bookmark_borderMieko Kawakami: Brüste und Eier

Für mich ist Brüste und Eier die literarische Überraschungssensation aus Japan! Mit jeder Seite hat mich das Buch, bei dem natürlich zuerst der auffällig-amüsante Titel ins Auge sticht, thematisch und stilistisch mehr fasziniert.

Der Roman bebildert eine ganze Palette tradierter und neuer, provozierender und miteinander kollidierender weiblicher Rollenbilder, die Mieko Kawakami, die Autorin, im Laufe der Handlung in ihrem ganz eigenen Stil aus den verschiedenen sehr lebensecht gezeichneten Figuren herausarbeitet. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Gesellschaftsportät, das alle so unterschiedlich gearteten Lebensentwürfe und die Individuen, die dahinter stehen, zugleich ernst nimmt und doch immer wieder auch mit einem humoristischen, entlarvenden Blick bedenkt. Es geht — und hier kann man sich ganz wunderbar mit den Figuren identifizieren — um die tastende, experimentierende, sich vergleichende Suche nach einem Ort für das (v.a. weibliche) Ich in der Gesellschaft.

Dabei ist der Roman alles andere als ein Selbstfindungsratgeber oder ein so genannter „Frauenroman“, er gerät auch nicht in die Nähe eines feministischen Manifests oder eines Thesenromans, sondern er bleibt auf jeder Seite richtig gute fiktionale Literatur, ein polyvalenter Text, der relevante soziale und allgemeinmenschliche Fragen aufwirft und sie in eine spannende Geschichte einbettet.

Los geht diese mit dem titelgebenden ersten Teil, der auf einer Novelle basiert, für die Kawakami 2008 bereits den wichtigsten japanischen Literaturpreis bekam. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Natsuko, einer 30-jährigen Schriftstellerin aus armen Verhältnissen, die noch nichts veröffentlicht hat und sich mit verschiedenen Jobs in der Großstadt Tokyo über Wasser hält. Im Sommer, in dem die Geschichte beginnt, bekommt sie Besuch aus ihrer Heimat Osaka: von ihrer älteren Schwester Makiko, die mit ihrem alternden Körper hadert und von der Idee besessen ist, sich in Tokyo die Brüste vergrößern zu lassen, und deren junger Tochter Midoriko, die den Beginn ihrer Pubertät wie einen Schock durchlebt und seit kurzem aufgehört hat, mit ihrer Mutter zu sprechen. Stattdessen kommuniziert sie, soweit nötig, über ein Notizbuch. In ein weiteres Buch schreibt sie ihre Tagebucheinträge, die im Text mit abgedruckt werden. Sie verraten die Empörung und Verunsicherung, ja die Verzweiflung, mit der Midoriko ihre hormonelle Veränderung vom Kind zur Frau und die damit verbundenen genderspezifischen Zuschreibungen beobachtet. Beim Wiedersehen eines Spielzeugroboters, in den kleine Kinder zum Spaß hineinschlüpfen können, gewinnt ihre Erinnerung an ein solches Erlebnis in ihrer eigenen Kindheit plötzlich eine ganz neue, erschreckende Dimension:

Die Hand bewegt sich. Die Beine bewegen sich auch. Komisch, wenn man, ohne zu wissen, wie es geht, einzelne Teile bewegen kann. Ich bin plötzlich in meinem Körper, und der Körper verändert sich, ständig und ohne mein Zutun. Warum kann mir das nicht einfach egal sein? Der Körper verändert sich weiter. Das ist düster. Diese Düsternis füllt meine Augen, am liebsten würde ich sie zumachen. Aber ich habe Angst, dass ich sie dann nicht mehr aufmachen kann. Meine Augen quälen mich.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I, Eintrag Midoriko

Das Verhältnis Midorikos zu ihrer Mutter ist nicht nur dadurch gestört, dass sie entsetzt über die geplante Schönheitsoperation ihrer Mutter ist, die sie als einen verheerenden Eingriff in die ohnehin beunruhigende weibliche Körperlichkeit empfindet, sondern auch durch ein sozial bedingtes Gefühl der Ohnmacht, hilflos zusehen zu müssen, wie ihre Mutter sich als billige Arbeitskraft in einem Nachtclub ausbeuten lässt, um sich und ihrer Tochter gerade so ein bescheidenes Leben zu ermöglichen.

Natsuko beobachtet die sich zuspitzende und schließlich kathartisch entladende Anspannung zwischen Mutter und Tochter, und macht sich — und hier deutet sich bereits die Schriftstellerin an, die sie im Begriff ist zu werden — ihre eigenen Gedanken über die tieferen Ursachen der Krise:

Oje, dachte ich, den beiden fehlen die Worte. Mir fehlten in dem Moment natürlich auch die Worte. Worte, Worte, wiederholte ich im Geist, aber sagen konnte ich nichts.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I

Die Suche nach Worten, ihre kontextuelle Einordnung und Gewichtung sowie ihre folgenreiche, sich mitunter verselbständigende Wirkung setzt sich auch im zweiten Teil des Romans fort, der etwa ein Jahrzehnt später spielt. Natsuko hat inzwischen recht erfolgreich einen Roman veröffentlicht und arbeitet an einem zweiten, mit dem sie jedoch nicht wirklich gut vorankommt. Die Berufswelt drängt sich nun in den Vordergrund, während im ersten Teil Familie und Herkunft im Zentrum standen. Natsuko trifft sich mit ihrer Agentin, mit Kolleginnen, geht leicht befremdet zu Autorenlesungen, schreibt Essays und denkt eher lustlos über die Weiterentwicklung ihres Romankonzepts nach. Doch unversehens ergreift ein neues Thema Besitz von ihr, schiebt sich mit einem immer nachdrücklicheren Kinderwunsch das Thema der familiären Gestaltung des eigenen Lebens nach vorne, und auch das Thema der eigenen Herkunft lässt sich in diesem Zusammenhang nurmehr schwer verdrängen.

So besucht die inzwischen Ende 30-jährige, allein lebende Natsuko Vorträge und Diskussionsrunden zum Thema Samenspende, wo sie den gleichaltrigen Jun Aizawa kennenlernt, der sich als Betroffener engagiert: Mit einer Samenspende gezeugt, ist er seit langem vergeblich auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Es entwickelt sich zunächst etwas holprig und dann doch ganz behutsam eine Freundschaft zwischen den beiden; Jun und Natsuko kommen sich emotional näher, doch Natsukos Asexualität und Juns als traumatisch empfundene Vaterlosigkeit stellen so einige Hürden bereit, in denen sich persönliche Ängste und gesellschaftliche Tabus zu scheinbarer Unüberwindlichkeit auftürmen.

Die beiden Romanteile erscheinen auf den ersten Blick fast wie zwei eigenständige Geschichten, die sich aber dann sehr stimmig zu einem romanesken Gesamtwerk fügen, verbunden durch die Stimme der Ich-Erzählerin, für die die junge japanische Autorin einen sehr überzeugenden, eigenwilligen und zugleich sympathischen Stil gefunden hat. Denn Natsuko stellt sich permanent infrage, sie lebt ihr Leben reflektiert, beobachtet und sinniert, wie sie sich und ihre Bedürfnisse im Verhältnis zur Gesellschaft, zur Familie, zu den Kollegen und Freunden positionieren soll. Sie macht schmerzhafte Erfahrungen, leidet unter großen Unsicherheiten und Zweifeln, erlebt aber auch intensiv die schönen Momente und durchlebt sehr bewusst die immer wieder an die Oberfläche drängenden Erinnerungen an ihre früh verstorbene Mutter und ihre Großmutter.

Da sich die Handlung an den so vielfältigen Fragen der Weiblichkeit entzündet, steht die Frage nach dem Selbstverständnis der Frau, ihrer Unterdrückung und den in Japan noch immer einflussreichen starren Rollenbildern im Spannungsfeld mit den immer größeren Möglichkeiten der Technik sowie mit generellen Erwartungen und Ansprüchen wie körperlicher Schönheit und Mutterschaft. Ohnehin ein komplexes Gefilde wird es, so zeigt die Autorin anschaulich, umso komplizierter, wenn man in irgendeiner Form aus der Rolle fällt, wie die asexuelle Erzählerin Natsuko, die auch ohne eheliche, sexuelle Bindung ein Kind großziehen möchte.

Über die Form des Dialogs, den Kawakami meisterlich beherrscht, lernt man auf fast beiläufige, aber zugleich sehr direkte und intensive Weise eine Vielzahl verschiedener hauptsächlich weiblicher Biographien kennen. Die Charaktere, die in den Gesprächen, aber auch durch die feinen Beobachtungen der Ich-Erzählerin ganz rund und plastisch hervortreten, haben alle ihre ganz eigene Geschichte, ihre eigene Haltung, und verfolgen, auch wenn das Schicksal mit voller Wucht zugeschlagen hat, doch mehr oder weniger hartnäckig ihren eigenen Weg, der jedoch für jede ein ganz anderer ist.

In Beziehungsfragen genauso wie bei der Frage, ob man sich dafür oder dagegen entscheidet, ein Kind zu bekommen, gibt es keine allgemeine Richtlinie. Und man kann so viele rationale Abwägungen vornehmen, wie man will, letztlich ist es eine Entscheidung, die jede Frau, jeder Mensch immer von neuem für sich treffen muss und die immer auch ein Sprung ins Ungewisse ist, wie es gegenwärtig etwa auch die amerikanische Philosophin L.A. Paul in ihrer Forschung zu Rationalität und Mutterschaft skizziert (vgl. Dies.: Was können wir wissen, bevor wir uns entscheiden? Von Kinderwünschen und Vernunftgründen, Reclam 2020). Und das erahnt nach vielen Gesprächen, Enttäuschungen und Ermutigungen auch die Romanfigur Natsuko immer deutlicher und trifft deshalb am Ende des Romans tatsächlich eine Entscheidung — eine Entscheidung, die ihre eigene ist, und zugleich das Spiel des Lebens, des Zufalls, der Begegnung zulässt…

So vielstimmig hier ein komplexes Thema behandelt wird, so faszinierend ist die écriture, der stilistische Ton der Autorin, der von einem tiefen, anschaulichen und sehr flüssig lesbaren Realismus geprägt ist, sich jedoch manchmal leicht satirisch zuspitzt und mitunter ins Surreale, ins Traumhaft-Psychologische gleitet, poetisch ins Innenleben der Erzählerin eintaucht und insgesamt eine unvergleichlich fesselnde Erzählung hervorbringt, die lang und intensiv in einem nachklingt, ob man nun aus Japan kommt oder aus einem anderen Land, ob man sich über einen Kinderwunsch den Kopf zerbricht oder unsicher in seinem Körper fühlt. Die Entscheidung, den Roman zu lesen, ist in jedem Fall ein Wagnis, das ich unbedingt empfehle einzugehen!

Bibliographische Angaben
Mieko Kawakami: Brüste und Eier, DuMont 2020
Aus dem Japanischen übersetzt von Katja Busson
ISBN: 9783832170431

Bildquelle
Mieko Kawakami, Brüste und Eier
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderRebecca Makkai: Die Optimisten

Eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und grünem Schal, einem strengen Zug um die definierten roten Lippen und vor allem mit diesen schräg stehenden grünen Mandelaugen, deren unergründlicher, irgendwie unnahbarer und doch so vielsagender Blick den Betrachter in Bann schlägt, der das Geheimnis, die Geschichte, die Gedanken dahinter so gerne herausfinden möchte…

Das in mehrfacher Hinsicht treffend gewählte Titelbild der deutschen Ausgabe des neuen Romans von Rebecca Makkai wird unter dem Titel „Ritratto di Maria“ dem früh an Tuberkulose verstorbenen italienischen Künstler Amedeo Modigliani (1884-1920) zugeschrieben, ist wohl 1918 entstanden und erinnert in Stil und Ausdruck an andere Porträtmalereien des Künstlers, etwa an die, die er von seiner Verlobten und Künstlerkollegin Jeanne Hébuterne anfertigte. Und doch ist die Echtheit des Bildes umstritten: Kurz bevor der Roman 2018 in Amerika erschien, hatte sich — nicht zum ersten Mal — eine Debatte um die Authentizität mehrerer Werke entzündet, die 2017 in einer Modigliani-Ausstellung in Genua gezeigt wurden, darunter auch das Porträt „Maria“.

Die Kunst, nicht nur Modiglianis, ist eines der großen Themen von Makkais neuem Roman, das die Autorin auf erzählerisch großartige Weise mit weiteren Themenfeldern verknüpft. Indem sie der Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Leben, Kunst und Vergänglichkeit, dem (ideellen, ästhetischen und kommerziellen) Wert von Kunst nachgeht, entwirft sie im gleichen Atemzug eine packende Geschichte über Krankheit und Tod, über die Zeit, in der das tödliche Aids-Virus entdeckt wurde, über Freundschaft, Familie, Schuld und Verantwortung, und ist dabei — so wie Modigliani in seiner Kunst — ihren Figuren, den Menschen, die sie in ihren Ängsten und Freuden, ihrem Leiden und ihrer Hoffnung, zeichnet, stets ganz nah.

Entsprechend intensiv ist das Leseerlebnis, das einen die epischen 600 Seiten, die der Roman umfasst, wie im Fluge lesen lässt. Der Autorin gelingt es, einen überzeugenden historischen Bogen zu konstruieren, der von der Zeit um den Ersten Weltkrieg in der Pariser Künstlerszene über die in der vom Schrecken der neuen unheilbaren Krankheit Aids geprägten 1980er Jahre in Chicago bis ins Jahr 2015 reicht, in der die Überlebenden und Nachgeborenen ihre eigenen inneren und äußeren Kämpfe austragen und die noch losen Enden zwar zum Glück nicht zu einem kitschig-rosigen Happy End, aber immerhin doch zu einer Art poetischer Gerechtigkeit zusammengeführt werden.

Die Kapitel wechseln zwischen der Perspektive von Yale Tishman, einem jungen Galeristen, und seinem zum Großteil schwulen Freundeskreis in den Jahren 1985/86 in Chicago, und derjenigen Fiona Lerners im Jahr 2015, als sie sich auf den Weg nach Paris macht, um ihre Tochter Claire zu suchen und das schwierige Mutter-Tochter-Verhältnis aufzuarbeiten. Die Reise nach Paris wird aber auch eine Reise in Fionas eigene unzureichend verarbeitete Vergangenheit und in die ihrer Familie. Als das HIV-Virus ab der Mitte der 1980er Jahre nämlich ihren geliebten großen Bruder Nico und dann der Reihe nach ihren gemeinsamen Bekanntenkreis dahinsiechen ließ, war Fiona ein junges Mädchen, das von der auch emotionalen Verantwortung, die sie damals übernahm, noch 30 Jahre später gezeichnet ist. Fiona, in deren Gedanken- und Gefühlswelt man tief eintaucht, da sie mit dem Mittel interner Fokalisierung geschildert wird, ist neben Yale die zweite Hauptfigur und Stimme des Romans und als Überlebende auch das Bindeglied zwischen den Zeiten, zwischen Paris und Chicago, zwischen Yales Geschichte und derjenigen ihrer Großtante Nora. Nach dem Aidstod ihres Bruders wird der ebenfalls schwule Yale für Fiona zum engen Freund und zu einer umso wichtigeren Bezugsperson, als sie sich mit ihren Eltern überworfen hat, weil diese Nicos Homosexualität nicht akzeptierten.

Auch die Verbindung von Yale und Nora, die bis in die 1920er Jahre die Pariser Künstlerszene frequentierte und einige private und demzufolge nicht autorisierte Skizzen und Gemälde namhafter Künstler aus dieser Zeit besitzt, kommt über Fiona zustande. Für Nora, die vor ihrem Tod die Veröffentlichung ihrer vollständigen Sammlung in die Wege leiten möchte, haben diese Kunstwerke nicht nur eine materielle und ästhetische, sondern auch eine biographische Bedeutung. Sie war als junge Frau von Amerika nach Paris gegangen, um Kunst zu studieren, wurde dann aber eher als Modell gesehen und geduldet und kam mit einigen später berühmten Künstlern wie Modigliani oder Foujita in Kontakt. In einen von ihnen, dem vielleicht das Schicksal des kurzen Lebens einen berühmten Namen vorenthielt, verliebte sie sich — um ihn kurz darauf infolge des Ersten Weltkriegs schon wieder zu verlieren: Ranko Novak, dessen Bilder auch zu ihrem Kunstschatz gehören und die Yale gemeinsam mit denen der berühmten Künstler in seiner Galerie unterbringen soll. Doch das Projekt gestaltet sich als immer größere Herausforderung, da Yale sich mit den divergierenden Ansichten verschiedener Interessensgruppen auseinandersetzen muss, mit der Familie, die sich um ihr Erbe betrogen fühlt, ebenso wie mit den ökonomischen Prinzipien, die den Kunstmarkt bestimmen. Und nicht zuletzt steht er privat vor einem Scherbenhaufen, nachdem Eifersucht, Betrug und schließlich auch noch das tödliche Virus sein Beziehungsleben erschüttert haben. Trotzdem setzt er alles daran, das Vertrauen, das die alte Nora in ihn gesetzt hat, nicht zu enttäuschen…

„Wartet man nicht eigentlich permanent darauf, dass die Welt aus den Fugen gerät?“, sagte Richard. „Wenn die Verhältnisse stabil sind, dann immer nur vorübergehend.“

Makkai, Die Optimisten, S. 472

Die ideelle Architektur des Romans, der auf vielen verschiedenen Ebenen arbeitet, die allesamt fein miteinander verwoben sind, gründet auf dem meisterhaft inszenierten Wechselspiel von (Welt-) Geschichte und privaten Familien- und Beziehungsgeschichten, ein Prinzip des Gesellschaftsromans, wie es sich in der Literaturgeschichte v.a. des 19. Jahrhunderts herausbildete — die New York Times vergleicht Makkais Roman in dieser Hinsicht sogar mit Krieg und Frieden. Die Welt der „Optimisten“ gerät fast permanent aus den Fugen, um das Zitat einer Figur aus Makkais Roman aufzugreifen: Im Kleinen, wenn familiäre oder Paarbeziehungen auseinanderbrechen, wenn Krankheit und Tod Biographien erschüttern, im Großen durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, durch die Aids-Pandemie, die ab den 1980er Jahren große Teile der Gesellschaft bedroht und stigmatisiert, durch die terroristischen Anschläge im 21. Jahrhundert. Doch da das Schicksal der Individuen unmöglich von den gesellschaftlichen Ereignissen isoliert betrachtet werden kann, verflicht Makkai die historisch-gesellschaftliche Ebene untrennbar mit den privaten Biographien ihrer Figuren. So entsteht vor dem historischen Hintergrund von Aids etwa eine gesteigerte Komplexität der Schuldgefühle, da Untreue auf einmal über die emotionale Verletzung hinaus auch zum körperlichen Todesurteil werden kann. Die private Verantwortung des Einzelnen bekommt eine gesellschaftliche Dimension, die wiederum Einfluss auf die Gestaltung der individuellen Beziehungen hat.

Diesem inhaltlich differenzierten und komplexen Ineinander von Individuum und Geschichte, von privater und gesellschaftlicher Verantwortung wird die Autorin auch in Form und Ausdruck gerecht, und die gelungene Übersetzung von Bettina Abarbanell transportiert den authentischen Stil des Originals auch wunderbar ins Deutsche. Denn Makkai verzichtet auf Pathos, aber nicht auf Emotion, sie reflektiert die moralischen Verstrickungen ihrer Figuren, ohne zu moralisieren, sie gibt tiefen Einblick in deren bewegte, auch widersprüchliche Gedankenwelt, die Erzählung ist spannend, nach vorne drängend und zugleich nachdenklich und reflektierend. Und nicht nur die Hauptfiguren Yale und Fiona, die einem im Laufe des Romans ans Herz wachsen, werden mit viel Feingefühl porträtiert, sondern auch die vielen Weggefährten, die dank der lebendigen Dialoge Individualität und Kontur bekommen: Die schwule Community etwa, in der es neben Solidarität, Warmherzigkeit und Anziehung natürlich wie überall auch Spannungen, Streit und Zerwürfnisse gibt, wird in der individuellen Vielfalt ihrer Charaktere gezeigt, die zugleich ein größeres gemeinsames Schicksal teilen.

Die Optimisten ist der dritte Roman von Rebecca Makkai, und in den USA hat er bereits große Begeisterung entfacht: Um herauszufinden warum, fängt man am besten einfach an zu lesen — nach wenigen Seiten wird einen die Geschichte in ihren Bann geschlagen haben! Und am Ende ist man vielleicht erschüttert, aber nicht zerstört. Denn die Botschaft, die dieser komplexe und doch so flüssig lesbare Gesellschafts-, Kunst- und Aids-Roman vermittelt, ist die einer im Zeichen der Desillusion stehenden, der Realität ins Auge blickenden, aber dennoch das Leben bejahenden, mit Verantwortung verbundenen Hoffnung:

„Das ist der Unterschied zwischen Optimismus und Naivität. Keiner hier im Raum ist naiv. Naive Menschen haben noch keine echte Prüfung hinter sich, deshalb meinen sie, ihnen könne nichts passieren. Optimisten wie wir haben schon etwas durchgemacht und stehen trotzdem jeden Tag auf, weil wir glauben, wir könnten verhindern, dass es noch einmal passiert. Oder wir tricksen uns einfach aus, um das zu glauben.“

Makkai, Die Optimisten, S. 511


Bibliographische Angaben
Rebecca Makkai: Die Optimisten, Eisele 2020
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
ISBN: 9783961610778

bookmark_borderJess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas

Ein ganz außergewöhnlicher Kriminalroman mit einer überraschenden und komplexen Handlung, eigenwilligen Charakteren und einem erfrischend „anderen“ Stil, der die Genregrenzen überschreitet und einen durchgehend in Atem hält. Man rätselt und staunt, welche sinnlichen und übersinnlichen Richtungen die Handlung alles beschreitet, die für ihre Leser vom Schaudern bis zum Schmunzeln die ganze Palette der Faszination des Kuriosen bereithält, mit dem sich der Roman im Übrigen auch inhaltlich auf spannende Weise auseinandersetzt.

Ausgangspunkt der Handlung ist eine Kindesentführung: Ein kleines Mädchen verschwindet über Nacht zusammen mit ihrem Kindermädchen vom Schloss des vermeintlichen Vaters, einem unermüdlichen Sammler und Erforscher des Meeres und seiner Geschöpfe. Und dieser Raub gibt Anlass zu verschlungenen Ermittlungen, die in immer finsterere Gefilde und Winkel gesellschaftlicher und menschlicher Abseitigkeit führen, dabei auch immer tiefer in die Vergangenheit reichen und vor allem die Rationalität und den Wirklichkeitssinn couragierter Detektivarbeit zunehmend auf die Probe stellen. Denn je weiter die Recherchen fortschreiten, desto merkwürdiger und suspekter wird die ganze Geschichte. Um das entführte Mädchen ranken sich immer abwegigere Mythen, die sich jedoch durch so manch unheimliches Indiz zu bestätigen scheinen. Immer tiefer blickt man in dämonische Abgründe, immer weniger ist allen Beteiligten zu trauen. So erfährt man, dass fast niemand das Mädchen tatsächlich zu Gesicht bekommen hat, da der Schlossherr es vor neugierigen Blicken schützen wollte — oder war es zum Schutz seiner eigenen Experimente? Das Bild eines mythischen Meer- oder Fischmädchens drängt sich mit irritierender Intensität in die Vorstellung der Ermittler sowie der Leser, doch wohnt das aus der Naturgewalt des Wassers schöpfende Raubtierhafte und Bedrohliche tatsächlich in der Gestalt des sonderbaren Mädchens, oder vielleicht mehr noch in der Gier und der Schaulust der Menschen oder auch in der gefährlichen Dynamik von elenden sozialen Verhältnissen und entarteten Rachebedürfnissen verlorener Seelen…?

Die Erzählung spielt virtuos mit diesem Spannungsfeld von Mythos, Märchen und Übersinnlichkeit einerseits und Sozialrealismus, Forschergeist und Naturwissenschaft andererseits. In den mythische Bilder heraufbeschwörenden Kuriositätenkabinetten und die Exotik ihrer Darbietungen anpreisenden Zirkusattraktionen treffen diese Sphären aufeinander, deren Verwobensein als ambivalenter Kern des Romans auszumachen ist.

Trotz des Entsetzens über die menschlichen Abgründe, die übrigens mehr poetisch-suggestiv als reißerisch und gerade dadurch sehr eindringlich erzählt werden, leuchten doch immer wieder auch Empathie und Barmherzigkeit auf, sowie ein schwarzer Humor, mit dem die Autorin auch durchaus amüsiert und mitfühlend auf die Figuren blickt. Und dann ist da noch die starke und eigensinnige Ermittlerin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, die in ihrer Fülligkeit attraktive, Tabak rauchende und rothaarige Bridie Devine, die im 19. Jahrhundert, in dem der Roman spielt, eine ebenso faszinierende wie provozierende Figur darstellt.

Ebenso eigenwillig wie die Ermittlerin ist auch der ganz eigene, lebhafte und zwischen Suggestion, Realismus und pointierter Direktheit, zwischen Innenschau und Distanz changierende Stil, der mit frechen Dialogen aufwartet und sich jenseits aller heute gängigen Krimiklischees befindet. Dafür knüpft er an eine viel frühere Tradition an, an die des viktorianischen Schauerromans und der mysteriösen und fantastischen Literatur des 19. Jh., wie man sie etwa bei E. A. Poe vorfindet.

Synästhetische Elemente verbinden sich mit mysteriösen und übersinnlichen und verleihen dem Realismus eine nicht endgültig von diesem zu trennende surrealistische Komponente, wie es nur die polyvalente Literatur vermag. So taucht etwa als ständiger mokanter und doch treuer Begleiter der durchscheinende Geist des verstorbenen Boxers Ruby auf, den nur Bridie sehen kann und mit dem sie ein einschneidendes Erlebnis ihrer frühen Kindheit verbindet, an das sie sich jedoch erst ganz am Ende der Geschichte erinnern wird. Der Kriminalfall dient somit auch der Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit der Ermittlerin, die selbst als Waisenkind bei verschiedenen, mehr oder weniger zuverlässigen Mentoren aufwuchs, früh ein auffälliges Interesse für medizinische Eingriffe zeigte und sich auch als Erwachsene nicht einschüchtern lässt von den gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts, die eine weibliche Frau als Ärztin oder Pathologin ebenso verpönen wie eine weibliche Detektivin, sondern in immer wieder angestrengten, mutigen und erfindungsreichen Akten der Selbstbehauptung — von Travestie übers Pfeiferauchen bis zur angemaßten Witwenhaube — den Weg zu gehen versteht, den sie auch ethisch-moralisch als richtig erkennt.

Bibliographische Angaben
Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas, DuMont 2019
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN: 9783832181055

Bildquelle
Jess Kidd, Die Ewigkeit in einem Glas
© 2019 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

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