bookmark_borderClare Chambers: Scheue Wesen

Vögel sind scheue Wesen, Tiere, die Freiheit brauchen, wenn man sie zeichnen will, muss man sie vorher lange beobachten und ihre Bewegungen und Regungen studieren, aus der Ferne, mit gebührendem Abstand, um sie nicht zu erschrecken. Auch unter Menschen gibt es scheue Wesen, die britische Autorin Clare Chambers macht in ihrem neuen Roman (mindestens) eines davon zur Hauptfigur: William Tapping, ein zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart in den 1960er Jahren nicht mehr ganz junger Mann, der jahrelang ohne Wissen der Nachbarn und der Behörden im Haus seiner nach und nach verstorbenen Tanten lebte und dessen Lieblingsbeschäftigung, der er in diesem merkwürdigen, nicht hinterfragten Gefängnis nachging, das Zeichnen von Vögeln ist.

Clare Chambers, die schon einige Romane in England publiziert hatte, bevor sie mit Kleine Freuden auch in Deutschland einen Überraschungserfolg hatte, hat mit ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman Scheue Wesen einen einfühlsamen, spannend konstruierten und auch stilistisch überzeugenden Text geschrieben, den man geradezu verschlingen mag, hinter dessen Unterhaltungs- und Spannungspotential aber weitere Schichten zutage treten, die der scheinbaren Leichtigkeit Kontur und Tiefe geben und mehrere Lesarten zulassen. So ist Scheue Wesen erstens lesbar als Geschichte über die tröstende Kraft der Kunst. Die zweite (oder eigentlich erste) Hauptfigur des Textes ist denn auch die Kunsttherapeutin Helen Hansford, sie steht im Zentrum der Geschichte, die in den 1960er Jahren in England spielt. Eine zweite Ebene wird mit Helens Arbeitsplatz eingeführt, an dem sich die verschiedenen Fäden der Geschichte kreuzen: Es ist auch ein Roman über die Entwicklung der Psychiatrie und ihrer verschiedenen Leitbilder und Methoden von den 1930er bis in die 1960er Jahre. Und drittens kann man den Roman auch mit einem feministischen Blick als die Geschichte einer sich behauptenden und sich selbst-bewusst zur Gesellschaft und zum Leben ins Verhältnis setzenden Frau lesen: Helen ist eine selbständige, viel reflektierende Frau, die seit einiger Zeit eine leidenschaftliche, aber auch sehr eingeschränkte heimliche Liebesbeziehung mit einem Psychiater der Londoner Klinik hat, an der sie arbeitet. Während sie bisher ihr als unkonventionell und frei betrachtetes Leben genoss und es immer wieder auch gegen ihre Familie verteidigte, schleichen sich nun Zweifel ein, die auf entwicklungspsychologischer Ebene die Handlung vorantreiben.

Als Helen dem zunächst stummen, ein wenig verwahrlosten Mann, der als William Tapping identifiziert werden kann, im Rahmen ihrer Arbeit in der Klinik begegnet, in die er nach seinem überraschenden Auffinden gebracht wird, ist sie beeindruckt von seiner künstlerischen Begabung, die alles in den Schatten stellt, was sie sonst bei den von ihr betreuten Patienten erlebt. Die Begegnung mit ihm ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte, in der daraufhin in mehrfacher Hinsicht die Weichen neu gestellt werden. Helen setzt alles daran, Williams Geheimnis auf die Spur zu kommen, um ihn aus seiner Stummheit zu lösen und ihm aus der Psychiatrie heraus wieder ins Leben zurückzuhelfen. Je mehr sie sich William nähert, je mehr sie sich sein Vertrauen erarbeiten kann und durch zusätzliche private Recherchen seine Geschichte zu rekonstruieren beginnt, desto mehr stellt sie jedoch auch ihr eigenes Leben, ihre Beziehungen, ihre Gefühle und Werte, infrage. Als zweites Schlüsselmoment kommt hier die psychische Krise ihrer Teenager-Nichte Lorraine hinzu, für die Helen eine wichtige Bezugsperson ist und deren aufkeimende Liebe zum Zeichnen Helen zu fördern versucht. Auch Lorraine gehört, so merkt man bald, zur Gattung der scheuen Wesen. Als sie nach einem Zusammenbruch in die Klinik kommt, die sie zunächst gar nicht mehr verlassen mag, trifft auch sie auf William, dessen Zeichentalent sie bewundert, und auf Dr. Gil Rudden, den Psychiater und heimlichen Geliebten ihrer Tante.

Während die emotionalen Verwicklungen in der Erzählgegenwart ihren Lauf nehmen, entfaltet sich in eingeschobenen und immer weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Kapiteln auch die Geschichte Williams, der über 20 Jahre lang mehr oder weniger eingesperrt im Haus seiner Familie gelebt hat. Seine Lebensgeschichte wird nun in Rückblenden, die bis in die 1930er Jahre gehen, nach und nach aufgerollt, soll aber hier natürlich nicht verraten werden. Nur soviel sei verraten: Es lohnt sich sehr, es lesend herauszufinden.

Bibliographische Angaben
Clare Chambers: Scheue Wesen, Eisele 2024
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
ISBN: 9783961611966

Bildquelle
Clare Chambers, Scheue Wesen
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderHan Kang: Die Vegetarierin

Auch wenn der Nobelpreis in der Regel für ein ganzes literarisches Werk verliehen wird, ist es doch oft ein einzelnes Buch aus diesem Werk, das den Ausschlag gibt. Da ich von der südkoreanischen Schriftstellerin, seit diesem Jahr Nobelpreisträgerin, bisher nur den Roman Deine kalten Hände (2020) kannte, und ihn als eindrücklichen Kunst- und Körperroman in Erinnerung habe, war ich nun besonders neugierig auf den Roman, der sie 2016 ins Licht internationaler Bekanntheit rückte: Die Vegetarierin. Und ja, der Text ist faszinierend, kunstvoll, schlicht, mit nicht einmal 200 Seiten eher kurz, und doch werden in ihm ganz verschiedenartige Konfliktfelder miteinander verwoben, oder: ineinander verschlungen. Es geht um Gesellschaftsstrukturen, um Familienbeziehungen, um Kunst, Körper, Essen und Sexualität, um Scham und Begierde, um Zwänge und Angst, um Freiheit und Ausbruch. Die Vegetarierin ist ein Roman, der aus der Sphäre äußerster Intimität heraus ganz unmerklich eine politische Dimension gewinnt.

Was mich aber von Anfang an gefesselt hat, ist der ungewöhnliche Umgang mit Perspektiven. Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt, die fast für sich stehen könnten, und jedesmal wechselt die Erzählperspektive. Spannenderweise ist der einzige Ich-Erzähler derjenige, der letztlich der unsympathischste und farbloseste Charakter bleibt: der sich mechanisch in die Konventionen fügende, ambitions- und leidenschaftslose Ehemann von Yong-Hie, der „Vegetarierin“, die selbst die Protagonistin und das allseits verstörende Zentrum des Romans ist. Die Erzähler aller drei Teile kreisen um sie, die übrigens kaum etwas sagt, da das, was sie sagt, ihre Träume, ja doch nicht ernst genommen wird; alle werfen einen neuen Blick auf sie, versuchen sie mit ihrem Blick einzufangen, was aber nie gelingt, da sie sich, in fließender Veränderung begriffen, jeder äußeren, jeder menschlichen Vereinnahmung entzieht.

Im ersten Teil erfährt man aus der Perspektive des Ehemanns, wie seine unauffällige, fügsame Frau von heute auf morgen aus dem Rahmen fällt, indem sie jegliches Fleisch aus ihrem Haushalt verbannt und zur Vegetarierin wird. Von ihrer Familie wird das ebenso wie von den Arbeitskollegen ihres Mannes als Provokation empfunden. Was sie dazu bewogen hat, ihre Alpträume, die womöglich in Erlebnisse der Kindheit zurückreichen, aber auch archetypischen Charakter haben und die in kursiv gesetzten tagebuchartigen Einschüben von Yong-Hie in der Ich-Form erzählt werden, werden von niemandem ernst genommen. Ihre stille Weigerung führt schließlich auf einem Familientreffen zur Eskalation.

Im zweiten Teil wird Yong-Hies unkonventionelles Verhalten zur Ebene der Kunst in Beziehung gesetzt, welche ja der gesellschaftliche Ort ist, an dem der Bruch von Konventionen geduldet oder sogar erwartet wird. Erzählt wird diesmal aus der personalen Perspektive ihres Schwagers, des Mannes ihrer Schwester, der Maler und Videokünstler ist, jedoch seit Jahren nicht wirklich vorankommt in seinen künstlerischen Bemühungen. In der Vegetarierin erkennt er nun plötzlich unentdeckte Leidenschaft, Triebe, Wünsche, die ihm zu ungeahnter künstlerischer Inspiration verhelfen. Auf einmal tut sich ein neuer schöpferischer Raum für ihn auf, in dem Lust und Kreativität miteinander verschmelzen. Hier zeigt sich Han Kangs Kunstfertigkeit, Ambivalenzen in unauflösbare Ambiguitäten zu verwandeln. Der Blick des Schwagers ist auf eine Weise ebenso vereinnahmend wie der der anderen Familienmitglieder, doch zugleich ist er der einzige, der wirklich versucht, Yong-Hie zu verstehen. Während die Vegetarierin von den anderen als krank oder wahnsinnig betrachtet wird, als mitleiderregend oder abstoßend, sieht er sie als einzigartiges und begehrenswertes Geschöpf. Natürlich macht sie sein Künstlerblick, der zugleich ein Männerblick ist, wiederum zum Objekt. Doch löst er sie heraus aus den Erwartungen der Gesellschaft, schafft gemeinsam mit ihr einen Raum, in dem sie ihr Menschsein, in dem sie sich nicht mehr zuhause fühlt, momenteweise ablegen, überwinden kann. Er bemalt ihren Körper mit Pflanzen, im Kunstwerk vollzieht sich ihre Pflanzwerdung, nach der sie sich mehr und mehr sehnt, als sie miteinander schlafen, ist es kein fleischlicher, sondern ein pflanzlicher Akt. Es ist eine abgründige, ungewöhnliche Liebesgeschichte, die Han Kang hier erzählt, die mit dem Ende des Kapitels freilich auch selbst ein jähes Ende findet. Und doch bleibt eine gewisse Sympathie für diesen getriebenen, unglücklichen Mann und seine so perverse wie aufrichtige Begierde und Zuneigung für eine Frau, über deren körperliche und seelische Bedürfnisse jeder hinweggehen zu dürfen meint.

Anstoß erregt die Vegetarierin ja vor allem dadurch, dass sie sich freigemacht hat von jeglicher Scham, dass sie ganz selbstverständlich und in größter Natürlichkeit und Unaufgeregtheit die Konventionen bricht. Sie schämt sich nicht, aber sie ist auch nicht schamlos, was andere von ihr denken, spielt schlicht für sie keine Rolle mehr, sie hat aufgehört sich anzupassen, und gerade in ihrem Sie-selbst-Sein eckt sie an, empört und erschreckt die anderen, die sich, unbewusst, durch sie beschämt fühlen, da sie den Finger auf die wunden Stellen der Gesellschaft legt. Diese stille und radikale Form des Protests bewirkt bei manchen der Figuren eine Wandlung im Denken, oder erst einmal im Fühlen und Wahrnehmen, wenn sie bereit sind, sich ein Stück weit zu öffnen und über Tradition und Konvention hinwegzusetzen. Das ist nicht nur bei dem Künstler-Schwager so, sondern auch bei seiner Frau, der Schwester Yong-Hies, aus deren Perspektive der dritte und letzte Teil des Romans erzählt wird. Ihre Wandlung vollzieht sich unterschwellig über einen längeren Zeitraum, und wird ihr erst klar, als ihr die psychisch Kranken, die sie bei den Psychiatriebesuchen bei ihrer Schwester sieht, die inzwischen komplett die Nahrungsaufnahme verweigert, vertrauter erscheinen als die scheinbar normalen Menschen auf der Straße. In diesem dritten Teil regt der Text noch einmal dazu an, über Begriffe wie normal und asozial, gesund und krank zu reflektieren. Was ist asozial, dass man kein Fleisch ist, keinen BH trägt, sich mit Blumen bemalt und im Einverständnis Sex hat — oder dass man seine Tochter schlägt, ihr mit List oder gewaltsam Essen aufzwingt, sie in einer Anstalt verwahrt? Kann und darf man einen Menschen vor sich selbst beschützen? Und hier wird der Roman eben doch politisch, wirft er Fragen über die Verfügbarkeit über den eigenen Körper auf, über einengende patriarchale Strukturen, über Freiheit und Mündigkeit und Selbstbestimmung.

Die Vegetarierin ist in ihrer widerspenstigen Sanftheit auf jeden Fall eine im Gedächtnis bleibende literarische Figur, eine Frau, die sich nicht beirren lässt und radikal den Weg weitergeht, den andere sich nicht trauen, in letzter Konsequenz zu gehen. So wenig sie sich den Erwartungen der anderen fügt, die sich ihr Verhalten nicht erklären können, so widerständig ist auch der Text gegenüber einer eindeutigen Lesart. Der Interpretationsspielraum reicht von der Geschichte einer Essstörung über das Psychogramm einer Gesellschaft bis hin zur Utopie einer posthumanen Welt. Den Text psychologisch zu lesen scheint genauso schlüssig oder unschlüssig, wie seine gesellschaftskritische, philosophische oder existentielle Ebene in den Vordergrund zu heben. Mal fühlt man sich an Foucaults Gedanken zur modernen Psychiatrie, zu Macht und Wahnsinn erinnert, mal meint man eher in die religiösen Naturvorstellungen des Buddhismus versetzt zu werden. Sprachlich entspricht diesem unaufdringlichen Assoziationsreichtum ein klares und schnörkelloses und doch nicht unpoetisches Erzählen. Der Text lebt auch von seinem behutsam eingesetzten Gebrauch der Metapher, es sind einprägsame, auch gewaltsame (Körper-)Bilder, wie etwa aus den Augen tretendes Blut. Und natürlich spielt die Allegorie der Pflanzen eine zentrale Rolle. Letztlich ist es die Sprache, die im Raum der Fiktion den Körper als Kunstwerk hervorbringen und ihn auch wieder zerstören kann. Han Kang ist eine Künstlerin, die aus dem Material der Sprache einen vieldeutigen Raum schafft, der fasziniert und verstört.

Bibliographische Angaben
Han Kang: Die Vegetarierin, Aufbau 2017
ISBN: 9783746633336

Bildquelle
Han Kang, Die Vegetarierin
© 2024 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderJens Steiner: Die Ränder der Welt

Jens Steiner, der in Ameisen unterm Brennglas (vgl. Rezension vom 15.10.2020) die Schweizer Gesellschaft detail- und spielfreudig mit einer Fülle an eigenwilligen Charakteren seziert hat, bewegt sich in seinem neuen, ähnlich verrückten, aber eine Spur melancholischeren Roman weit über die Ränder der Schweiz hinaus, bis nach Patagonien im Süden und bis nach Grönland im Norden. Und er führt seine Hauptfigur, Kristian, einen Schweizer mit estnischen Wurzeln, durch ein wildbewegtes Leben, das ihn auch in symbolischerem Sinne die Ränder des Daseins streifen lässt und an Grenzen führt, die schmerzhaft sind, aber doch immer wieder Neuanfänge aufscheinen lassen.

Zu Beginn der Erzählung befindet sich der mittelalte Ich-Erzähler Kristian auf dem Weg nach Christiansø, eine kleine dänische Insel inmitten der Ostsee. Es ist eine Reise, die er mit vielen Vorbehalten angetreten hat, nachdem er einen etwas merkwürdigen Brief seines Lebensfreundes und -feindes Mikkel erhalten hatte, der ihn nach Jahren des Schweigens und der Trennung wiedersehen will. Tatsächlich wird die Reise zum Auslöser für ausufernde Erinnerungen, die den Ich-Erzähler sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal neu erleben und rekapitulieren lassen. Dieser Rückblick auf ein halbes Leben, das die Geschichte des Buches wird, ist, so überschäumend-lebendig viele der vergangenen Erlebnisse geschildert werden, zugleich von einer großen Melancholie getragen, die nicht allein der psychischen Verfasstheit des Erzählers entspringt, sondern eine Art Grundton dieses Buches ist, das nicht nur die Geschichte einzelner Figuren erzählt, sondern auch das Porträt einer ganzen Zeit malt, von den 1950ern bis heute.

Die erste Erinnerung führt zurück ins Basel der 1950er Jahre, wo Kristian als Sohn estnischer Einwanderer eher zurückgezogen und im dunklen Bewusstsein eines Fremdseins in der Welt aufwächst. Sein überzähliger Finger an der einen Hand macht ihn in den Blicken der anderen zu einem Außenseiter. Kein Wunder, dass es etwas in ihm auslöst, als Mikkel, dessen dänische Familie ebenfalls eingewandert ist, Interesse an ihm bekundet. Die beiden werden Freunde und werden es viele Jahre, ja vielleicht ein Leben lang sein, doch ist es eine bewegte, eine unstete Freundschaft, die Kristian immer wieder aus der Bahn zu werfen droht, ihn mit Enttäuschung und sogar Verrat konfrontiert. Mikkel erscheint als ein höchst unzuverlässiger Charakter, mit dem eine große Nähe möglich ist, der aber immer wieder ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und von heute auf morgen, verschwindet, den Kontakt abbricht, um Monate später, als wäre nichts gewesen, wieder aufzutauchen. In der Schilderung dieser Freundschaft entsteht der Eindruck, als wäre die eigentliche Liebesgeschichte des Romans nicht die, die sich um die so extravagante wie zerbrechliche Grönländerin Selma dreht, die große Liebe Kristians, die er heiratet und wieder verliert (die er an Mikkel, seinen besten Freund, verliert!), sondern die nicht erotisch, aber hoch emotional erlebte Geschichte des sich Anziehens und Abstoßens der beiden Freunde Kristian und Mikkel.

Auf subtile Weise lässt die Erzählung ahnen, dass der untreue Freund vielleicht nicht die ganze Verantwortung für die Instabilität ihrer Freundschaft trägt, dass die unbestimmte Verlorenheit in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Ich-Erzähler verspürt, von anderswo kommt, vielleicht sogar weiter zurückreicht als sein eigenes Leben, dass sie, wie der überzählige Finger, auch Teil eines familiären, ja eines gesellschaftlichen Erbes sind. Symptomatisch sind das irgendwo in seinem Innern entstehende Summen, das den Ich-Erzähler schon als kleines Kind umgibt, auch ein Schwanken und Fallen, das ihn in Momenten der Verlorenheit immer wieder ganz physisch überwältigt — und das er übrigens mit einer anderen Figur, nämlich mit Selma, teilt, bei der uneindeutig bleibt, ob das Fallen als Manifestation einer Psychose oder als Sich-Aufbäumen der Freiheit gelesen werden muss.

In diesen Momenten des Fallens jedenfalls verschmelzen für die Figuren Außen- und Innenwelt, sie gelangen an die Ränder ihrer Wahrnehmung, und diese Grenzerfahrung erlebt man an manchen Stellen auch beim Lesen. Im Erzählen werden die Ränder der Welt der Fiktion aufgespürt, es wird uneindeutig, im Grunde auch unwichtig, was wirklich passiert und was imaginiert ist. Der sich erinnernde Erzähler nähert sich diesen Rändern in Form von Umrissen, von Konturen, die er seiner Erzählung gibt. Nicht zufällig ist der Roman auch ein Künstlerroman: Kristian begegnet der Skizzenhaftigkeit seines Daseins, der Welt, wie er sie erlebt, indem er impulsiv, fast zwanghaft, alles zeichnet, was ihn umgibt, ja, seine sechsfingrige künstlerisch so begabte Hand scheint hier immer wieder ein Eigenleben zu führen. In dieser Hinsicht erinnert er dann doch sehr an seinen Vater, einen Übersetzer aus dem Estnischen und großer Fabulierer, ein Spazierredner, wie es im Roman so schön heißt, der mit seinem Sohn lange Spaziergänge macht, die jedesmal zu ausufernden Rundgängen durch die Landschaften der Sprache und der (Familien-)Geschichte werden. Dieses Stromern übernimmt der Sohn auf seine Weise. Von Mikkel verlassen, verlässt auch er die Schweiz, geht nach Paris, später nach Kopenhagen, nach Italien, Argentinien. Doch dieses abenteuerliche, umherschweifende Leben entspringt weniger einer bewussten Entscheidung als der Kontingenz des menschlichen Daseins, ja es widerspricht auf den ersten Blick der großen Sehnsucht des Erzählers dazuzugehören, eine innere Heimat für sich zu finden. Jeder geographische Wechsel wird von einem Umbruch in seinem Leben ausgelöst, der ihn zum Spielball der Zeit und der Zeitgeschichte macht. Jens Steiner zeigt in diesem Roman, wie ein Einzelner in die gesellschaftlichen Wirren seiner Zeit gerät, die ihn bisweilen hinwegzufegen drohen und ihm, ohne dass er das beabsichtigt hätte, eine politische, soziale, künstlerische Haltung abverlangen, oder zumindest die fortwährende kritische Suche danach.

Um auf den Künstlerroman zurückzukommen: Kunst und Leben prallen in Die Ränder der Welt immer wieder aufeinander, sie sind nicht voneinander zu trennen und doch so schwer zu vereinbaren. Gesellschaftliche und kunstpolitische Entwicklungen seit der Nachkriegszeit spielen vielfach in die Geschichte hinein, prägen die turbulente Biographie des Erzählers, der verschiedenste Lebensentwürfe ausprobiert oder sie bei Freunden und Weggefährten veranschaulicht sieht. Es geht um das Leben als Kunstwerk, um Kunst als Sozialprojekt, um Anti-Kunst, um Nicht-Kunst, um den Verzicht auf Kunst zugunsten des sogenannten Lebens. Kristian selbst lässt sich zum Steinbildhauer ausbilden, lernt in Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Zeichner und später als Busfahrer in Patagonien. Und er begreift allmählich, dass die Kunst so wandelbar ist wie die Liebe, ein Lebensbegleiter, der sich nicht abschütteln lässt, die große Unbekannte, die einem so vertraut ist:

Ist Kunst ein Berühren der Welt, oder ist sie eine Flucht vor der Welt?
Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine große Lüge.

Jens Steiner, Die Ränder der Welt

Was den Roman über die nachdenklich stimmende Lebens- und Künstlergeschichte hinaus so lesenswert macht, ist die besondere Sprache, in der er verfasst ist. Jens Steiner schreibt eine poetische Prosa, die gleichzeitig sanft und überbordend ist. Er belebt die zahlreichen Orte, die im Roman, der ja auch ein Reiseroman ist, eine tragende Rolle spielen, indem er ein Panorama an Figuren schafft, an grotesken, schrägen, widerspenstigen Figuren, gleich ob sie sich innerhalb oder an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Der Text ist, um hier erneut ins Ausdrucksmedium der bildenden Kunst hinüberzuschweifen, wie eine mit den Farben des Expressionismus gemalte Meditation, über Liebe, Freundschaft, Familie, Kunst, wild skizziert und mit viel Liebe zum kuriosen Detail, in dem doch so viel Wahrheit steckt.

Bibliographische Angaben
Jens Steiner: Die Ränder der Welt, Hoffmann und Campe 2024
ISBN: 9783455017106

Bildquelle
Jens Steiner, Die Ränder der Welt
© 2024 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderTeju Cole: Tremor

Tunde, den man großteils als fühlenden und denkenden Protagonisten des neuen Buches von Teju Cole ausmachen kann, ist wie dieser in Lagos geboren, er ist Fotograf und unterrichtet an einer amerikanischen Universität, doch verschwindet sein Autor, so wie das Buch trotz aller biographischen Einflüsse keine Biographie ist, auch sprachlich-stilistisch hinter dieser literarischen Stimme, die ihrerseits hinter anderen Stimmen verschwindet, sich auflöst in ein vielstimmiges Textgewebe.

Wie sein Autor ist Tunde ein Intellektueller, in der doppelten Bedeutung des lateinischen Herkunftsverbs, „wahrnehmen“, „empfinden“ genauso wie „begreifen“, „verstehen“. Und vielleicht mehr noch in der ersten, sinnesnahen Bedeutung… einer, der verstehen will, und dieses Verstehen über den (Um)Weg der intensiven Wahrnehmung sucht, eine Wahrnehmung, die in diesem eher kurzen Text allerhand damit zu tun hat, mit den vielen Reizen und Impressionen, und den Gefühlen und Gedanken, die diese auslösen, klarzukommen. Das Buch bietet also viel Gedankenstoff, historische, gesellschaftliche, ethische Themen und Diskurse, die im Blick des Fotografen, zahlreichen irrlichternden optischen Reizen gleich, versinnlicht werden. Es geht um Kolonialismus, um Rassismus, um „afrikanische“ und „westliche“ Kunst und Musik, aber auch um Sozialkritik, um Tradition und Religion in Nigeria, um Krankheit, Liebe, Freundschaft, also eigentlich um das ganze Leben aus dem Blickwinkel eines Mannes, der in seiner Jugend aus Nigeria ausgewandert ist und im akademisch-künstlerischen Milieu der amerikanischen Großstädte heimisch, na ja, eben nur zum Teil heimisch geworden ist. Der Protagonist lotet Grauzonen aus, wirft Fragen auf und sucht, wieder und wieder, von Thema zu Thema, nach einer — zugleich individuell mit ihm übereinstimmenden und universell gültigen — Haltung, ein anspruchsvolles Unterfangen, das in der thematischen Sprunghaftigkeit des Textes zumindest auf Figurenebene zum Scheitern verurteilt ist.

Augenöffnend ist diese Sprunghaftigkeit aber allemal, der fotografische Blick ist sezierend und fängt auch kleinste Nuancen ein. Teju Cole arbeitet in diesem sehr visuellen, sehr oberflächenstarken Text, für den wirklich mal das inflationär gebrauchte Adjektiv „schillernd“ gut passen würde, mit der Technik der Collage, und zwar sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Perspektive. Mal taucht man über einen personalen Erzähler in Tundes Perspektive ein, mal wird ein Du angeredet, und vor allem gegen Ende des Textes, ab seinem Vortrag über Kolonialismus und Kunst, geht die Erzählung in die Ich-Perspektive über. Ein bisschen, als wäre der Autor nun vertrauter mit seiner Figur, als würde er sich noch mehr in ihr Innerstes trauen; jedoch findet der Text dann ziemlich bald ein ziemlich abruptes Ende. Dazwischen aber, im Mittelteil des Buchs werden die Reflexionen für einen Moment unterbrochen und Tundes Stimme von einer aus seiner Geburtsstadt Lagos herausklingenden Polyphonie ihrer männlichen und weiblichen, jungen und alten, aus allen Schichten stammenden Bewohner abgelöst. Hier findet ein Stück Realismus Eingang in den ansonsten sehr reflexiven Text. Motiviert ist diese Vielstimmigkeit durch einen Besuch von Tunde in Lagos, und in dieser Stadt, in der er einst zuhause war und die ihm nun fremd und vertraut zugleich vorkommt, legt er seine Kamera für eine Weile auf die Seite und hört den Menschen zu, die sich dem nur vorübergehend Verweilenden in großer Offenheit mitteilen. Sie erzählen ihm, was sie bewegt, und es entstehen Geschichten von Armut und Reichtum, von Macht und Ohnmacht, von Religion, Kult und Kultur, von Familie und Tradition. Die Sinnlichkeit der Stadt und ihrer Bewohner wird hier so greifbar, dass sie eine spannende Reibungsfläche für die Intellektualität des Besuchers und des Autors bietet, und die Stärken und Schwächen des Buches gleichermaßen offenlegt. Das erzählerische Eintauchen in das Leben der Bewohner hätte man sich auch für Tunde noch mehr gewünscht, der als Hauptfigur eines fiktional angelegten Textes etwas blass bleibt. Und dies, obwohl die Ebene des Privaten als untrennbar zum Politischen, zum Gesellschaftlichen durchaus mit dem Anspruch der Gleichrangigkeit eingeführt wird: Die kriselnde Beziehung zu seiner Frau, der Austausch mit seinen Kollegen, die Beziehung zu seinen in Lagos verbliebenen Geschwistern, die Nachricht der schweren Erkrankung einer nahestehenden Kollegin — in diesen ganzen zwischenmenschlichen Bereich hätte der Autor gerne noch tiefer eintauchen können, auch um die vielen aufgeworfenen Fragen und Themen ethischer und politischer Natur nicht nur zu streifen und fraglos sehr facettenreich von außen zu beleuchten, sondern sie darüber hinaus literarisch zu vertiefen.

Tremor ist ein fließender Dialog des Autors mit seiner Figur und der Welt, der einen stark fragmentarischen Charakter aufweist, der Autor fingiert für seine Figur Streifzüge, die sie mit weit geöffneten Augen und Sinnen unternimmt, die zugleich aber daran leidet, all die Eindrücke zu ordnen und zu verarbeiten. Das (medizinische) Phänomen des Tremors kommt nicht direkt vor, doch Tundes optische Überreizung, das migräneartige Flimmern vor seinen Augen hat etwas von einem Zittern und Beben, das die nach Orientierung suchende Figur über den medizinischen Befund hinaus charakterisiert. So ist das Buch letztlich der Versuch, Optisches in Sprache zu überführen, und zumindest mit der paradoxen Integration des vielstimmigen Mittelteils deutet sich diese dann doch als sehr literarisch zu bezeichnende Vorgehensweise im Text selbst an. Denn zwar kehrt der Fotograf Tunde aus Scheu vor der Form des Porträts ohne ein einziges Foto mit einem menschlichen Motiv aus Lagos zurück, doch bringt er in Form all der Stimmen, denen er gelauscht hat, sehr wohl menschliche Porträts mit nachhause, die in Coles Buch in die Schriftlichkeit der Literatur überführt werden.

Bibliographische Angaben
Teju Cole: Tremor, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Anna Jäger
ISBN: 9783546100656

Bildquelle
Teju Cole, Tremor
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderNathan Hill: Wellness

Ein junger Mann und eine junge Frau, jeweils auf ihre Weise in den dunkleren Vierteln im Chicago der 1990er Jahre gestrandet, beobachten sich heimlich gegenseitig in den mal erleuchteten, mal abgedunkelten Fenstern ihrer gegenüberliegenden Wohnungen. Er heißt Jack und ist ein junger Kunststudent, der sich seiner ländlichen Wurzeln zu entwinden versucht, sie heißt Elizabeth und stammt aus einer reichen Familie, zu der sie ebenfalls jeden Kontakt abgebrochen hat. Wie es der Zufall will, oder das Schicksal…, begegnen sich diese beiden Seelen, die trotz ihrer so unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Herkunftmilieus so gut zusammenzupassen scheinen, in der subkulturellen Szene Chicagos. Es ist der romantische Beginn einer Liebe, deren Geschichte Nathan Hill auf vielen ungemein spannenden und psychologisch wie gesellschaftlich tief grabenden Seiten entfaltet. Wo jedoch eine traditionelle Liebesgeschichte wohlweislich endet, nämlich mit der Eheschließung, setzt der Autor nun erst so richtig an, um aus der vor Jahren verfassten Kurzgeschichte über zwei sich liebende Voyeure einen großangelegten Roman zu spinnen, der um die Geschichte einer Ehe herum ein ganzes Gesellschaftspanorama entwirft.

Nach dem Eingangskapitel, in dem sich Jack und Elizabeth kennenlernen, springt die Erzählung um viele Jahre nach vorn und zeigt das Paar, das inzwischen einen Sohn im Grundschulalter hat, in ihrer Ehe, in die eine nicht mehr übersehbare Unzufriedenheit eingezogen ist. Ein wichtiger Meilenstein in ihrem Leben als Familie steht bevor, der Umzug in eine Eigentumswohnung, die, als Teil eines bisher noch in der virtuellen Planungsphase steckenden ambitionierten Wohnprojekts, in einem der wohlhabenderen Viertel Chicagos liegen wird und, unter anderem mit zwei getrennten Schlafbereichen, auch alle Unsicherheiten moderner Ehe- und Familienplanung zu berücksichtigen versucht. Es folgen in weiteren Kapiteln immer wieder Rückblicke in die Kindheit von Jack und Elizabeth, in ihre Studienjahre, und auch in die Vorgeschichte ihrer Familien. So wenig hier linear erzählt wird, so wenig unternimmt Nathan Hill, ohne deshalb allzu große stilistische Experimente einzugehen, mit denen er von den für den amerikanischen Gesellschaftsroman gegenwärtig geltenden Erzählkonventionen abweichen würde, den Versuch, seine Figuren als lineare Persönlichkeiten mit fest umrissenen Identitäten anzulegen. Und doch lernt man Jack und Elizabeth mit ihren facettenreichen Ichs, deren zeitliches Ineinanderfließen Marcel Proust in seiner Recherche du temps perdu so unvergleichlich, unübertroffen als literarische Wahrheit herausgearbeitet hat, mit all ihren schwankenden Gefühlen, Ängsten, Hoffnungen, Vorstellungen sehr gut kennen. Diese auf ihre je eigene Weise sensiblen und reflektierten Menschen werden einem bald sehr vertraut und offenbaren einem gleichwohl bis zum Schluss immer wieder neue Seiten.

Der Roman ist voll von Psychologie, was ihm gelegentlich schon vorgeworfen wurde, was sich aber eigentlich sehr stimmig in die Fiktion fügt, die mit der Psychologin und fast obsessiven Wissenssammlerin Elizabeth eine Figur ins Zentrum stellt, die alles durch eine psychologische Brille betrachtet. Mindestens ebenso sehr nimmt der Roman auch eine soziokulturelle Analyse vor, er ist eine fein beobachtete und literarisch komplex aufgearbeitete soziologische und kulturgeschichtliche Darstellung der letzten 20, 30 Jahre. Es wird hier den zahlreichen in der gegenwärtigen Gesellschaft auftretenden Differenzen nachgespürt, eindrücklich zum Beispiel der wachsenden Kluft zwischen amerikanischer Provinz und Weltläufigkeit, zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Zu letzterer gehört etwa Jacks Vater, der in der Prärie beheimatet ist und sich, als alternder, erkrankter Mann von den Algorithmen des Internets in die Irre und in so manche obskure Verschwörungstheorie (ent)führen lässt. Auch Herkunft und Verwurzelung sind ein wichtiges Thema des Romans und damit verbunden die Frage der Gruppenzugehörigkeit, die die Angst vor dem Ausschluss ebenso beinhaltet wie den Wunsch, anders, ja besonders zu sein. Die Figuren, und allen voran natürlich Jack und Elizabeth, sind hier auch symptomatisch für die Zeit und die Gesellschaft, der sie erwachsen. Trotz ihrer Unterschiede haben sie nämlich ein gemeinsames Lebensthema, das sie mit unzähligen Menschen heute teilen dürften: Beide sehnen sich nach einer irgendwie gearteten Gewissheit im Leben, die der permanenten Veränderung der Umwelt und des Ichs abzuringen ist, beide erleben seit ihrer Kindheit, welchen Kraftakt es bedeutet, sich immer wieder an neue Umstände anpassen zu müssen. Die vielen Seiten, die ihrem Aufwachsen eingeräumt werden, sind also nicht nur der psychologischen Herleitung der Charaktere und ihrer sozialen Bedingtheit geschuldet, sondern zeigen auch das Potential, das der charakterlichen Entwicklung trotz allem innewohnen kann.

Elizabeth hat während ihres Studiums an einem Institut für Placeboforschung zu arbeiten begonnen; später wird sie dort die Leitung übernehmen. Das Institut, dessen Tarnname, Wellness, mit einer gewissen Ironie den Zeitgeist aufs Korn nimmt, ist im Grunde das metaphorische Zentrum des Romans. Denn Nathan Hill veranschaulicht an der zwangsläufig im Halbdunkel zwischen Lüge und Wahrheit stattfindenden Arbeit der Placeboforschung, welche Macht die Verpackung einer geschickt erzählten Geschichte auf uns Menschen ausübt, wie bereitwillig wir uns täuschen und manipulieren lassen, wenn wir im Gegenzug etwas serviert bekommen, an das wir glauben können. Das Ritual ist in unserer heutigen Zeit längst nicht ausgestorben, sondern bedeutsam wie eh und je. Placebos zeitigen nämlich vor allem dann signifikante Effekte, wenn sie mit einer Sinn stiftenden Geschichte aufgeladen, mit einem bildhaften Kontext angereichert werden, der den Glauben stärkt — an die Heilung ebenso wie an das Produkt. Diesen psychologischen Mechanismus, seine ethische Ambivalenz und seine gesellschaftliche Brisanz, führt uns der Autor in seinem Text immer wieder vor Augen; in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zeigt sich das Fortdauern des Glaubenwollens, das Nathan Hill als eine anthropologische Grundkonstante herausarbeitet. Ob es um technische Phänomene wie den Erfolg von Hypertext und Algorithmus geht, um esoterische Selbsthilfegruppen, um den Immobilienmarkt, um Ernährungsfragen, Fitness, Kindererziehung, Kunst und Ästhetik — das Verhalten der Menschen erscheint in seiner ideologischen Anfälligkeit als gefährlich manipulierbar, der Erfolg eines neuen Trends, eines neuen Mediums dann garantiert, wenn es ihm gelingt, wenig oder nichts zu etwas Bedeutungsschwerem aufzublasen und die Menschen mit einer möglichst emotionalen Geschichte zu ködern, die sie in ihrer Einsamkeit, in ihrer Wut, in ihrer Angst zu verstehen scheint. Und während ehedem der Satan als Gegenspieler Gottes herhalten musste, um das menschliche Gewaltpotential aufzufangen, entstehen heute allerorten neue Teufelsbilder, gegen die mit Hass und Hetze gepredigt wird. Das Gewaltsame des Rituals, seine auf Exklusion beruhende Funktionsweise, wirkt auch in den Weiten des kaum regulierbaren Internets mit umso größerer Zerstörungskraft weiter fort.

Als Elizabeth die Leitung von Wellness übernimmt, verändert sie die Ausrichtung des Instituts verstärkt auf die praktische Anwendung der Placebos, in denen sie anfangs noch in gutem Glauben ein Heilmittel gerade für die durch Stress, Überforderung, Unübersichtlichkeit ausgelösten chronischen Krankheiten unserer Zeit sieht, das den Menschen vorzuenthalten ethisch noch weniger vertretbar sei, als es ihnen unter Vorgaukelung falscher Tatsachen anzubieten. Vielleicht kann ein ernährungstechnisch harmloser Placebo-Liebestrank sogar Beziehungen retten? Oder unterstützt man damit auf unethische Weise einen Prozess, in dem der Schmerz darüber, betrogen und belogen worden zu sein, einfach in eine neue Lüge, diesmal sich selbst gegenüber, verkehrt wird? Während Elizabeth also, wie es eine Romanfigur einmal etwas hinterhältig auf den Punkt bringt, mit ihren Placebos nichts verschreibt, fotografiert Jack mit seiner scheinbar abstrakten Fotokunst das Nichts, beide frönen sie der Abwesenheit, der Leere — ein Ausdruck unserer gegenwärtigen Haltlosigkeit? Doch so, wie Elizabeths Placebos zwar substanzlos sind, aber nicht unbedingt folgenlos, wird, so tief wurzelt das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit, auch Jacks Kunst mit allerlei „content“, wie man heute so schön sagt, versehen, ja es blitzt am Ende gleichsam als Ausdruck literarischer Gerechtigkeit sogar eine Form von Wahrheit auf, die zumindest für ihn eine Bedeutung hat, die nicht konstruiert ist. Davor jedoch wird auch die Kunst im Verlauf des Romans immer wieder als ein gesellschaftliches Spielfeld vorgeführt, auf dem, abgekoppelt von der Wirklichkeit, eine Bedeutung, eine Sinnhaftigkeit konstruiert wird, mit der sich die Menschen selbst etwas vormachen. Jacks plötzliche Wertschätzung als ernstzunehmender Künstler entsteht, wie es in einer der satirisch entlarvenden Szenen geschildert wird, in denen Nathan Hill mit feinem erzählerischem Witz Lebenslügen, Ideologien und sonstige gesellschaftlich verbreitete Verhaltensweisen ad absurdum führt, durch eine einzige Notlüge in einer ziemlich peinlichen Situation: Um zu verschleiern, dass er seine Befugnisse als studentische Hilfskraft auf ziemlich dilettantische Weise dazu missbraucht hat, auf den damals noch langsam arbeitenden Universitätsrechnern Pornographie herunterzuladen, verleiht Jack den verräterischen Bildern, von denen er Abzüge gemacht hat, kurzerhand eine Metaebene, um sie als künstlerisches Projekt auszugeben. Ohne diese nachträglich aufgepfropfte höhere Ebene, ohne den sinnstiftenden Kontext, ohne die Fiktion droht alles reine Materialität zu bleiben, in der Kunst, in der Liebe, in allem, was man im Leben angeht.

Dieses durch den gemeinsamen Nenner des Placebohaften zusammengehaltene Ineinander von Kunst, Ästhetik, Gesellschaft und Psychologie, die Fülle der Motive, Symbole, Spiegelungen, die sich durch die Erzählung ziehen, das geschmeidig in die Handlung integrierte Wiederaufgreifen und Variieren von Verhaltensmustern ebenso wie von gesellschaftlichen und kulturellen Phänomen ist der Grund, weshalb ich Wellness, auch wenn der Text kein dekonstruktivistisches Formexperiment ist, sondern eine jederzeit verständliche klassische Erzählung, für mehr als einen Unterhaltungsroman halte.

Bibliographische Angaben
Nathan Hill: Wellness, Piper 2024
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Kleiner und Dirk van Gunsteren
ISBN: 9783492605496

Bildquelle
Nathan Hill, Wellness
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderBernhard Jaumann: Turm der blauen Pferde und Caravaggios Schatten

Inzwischen ist schon längst der dritte Band der Krimireihe um die Münchner Kunstdetekei von Schleewitz erschienen (Banksy und der blinde Fleck, vgl. Rezension vom 9.3.2023), höchste Zeit also, eine Besprechung der ersten beiden Fälle hier noch nachzuholen. Denn seit dem ersten Band, Der Turm der blauen Pferde, bin ich ganz begeistert, dass eine neue Krimireihe sich in kurzweiliger und trotz der ernsthaft recherchierten und verhandelten Themen auch in amüsanter Form mit Kunst beschäftigt. Man denkt natürlich sofort an Martin Suters treffliche Allmen-Reihe, doch unterscheidet sich das Milieu, in dem Jaumanns Kunstdetektive ihre Recherchen anstellen, schon sehr von den mondänen Zürcher Kreisen, in denen sich das eigenwillige Herr-Diener-Gespann von Allmen und Carlos bewegt. Zwar führt auch Rupert von Schleewitz, der Inhaber der Münchner Kunstdetektei, ein Adelsprädikat im Namen, doch wohl eher nur der Form halber und als augenzwinkernde Reminszenz des bayerischen an den Schweizer Autor.

Im Turm der blauen Pferde ermitteln von Schleewitz und seine Kollegen in München und im oberbayerischen Land. Ihr Auftrag führt sie weit zurück in die Untiefen der deutschen Geschichte, die auf den verschlungenen Wegen der Vertuschung bis in die Gegenwart reichen, wo sie unter dem Erscheinungsbild der Provenienzforschung nun doch noch ans Licht der empörten Öffentlichkeit gelangen. In den Wirren des zweiten Weltkrieges hatte ein oberbayerischer Bauernjunge in einem Tunnel ein Gemälde entdeckt, das ihn vom ersten Augenblick an faszinierte und in dessen Bann er sein Leben lang gefangen bleiben wird. Eben dieses Gemälde taucht nun im München des 21. Jahrhunderts plötzlich wieder auf — doch ist es auch das Original oder eine ziemlich gelungene Fälschung? Um diese Frage entsteht ein aufregendes Verwirrspiel, das Bernhard Jaumann in einer spannenden, bis zuletzt überraschenden Krimihandlung in Szene setzt.

Der zweite Fall, Caravaggios Schatten, lässt die Detektive ermittlungstechnisch zwischen Potsdam und München pendeln. Ein ehemaliger Schulfreund aus dem Internat überredet Rupert von Schleewitz, gemeinsam mit ihm eine Ausstellung in der Gemäldegalerie von Schloss Sanssouci zu besuchen, wo er wie aus heiterem Himmel, aber gezielt mit einem plötzlich gezückten Messer auf das Gemälde Der ungläubige Thomas von Caravaggio einsticht. Als das Bild kurz darauf zur Restauration mit einem Sicherheitstransport aus dem Museum gebracht wird, wird es gestohlen. Ein Komplott von Kunsträubern, ein abgekartetes Spiel, in das der Bilderstürmer und frühere Schulkamerad nicht ohne Hintergedanken ausgerechnet den Inhaber einer Kunstdetektei hineinzuziehen versucht? Oder handelt es sich um einen privaten Rachefeldzug, der weit in die Schulzeit der beiden zurückreicht? Und welche Rolle spielt darin ihr gemeinsamer Kunstlehrer von damals und die Gerüchte, die es um ihn gab?

Wie im ersten Band lässt Jaumann auch in Caravaggios Schatten wieder verschiedene Akteure einer von vielen unterschiedlichen Leidenschaften und Interessen angetriebenen Kunstszene auftreten, und wieder steht auch diesmal ein Gemälde im Zentrum der Handlung, das nicht bloß ein blasser Aufhänger für eine im Kunstmilieu situierte Intrige ist, sondern auch detailliert beschrieben und wesentlich in die Krimihandlung integriert wird. Die Figuren, die einem im ersten Band ans Herz gewachsen sind, die Mitarbeiter der Kunstdetektei von Schleewitz, werden auch im zweiten Band mit einem liebevollen Schmunzeln für ihre ganz eigenen Persönlichkeiten weiter begleitet und gestaltet, und machen einen wichtigen Grund dafür aus, dass man sich von diesen Kunstkrimis auch so gut unterhalten fühlt. Neben dem schon vorgestellten Rupert von Schleewitz ist der Familienmensch Max Müller, Vater zweier Töchter, vor allem zuständig für die Recherchearbeit im Hintergrund; dabei wird er immer wieder aufgerieben von Loyalitätskonflikten, in die ihn die kleinen und größeren Dramen, die sich zuhause abspielen, auf der einen Seite und das geringe Verständnis auf der anderen Seite stürzen, das seine beiden jungen und ungebundenen Kollegen für seine heimischen Sorgen und Nöte aufbringen. Eine schillernde Figur, die diesmal auch direkt in die Krimihandlung involviert wird, ist der Vater von Ruperts und Max‘ Kollegin Klara Ivanović, ein alternder und äußerst eigenwilliger Performancekünstler, dessen Name sicher nicht zufällig an die serbische Künstlerin Marina Abramović erinnert. Bernhard Jaumann schreibt humorvolle Kunstkrimis, in denen die Kunst wirklich die Hauptrolle spielt — ich bin gespannt, welches Thema aus der vielgestaltigen Welt der Kunst und der Künstler er in seinem vierten Band aufgreift!

Bibliographische Angaben
Bernhard Jaumann: Der Turm der blauen Pferde, Galiani 2021
ISBN: 9783462001488
&
Bernhard Jaumann: Caravaggios Schatten, Galiani 2021
ISBN: 9783869711973

Bildquelle
Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde & ders., Caravaggios Schatten
© 2021 Verlag Galiani Berlin bei Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderBernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck

Nach NS-Raubkunst und Artnapping bestimmt im dritten Fall, in dem der Autor Bernhard Jaumann seine fiktive Münchner Kunstdetektei von Schleewitz ermitteln lässt, wieder eine brisante Erscheinung in der Welt der Kunst und des ihr eng verbundenen Markts die Krimihandlung.

Scheinbar kreuz und quer in München verteilt tauchen sogenannte Stencils, mithilfe einer Schablone aufgetragene Graffiti, auf, die auf den ersten Blick ganz klar die Handschrift des berühmten britischen Streetartkünstlers Banksy tragen, der trotz wilder Spekulationen seine Identität bis heute geheimhalten konnte. Eine Sensation — die von verschiedenen, Profit witternden Akteuren vorangetrieben wird, offensiv von der Lokalzeitung, etwas mehr im Verborgenen, doch nicht weniger skrupellos von einer namhaften Kunstgalerie, einem Münchner Auktionshaus sowie einem ansässigen Antiquitätenhändler.
Die bereits aus den ersten beiden Bänden bekannten Kunstdetektive Rupert von Schleewitz (Chef und Inhaber der Detektei, mit deren Finanzen es gerade nicht zum Besten steht), Klara Ivanovic (Kunstwissenschaftlerin und Tochter eines eigenwilligen ehemaligen Performancekünstlers mit Parkinson) und Max Müller (Familienvater und für die Recherche zuständig) lassen sich natürlich nicht so leicht blenden und gehen den zahlreichen Ungereimtheiten nach, die im Kontext der fortwährend auf mysteriöse Weise auftauchenden Graffiti zu beobachten sind.

Dem Autor gelingt es auch diesmal, ganz aus einer überzeugenden Romanhandlung heraus ein spannendes und streitbares Phänomen der Kunst, das der Streetart, bewundernswert vielschichtig zu verhandeln: die umstrittene Existenz dieser Kunstform an der Grenze zwischen Kunst und Sachbeschädigung, ihre Flüchtigkeit, die im skandalträchtigen Widerspruch zu ihrer Vermarktung zu teils absurd anmutenden Preisen steht, die Frage nach ihrer Authentizität und ihrem künstlerischen Wert, der weniger in ihr selbst als im mit ihr zu einer Marke verschmolzenen Namen liegt. Zugleich, und das hat mir besonders an dem Text gefallen, problematisiert der Autor in Verbindung mit dem Thema Streetart auch die Großstadt und ihre weniger glanzvollen Erscheinungen der Verwahrlosung und des Prekariats, die im himmelschreienden Widerspruch zur profitorientierten Realitätsferne prominenter Auktionskunst stehen, die ihrerseits mit dem Ideal einer uneigennützigen Kunst, deren Urheber hinter seinem Werk und seiner Botschaft zurücktritt, in einen spannungsvollen Kontrast tritt.

All das hat Bernhard Jaumann in eine stimmige Krimihandlung integriert, in der Gänsehaut nicht durch die Schilderung spektakulärer Mordfälle entsteht, sondern durch eine sich immer deutlicher aufdrängende Ahnung, dass Achtlosigkeit und Ignoranz genauso gewaltsam sein können und viele Taten im Moloch der Großstadt ebenso anonym bleiben wie der Urheber der angeblichen Banksy-Graffiti in dieser Geschichte.

Bibliographische Angaben
Bernhard Jaumann: Banksy und der blinde Fleck, Galiani-Berlin 2023
ISBN: 9783869712734

Bildquelle
Bernhard Jaumann, Banksy und der blinde Fleck
© 2023 Verlag Galiani Berlin bei Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderAlena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Der poetische Titel verweist auf ein fiktives Gemälde von Jan Vermeer, das in Alena Schröders Debütroman, in dem Kunst- und Familiengeschichte aufeinander treffen, eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich kann man sich vor seinem inneren Auge gut ausmalen, wie ein solches Gemälde des holländischen Künstlers aussehen könnte, der im 17. Jahrhundert lebte und vor allem für seine Genreszenen bekannt ist. Nicht selten sind darauf Frauenfiguren zu sehen, die in der Nähe eines Fensters stehen und blaue Kleidungsstücke tragen. Das berühmteste ist wahrscheinlich das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, dessen in kräftigem Blau gemaltes Stirnband vielleicht noch mehr im visuellen Gedächtnis präsent ist als der kleine Perlenohrring. Vermeers heute authentifizierter Werkumfang ist mit knapp 40 Bildern eher beschaulich, es sind jedoch in der Vergangenheit immer wieder Werke auf dem Kunstmarkt aufgetaucht, die ihm — meist fälschlicherweise — zugeschrieben wurden.

Ebenso wie der suggestive Titel ist auch die ziemlich fesselnde Geschichte, die die Autorin um dieses Bild herum aufbaut, also Fiktion mit einem plausiblen (kunst)historischen Möglichkeitshintergrund. Ausgangspunkt der Handlung ist unsere Gegenwart, in der wir der Perspektive der jungen und etwas verlorenen Doktorandin Hannah folgen, die am frühen Tod ihrer Hippie-Mutter, zu der sie keine einfache Beziehung hatte, wohl schwerer zu tragen hat, als sie sich das eingesteht. Eine zwar auch nicht reibungslose, aber doch sehr enge Beziehung hat Hannah zu ihrer Großmutter Evelyn, einer selbstbewussten Frau, die mit ihrem Umzug ins Pflegeheim nicht wirklich im Reinen ist. Als ein Brief auftaucht, über den Evelyn sich zunächst weigert, zu sprechen, ist Hannahs Neugier geweckt. Denn der Brief weist ihre Großmutter als einzige Erbin eines verschollenen jüdischen Kunstvermögens aus, das den rechtmäßigen Besitzern im Zweiten Weltkrieg entwendet wurde. Hannah, die davon ebenso wie von einem jüdischen Familienzweig nichts wusste, holt diese aufwühlende und zunächst mysteriös erscheinende Nachricht aus ihrer halb verzweifelten, halb lethargischen Haltlosigkeit heraus und motiviert sie zu einer historischen Spurensuche, die sie auch mit ihrer eigenen bisher verschwiegenen komplizierten Familiengeschichte konfrontiert.

Alena Schröder verbindet in ihrem Roman am Beispiel einer individuellen Familiengeschichte Kunst- und Provenienzgeschichte mit der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, insbesondere mit der düsteren Zeit des Nationalsozialismus und den Verbrechen an den Juden, hier in Gestalt des Schicksals des Berliner Kunstsammlers Itzig Goldmann und seiner Familie. Und sie schlägt den Bogen bis heute, in unsere Gegenwartsgesellschaft und unsere Erinnerungskultur mit ihrer teils aufrichtigen, teils aber auch heuchlerischen oder kontraproduktiven Art der Aufarbeitung.

Die fiktive weibliche Titelfigur des fingierten Vermeer-Porträts steht aber auch für ein Motiv, das der Roman am Beispiel mehrerer Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart durchspielt, nämlich für das Motiv des Frauseins oder der Weiblichkeit, wie sie sich im reibungsvollen Kontext von Geschichte und Gesellschaft herausbildet. Der Konflikt zwischen Beruf(ung) und Bindung, Selbstverwirklichung und Familie, Freiheit und Sinnsuche in oder jenseits von Mutterschaft besteht in unterschiedlicher Ausformung bis heute, das machen die so verschiedenen Persönlichkeiten in Schröders Roman deutlich. Besondere Empathie verspürt man im Laufe der Erzählung mit Senta, der leiblichen Urgroßmutter Hannahs, die sich jung in einen Piloten aus dem Ersten Weltkrieg verliebt, sich in ihrer Rolle als Ehe- und Hausfrau jedoch bald eingeengt fühlt und in Berlin als Journalistin ein neues Leben beginnt, das mit dem alten schwer zu vereinbaren ist. Und deren Konflikte mit der Exschwägerin nicht nur in der Rivalität um das Kind, sondern auch in unterschiedlichen Werten und einer konträren Einstellung zur nationalsozialistischen Politik gründen, ehe die geschichtlichen Ereignisse sie schließlich beide überrollen. Hervorzuheben ist dabei, dass die Hitler anhängende Schwägerin ihrerseits in vielen moralischen Schattierungen gezeigt wird, ebenso wie auch Senta, die ihrerseits keinesfalls nur ethisch einwandfreie Entscheidungen trifft.

Mit hat das leicht und mitreißend geschriebene Buch einiges an Leseglücksmomenten beschert, das Pendeln zwischen einer Hauptfigur unserer Gegenwart, mit der man sich gerade aufgrund ihrer manchmal geradezu verbohrten, lethargischen und dann doch auch wieder engagierten Anwandlungen identifizieren kann, und den Rückblicken in die für uns weit entfernte und doch noch immer schmerzhaft nachwirkende Vergangenheit wird glaubhaft und sehr menschlich erzählt; die Autorin führt uns sehr einfühlsam an die von ihren verschiedenen, bisweilen gegensätzlichen Beweggründen getriebenen Charaktere heran. Was mich trotzdem an manchen Stellen gestört hat, ist der unpassend flapsige Stil vor allem im Gegenwartsteil; der missglückte Versuch, mit der Formulierung, dass ihre Mutter an Krebs „verreckt“ sei, Hannahs Empörung gegen das Schicksal sprachlich einzufangen, ist hier nur ein Beispiel von mehreren. Seinen durchaus immer wieder durchscheinenden kritischen Humor gewinnt der Roman viel überzeugender auf andere Weise, nämlich durch die Entlarvung der Widersprüche im Verhalten der Figuren, das ihre Krisen, ihre charakterlichen Eigenarten oder Verdrängungsstrategien aus dem erzählerischen Kontext heraus viel subtiler offenbart. Besonders laut knirscht es da zwischen Hannah und dem ihr erst gegen ihren Willen an die Seite gestellten jungen Historiker, was immer wieder zu absurd-witzigen Situationen führt und nicht nur über beide Figuren psychologisch Aufschluss gibt, sondern darüber hinaus auch auf satirische Weise auf die gesellschaftliche Herausforderung aufmerksam macht, die der Aufarbeitung der (nationalsozialistischen) Vergangenheit noch immer innewohnt. So engagiert und idealistisch sich Hannahs aufdringlicher Kommilitone mit dem Spezialgebiet Holocaust etwa gegen die Geschichtsvergessenheit seiner Umwelt einzusetzen scheint, so besteht der von ihm begründete Club zum Gedenken an den Holocaust aus einem doch etwas wunderlichen Sammelsurium von allesamt nicht-jüdischen Charakteren mit teils etwas fragwürdigen Motiven und Ansichten, die unter dem Deckmantel eines antisemitischen Aktionismus einer gefährlichen Fremdenfeindlichkeit anderer Art Vorschub leisten.

In der erzählerisch unterhaltsam gestalteten differenzierten Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der Vergangenheit liegt für mich die große Stärke des Buches, das literarisch zwar einem Vergleich etwa mit Rebecca Makkais jüngst erschienenem Roman Die Optimisten, in dem es gleichfalls im Kontext von Kunst und Provenienzforschung um die Aufarbeitung eines anderen Kapitels der Geschichte geht (vgl. Rezension vom 13.8.2020), nicht standhalten kann, aber dennoch eine berührende und spannende Reise in die Vergangenheit unseres Landes darstellt.

Bibliographische Angaben
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlich, blaues Kleid, dtv (2021)
ISBN: 9783423282734

Bildquelle
Alena Schröder, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderJana Revedin: Margherita

Jana Revedin erzählt in ihrem auf der eigenen Familiengeschichte basierenden Roman die Geschichte einer modernen Frau und verknüpft sie geschickt und unterhaltsam mit einer Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des europäischen 20. Jahrhunderts.

Zunächst mutet die Geschichte der intelligenten und einfühlsamen Margherita, die mit ihren Schwestern einen Zeitungskiosk betreibt, um die Familie zu ernähren, wie ein Märchen an. Einer ihrer Zeitungsabonnenten ist Nino, der Erbe der alteingesessenen, reichen Familie Revedin in Treviso. Marghuerita mag ihn gern und genießt es, ab und an ein Wort mit ihm über das in den Zeitungen berichtete Zeitgeschehen zu wechseln, doch als Nino sie eines Tages zu sich einlädt und ihr einen Heiratsantrag macht, fällt sie aus allen Wolken und bleibt zunächst skeptisch, ob eine solche unstandesgemäße Liebe eine Zukunft haben kann. Doch ihr familiäres Umfeld ist dem jungen Paar gewogen — im Unterschied zu den venezianischen Patrizierfamilien, die Margherita auch nach Jahrzehnten nicht als eine der Ihren akzeptieren werden — und so findet 1920 die Hochzeit statt und die beiden ziehen in ein Palais nach Venedig.

Venedig ist zu dem Zeitpunkt eine im Wandel begriffene Stadt, und Margherita verkörpert wie keine andere diesen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Geschult in Paris, wo sie vor ihrer Hochzeit einige Monate verbrachte, sozusagen als Bildungsreise und kulturelle Initiation, nutzt sie den Einfluss der Familie ihres Mannes und nicht weniger auch ihre eigenen Kontakte, die sie in Paris geknüpft hat — darunter z.B. die später berühmte Kunstmäzenin Peggy Guggenheim –, um Venedig zu einem kulturellen Zentrum der Moderne zu machen. Film, Kunst, Sport, Mode, Architektur, überall steckt die Moderne in ihren Startlöchern, und Margherita ist begeistert und engagiert mit dabei.

Doch während Margherita sich in diese neue Welt in Venedig, in der sie als Mädchen einfacher Herkunft immer wieder auch auf Widerstand stößt, mit ihrer einfühlsamen und begeisterungsfähigen Art rasch einzufügen versteht und dem kleinen Luigi bald auch eine verantwortungs- und liebevolle Mutter wird, beobachtet sie zunehmend mit Sorge, wie ihr verträumter Mann Nino, dessen Leidenschaft die Fotografie ist, sich mehr und mehr in dubiose Geschäfte einlässt, Schulden anhäuft und sich schließlich sogar den neuen politischen Granden des Faschismus anbiedert. Diese Selbstentfremdung Ninos geht bald auch einher mit einer Entfremdung der Eheleute voneinander, die ein trauriges Ende nimmt.

Nach den 1930er Jahren folgt ein großer Zeitsprung ins Jahr 1962. Margherita ist längst Witwe, hat ihre kunstsinnige Umtriebigkeit und ihre Begeisterungsfähigkeit aber nicht verloren, sondern gestaltet mit talentierten Nachwuchsarchitekten das künftige Stadtbild Venedigs. Und, so viel sei zumindest verraten, auch die Familiengeschichte nimmt ein versöhnliches Ende mit dem hoffnungsvollen Ausblick auf eine neue Generation. Diese wird für die Autorin dann auch die Brücke zu einem autobiographischen Epilog, in dem sie schildert, wie sie selbst Margheritas Enkel kennengelernt hat: Antonio Revedin, den sie geheiratet und dessen Familiengeschichte sie hier niedergeschrieben hat.

Auch wenn der Roman manchmal an eine Chronik erinnert, da die Autorin eine Fülle an historischen Personen und Tatsachen in ihm unterbringt, werden diese doch fast immer lebendig in die Handlung eingebunden. Das gelingt zum einen durch die überzeugend gestalteten Dialoge, zum anderen auch durch die plastische und meist vielschichtige Charakterisierung der Figuren. Einzig Marherita selbst wird zwar äußerst einfühlsam, doch im Unterschied zu manch anderen gebrocheneren oder schillernderen Figuren vielleicht als zu gute Seele gezeichnet. So haftet der Erzählung doch bis zuletzt etwas Märchenhaftes an, aber das nimmt man gern in Kauf bei einer insgesamt überaus mitreißenden Geschichte.

Bibliographische Angaben
Jana Revedin: Margherita, Aufbau Verlag (2020)
ISBN: 9783351038304

Bildquelle
Jana Revedin, Margherita
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderRebecca Makkai: Die Optimisten

Eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und grünem Schal, einem strengen Zug um die definierten roten Lippen und vor allem mit diesen schräg stehenden grünen Mandelaugen, deren unergründlicher, irgendwie unnahbarer und doch so vielsagender Blick den Betrachter in Bann schlägt, der das Geheimnis, die Geschichte, die Gedanken dahinter so gerne herausfinden möchte…

Das in mehrfacher Hinsicht treffend gewählte Titelbild der deutschen Ausgabe des neuen Romans von Rebecca Makkai wird unter dem Titel „Ritratto di Maria“ dem früh an Tuberkulose verstorbenen italienischen Künstler Amedeo Modigliani (1884-1920) zugeschrieben, ist wohl 1918 entstanden und erinnert in Stil und Ausdruck an andere Porträtmalereien des Künstlers, etwa an die, die er von seiner Verlobten und Künstlerkollegin Jeanne Hébuterne anfertigte. Und doch ist die Echtheit des Bildes umstritten: Kurz bevor der Roman 2018 in Amerika erschien, hatte sich — nicht zum ersten Mal — eine Debatte um die Authentizität mehrerer Werke entzündet, die 2017 in einer Modigliani-Ausstellung in Genua gezeigt wurden, darunter auch das Porträt „Maria“.

Die Kunst, nicht nur Modiglianis, ist eines der großen Themen von Makkais neuem Roman, das die Autorin auf erzählerisch großartige Weise mit weiteren Themenfeldern verknüpft. Indem sie der Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Leben, Kunst und Vergänglichkeit, dem (ideellen, ästhetischen und kommerziellen) Wert von Kunst nachgeht, entwirft sie im gleichen Atemzug eine packende Geschichte über Krankheit und Tod, über die Zeit, in der das tödliche Aids-Virus entdeckt wurde, über Freundschaft, Familie, Schuld und Verantwortung, und ist dabei — so wie Modigliani in seiner Kunst — ihren Figuren, den Menschen, die sie in ihren Ängsten und Freuden, ihrem Leiden und ihrer Hoffnung, zeichnet, stets ganz nah.

Entsprechend intensiv ist das Leseerlebnis, das einen die epischen 600 Seiten, die der Roman umfasst, wie im Fluge lesen lässt. Der Autorin gelingt es, einen überzeugenden historischen Bogen zu konstruieren, der von der Zeit um den Ersten Weltkrieg in der Pariser Künstlerszene über die in der vom Schrecken der neuen unheilbaren Krankheit Aids geprägten 1980er Jahre in Chicago bis ins Jahr 2015 reicht, in der die Überlebenden und Nachgeborenen ihre eigenen inneren und äußeren Kämpfe austragen und die noch losen Enden zwar zum Glück nicht zu einem kitschig-rosigen Happy End, aber immerhin doch zu einer Art poetischer Gerechtigkeit zusammengeführt werden.

Die Kapitel wechseln zwischen der Perspektive von Yale Tishman, einem jungen Galeristen, und seinem zum Großteil schwulen Freundeskreis in den Jahren 1985/86 in Chicago, und derjenigen Fiona Lerners im Jahr 2015, als sie sich auf den Weg nach Paris macht, um ihre Tochter Claire zu suchen und das schwierige Mutter-Tochter-Verhältnis aufzuarbeiten. Die Reise nach Paris wird aber auch eine Reise in Fionas eigene unzureichend verarbeitete Vergangenheit und in die ihrer Familie. Als das HIV-Virus ab der Mitte der 1980er Jahre nämlich ihren geliebten großen Bruder Nico und dann der Reihe nach ihren gemeinsamen Bekanntenkreis dahinsiechen ließ, war Fiona ein junges Mädchen, das von der auch emotionalen Verantwortung, die sie damals übernahm, noch 30 Jahre später gezeichnet ist. Fiona, in deren Gedanken- und Gefühlswelt man tief eintaucht, da sie mit dem Mittel interner Fokalisierung geschildert wird, ist neben Yale die zweite Hauptfigur und Stimme des Romans und als Überlebende auch das Bindeglied zwischen den Zeiten, zwischen Paris und Chicago, zwischen Yales Geschichte und derjenigen ihrer Großtante Nora. Nach dem Aidstod ihres Bruders wird der ebenfalls schwule Yale für Fiona zum engen Freund und zu einer umso wichtigeren Bezugsperson, als sie sich mit ihren Eltern überworfen hat, weil diese Nicos Homosexualität nicht akzeptierten.

Auch die Verbindung von Yale und Nora, die bis in die 1920er Jahre die Pariser Künstlerszene frequentierte und einige private und demzufolge nicht autorisierte Skizzen und Gemälde namhafter Künstler aus dieser Zeit besitzt, kommt über Fiona zustande. Für Nora, die vor ihrem Tod die Veröffentlichung ihrer vollständigen Sammlung in die Wege leiten möchte, haben diese Kunstwerke nicht nur eine materielle und ästhetische, sondern auch eine biographische Bedeutung. Sie war als junge Frau von Amerika nach Paris gegangen, um Kunst zu studieren, wurde dann aber eher als Modell gesehen und geduldet und kam mit einigen später berühmten Künstlern wie Modigliani oder Foujita in Kontakt. In einen von ihnen, dem vielleicht das Schicksal des kurzen Lebens einen berühmten Namen vorenthielt, verliebte sie sich — um ihn kurz darauf infolge des Ersten Weltkriegs schon wieder zu verlieren: Ranko Novak, dessen Bilder auch zu ihrem Kunstschatz gehören und die Yale gemeinsam mit denen der berühmten Künstler in seiner Galerie unterbringen soll. Doch das Projekt gestaltet sich als immer größere Herausforderung, da Yale sich mit den divergierenden Ansichten verschiedener Interessensgruppen auseinandersetzen muss, mit der Familie, die sich um ihr Erbe betrogen fühlt, ebenso wie mit den ökonomischen Prinzipien, die den Kunstmarkt bestimmen. Und nicht zuletzt steht er privat vor einem Scherbenhaufen, nachdem Eifersucht, Betrug und schließlich auch noch das tödliche Virus sein Beziehungsleben erschüttert haben. Trotzdem setzt er alles daran, das Vertrauen, das die alte Nora in ihn gesetzt hat, nicht zu enttäuschen…

„Wartet man nicht eigentlich permanent darauf, dass die Welt aus den Fugen gerät?“, sagte Richard. „Wenn die Verhältnisse stabil sind, dann immer nur vorübergehend.“

Makkai, Die Optimisten, S. 472

Die ideelle Architektur des Romans, der auf vielen verschiedenen Ebenen arbeitet, die allesamt fein miteinander verwoben sind, gründet auf dem meisterhaft inszenierten Wechselspiel von (Welt-) Geschichte und privaten Familien- und Beziehungsgeschichten, ein Prinzip des Gesellschaftsromans, wie es sich in der Literaturgeschichte v.a. des 19. Jahrhunderts herausbildete — die New York Times vergleicht Makkais Roman in dieser Hinsicht sogar mit Krieg und Frieden. Die Welt der „Optimisten“ gerät fast permanent aus den Fugen, um das Zitat einer Figur aus Makkais Roman aufzugreifen: Im Kleinen, wenn familiäre oder Paarbeziehungen auseinanderbrechen, wenn Krankheit und Tod Biographien erschüttern, im Großen durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, durch die Aids-Pandemie, die ab den 1980er Jahren große Teile der Gesellschaft bedroht und stigmatisiert, durch die terroristischen Anschläge im 21. Jahrhundert. Doch da das Schicksal der Individuen unmöglich von den gesellschaftlichen Ereignissen isoliert betrachtet werden kann, verflicht Makkai die historisch-gesellschaftliche Ebene untrennbar mit den privaten Biographien ihrer Figuren. So entsteht vor dem historischen Hintergrund von Aids etwa eine gesteigerte Komplexität der Schuldgefühle, da Untreue auf einmal über die emotionale Verletzung hinaus auch zum körperlichen Todesurteil werden kann. Die private Verantwortung des Einzelnen bekommt eine gesellschaftliche Dimension, die wiederum Einfluss auf die Gestaltung der individuellen Beziehungen hat.

Diesem inhaltlich differenzierten und komplexen Ineinander von Individuum und Geschichte, von privater und gesellschaftlicher Verantwortung wird die Autorin auch in Form und Ausdruck gerecht, und die gelungene Übersetzung von Bettina Abarbanell transportiert den authentischen Stil des Originals auch wunderbar ins Deutsche. Denn Makkai verzichtet auf Pathos, aber nicht auf Emotion, sie reflektiert die moralischen Verstrickungen ihrer Figuren, ohne zu moralisieren, sie gibt tiefen Einblick in deren bewegte, auch widersprüchliche Gedankenwelt, die Erzählung ist spannend, nach vorne drängend und zugleich nachdenklich und reflektierend. Und nicht nur die Hauptfiguren Yale und Fiona, die einem im Laufe des Romans ans Herz wachsen, werden mit viel Feingefühl porträtiert, sondern auch die vielen Weggefährten, die dank der lebendigen Dialoge Individualität und Kontur bekommen: Die schwule Community etwa, in der es neben Solidarität, Warmherzigkeit und Anziehung natürlich wie überall auch Spannungen, Streit und Zerwürfnisse gibt, wird in der individuellen Vielfalt ihrer Charaktere gezeigt, die zugleich ein größeres gemeinsames Schicksal teilen.

Die Optimisten ist der dritte Roman von Rebecca Makkai, und in den USA hat er bereits große Begeisterung entfacht: Um herauszufinden warum, fängt man am besten einfach an zu lesen — nach wenigen Seiten wird einen die Geschichte in ihren Bann geschlagen haben! Und am Ende ist man vielleicht erschüttert, aber nicht zerstört. Denn die Botschaft, die dieser komplexe und doch so flüssig lesbare Gesellschafts-, Kunst- und Aids-Roman vermittelt, ist die einer im Zeichen der Desillusion stehenden, der Realität ins Auge blickenden, aber dennoch das Leben bejahenden, mit Verantwortung verbundenen Hoffnung:

„Das ist der Unterschied zwischen Optimismus und Naivität. Keiner hier im Raum ist naiv. Naive Menschen haben noch keine echte Prüfung hinter sich, deshalb meinen sie, ihnen könne nichts passieren. Optimisten wie wir haben schon etwas durchgemacht und stehen trotzdem jeden Tag auf, weil wir glauben, wir könnten verhindern, dass es noch einmal passiert. Oder wir tricksen uns einfach aus, um das zu glauben.“

Makkai, Die Optimisten, S. 511


Bibliographische Angaben
Rebecca Makkai: Die Optimisten, Eisele 2020
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
ISBN: 9783961610778

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