassen. Und dann ist da immer noch die letztlich unkalkulierbare Variable des Menschlichen, die auch der optimiertesten Technik Hals über Kopf einen Strich durch die Rechnung machen kann:

„Das Beharren auf Schönheit ist eine der fünf Kardinalsünden, die die Vollendung DAVEs verhindern.“ Weitere waren außerdem: der Schlaf, die Trödelei, das Tippen mit weniger als acht Fingern sowie natürlich der Geschlechtstrieb.

Raphaela Edelbauer, DAVE

Bibliographische Angaben
Raphaela Edelbauer: DAVE, Klett-Cotta 2021
ISBN: 9783608964738

Bildquelle
Raphaela Edelbauer, DAVE
© 2024 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderBernhard Jaumann: Turm der blauen Pferde und Caravaggios Schatten

Inzwischen ist schon längst der dritte Band der Krimireihe um die Münchner Kunstdetekei von Schleewitz erschienen (Banksy und der blinde Fleck, vgl. Rezension vom 9.3.2023), höchste Zeit also, eine Besprechung der ersten beiden Fälle hier noch nachzuholen. Denn seit dem ersten Band, Der Turm der blauen Pferde, bin ich ganz begeistert, dass eine neue Krimireihe sich in kurzweiliger und trotz der ernsthaft recherchierten und verhandelten Themen auch in amüsanter Form mit Kunst beschäftigt. Man denkt natürlich sofort an Martin Suters treffliche Allmen-Reihe, doch unterscheidet sich das Milieu, in dem Jaumanns Kunstdetektive ihre Recherchen anstellen, schon sehr von den mondänen Zürcher Kreisen, in denen sich das eigenwillige Herr-Diener-Gespann von Allmen und Carlos bewegt. Zwar führt auch Rupert von Schleewitz, der Inhaber der Münchner Kunstdetektei, ein Adelsprädikat im Namen, doch wohl eher nur der Form halber und als augenzwinkernde Reminszenz des bayerischen an den Schweizer Autor.

Im Turm der blauen Pferde ermitteln von Schleewitz und seine Kollegen in München und im oberbayerischen Land. Ihr Auftrag führt sie weit zurück in die Untiefen der deutschen Geschichte, die auf den verschlungenen Wegen der Vertuschung bis in die Gegenwart reichen, wo sie unter dem Erscheinungsbild der Provenienzforschung nun doch noch ans Licht der empörten Öffentlichkeit gelangen. In den Wirren des zweiten Weltkrieges hatte ein oberbayerischer Bauernjunge in einem Tunnel ein Gemälde entdeckt, das ihn vom ersten Augenblick an faszinierte und in dessen Bann er sein Leben lang gefangen bleiben wird. Eben dieses Gemälde taucht nun im München des 21. Jahrhunderts plötzlich wieder auf — doch ist es auch das Original oder eine ziemlich gelungene Fälschung? Um diese Frage entsteht ein aufregendes Verwirrspiel, das Bernhard Jaumann in einer spannenden, bis zuletzt überraschenden Krimihandlung in Szene setzt.

Der zweite Fall, Caravaggios Schatten, lässt die Detektive ermittlungstechnisch zwischen Potsdam und München pendeln. Ein ehemaliger Schulfreund aus dem Internat überredet Rupert von Schleewitz, gemeinsam mit ihm eine Ausstellung in der Gemäldegalerie von Schloss Sanssouci zu besuchen, wo er wie aus heiterem Himmel, aber gezielt mit einem plötzlich gezückten Messer auf das Gemälde Der ungläubige Thomas von Caravaggio einsticht. Als das Bild kurz darauf zur Restauration mit einem Sicherheitstransport aus dem Museum gebracht wird, wird es gestohlen. Ein Komplott von Kunsträubern, ein abgekartetes Spiel, in das der Bilderstürmer und frühere Schulkamerad nicht ohne Hintergedanken ausgerechnet den Inhaber einer Kunstdetektei hineinzuziehen versucht? Oder handelt es sich um einen privaten Rachefeldzug, der weit in die Schulzeit der beiden zurückreicht? Und welche Rolle spielt darin ihr gemeinsamer Kunstlehrer von damals und die Gerüchte, die es um ihn gab?

Wie im ersten Band lässt Jaumann auch in Caravaggios Schatten wieder verschiedene Akteure einer von vielen unterschiedlichen Leidenschaften und Interessen angetriebenen Kunstszene auftreten, und wieder steht auch diesmal ein Gemälde im Zentrum der Handlung, das nicht bloß ein blasser Aufhänger für eine im Kunstmilieu situierte Intrige ist, sondern auch detailliert beschrieben und wesentlich in die Krimihandlung integriert wird. Die Figuren, die einem im ersten Band ans Herz gewachsen sind, die Mitarbeiter der Kunstdetektei von Schleewitz, werden auch im zweiten Band mit einem liebevollen Schmunzeln für ihre ganz eigenen Persönlichkeiten weiter begleitet und gestaltet, und machen einen wichtigen Grund dafür aus, dass man sich von diesen Kunstkrimis auch so gut unterhalten fühlt. Neben dem schon vorgestellten Rupert von Schleewitz ist der Familienmensch Max Müller, Vater zweier Töchter, vor allem zuständig für die Recherchearbeit im Hintergrund; dabei wird er immer wieder aufgerieben von Loyalitätskonflikten, in die ihn die kleinen und größeren Dramen, die sich zuhause abspielen, auf der einen Seite und das geringe Verständnis auf der anderen Seite stürzen, das seine beiden jungen und ungebundenen Kollegen für seine heimischen Sorgen und Nöte aufbringen. Eine schillernde Figur, die diesmal auch direkt in die Krimihandlung involviert wird, ist der Vater von Ruperts und Max‘ Kollegin Klara Ivanović, ein alternder und äußerst eigenwilliger Performancekünstler, dessen Name sicher nicht zufällig an die serbische Künstlerin Marina Abramović erinnert. Bernhard Jaumann schreibt humorvolle Kunstkrimis, in denen die Kunst wirklich die Hauptrolle spielt — ich bin gespannt, welches Thema aus der vielgestaltigen Welt der Kunst und der Künstler er in seinem vierten Band aufgreift!

Bibliographische Angaben
Bernhard Jaumann: Der Turm der blauen Pferde, Galiani 2021
ISBN: 9783462001488
&
Bernhard Jaumann: Caravaggios Schatten, Galiani 2021
ISBN: 9783869711973

Bildquelle
Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde & ders., Caravaggios Schatten
© 2021 Verlag Galiani Berlin bei Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderZoë Beck: Memoria

Wieder greift Zoë Beck gesellschaftlich brisanten Stoff auf und formt daraus eine spannende Krimihandlung mit durchaus beklemmenden Zügen, so nah ist ihr Near-Future-Szenario wieder an unserer Realität. Während es im Vorgängerroman Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) um ein totalitäre Gestalt annehmendes Gesundheitssystem ging, versetzt sie uns diesmal bereits mit der Eingangsszene — ein verheerender Waldbrand — in eine von den nicht mehr fernen Folgen des Klimawandels in Aufruhr versetzte Welt. Doch Gänsehaut macht vor allem, dass diese Katastrophe in der Welt der Protagonistin Harriet schon fast zu einer neuen Normalität geworden ist. Wie beiläufig erfährt man, dass Temperaturen über 40 Grad nicht zum ersten Mal über die Katastrophenapp angekündigt werden, und auch die sozialen Verhältnisse in Deutschland, wo der Roman spielt, haben sich nun in aller Sichtbarkeit prekarisiert: Harriet wohnt, auch das gehört zur neuen Normalität, obwohl längst erwachsen und berufstätig, in einem kleinen Wohnheimzimmer mit rationierten Strom- und Warmwassertarifen und arbeitet als gelernte Klavierbauerin im Sicherheitsdienst eines Kaufhauses, dessen Waren sie sich selbst, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, nicht im Traum leisten kann.

Durch die eingangs geschilderte Brandkatastrophe gerät Harriet nun in einen Strudel von Ereignissen, die sie in ihre Vergangenheit zurückversetzen und irritierende Bruchstücke von teils widersprüchlichen, teils auch sehr gewaltsamen Erinnerungen wachrufen, die ihr gesamtes gegenwärtiges Leben umstürzen. Harriet beginnt, allem zu misstrauen, nicht zuletzt sich selbst und ihrem eigenen Gedächtnis. Doch mutig, wie Zoë Becks Protagonistinnen es sind, folgt sie auf eigene Faust den Spuren in ihre Vergangenheit und in die tieferen Schichten ihres beschädigten Gedächtnisses. Sie geht von Frankfurt nach München, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist und in der sie als junges Mädchen eine vielversprechende Karriere als Konzertpianistin begonnen hatte; und sie stellt im Umfeld ihres an Demenz erkrankten Vaters Nachforschungen zum Abbruch ihrer Pianistenkarriere und zum Unfalltod ihrer Mutter an.

Was einen außer der spannend konstruierten Geschichte in Atem hält, die man zusammen mit der Protagonistin Seite um Seite und Bruchstück für Bruchstück zu rekonstruieren versucht und die übrigens in der hörenswerten Audiofassung von Milena Karas mit Gespür für den richtigen Tonfall gelesen wird, ist das Geschick der Autorin, gleich mehrere gesellschaftsrelevante Stoffe auf glaubhafte und nachvollziehbare Weise zusammenzubringen. Klimakrise, K.I. und Gedächtnisforschung, Mobbing, Gewalt an Frauen und überhaupt eine beklemmende Auffächerung der verschiedenen Gesichter der Gewalt — auf dem Wege der Fiktion wird deutlich, wie all dies viel mehr miteinander zusammenhängt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Das ist erschreckend, spannend und nicht zuletzt höchst erkenntnisreich.

Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Memoria, Suhrkamp 2023
ISBN: 9783518472927

Hörbuch: Argon Verlag 2023
Gelesen von Milena Karas
ISBN: 9783839820339

Bildquelle
Zoë Beck, Memoria
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderBernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck

Nach NS-Raubkunst und Artnapping bestimmt im dritten Fall, in dem der Autor Bernhard Jaumann seine fiktive Münchner Kunstdetektei von Schleewitz ermitteln lässt, wieder eine brisante Erscheinung in der Welt der Kunst und des ihr eng verbundenen Markts die Krimihandlung.

Scheinbar kreuz und quer in München verteilt tauchen sogenannte Stencils, mithilfe einer Schablone aufgetragene Graffiti, auf, die auf den ersten Blick ganz klar die Handschrift des berühmten britischen Streetartkünstlers Banksy tragen, der trotz wilder Spekulationen seine Identität bis heute geheimhalten konnte. Eine Sensation — die von verschiedenen, Profit witternden Akteuren vorangetrieben wird, offensiv von der Lokalzeitung, etwas mehr im Verborgenen, doch nicht weniger skrupellos von einer namhaften Kunstgalerie, einem Münchner Auktionshaus sowie einem ansässigen Antiquitätenhändler.
Die bereits aus den ersten beiden Bänden bekannten Kunstdetektive Rupert von Schleewitz (Chef und Inhaber der Detektei, mit deren Finanzen es gerade nicht zum Besten steht), Klara Ivanovic (Kunstwissenschaftlerin und Tochter eines eigenwilligen ehemaligen Performancekünstlers mit Parkinson) und Max Müller (Familienvater und für die Recherche zuständig) lassen sich natürlich nicht so leicht blenden und gehen den zahlreichen Ungereimtheiten nach, die im Kontext der fortwährend auf mysteriöse Weise auftauchenden Graffiti zu beobachten sind.

Dem Autor gelingt es auch diesmal, ganz aus einer überzeugenden Romanhandlung heraus ein spannendes und streitbares Phänomen der Kunst, das der Streetart, bewundernswert vielschichtig zu verhandeln: die umstrittene Existenz dieser Kunstform an der Grenze zwischen Kunst und Sachbeschädigung, ihre Flüchtigkeit, die im skandalträchtigen Widerspruch zu ihrer Vermarktung zu teils absurd anmutenden Preisen steht, die Frage nach ihrer Authentizität und ihrem künstlerischen Wert, der weniger in ihr selbst als im mit ihr zu einer Marke verschmolzenen Namen liegt. Zugleich, und das hat mir besonders an dem Text gefallen, problematisiert der Autor in Verbindung mit dem Thema Streetart auch die Großstadt und ihre weniger glanzvollen Erscheinungen der Verwahrlosung und des Prekariats, die im himmelschreienden Widerspruch zur profitorientierten Realitätsferne prominenter Auktionskunst stehen, die ihrerseits mit dem Ideal einer uneigennützigen Kunst, deren Urheber hinter seinem Werk und seiner Botschaft zurücktritt, in einen spannungsvollen Kontrast tritt.

All das hat Bernhard Jaumann in eine stimmige Krimihandlung integriert, in der Gänsehaut nicht durch die Schilderung spektakulärer Mordfälle entsteht, sondern durch eine sich immer deutlicher aufdrängende Ahnung, dass Achtlosigkeit und Ignoranz genauso gewaltsam sein können und viele Taten im Moloch der Großstadt ebenso anonym bleiben wie der Urheber der angeblichen Banksy-Graffiti in dieser Geschichte.

Bibliographische Angaben
Bernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck, Galiani-Berlin 2023
ISBN: 9783869712734

Bildquelle
Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck
© 2023 Verlag Galiani Berlin bei Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderJoël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622

Joël Dickers neuer Roman, in dem ein Schriftsteller namens Joël, der vor ein paar Jahren einen weltweiten Überraschungserfolg mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert feierte, einen neuen Roman zu Ehren seines kürzlich verstorben Verlegers Bernard de Fallois zu schreiben beginnt, erschien letztes Jahr im Verlag Editions de Fallois, zwei Jahre nach dem Tod von Bernard de Fallois, dem Verleger und väterlichen Freund des jungen Schweizer Schriftstellers, der mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert tatsächlich einen überraschenden Welterfolg feierte.

Aber Achtung! So augenzwinkernd Joël Dicker hier auch ein Spiel mit den Ebenen von Fiktion und Realität, von Dichtung und Wahrheit treibt, die verschachtelte, wendungsreiche und turbulente Agenten-, Liebes- und Bankiersgeschichte, die er hier entspinnt, ist dann doch wieder ganz das kreative Produkt seiner schriftstellerischen Imagination, die der Autor in seinen Vorgängerromanen bereits mehrfach bewiesen hat. Die Ausgangskonstellation erinnert an seine anderen Romane, ein unglücklich verliebter Schriftsteller trifft in einem distinguierten Hotel in den Schweizer Bergen nicht weit von Genf, dem Palace de Verbier, eine spitzfindige und abenteuerlustige weibliche Muse, und gemeinsam machen sie sich auf die Spur des geheimnisvollen Mordes, der vor vielen Jahren in eben jenem Hotel auf Zimmer 622 geschah. Puzzlestück für Puzzlestück setzen sie die Geschehnisse zusammen und gehen dafür auch immer weiter in die Vergangenheit zurück, um die verwickelten Intrigen rund um eine Schweizer Bankdynastie zu entwirren. Anfangs meint man, dem Schriftsteller beim Entstehen des neuen Romans direkt über die Schulter schauen zu können — doch so ganz passt das alles dann doch nicht zusammen, woher kommen die Wissensvorsprünge des Erzählers, warum bleibt seine selbst ernannte attraktive Agentin und Co-Ermittlerin so seltsam abstrakt? Und ist der Teufel wirklich ein machthungriger Bankier oder verbirgt sich jemand ganz anderes dahinter?

Joël Dicker ist ein Meister der Konstruktion und sein neues Buch wieder ein äußerst unterhaltsames, bis zur letzten Seite spannendes Intrigenspiel, bei dem der Teufel die Kunst der Maskerade so virtuos beherrscht wie der Schriftsteller das spannungserzeugende Ineinander der verschiedenen Erzählebenen. Immer wenn es romantisch wird, nähert der Roman sich zwar auch dem Kitsch an, doch dient eben diese etwas gröbere Figurenzeichnung, das immer etwas Überzogene, zu dick Aufgetragene dann an anderer Stelle auch wieder so manch köstlicher Gesellschaftssatire. Denn in dieser Welt des äußeren Glanzes, im Milieu der Reichen, Mächtigen und Schönen, die im Dunstkreis der Schweizer Finanzwelt ihren Intrigen nachgehen, ist hinter den Kulissen und den zur Schau getragenen Rollen so einiges am Brodeln. Kein Wunder, dass sich in diesem Biotop auch so mancher Hochstapler tummelt, von denen einer ganz besonders talentiert ist und das Spiel um Geld und Macht, das letztlich alle spielen, zur Perfektion getrieben hat.

Nach über 500 atemlos durchjagten Seiten löst sich dann, teils im fiktionsironischen Wortsinne, teils aber auch in romantischem Wohlgefallen, alles endgültig auf…

— Noch ein Nachtrag: Mein absoluter Liebling von Dicker bleibt Die Geschichte der Baltimores, hier finde ich die Figurenpsychologie einfach am stimmigsten, das Ineinander und Gegeneinander der beiden Familienzweige einfach faszinierend erzählt! Aber auch Die Wahrheit über den Fall Harry Québert, auch Das Verschwinden der Stephanie Mailer sind richtige Schmöker, die ich jedem, der intelligent unterhalten werden will, wärmstens empfehle! Übrigens lesen sie sich auch gut im Original, wer gewisse Vorkenntnisse hat, kann hier ganz nebenbei auch noch wunderbar sein Französisch auffrischen.

Bibliographische Angaben
Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622
Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
ISBN: 9783492070904

Bildquelle
Joël Dicker, Das Geheimnis von Zimmer 622
© 2021 Piper Verlag GmbH, München


bookmark_borderStefan Slupetzky: Im Netz des Lemming

Der Antiheld ist im Kriminalroman heute längst etabliert, ja, letzterer fußt im Spannungsaufbau oft sogar ganz wesentlich auf den aus den Schwächen und Versuchungen der ermittelnden Haupt- und Identifikationsfigur rührenden Konflikten. Doch während etwa im skandinavischen Krimi der Antiheld oft als gebrochene, vom Schicksal gezeichnete Figur auftritt, kommen die Antihelden im österreichischen Krimi — oder vielleicht noch spezifischer in seiner Wienerischen Ausprägung (Heinrich Steinfest, Wolf Haas!) — auf den ersten Blick deutlich unspektakulärer daher. Mit weniger Tragik, dafür mit viel abseitigem Humor. Diese Antihelden sind skurril, schrullig, eigen — aber sie schauen genau hin und decken Abgründe auf, die die anderen nicht sehen, oder nicht sehen wollen.

Leopold Wallisch alias „der Lemming“ ist so einer. Wie so manche seiner internationalen Krimikollegen ist er dem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, versucht aber gar nicht erst, diesem in einem kräftezehrenden, von Gewissensqualen begleiteten Wechsel von Askese und Rückfall abzuschwören. Sich das Leben unnötig schwer zu machen und auf ein traditionelles und bewährtes Trost- und Genussmittel zu verzichten, ist des Lemming Sache nicht. Auch wenn er infolge einer solchen alkoholischen Eskapade einst aus der Kriminalpolizei geworfen wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, die lange Jahre zurückliegt und 2004 im ersten Band der Lemming-Reihe erzählt wurde — der übrigens keine Voraussetzung für das Verständnis des aktuellen sechsten Bandes Im Netz des Lemming darstellt. Als Wachmann im Wiener Tierpark, der ohne Kripoausweis, dafür zeitweise mit peinlichem falschen Bart und Pornobrille ermittelt, wird er hier ganz antiheroisch in einen Kriminalfall hineingezogen, der zu einem wesentlichen Teil im Netz ausgetragen wird und ihn mit den Dynamiken der sozialen Medien konfrontiert, deren Existenz er bisher, ganz altmodisch, erfolgreich verdrängt hat. Aber er ist ja auch Familienvater, Vater eines Sohnes, Ben, der gerade dem Kindesalter zu entwachsen beginnt, aber bereits deutlich mehr Ahnung vom Internet und seinen Gefahren hat als sein Vater. Und Ben drückt sich seit neuestem nicht nur im ätzend-komisch wirkenden pubertären Kurznachrichten- und Hashtagsprech aus, sondern er hat sich vor kurzem auch, ganz uncool, mit Mario angefreundet, der nicht nur das Stigma einer Hasenscharte trägt, sondern auch das einer in den Medien hochgekochten Familientragödie.

Als Mario bei der gemeinsamen Heimfahrt in der Tram mit dem Lemming, die geprägt ist von stockenden Dialogen, aus Verlegenheit angebotenen Bonbons (österr. „Zuckerl“) und plingend eintreffenden Handynachrichten, auf einmal Hals über Kopf aus der Tram springt und sich von der Brücke in den Tod hinabstürzt, kann der Lemming nichts mehr tun, um ihn zu retten. Auf den Schock folgt allerdings bald ein weiterer, nämlich als der Lemming am eigenen Leib die Hetze der Onlinemedien zu spüren bekommt: als vermeintlich pädophiler Psychopath, der sein Opfer mit Zuckerln angelockt und in den Tod gestoßen habe. Dass der Tod des Jungen mit der fatalen Dynamik der sozialen Medien, mit dem Steigerungspotential des Internets zusammenhängt, dass Hatern und Mobbern eine große Öffentlichkeitswirkung gewährt, ist — zumindest dem Lemming und den Lesern — rasch klar, doch der „Scheißsturm“ (O-Ton Lemming), typisch für die Konfusion und sündenbockgierige Schnellschussartigkeit der medialen Erregtheit, prasselt erst einmal ausgerechnet über dem Lemming nieder und verhindert so, dass die Polizei nach den eigentlichen Drahtziehern sucht. Also ermittelt der Lemming, zusammen mit seinem alten Siez- und beinahe Duz-Freund, und in jedem Falle unbedingt Trinkfreund, dem in Folge des Shitstorms ebenfalls beurlaubten Wiener Bezirksinspektor Polivka — übrigens auch außerhalb der Lemming-Reihe Titelfigur eines Krimis von Slupetzky, Polivka hat einen Traum (2014) — auf eigene Faust und gegen das bald nicht mehr nur metaphorische Feuer der medialen Empörung.

Denn es schwelen nicht nur alle möglichen Spreng- und Brandsätze, deren Explosivität allzu oft die ganz reale Folge virtueller Hetzreden ist, etwa wenn gesellschaftliche Themen wie die Flüchtlingspolitik emotionsgeladen und manipulativ aufgegriffen und polarisierend zugespitzt werden, sondern auch so manche politisch-mediale Intrige, ihrem Wesen nach heute eng verbunden mit der Inszenierung im Netz. Augenzwinkernd wird hier am Rande auch die Ibiza-Affäre angedeutet, was natürlich wie die Faust auf österreichische rechte, aber nicht nur rechte, Auge passt, da in dieser Intrige, wie sich im Nachhinein herauskristallisiert, mediale Inszenierung, Manipulation, Macht und Erpressung perfide kriminell zusammengespielt haben. Es gibt also nicht nur diejenigen, die unter dem Schutz der Anonymität des Netzes boshafte Kommentare posten und sich so ihren Frust und ihre Vorurteile wohl vergeblich vom Leib zu schreiben versuchen, sondern — auf gefährliche Weise kaum von diesen zu trennen — auch die Manipulatoren, den bewusst geschürten Hass, die künstlich gesteigerte Polarisierung:

So viel Schmerz, denkt er [der Lemming]. Kann es ein Spiel geben, das nur Verlierer kennt? Wohl kaum. Sogar das schlimmste Spiel — der Krieg — hat seine Profiteure. Nicht die Menschen, die ihn ausfechten, noch nicht einmal die Staaten, die ihn führen, sondern die Leute, die man niemals zu Gesicht bekommt, die Männer hinter schallgeschützten Türen und dunklen Fensterscheiben, die den Hass schüren, ohne selbst zu hassen […] Für sie gibt es kein Miteinander, sondern nur das goldene Kalb des so genannten Wettbewerbs, in dem sie alle mühelos besiegen, weil sie mit gezinkten Würfeln spielen. […] Mehr gelten, mehr erreichen, mehr besitzen zu wollen als die anderen: ein bizarres Hobby. Leider eines, das die Menschheit in den Abgrund stürzt.

Slupetzky, Im Netz des Lemming, S. 178 (Hervorhebung im Original)

In der Krimihandlung realisiert sich dieses metaphorische Bild des Abgrunds ganz wörtlich, vergegenständlicht sich auf tragische Weise in den Menschen, die sich hier tatsächlich in den Abgrund stürzen, die sozusagen zu selbstmörderischen Lemmingen werden, um den inzwischen falsifizierten Mythos aus der Welt der Tiere aufzugreifen. Sprachlich wird diese dem Kern der Krimihandlung innewohnende Tragik freilich immer wieder durch entlarvende und amüsante Wortspiele, die in der Wiener Tradition der ironisch-bösen Selbstkritik und wortgewandten Satire stehen, konterkariert. Was nicht heißt, dass in der Geschichte nicht auch Empathie und aufrichtige Empörung mitschwingen. Doch wird diese, nicht zuletzt dank des Humors, skeptisch reflektiert und bleibt frei von jeder missionarischen Hybris oder Naivität. Slupetzky setzt sprachliche Direktheit und manchmal recht plakativen Wortwitz bewusst als Stilmittel ein; Schmutziges wird nicht sprachlich beschönigt, durch keine anglisierte Form veredelt, sondern als solches benannt; und ein Shitstorm ist nun einmal nichts anderes als ein Scheißsturm. Das lässt einen schmunzeln, aber oft trifft es auch genau ins eben nicht mehr hell verklärte Schwarze hinein:

„[…] Was glauben mir die Leute? Wo bewirke ich das Gegenteil? Wo zaubere ich etwas herbei, wo rücke ich etwas zurecht, wo kehre ich etwas unter den Tisch? Nicht jeder ist ein guter Influencer…“

„Influenza“, unterbricht der Lemming abfällig, „ist eine Krankheit.“

„In gewisser Weise stimmt das. Man ist ein Erreger, man versucht, den Mob zu infizieren. Man steht vor einem ungeheuren Sprengstofflager, das nur darauf wartet, in die Luft zu gehen, und man hat nur ein Streichholz, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen.“

Slupetzky, Im Netz des Lemming, S. 155

Welch fatale Kettenreaktion eine solch medienwirksam inszenierte Erregung auslösen kann, zeigt sich im Verlauf der humorvoll, intelligent und dazu noch äußerst spannend geschriebenen Krimihandlung von Im Netz des Lemming.

Bibliographische Angaben
Stefan Slupetzky: Im Netz des Lemming, Haymon (2020)
ISBN:9783709934975

bookmark_borderJulia Phillips: Das Verschwinden der Erde

Von der ersten Seite an lässt uns die Autorin lesend eine fremde Welt entdecken, die uns trotz der unzähligen Kilometer, die uns von ihr trennen, sofort auch unheimlich vertraut erscheint. Der Schauplatz der Geschichte ist Kamtschatka, diese Halbinsel ganz am asiatischen Rande Russlands, auf der es die faszinierendsten Naturformationen gibt, Vulkane, Geysire, schneebedeckte Steppen und wilde, exotische Tiere, Bären, Robben und Riesenseeadler. Doch indem auf psychologisch sehr stimmige Weise alles durch die Augen der Figuren gesehen, aus ihrem individuellen und eben auch zutiefst menschlichen Blick erzählt wird, wirkt außer der Landschaft nichts exotisch.

Die Amerikanerin Julia Phillips debütiert hier mit einem Roman, für den sie viele Jahre recherchiert hat, auch vor Ort, sie verbrachte einige Zeit in Kamtschatka, und das merkt man dem Buch an, das nicht nur fesselnd geschrieben ist, sondern auch ein differenziertes Porträt der Bevölkerung von Kamtschatka ist und sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt.

Ausgangspunkt und erzählerischer Rahmen ist ein Kriminalfall: Zwei kleine russische Mädchen verschwinden bei einem Ferientagesausflug an den Strand von Petropawlowsk, zuletzt werden sie gesehen, als sie zu einem unbekannten Mann in den Wagen steigen. Doch obwohl sich dieser Entführungsfall wie ein roter Faden durch die Kapitel schlängelt, bezieht die geschickt konstruierte Geschichte ihre Spannung bei weitem nicht nur aus dem mutmaßlichen Verbrechen. Mindestens ebenso spannend ist das, was wir aus den einzelnen Kapiteln, in denen jeweils eine andere Figur im Vordergrund steht, vom Leben der Menschen in Kamtschatka erfahren, von ihren ganz persönlichen Schicksalen, ihren Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Plänen. In dreizehn Kapiteln, die mit Ausnahme des zusätzlich eingeschobenen Silvester-Kapitels von Monat zu Monat springen, erleben wir ein ganzes Jahr auf der Halbinsel: vom August, in dem die Mädchen verschwinden, bis zum Juli des folgenden Jahres. Und in jedem dieser Kapitel oder Monate erklingt eine neue Stimme, die auch eine neue Perspektive auf die Ereignisse und einige der bereits aufgetretenen Figuren wirft, die zur Freude des aufmerksamen Lesers immer wieder unerwartet in anderen Kontexten auftauchen.

So unterschiedlich das Alter, der Charakter, die persönliche Lebenssituation, die gesellschaftliche oder ethnische Herkunft der Figuren sind, eines ist allen diesen Stimmen doch gemeinsam: Es handelt ausschließlich um Frauen bzw. Mädchen, deren weibliche Perspektive die Autorin dank ihrer geschickten Erzählkonstruktion überzeugend in ihrer Vielfalt und Differenziertheit darstellen kann. In die komplexe Auseinandersetzung mit den verschiedenen Fremd- und Selbstbildern dieser Frauen lässt die Autorin auch die gesellschaftliche Position und die familiäre Verankerung mit hineinfließen, und ebenso die Geschichte des Landes, seinen keineswegs unproblematischen Übergang von der Sowjetzeit in die postsowjetische Gegenwart, sowie das auf einer kolonialen Unterdrückungsgeschichte und Vorurteilen beruhende Verhältnis von Indigenen, Russen und Einwanderern.

Ob es sich um eine aus einer indigenen Familie stammende junge Studentin handelt, die von ihrem russischen Freund aus der Ferne kontrolliert wird und sich eine Freiheit herausnimmt, die sie schier überwältigt; um eine Frau, die mit der von ihr erwarteten Rolle seit der Geburt ihres Kindes so überhaupt nicht klarkommt, die sich eingesperrt fühlt in ihrem Zuhause, in dem sie nurmehr Mutter oder Gastgeberin ist, und die sich in Lügen und Ausweichmanöver flüchtet, um ihrem Gefängnis momenteweise zu entkommen; oder um ein verzweifeltes junges Mädchen, dessen Beziehung zur besten Freundin in die Brüche geht, da deren Mutter der Meinung ist, sie sei als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die beruflich viel unterwegs ist, kein Umgang für die eigene Tochter: Alle diese Geschichten, von denen eine jede ungemein aufrichtig und berührend erzählt ist, sind Variationen des Verschwindens, dem all diese Frauen in unterschiedlichsten Formen ausgesetzt sind und gegen das sie sich mit all ihrer Kraft aufzulehnen versuchen. Immer stehen die Figuren an einem Kipppunkt in ihrem Leben, an dem sie sich selbst, ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihre Entscheidungen und Abhängigkeiten in Frage stellen, sie neu betrachten und bewerten, und das ist fast immer schmerzhaft, überwältigend, mutig, oft ungerecht, empörend und manchmal auch sehr traurig oder richtig tragisch.

Das Verhalten der Protagonistinnen wird im Übrigen durchaus ambivalent dargestellt, nicht immer denken und handeln sie so, wie man sich das wünschen würde, aber gerade dadurch gewinnen sie eine Eigenwilligkeit, die dazu beiträgt, sie aus einer einseitigen Opferrolle herauszuholen. Der erzählerische Akt wird dabei zu einem Akt der Selbstbehauptung, wie es besonders eindrücklich in der Rahmengeschichte der entführten Mädchen deutlich wird. Aljona, die ältere der beiden, erzählt ihrer Schwester Sofija vom titelgebenden Verschwinden der Erde, eine Legende, mit der sie die etwas nervige kleine Schwester beim Spielen am Strand erst erschrecken wollte und die sie nun etwas anders erzählt, um Sofija und sich selbst in der existentiellen Situation der Bedrohung Mut zu machen. So wird das Erzählen zur Überlebensstrategie, zum verzweifelten Protest gegen das Schweigen der Gewalt. Der Gewalt der Auslöschung, Unterdrückung oder Indifferenz, die viele verschiedene Gesichter hat und auf das Verhältnis von Frauen und Männern, Indigenen und Zuwanderern, aber auch von Mensch und Natur bezogen werden kann.

Ihr ausgeprägtes Stilgefühl lässt die Autorin intensive emotionale Momente erschaffen, ohne Pathos oder unehrlichen Kitsch aufkommen zu lassen. Immer konzentriert auf das Wesentliche, schreibt sie einfühlsam und kritisch, lebendig, realitätsnah und existenziell. Auch auf inhaltlicher Ebene gelingt es ihr, die Balance zu halten zwischen der literarischen Darstellung der Eigentümlichkeiten des Landes und seiner so vielfältigen Bevölkerung und der Individualität ihrer Figuren. So verknüpft sie die fiktiven Biographien mit der kolonialen und (post)sowjetischen Geschichte Kamtschatkas, um sie doch zugleich als ganz persönliche Schicksale zu gestalten, in die man sich als Leser wunderbar hineinfühlen kann. Und so wie ihre Protagonisten das, was ihnen in der Geschichte widerfährt, als existenziell erleben, so durchweht auch das ganze Buch der zugleich erdverbundene und befreiende Atem menschlicher Universalität.

Bibliographische Angaben
Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde, dtv 2021
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda
ISBN: 9783423282581

Bildquelle
Julia Phillips, Das Verschwinden der Erde
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderMartin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens

Dass Kanada dieses Jahr Gastland der Buchmesse war, hat hierzulande einige tolle literarische Entdeckungen mit sich gebracht, und der Québecer Thrillerautor Martin Michaud mit seiner in jeder Hinsicht packenden Krimireihe um den Ermittler Victor Lessard ist eine davon!

Mich hat es richtig hineingezogen in die bis zur letzten Seite geschickt und vertrackt und überraschend gesponnene Krimihandlung, die vom Selbstmord eines Obdachlosen im Montréal unserer Gegenwart bis zurück in die 1960er Jahre und zum Attentat an John F. Kennedy führt, in der eine geheimnisvolle alte juristische Akte, fragwürdige psychologische Experimente und sogar der Geheimdienst eine Rolle spielen und in die zahlreiche namhafte Personen verwickelt sind, von denen eine nach der anderen auf brutale Weise ermordet aufgefunden wird. Will hier jemand etwas vertuschen oder im Gegenteil eine haarsträubende Geschichte ans Tageslicht bringen? Geht es um Erpressung oder um Rache, oder beruht doch alles nur auf den schizophrenen Wahnvorstellungen eines alten verwahrlosten Mannes, der sich aus Verzweiflung in den Tod gestürzt hat?

Zugegeben, am Anfang war ich etwas skeptisch, der Wechsel zwischen den Perspektiven und Zeiten wirkt erst einmal verwirrend. Doch mit jeder Seite nimmt das komplexe Konstrukt mehr Gestalt an, einzelne Puzzleteile fügen sich zueinander und bald jagt man gemeinsam mit dem Sergent Détective Victor Lessard und seinem Team atemlos neuen Spuren und Erkenntnissen hinterher. Auch die brutalen Szenen, die zu Beginn abschreckend wirken können, werden im weiteren Verlauf nicht grundlos weiter ausgeschlachtet. Der Fokus liegt vielmehr auf den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Figurenpsychologie, nicht nur der Täter, sondern auch, und das macht meiner Ansicht nach das Buch so lesenswert, die des Ermittlerteams und selbst der nur kurz auftretenden Randfiguren. Der Autor nimmt seine Figuren ernst, gibt jeder eine eigene Geschichte, so dass auch die Polizisten nicht auf ihre Ermittlerfunktion beschränkt dargestellt werden, sondern — vor allem durch die vielen lebendigen Dialoge — genauso der familiäre Kontext und ihre Rolle im Team sichtbar gemacht werden. Man hat daher beim Lesen wirklich Menschen vor Augen, die mit all ihren Schrullen und Eigenheiten, Ängsten und Dämonen, mal amüsiert, mal kritisch, und immer einfühlsam gezeigt werden.

Da ist etwa die aufbrausende Jacinthe, die mit einer Frau verheiratet ist, einen rasanten Fahrstil und schier unstillbaren Appetit hat und Victor mit ihrer impulsiven Art und ihren Sticheleien immer wieder auf die Palme bringt, die sich aber insgeheim rührend um ihn sorgt und eine treue und mutige Kollegin ist, auf die er sich jederzeit verlassen kann. Victor Lessard selbst hat der Autor als ganz besonders vielschichtige Persönlichkeit angelegt, in der Summe vielleicht sogar ein bisschen zu vielschichtig, wovon die in einer Reihe erscheinenden Krimis stofflich aber natürlich noch weiter zehren können: Er ist eine sympathische und gepeinigte Figur, ein brillanter Ermittler, ein feinfühliger, aber keineswegs von Fehlern und Charakterschwächen freier Mensch, der schon einige Schicksalsschläge hinter sich hat, die ihre Spuren hinterlassen haben, übrigens im negativen wie im positiven Sinn. So wird auf ein schlimmes Verbrechen in seiner Kindheit angespielt, das ihn
zum Waisenkind gemacht hat, aber ebenso auf die liebevolle und ihn sehr prägende Ersatzfamilie, die er bei einem schwulen Polizisten und dessen Lebensgefährten fand. Außerdem ist er trockener Alkoholiker, geschieden und Vater zweier inzwischen erwachsener Kinder, von denen der Junge Martin ihm immer wieder Sorgen macht. Und auch die Beziehung zu seiner neuen großen Liebe Nadja, wie er im Polizeidienst, aber um einiges jünger, wird im Verlauf der Geschichte auf eine schwere Probe gestellt.

Besonders gefallen hat mir auch, dass in die große und wendungsreich erzählte Kriminalgeschichte so viele kleine Szenen eingebaut sind, in denen nicht nur die Hauptfiguren nochmal von einer anderen Seite gezeigt werden, sondern auch die Randfiguren so an Anschaulichkeit gewinnen, dass insgesamt ein dichtes und lebendiges Bild der kanadischen bzw. nordamerikanischen Gesellschaft entsteht. In einer solchen Szene tritt ein schwarzer Taxifahrer, der mit Witz und Courage ganz selbstverständlich eingreift, als Victor in Dallas verprügelt wird, für einen Moment in den Vordergrund der Handlung. Auch die Scharmützel mit Jacinthe und die erzählerischen Miniaturen, in denen auf tragikomische Weise Victors Duelle mit dem Alkohol geschildert werden, dem er in seiner Verzweiflung mehrfach beinahe wieder verfällt, bleiben einem noch lang in Erinnerung.

„Je me souviens“, „Ich erinnere mich“, heißt das Buch im französischen Original. Das Motiv der Erinnerung und des Fortwirkens der Vergangenheit durchzieht eindrücklich den ganzen Roman. Michaud erzählt eine Geschichte von Unrecht und Gewalt, die nicht selten eine schreckliche Eigendynamik entwickelt, und er stellt auf mehreren Ebenen die Frage, wie Kinder mit dem Erbe ihrer Väter umgehen, wo die Schuld ihren Ursprung hat und wo die eigene Verantwortung einsetzt.

Wer die Kriminalromane von Fred Vargas, Jean-Christophe Grangé oder Olivier Norek mag, der wird bestimmt auch an Martin Michaud seine Freude haben — ich habe ihn jedenfalls schon in die Runde meiner französischsprachigen Lieblingskrimischriftsteller eingereiht.

Bibliographische Angaben
Martin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens, Hoffmann und Campe (2020)
Aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer und Anabelle Assaf
ISBN: 9783455010077

Bildquelle
Martin Michaud, Aus dem Schatten des Vergessens
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

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