bookmark_borderAnne Gröger: Hey, ich bin der kleine Tod… aber du kannst auch Frida zu mir sagen

Auf den Tod ist der elfjährige Samuel, der an einer gefährlichen Autoimmunkrankheit leidet, überhaupt nicht gut zu sprechen. Er ist ihm schon mehrmals nur knapp von der Schippe gesprungen. Was für eine Zumutung also, dass pünktlich zu seiner Entlassung aus dem Krankenhaus und seiner Reintegration ins „normale“ Leben eine kleine Gestalt in schwarzer Kutte und mit einer Sense in der Hand bei ihm auftaucht! Unter der Kutte verbirgt sich tatsächlich der Tod, genauer gesagt, der kleine Tod, der sich als quirliges und zu Samuels Leidwesen äußerst zudringliches Mädchen entpuppt, das sich Frida nennt und sein Leben von nun an ziemlich auf den Kopf stellt.

Betrachte ich das Chaos in meinem Zimmer, kann ich an ihrer Echtheit eigentlich nicht mehr zweifeln. Ich begreife zwar noch immer nicht genau, woher sie kommt, was sie hier macht und vor allem, wie ich sie wieder loswerde, aber dass sie da ist, sehe ich mehr als deutlich. Auch, dass sie vom Menschsein keine Ahnung hat, ist offensichtlich. Dann wüsste sie nämlich, dass es Regeln gibt. Zum Beispiel, dass man Sachen wieder einräumt. Oder dass man Dinge, die anderen gehören, nicht einfach durch die Gegend schmeißt. Ich versuche es ihr zu erklären. Aber Frida ist Regeln gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. „Revolution!“, schreit sie und erklärt mir, dass sie weiß, dass Menschen das machen, wenn ihnen Regeln nicht passen. Der große Tod hat immer besonders viel zu tun, wenn Menschen revolutionieren.

Anne Gröger, Hey, ich bin der kleine Tod

Erzählt wird die Geschichte einfühlsam und mit viel Humor zum Großteil von Samuel selbst, dessen Perspektive immer wieder mit kürzeren eingeschobenen Gedanken von Frida ergänzt wird. Als Auszubildende des großen Todes verrät sie in diesen Einschüben, welche geheimen Pläne sie verfolgt, dass Samuel nämlich quasi ihre Reifeprüfung darstellt; sie teilt in diesen Passagen aber auch ihre wegen kleiner Missverständnisse und Fehlinterpretationen häufig sehr amüsanten Beobachtungen über die Menschenwelt mit den Lesern, sowie ihre anfangs recht zähen Lernprozesse im Verständnis dieser Welt, die ihr ebenso fremd ist wie uns Menschen das Reich des Todes.

An dieses hat Samuel auch seinen besten Freund im Krankenhaus verloren; nur ein Karabinerhaken ist ihm geblieben, als schmerzliches Andenken und zugleich als Ansporn, die gemeinsam erträumte Bergtour eines Tages in Erinnerung an den Freund selbständig in die Tat umzusetzen. Was nun, da eine Stammzelltherapie gut angeschlagen hat, auf einmal in greifbare Nähe rückt. Zumindest theoretisch. In der Praxis hat Samuel noch viel zu große Angst vor allem, was sich draußen befindet: außerhalb des Krankenhauses, außerhalb seines perfekt desinfizierten Kinderzimmers und sogar außerhalb seines Schutzanzuges, den er auch nach der erfolgreichen Therapie nicht ausziehen mag und der seinen Körper vor all den sichtbaren und unsichtbaren Gefahren der Welt beschützen soll.

Während seine Eltern — und Frida, diese jedoch mit ihren ganz eigenen Absichten — versuchen, ihm das Leben draußen wieder schmackhaft zu machen, während sie sich nichts sehnlicher für ihn wünschen, als dass er wieder unbeschwert den Schulalltag und das Spielen mit anderen Kindern genießen kann, löst die lebhafte Vorstellung all der Gefahren, die ein solcher Alltag für ihn bereitzuhalten droht, in Samuel erst einmal ganz und gar keine Euphorie, sondern einen großen Schrecken aus. Verzweifelt muss er sich nicht nur gegen die gutgemeinten Ideen seiner Eltern, sondern auch noch gegen das Drängeln einer nicht locker lassenden Frida wehren, die Samuel unbedingt aus seiner Schutzzone herauskatapultieren möchte. So sehr hat er sich an sein Leben im Ausnahmezustand, in dem schon eine Erkältung lebensgefährlich für ihn sein konnte, angepasst und gewöhnt, so belesen und gut informiert über seine Krankheit und die Herausforderungen des Daseins, ja so vernünftig und erwachsen ist er bereits für sein Alter geworden, dass es einen riesengroßen Schritt für ihn bedeutet, das Kindsein und mit ihm die früh verlorene Unbeschwertheit wieder zu erlernen. So steckt er in einer tragikomisch geschilderten Notlage, weil er seinen Eltern die große Gefahr, in die ihn Frida zu bringen scheint, nicht begreiflich machen kann; den kleinen Tod in seiner schwarzen Kutte und mit seiner scharfen kleinen Sense sieht nur er allein, für alle anderen ist Frida nur sichtbar, wenn sie als freches kleines Mädchen auftritt, und, noch schlimmer, als selbsternannte neue Freundin von Samuel!

Gerade aus dem Antagonismus der beiden Hauptfiguren, die beide auf ganz unterschiedliche Weise alles daransetzen, den anderen loszuwerden, die sich immer wieder angiften bzw. aus rein taktischen Gründen einander Wohlwollen oder Hilfsbereitschaft vorspielen, erwächst ein zugleich sehr schwarzer und sehr liebevoller Humor. Und natürlich entsteht trotz allen Misstrauens schließlich ganz allmählich doch ein Band der Freundschaft zwischen den beiden, das sich im entscheidenden Moment als fest und entwickelt genug herausstellen wird.

Es ist bewundernswert und ein großer Genuss, nicht nur für die zehnjährigen Leser, mit wieviel Witz und Tiefgang die Autorin über ein so schwieriges Thema wie den Tod zu schreiben versteht. Anne Gröger wahrt in ihrem Ton hier genau die richtige Balance für ein Kinderbuch, sie nimmt Samuels Sorgen ernst und bringt ihre Leser trotzdem immer wieder zum Lachen und Schmunzeln, wenn er es dann doch mitunter ein bisschen übertreibt mit dem Desinfizieren und der Aufzählung all der potentiellen Risiken und lauernden Abgründe des Alltags. So gelingt es ihr, lebensphilosophische Fragen ganz federleicht und wie nebenbei zu thematisieren, etwa die Frage danach, was ein Leben eigentlich ausmacht, welche Ängste und Einschränkungen eine schwere Krankheit mit sich bringt und welche verschiedenen Wege es gibt, damit umzugehen. Auch der Tod bekommt mehr Facetten und Erscheinungsformen: er verkörpert, als großer, sich entziehender Unbekannter, nicht nur das Lebensende; vielmehr gerät man ihm zum Beispiel auch dann bedrohlich nahe, wenn man sich alle Freuden und Genüsse versagt und nur von seiner Angst leiten lässt. Umgekehrt wird in der Geschichte aber auch deutlich, wie leicht sich das natürlich als Außenstehender sagen lässt, solange man nicht selbst in der Haut des anderen, des Kranken, des Geängstigten steckt, und wie wichtig und lebensnotwendig es ist, selbst für sich herauszufinden, wie man gerne leben möchte. Das Buch hat somit eine handlungsreich gestaltete Metaebene, die ganz spielerisch aus der Geschichte erwächst: Wenn Samuel lernt, mit Frida, dem kleinen Tod, zu leben, so erleben wir in einer mitreißend erzählten Geschichte, wie es ist, mit der eigenen Sterblichkeit zu leben, und setzen uns so fast unwillkürlich mit einer großen Seinsfrage auseinander, die uns auch über den konkreten Fall von Samuels Krankheit hinausdenken lässt.

Samuels Geschichte endet, so viel sei verraten, nicht mit dem großen Tod, der nach allen Abenteuern aber auch nicht mehr als das unheimliche Böse schlechthin erscheint. Samuel darf sein neues Leben nach all der Aufregung jetzt erst einmal genießen, und auch Frida, die längst nicht in alle Pläne des großen Todes eingeweiht war, ist bei Samuel um so manche menschliche Erfahrung reicher geworden.

Bibliographische Angaben
Anne Gröger: Hey, ich bin der kleine Tod… aber du kannst auch Frieda zu mir sagen, dtv (2021)
ISBN: ISBN 9783423763479

Ab 10 Jahren

Bildquelle

Anne Gröger, Hey, ich bin der kleine Tod
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderMeg Rosoff: Sommernachtserwachen

Die schon lange in England lebende Amerikanerin Meg Rosoff hat einen fesselnden Jugendroman geschrieben, der an seiner Oberfläche wie eine Coming-of-age-Geschichte anmutet, in der nach einem Sommer am Meer nichts mehr ist wie zuvor, der im Grunde aber und erst auf den zweiten Blick ganz im Zeichen des Theaters steht. Der Titel spielt nicht zufällig auf Shakespeares Sommernachtstraum an, in dem es um ein buntes Verwirrspiel von Gefühlen und Beziehungen geht und am Ende nicht nur eine Hochzeit gefeiert wird.

Auch in dem aufwühlenden Sommer, von dem der namen- und geschlechtslose Ich-Erzähler berichtet — am Anfang war ich unbewusst davon ausgegangen, es handle sich um ein Mädchen, im Nachhinein lassen sich aber auch einige Indizien für einen männlichen Erzähler finden… letztlich ändert das auch gar nichts an den psychologischen Verwicklungen, die den Sog der Geschichte ausmachen –, finden große Hochzeitsvorbereitungen statt. Ein junges Paar, Hope und der Schauspieler (!) Malcolm, das mit der sechsköpfigen englischen Familie verwandt ist, die schon seit Jahren den Sommer in einem urigen alten Ferienhaus am Meer verbringt, ist auch in diesem Sommer wieder im benachbarten Strandhaus mit von der Partie, wo am Ende des Sommers auch ihre Hochzeit gefeiert werden soll. Und noch etwas ist anders in diesem Sommer: Die divenhafte amerikanische Patentante der Braut bringt ihre beiden ungleichen Söhne vorbei, damit sie den Sommer bei der Familie verbringen, während sie selbst sich ganz auf ihren Filmdreh konzentrieren kann. Während der eine Sohn, der wunderschöne, charmante, faszinierende Kit, nacheinander oder gleichzeitig fast allen den Kopf verdreht und manipulativ die familiären Beziehungen durcheinanderwirbelt, bleibt der andere, Hugo, verschlossen und missmutig, das genaue Gegenteil seines Bruders, den er nicht ausstehen kann. Erst spät lernt der Erzähler Hugo zu schätzen und den äußeren Schein anders zu beurteilen, nachdem er schon längst selbst in den Zauberbann seines Bruders geraten ist.

Im Unterschied zu Shakespeares Komödie, einer Feier des Spiels, des Scheins, der Täuschung, in der sich zuletzt alles von Zauberhand fügt, landen Meg Rosoffs Figuren am Ende alle unsanft in der Realität, in der Verletzungen, Lug und Trug eben nicht so einfach verpuffen. Der Sommernachtstraum wird zum schmerzhaften Sommernachtserwachen. Die Schauspieler werden enttarnt, um den Preis einer großen Desillusion.

Erzählt wird aus der Perspektive des ältesten Kindes der Familie in einer teils fast schon etwas abgeklärten Sprache — was auch damit zusammenhängen mag, dass die Dinge dem in diesem Sommer gereiften Erzähler im Rückblick offensichtlicher erscheinen –, in der aber zum Glück doch immer wieder zartere, poetischere Stellen der Unsicherheit und der Zerbrechlichkeit aufscheinen. Trotz der treffenden Beobachtung von Verhalten und Charakter der Familienmitglieder erinnern diese doch insgesamt mehr an statische Theaterfiguren, was von der Autorin durchaus gewollt scheint; es gibt immer wieder kleine metatheatralische Ironiesignale. Der Roman wirkt so insgesamt wie ein psychologisches Experiment, in dem gerade das Zentrum, der faszinierende und gottgleiche Kit, der von allen angebetet wird, am unnahbarsten bleibt — eine Leerstelle, über welcher der Schein eines Geheimnisses schwebt, das für alle, auch für die Leser, für einen Moment ein betörendes Leuchten ausstrahlt, um am Ende wie ein verglühender Stern in sich zusammenzufallen.

Altersempfehlung
Ab 14 Jahren

Bibliographische Angaben
Meg Rosoff: Sommernachtserwachen, Fischer Kinder- und Jugendbuch (2021)
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783737342513

Bildquelle
Meg Rosoff, Sommernachtserwachen
© 2021 FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt/Main

bookmark_borderBenedict Mirow: Die Chroniken von Mistle End 2 — Die Jagd beginnt

Nachdem ich den ersten Band mit großer kindlicher Freude verschlungen und mit — etwas erwachsenerer — Begeisterung für seine originellen Einfälle in diesem ja nicht gerade konkurrenzlosen Kinderbuchgenre rezensiert hatte (Rezension vom 16.7.2020), war ich gespannt auf die Fortsetzung. Tatsächlich geht es fantasievoll und spannungsreich weiter, mit einer gut konstruierten Handlung, die dieses Mal an einen anderen Schauplatz führt, nämlich nach London, und für die sich der Autor einige neue, teils beunruhigende, teils faszinierende fantastische Gestalten ausgedacht hat. Während die in sich gespaltene Gruppe der in London regierenden Vampire durch familiäre Verflechtung zugleich als Verbündete und als mächtige und schonungslose Gegner der bunten Gemeinschaft von Mistle End auftreten, steht im pulsierenden Zentrum dieses Bandes auf jeden Fall die kleine Gauklertruppe, die sich aus noch ausgefalleneren magischen Gestalten zusammensetzt als die Bevölkerung von Mistle End. Diese Außenseiterfiguren sind es auch, die Cedric und seinen Freunden in der Gefahr tapfer und unkonventionell beiseitestehen, als durch den Raub eines magischen Buches die Sicherheit Mistle Ends in Gefahr gerät. Und umgekehrt setzt sich auch Cedric mit seinen allmählich intuitiveren Druidenkräften und gemeinsam mit seinen Freunden für sie ein, als ihre vor den Vampiren geschützte Existenz in London bedroht wird. Ein von Emilys Gestaltwandlungen total begeisterter Werwolf, ein eher unheimliches Wasserwesen und eine afrikanische Voodoo-Zauberin sind nur ein paar Beispiele für die Vielfalt der herrlich schrillen und warmherzigen Gauklertruppe.

Hingegen stecken die bereits bekannten Hauptfiguren im Vergleich zum ersten Band etwas zurück, es gibt weniger Szenen zum Schmunzeln zwischen den drei Freunden. Trotzdem halten sie natürlich fest zusammen und besonders Emily fasziniert immer wieder mit ihrer intelligent und mutig eingesetzten gestaltwandlerischen Gabe. Schade finde ich jedoch, dass Crutch, der als Widerpart Cedrics im ersten Band noch offen und ambivalent ausgelegt war, nun doch deutlicher ins feindliche Lager geschoben wird, auch wenn Cedric, aber auch nur er, ihn noch nicht ganz aufgegeben zu haben scheint. Mal abwarten, was der Autor im dritten Band mit dieser Figur noch vorhat. Denn eine weitere Fortsetzung wird es ganz bestimmt geben, die Vorausdeutungen auf neues drohendes und gewiss wieder für spannende Abenteuer sorgendes Unheil sind zahlreich in diesem zweiten Band.

Hier geht es zur Rezension des ersten Bandes: Die Chroniken von Mistle End 1 — Der Greif erwacht.

Bibliographische Angaben
Benedict Mirow: Die Chroniken von Mistle End 2 — Die Jagd beginnt, Thienemann-Esslinger (2021)
ISBN: 9783522185721

Bildquelle
Benedict Mirow, Die Chroniken von Mistle End 2
© 2021 Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, München

bookmark_borderDavid Almond: Ein finsterheller Tag

Ein heißer Sommerferientag in einer Kleinstadt, ein Junge, der in seinen Spielsachen kramt, für die er schon ein bisschen zu alt ist, und eine Mutter, die ihren Sohn liebevoll, aber mit Nachdruck nach draußen schickt, an die Luft, in die Bewegung, ins Leben. Noch ahnt niemand, auch nicht der Leser, dass dieser eine Tag, an dem sich die ganze Geschichte abspielen wird, ein ganz und gar außergewöhnlicher Tag werden wird, ein finsterheller Tag, an dem so vieles passiert, Schönes und Schreckliches, Bizarres und Vertrautes, Traumhaftes und ganz Reales, dass man immer mehr ins Staunen gerät über diesen Jungen namens Davie, der gerade erst seinen Vater verloren hat, gerade erst der Kindheit entwächst und so unbeirrt und unverwandt seine Wanderung durch die Stadt und aus der Stadt heraus immer weiter fortsetzt, hin zu einem Ziel, dass er mehr zu ahnen als zu kennen scheint.

Zu Beginn erfährt Davie von einem Freund, dass ein Mord passiert sein soll, ein Junge liegt hingeschlagen auf dem Asphalt, Polizei und Priester sind schon zur Stelle, man ist sich in der Kleinstadt schnell einig, dass ein anderer Junge aus einer verfeindeten Familie ihn erstochen haben muss, die Vorbereitungen zu einem Rachefeldzug sind schon im Gange. Davie läuft indes weiter, läuft er davon, läuft er dem geflohenen Täter nach, oder folgt sein Lauf einer ganz eigenen, sich entziehenden Logik?

David Almond, bereits preisgekrönter britischer Kinder-und Jugendbuchautor, macht aus dem Stoff, der auch eine solide Basis für eine klassische Coming-of-age-Geschichte abgeben würde, etwas anderes, Überraschendes, Poetisches, eine Initiationsreise, in der die narrative Kraft des Mythos die wahrhaft treibende und gestaltende zu sein scheint. Auf dieser Reise begegnet Davie nacheinander vielen, oft skurrilen Gestalten aus dem Reich der Lebenden und der Toten, er spürt die Trauer um seinen Vater, spürt den Hunger und vor allem den Durst in der zermürbenden Sommerhitze, er wird zum ersten Mal geküsst und erfährt schließlich die intime Nähe des mutmaßlichen Mörders in einer schmerzhaft realen Inszenierung, die ihm die ganz andere Wahrheit über die Gewaltszene, die die Stadt in Unruhe stürzt, offenbart.

So haben die Begegnungen, die Davies Weg unterbrechen, fast immer etwas Verstörendes, Irritierendes, Groteskes an sich und wühlen dadurch etwas im Unterbewusstsein des Jungen auf, der jedoch jedesmal auch etwas Schönes, Vertrautes in ihnen erahnt, ertastet, so dass sich immer wieder ein zartes zwischenmenschliches Band zu knüpfen beginnt. Denn Davie ist jemand, der alles um sich herum aufmerksam betrachtet, auf Zwischentöne horcht und denen, die auf seinem Weg auftauchen, zugewandt begegnet, ihnen zuhört, wirklich zuhört, vorurteilsfrei, so seltsam ihre Geschichten auch anmuten mögen, der sich dann aber auch wieder loslöst, frei macht, um unabhängig seinen Weg weiterzugehen und in sich selbst hinein zu lauschen. Und dort, in ihm, sind unzählige, auf ihn einstürmende, sich verselbständigende Gedanken, denen er auf ihren verzweigten, kühnen, ausgefallenen Wegen nachspürt, um die Welt und seinen Platz darin besser zu begreifen. Immer wieder neigt Davie dabei dazu, sich in diesen Gedanken zu verlieren, so dass die Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen Realität und Traum veschwimmen und die Erzählung fast unmerklich ins Surrealistische, Onirische, Mythische gleitet. Doch das wird weder pathologisiert noch verklärt, vielmehr weiten diese Ausflüge ins Traumhafte Davies emotionalen und intellektuellen Erkenntnisraum, ohne sein Ich zu spalten oder zu zerreiben. Der Kinder entführende und vertauschende Bussard, von dem ihm eine Frau, der er begegnet, halb belustigt, halb ernsthaft erzählt, ist für den Jungen keine bedrohliche, sondern eher eine inspirierende mythische Gewalt, er kommt von seinem fantastischen Höhenflug gereift und um viele Bilder reicher, aber doch innerlich als derselbe Davie zurück, als der er aufgebrochen ist, nämlich als einer, der die Welt um sich staunend betrachtet und dem Dasein offen für jedes seiner Wunder entgegenblickt.

Ein witziges und melancholisches, wunderbar poetisches Abenteuer, skurril, berührend und voller kleiner Überraschungen!

Bibliographische Angaben
David Almond: Ein finsterheller Tag, FISCHER Sauerländer (2021)
Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Ernst
ISBN: 9783737356282

Ab 12 Jahren

Bildquelle
David Almond, Ein finsterheller Tag
© FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderJana Taysen: Wir Verlorenen

Jana Taysen hat einen spannenden Abenteuerroman geschrieben, der in den gegenwärtigen Zeiten der Pandemie für junge Leser eine geradezu bibliotherapeutische Wirkung entfalten könnte.

Versetzt in eine postpandemische Welt, in der „die Plage“, ein noch weitaus tödlicheres Virus als Covid-19, nicht nur die Bevölkerung radikal dezimiert, sondern auch alle gesellschaftlichen Institutionen und Infrastrukturen zum Einsturz gebracht hat, erleben wir zusammen mit der jungen Protagonistin Smilla die Schrecken und Strapazen, aber auch die ganz praktischen Herausforderungen einer Welt, in der man auf beinahe nichts mehr von dem, was uns heute selbstverständlich vorkommt, vertrauen kann.

Ohne Eltern und in liebe- und sorgenvoller Verantwortung für ihre kleine Schwester ist Smilla gewissermaßen über Nacht erwachsen geworden und hat sich, als sich die Gelegenheit bot, einem Familienclan angeschlossen, da es alleine für zwei Mädchen in der neuen Welt zu gefährlich geworden ist. Denn jeder Einzelne, der die Plage überlebt hat, kämpft nun einen nicht minder gefährlichen Kampf ums tägliche Überleben. Auseinandersetzungen um Essen, Kleidung, Medizin oder einen sicheren Schlafplatz sind an der Tagesordnung, marodierende Banden ziehen umher und es gibt sogar Gerüchte über Menschenhandel und Kannibalismus. So schließt man sich am besten einer Gruppe an, in der man gemeinsam füreinander sorgt, seine individuellen Fähigkeiten und seine Arbeitskraft einbringen kann und schließlich auch die Möglichkeit des zwischenmenschlichen Austauschs hat.

Trotz aller Nähe ist die Gruppe, mit der Smilla zusammenlebt, für sie doch ein Zweckbündnis, immer wieder merkt sie, dass sie eben doch nicht vorbehaltlos zur Familie gehört. Ohnehin ein sehr reflektiertes Mädchen, gerät Smilla daher in einen inneren und bald auch äußeren Konflikt, als sie durch Zufall Falk über den Weg läuft, dem sie einst in ihrem früheren Leben Nachhilfe gegeben hatte. Verwirrende Gefühle, eine neu erwachende und mehr als riskante Sehnsucht nach Freiheit, Ausgelassenheit und Liebe, Heimlichkeiten, Misstrauen, ein böser Verdacht… Immer tiefer verstrickt sich Smilla in einen Gewissens- und Loyalitätskonflikt und gerät bald auch selbst in große Gefahr.

Das vor allem dank seiner ambivalenten Figuren überzeugende und überaus fesselnd geschriebene Buch wirft auf anschauliche Weise Fragen auf, die gerade heute viele junge Menschen bewegen dürften: Welche Werte gelten in einer Welt, die sich in einem radikalen Wandel befindet? Wem kann man vertrauen? Wie verhalte ich mich zur Natur? Was ist wirklich von Bedeutung? In Smillas Welt gelten auf einmal ganz andere Maßstäbe, mit denen auch andere ethische Prinzipien einhergehen. Nachhaltigkeit, Solidarität und ein Leben im Einklang mit der Natur sind auf einmal keine Fragen eines ökologischen Lifestyles mehr, sondern handfeste Kriterien, um zu überleben. Und auch wenn sich vielerorts Egoismus und Stammesdenken durchgesetzt haben, ist die Suche nach einem moralischen Kompass doch essentiell, das bekommt nicht nur Smilla am eigenen Leib zu spüren. Ohne einen solchen bleibt man letztlich verloren, das gilt in Smillas Welt wie in unserer eigenen.

Die Autorin lässt diese komplexen Fragen vielschichtig aus der Handlung entstehen und bindet sie in glaubhafte, nur ganz selten ein klein wenig ins Thesenhafte geratende lebhafte Dialoge ein, die nachdenklich machen und die Leser animieren, Selbstverständlichkeiten in unserem Dasein zu hinterfragen. So ermöglicht dieser Text aus der Perspektive eines zugleich starken und sich doch immer wieder in Frage stellenden, auch sehr sensiblen Mädchens eine identifikatorische Lektüre, die noch dazu unheimlich spannend geschrieben ist. Am Ende ist man dann doch erleichtert, die faszinierende und beunruhigende Rolle Smillas, in die man sich hineinversetzt hat, wieder abzustreifen und kritisch, aber auch mit einer gewissen Dankbarkeit auf die Welt unserer Gegenwart zu schauen.

Bibliographische Angaben
Jana Taysen: Wir Verlorenen, Kirschbuch Verlag (2020)
ISBN: 978-3948736064

Bildquelle
Jana Taysen, Wir Verlorenen
© 2020 Kirschbuch Verlag in der QualiFiction GmbH, Hamburg

bookmark_borderHannes Wirlinger: Der Vogelschorsch

Berührend, schmerzlich schön, vertraut und doch so unerhört ist diese Geschichte von einem jungen österreichischen Mädchen und seiner aufwühlenden Freundschaft mit dem „Vogelschorsch“, einem Jungen, der anders ist als die anderen Kinder, der sein junges Leben wie ein schweres Schicksal trägt und doch so unvergleichlich leichte, lichte, verrückte und poetische Momente entstehen lässt.

Seit der ersten Begegnung mit dem merkwürdigen Jungen, der im Nachbarhaus eingezogen ist, schlägt sein trauriges Lächeln die junge Leni, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, in Bann. Die Geschichte von ihr und dem Vogelschorsch spielt in einem österreichischen Dorf nicht weit von Linz und handelt von einer einschneidenden Zeit in ihrem jungen Leben, in der ein ländliches Paradies, das Idyll sorgloser Kindheit, eine schmerzliche Tiefe bekommt, die dem Erwachsenwerden innezuwohnen scheint. Coming of age, ja, aber erzählt in ganz eigener, sehr poetischer Manier. Denn Mystik, Innigkeit und Witz sind erzählerisch so toll ausbalanciert, dass Schönheit und Schwere der geschilderten Ereignisse einen tief treffen, ja verwunden, und doch zugleich ein Gefühl der Leichtigkeit in einem zurücklassen.

Der Vogelschorsch heißt eigentlich Georg. Er ist ein eigenwilliger und schutzbedürftiger Charakter, das spürt Leni ziemlich bald: wegen seines Andersseins, das bei den Kindern im Dorf Spott hervorruft — er kleidet sich anders, redet mit den Vögeln — und auch wegen seiner traumatisierenden Familienverhältnisse, die der Junge selbst übrigens nie zur Sprache bringt, so dass Leni seine traurige Familiengeschichte erst allmählich zu erahnen beginnt. Der Vater ist Alkoholiker, gewalttätig in seinen immer häufigeren Rauschzuständen; seine Mutter hält es irgendwann nicht mehr aus und verschwindet. Eine Zeitlang findet der Vogelschorsch Zuflucht bei seiner über alles geliebten Oma, in ihrem Garten, der etwas Paradiesisches hat; auch im Wald hat er sich einen Rückzugsort geschaffen, einen geradezu magischen Ort, an dem er mit den Vögeln kommuniziert, in denen sich die aus seinem Leben Verschwundenen für ihn reinkarnieren. Das hat aber überhaupt nichts Esoterisches, sondern ist die ungemein berührende Art, wie ein verlorener Junge mit seiner Trauer umgeht, wie er sie zur eigenen Seelenrettung in einem Akt der Fantasie, der Kreativität in etwas Schönes, Tröstliches verwandelt. Und auch bei Leni findet er Zuflucht, und sie bei ihm: Während Leni sich anfangs noch für sein aus der Norm fallendes Auftreten schämt, wird sie ihm bald zur Freundin, zur Vertrauten, die zu ihm hält — so gut sie es eben vermag; denn während der Vogelschorsch eine Demütigung, einen Schicksalsschlag nach dem anderen verarbeiten muss, ist Leni mit ihren vergleichsweise harmlosen, ein heranwachsendes junges Mädchen gleichwohl überfordernden Problemen beschäftigt: mit den ersten verwirrenden, aufregenden und schmerzhaften Liebeserfahrungen und mit der ohnmächtigen Sorge um ihre Eltern, die kurz vor einer Trennung stehen.

Vor dem Hintergrund dieser schmerzlichen Erfahrungen hebt sich umso poetischer die wunderbare Freundschaftsgeschichte der beiden ab: Zart und holprig entsteht das Band zwischen Schorsch und Leni, wird unmerklich fester, schafft eine Verbundenheit zwischen den beiden, die auf einer ganz anderen Ebene wirkt als Lenis ausgelassene und turbulente Freundschaft zu den anderen Nachbarsjungen, dem blonden Mühlbauer Max und dem dunkelhaarigen Lederer Lukas. Während Leni mit den beiden Schulkameraden, mit denen sie Seite an Seite aufgewachsen ist, nun auf einmal die Wirren und Emotionen der ersten Liebe, der ersten Enttäuschung, der ersten Versöhnung erlebt, ist ihre Beziehung zum Vogelschorsch in vieler Hinsicht ungewöhnlich, ist behutsamer, tiefer. Man fühlt sich hier an die poetische Beschreibung der Freundschaft bei Antoine de Saint-Exupéry erinnert, an den Vorgang des „apprivoiser“, des gegenseitigen Zähmens, sich Annäherns, das Zeit braucht, dann aber eine wunderschöne und schmerzliche ewige Verantwortung füreinander schafft.

Dieses poetische, sich zart formende Freundschaftsbild verdankt sich ganz besonders auch der Sprache, in der diese Geschichte erzählt wird. Lenis oft widerstreitende Gefühle werden ganz wunderbar wiedergegeben, ihre impulsive Wut genauso wie ihre Hingabe und Aufrichtigkeit, ihr ehrliches Nachsinnen über die eigenen Fehler genauso wie ihr — nicht immer ganz — gerechter Zorn über die Gemeinheiten der anderen. Es gelingt dem Autor, aus ihrer Perspektive die Tiefe der Empfindungen eines jungen Menschen zu zeigen, der aus der Kindheit gerade herauswächst. Hannes Wirlinger nimmt seine Protagonisten ernst und bedenkt sie dennoch immer wieder mit einem Schmunzeln; er zeigt verletzte Teenagerseelen, die von neuartigen Gefühlen wie Verliebtsein und Eifersucht überwältigt werden. Das alles schildert er seinen Lesern in einer einfach köstlichen, anrührend-komischen Sprache, in der er sich seiner Ich-Erzählerin glaubhaft annähert, ohne in die Falle einer von oben herab erzählten Jugendsprache zu fallen. Seine charmant-freche österreichische Direktheit des Gefühlsausdrucks erinnert ein wenig an Christine Nöstlinger, die sich in ihren Kinder- und Jugendbüchern der Verletzlichkeit, den Nöten und Ängsten, und ebenso der Neugier, Leidenschaft und Begeisterung ihrer jungen Protagonisten ähnlich empathisch annähert. Ziemlich witzig wirkt bei Wirlinger zum Beispiel das im Laufe der Erzählung unzählige Male provokativ wiederholte „epitheton ornans“, das die verärgerte Erzählerin ihrer Konkurrentin und Schulkameradin gibt, der „Feichtinger Simone. So eine blöde Kuh.“ (Variation: „das Miststück“.) Man muss unweigerlich lachen, wenn sich Leni sprachlich so über ihre Rivalin empört, die aus einer wohlhabenderen Familie kommt und sie bei den Jungs mit einem Labrador und einem Swimmingpool im Garten ausstechen will, und kann sich doch zugleich so gut mit ihrer ohnmächtigen Empörung identifizieren.

Unbedingt zur Sprache kommen müssen hier auch noch die absolut bestechenden, sehr atmosphärischen Illustrationen von Ulrike Möltgen, die als schwarz-weiße Kohle- und Tuschezeichnungen, teilweise collagenhaft mit in die Zeichnung integrierten Materialien wie Fäden und Haaren zusammengestellt, die einzelnen Kapitel begleiten und sich wunderbar in den Zauber der Geschichte einfügen. Die in einem märchenhaften (Sur)Realismus gestalteten Bilder fangen großartig die Stimmung ein, unterstreichen das Psychologische und verleihen dem Text eine metaphysische Ebene, auf der die tieferen Ängste und seelischen Nöte, aber auch die geheimen Sehnsüchte der jugendlichen Protagonisten, die diese vielleicht selbst noch nicht klar formulieren können, einen nachwirkenden bildhaften Ausdruck finden.

Ein wunderbares Gesamtkunstwerk, in dem Lachen und Weinen ganz nah beieinander liegen und das nicht nur für Jugendliche wahrhaft zauberhaft zu lesen ist!

Bibliographische Angaben

Hannes Wirlinger: Der Vogelschorsch, Jacoby & Stuart (2019)
Mit Illustrationen von Ulrike Möltgen
ISBN: 9783964280312

Ab 14 Jahren

bookmark_borderDante Medema: Diese eine Lüge

Wer bin ich und was bleibt von mir, wenn meine Herkunft auf einer Lüge aufbaut? Diese auf einmal existentielle Form annehmende Frage drängt sich der Ich-Erzählerin Delia auf, als sie bei einem Projekt für die Schule ihre DNA testen lässt. Es stellt sich heraus: Ihr Vater ist nicht ihr biologischer Vater. Ist also alles eine einzige Lüge, ihre Familie, ihre Herkunft, ihr ganzes Leben?

Die nordamerikanische Autorin Dante Medema hat einen Jugendroman geschrieben, der mitten hineintrifft in die Fragen, Sehnsüchte und Ängste, die eigentlich jeden Teenager irgendwann in der einen oder anderen Weise ereilen, durcheinanderbringen und den moralischen und emotionalen Kompass verrückt spielen lassen: einen Roman über Familie, Prägung und Identität, über die erste Liebe, über Freundschaft, Schule und die Gestaltung des künftigen Lebenswegs; einen Roman aber auch, der feste Vorstellungen und Verhaltensweisen hinterfragt und der seinen jungen Lesern über die literarische Begegnung mit vertrauten Konflikten, Unsicherheiten oder Ängsten hinaus vielleicht auch den ein oder anderen neuen Impuls geben kann.

Dieses Erfrischende, Neue, Kreative des Romans, mit dem er sich von anderen Coming-of-Age-Geschichten abhebt, liegt vor allem in der Form, die sich die Autorin für ihr Thema gewählt hat. Der Text wechselt nämlich ab zwischen der Teenagern heute vertrauten Kommunikationsform verschiedenster elektronischer Nachrichten einerseits und der auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinenden lyrischen Form in freien Versen andererseits, in der die Hauptfigur und Erzählerin bzw. Dichterin Delia ihren Gefühlen und Gedanken wunderbar Ausdruck verleihen kann. Die subjektive lyrische Form entspricht der emotionalen und zugleich reflexiven Art Delias, sich mit den Konflikten und Herausforderungen, die sie erlebt, auseinanderzusetzen. Durch die Wahl der freien Versform, die oft auch ein wenig an balladenhafte Songtexte erinnert, lässt sich zugleich auch die Handlung in die lyrischen Zeilen integrieren, und zwar auf eine sehr flüssig lesbare Weise: Man findet schnell in den Rhythmus hinein und gerät bald in einen richtigen Sog, der einen bis zur letzten Seite in Atem hält.

Das Besondere ist, dass das Gedichtemachen selbst Teil der Handlung ist. Denn das Abschlussprojekt, das sich Delia gewählt hat, besteht gerade darin, dass sie in Form von Gedichten ihre Identitätssuche abbildet, in lyrischer Form also ihrer Herkunft auf die Spur kommen möchte. Mehr und mehr zeigt sich jedoch, dass diese Form ihr vor allem auch dabei hilft, sie überwältigende Gefühle zu verarbeiten. Und zum Ärger ihrer Eltern und besten Freundin auch dabei, ihrer großen Liebe Kodiak Jones, der in der Vergangenheit ein wenig auf Abwege geraten ist, wieder näher zu kommen…

So werden die feinen Zwischentöne der Lyrik zu einem Element, das über alle Turbulenzen, Irrungen und Wirrungen, und auch über die genetische Verwandtschaft hinaus, Identität, Nähe und Verbindung schafft.

Altersempfehlung
Ab 13 Jahren

Bibliographische Angaben
Dante Medema: Diese eine Lüge, Thienemann-Esslinger 2020
ISBN: 9783522202718

Bildquelle
Dante Medema, Diese eine Lüge
© 2020 Thienemann-Esslinger Verlag GmbH

bookmark_borderBritta Teckentrup und Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben

Ein wunderschönes Bilderbuch, dessen Reime nett und eingängig aus dem Englischen ins Deutsche übertragen sind, das aber ganz besonders durch die Illustrationskunst Britta Teckentrups auffällt, die mit Farben so viel erzählen kann. (Vgl. Der blaue Vogel, Rezension vom 8.7.2020)

So erfahren die kleinen Bilderbuchentdecker vom Lauf der Jahreszeiten, von der bunten Vielfalt der Natur und all der Tiere, die sich an so ganz unterschiedlichen Plätzen der Erde ihr Zuhause geschaffen haben, ob im Wald, im Wasser, im Himmel oder unter der Erde.

Zusammen mit dem kleinen Bär, der zu Beginn der Geschichte in seiner gemütlichen Höhle aus dem Winterschlaf erwacht, macht man sich staunenden Auges auf den Weg, entdeckt spielerisch, wie verschieden und faszinierend die Lebensräume der anderen Tiere sind, um am Ende der Reise und des Jahres wieder mit ihm in seine Höhle zurückzukehren — und wenn’s gelingt, gleich auch mit einzuschlafen und das farbenfrohe Reich der Bilder mit ins Reich der Träume zu tragen.

Altersempfehlung
Ab vier Jahren

Bibliographische Angaben
Britta Teckentrup, Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben, arsEdition (2020)
ISBN: 9783845839356

Bildquelle
Britta Teckentrup, Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben
© 2020 arsEdition GmbH, München

bookmark_borderBenedict Mirow: Die Chroniken von Mistle End 1 — Der Greif erwacht

Was für eine wunderschöne, superspannende, so leicht und so dicht erzählte fantastische Geschichte! Für die Dauer der Lektüre bin ich wieder zur Zehnjährigen geworden und ganz in der aufregenden Welt von Cedric und seinen Freunden in dem geheimnisvollen schottischen Ort Mistle End versunken.

Cedric zieht mit seinem Vater, Professor für Mythologie und Fabelwesen, weit hinaus in die schottischen Highlands, nach Mistle End, das sich als höchst beunruhigender und faszinierender Ort entpuppt. Kein Wunder, denn er ist, wie Cedric erst ungläubig, dann begeistert feststellt, bevölkert von magischen Wesen, was normalen Menschenaugen jedoch verborgen bleibt. So sind die Geschwister Elliot und Emily, mit denen er sich rasch anfreundet, in Wirklichkeit ein Hexer und eine Gestaltwandlerin — beide freilich noch in der Ausbildung, so dass nicht jeder Zauberversuch einwandfrei gelingt. Doch auch in Cedric — und das ist die zweite große Überraschung — schlummern magische Kräfte! Doch welche genau und wie er sie sinnvoll und zum Guten einsetzen kann, das muss er erst noch herausfinden…

Schwere und gefährliche Prüfungen warten auf ihn, und nicht von allen wird er freundlich willkommen geheißen. Als Mistle End von dämonischen Raben angegriffen wird, macht man gar ihn als Neuankömmling für die Bedrohung verantwortlich! Doch gemeinsam mit seinen Freunden und so manch unerwartetem Beistand aus der magischen Welt stellt er sich mit Mut, Herz und Verstand all den Herausforderungen, die den Leser bis zur letzten Seite gebannt mitfiebern lassen.

Besonders fasziniert haben mich all die drolligen, imposanten, sympathischen und auch unangenehmeren Gestalten, die Mirow mit großem Erzähltalent und Fantasie zum Leben erweckt: von den irrlichternden Flirrelfen über die rockigen Dunkelelben, unheimlichen Dornhexen bis hin zu den metallisch schnarrenden Wasserspeierboten des magischen Rats. Und auch ein stotternder Außenseiter spielt eine wichtige Rolle und ist nur ein Beispiel dafür, dass der Autor auf einfache Schwarzweißzeichnung verzichtet und stattdessen eine sehr plastische, lebensnahe und eben auch spannungsreiche Welt in allen Schattierungen erschafft, in der die Konflikte komplexer und psychologisch vielschichtiger sind als reine Fantasy-Kämpfe zwischen Gut und Böse.

So gelingt es ihm auch hervorragend, mit seiner Hauptfigur Cedric und den Herausforderungen, vor die er ihn stellt, die Lebens- und Gefühlswelt der Kinder abzubilden, ihre Ängste und Sorgen, ihre Begeisterung, ihren Witz und ihren Mut. Hinzu kommt ein immer wieder durchscheinender feiner und auflockernder Humor, etwa wenn sich die Geschwister gegenseitig aufziehen, wenn rasante Besenflüge im Schneehaufen enden oder wenn schrullige Wesen mit noch schrulligeren Eigenheiten ihren Auftritt haben.

Eine absolut empfehlenswerte Initiations- und Abenteuergeschichte, die in sich ein stimmiges Ende findet, aber zugleich in die Vergangenheit und in Hinblick auf zukünftige Bewährungsproben offen und somit zu meiner größten Freude bereit für eine Fortsetzung ist.

Ich habe gehört, der Autor schreibt schon an Teil 2 — trotz meiner Ungeduld hoffe ich, dass er sich ganz viel Zeit dafür nimmt, damit er genauso gelungen wird wie Teil 1!

Altersempfehlung
Ab 10 Jahren

Bibliographische Angaben
Benedict Mirow: Die Chroniken von Mistle End 1 — Der Greif erwacht, Thienemann-Esslinger (2020)
ISBN: 9783522185400

Bildquelle
Benedict Mirow, Die Chroniken von Mistle End 1
© 2020 Thienemann-Esslinger Verlag GmbH

bookmark_borderBritta Teckentrup: Der blaue Vogel

Wenn Farben sprechen könnten… dann würden sie so aussehen wie in Britta Teckentrups wundervollem Bilderbuch, das in wenigen Worten und intensiven Bildern eine so zarte und so berührende Geschichte erzählt!

Die Illustration, collagenhaft und mit Farben, die aus sich heraus zu leuchten scheinen, harmoniert wunderbar mit dem Text und taucht ihn zugleich ins Geheimnisvolle, Zauberhafte, Mythische. Erzählt wird auch eine Art Mythos, ein Märchen, in dem es um Trauer, Einsamkeit und ihre Überwindung geht — ist es Zufall, dass das Bilderbuch den Titel von Maurice Maeterlincks Theaterstück L’Oiseau bleu trägt, in dem er in seinem unvergleichlich suggestiv-poetischen Stil ein traumartiges Kindermärchen erzählt, das tief in die Nacht der Erinnerung und eine von Seelen erfüllte Natur führt…?

In Teckentrups Bilderbuch lebt ein kleiner blauer Vogel ganz unten im Schatten des Waldes, antriebslos, ohne Freude, ohne Spiel, ohne Gesang, vergessen von seinen Freunden, die hoch oben am sonnenbeschienenen Himmel, unendlich weit von ihm entfernt, das Dasein genießen. Der Kontrast von Schatten und Licht tritt in den Farbkompositionen eindrücklich hervor und spiegelt die Stimmung, die Gefühle, das Innenleben des Vogels, in dessen Welt die Farben ihre Leuchtkraft verloren haben.

Doch auf einmal taucht ein gelber Vogel auf, der von Licht umspielt wird und sich zunächst ganz oben auf dem Baum niederlässt, in dessen schattigem Geäst sich der traurige blaue Vogel vergraben hat. Außer Farbe, Licht und Gesang bringt der gelbe Vogel aber vor allem eine große Geduld und Sanftmut mit, er nähert sich dem blauen Vogel ganz langsam, ganz behutsam, in kleinen Etappen. Nach und nach halten so auch wieder Licht und Wärme Einzug in die Welt des blauen Vogels, als fasste er allmählich wieder Vertrauen. Gemeinsam mit dem gelben Vogel beginnt er wieder zu singen, Hoffnung breitet sich aus, und zusammen öffnen die beiden ihre Flügel und schwingen sich empor in den von sonnengelbem Licht durchfluteten Himmel.

Vielleicht können Farben nicht sprechen, aber trösten können sie und einen Horizont der Fantasie eröffnen, der die ganz Kleinen genauso wie die schon Großen ergreifen wird.

Altersempfehlung
Ab vier Jahren bis unendlich, schreibt der Verlag, und ich schließe mich an.

Bibliographische Angaben
Britta Teckentrup: Der blaue Vogel, Ars Edition (2020)
ISBN: 9783845837536

Bildquelle
Britta Teckentrup, Der blaue Vogel
© 2020 arsEdition GmbH, München

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