bookmark_borderDavid Almond: Ein finsterheller Tag

Ein heißer Sommerferientag in einer Kleinstadt, ein Junge, der in seinen Spielsachen kramt, für die er schon ein bisschen zu alt ist, und eine Mutter, die ihren Sohn liebevoll, aber mit Nachdruck nach draußen schickt, an die Luft, in die Bewegung, ins Leben. Noch ahnt niemand, auch nicht der Leser, dass dieser eine Tag, an dem sich die ganze Geschichte abspielen wird, ein ganz und gar außergewöhnlicher Tag werden wird, ein finsterheller Tag, an dem so vieles passiert, Schönes und Schreckliches, Bizarres und Vertrautes, Traumhaftes und ganz Reales, dass man immer mehr ins Staunen gerät über diesen Jungen namens Davie, der gerade erst seinen Vater verloren hat, gerade erst der Kindheit entwächst und so unbeirrt und unverwandt seine Wanderung durch die Stadt und aus der Stadt heraus immer weiter fortsetzt, hin zu einem Ziel, dass er mehr zu ahnen als zu kennen scheint.

Zu Beginn erfährt Davie von einem Freund, dass ein Mord passiert sein soll, ein Junge liegt hingeschlagen auf dem Asphalt, Polizei und Priester sind schon zur Stelle, man ist sich in der Kleinstadt schnell einig, dass ein anderer Junge aus einer verfeindeten Familie ihn erstochen haben muss, die Vorbereitungen zu einem Rachefeldzug sind schon im Gange. Davie läuft indes weiter, läuft er davon, läuft er dem geflohenen Täter nach, oder folgt sein Lauf einer ganz eigenen, sich entziehenden Logik?

David Almond, bereits preisgekrönter britischer Kinder-und Jugendbuchautor, macht aus dem Stoff, der auch eine solide Basis für eine klassische Coming-of-age-Geschichte abgeben würde, etwas anderes, Überraschendes, Poetisches, eine Initiationsreise, in der die narrative Kraft des Mythos die wahrhaft treibende und gestaltende zu sein scheint. Auf dieser Reise begegnet Davie nacheinander vielen, oft skurrilen Gestalten aus dem Reich der Lebenden und der Toten, er spürt die Trauer um seinen Vater, spürt den Hunger und vor allem den Durst in der zermürbenden Sommerhitze, er wird zum ersten Mal geküsst und erfährt schließlich die intime Nähe des mutmaßlichen Mörders in einer schmerzhaft realen Inszenierung, die ihm die ganz andere Wahrheit über die Gewaltszene, die die Stadt in Unruhe stürzt, offenbart.

So haben die Begegnungen, die Davies Weg unterbrechen, fast immer etwas Verstörendes, Irritierendes, Groteskes an sich und wühlen dadurch etwas im Unterbewusstsein des Jungen auf, der jedoch jedesmal auch etwas Schönes, Vertrautes in ihnen erahnt, ertastet, so dass sich immer wieder ein zartes zwischenmenschliches Band zu knüpfen beginnt. Denn Davie ist jemand, der alles um sich herum aufmerksam betrachtet, auf Zwischentöne horcht und denen, die auf seinem Weg auftauchen, zugewandt begegnet, ihnen zuhört, wirklich zuhört, vorurteilsfrei, so seltsam ihre Geschichten auch anmuten mögen, der sich dann aber auch wieder loslöst, frei macht, um unabhängig seinen Weg weiterzugehen und in sich selbst hinein zu lauschen. Und dort, in ihm, sind unzählige, auf ihn einstürmende, sich verselbständigende Gedanken, denen er auf ihren verzweigten, kühnen, ausgefallenen Wegen nachspürt, um die Welt und seinen Platz darin besser zu begreifen. Immer wieder neigt Davie dabei dazu, sich in diesen Gedanken zu verlieren, so dass die Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen Realität und Traum veschwimmen und die Erzählung fast unmerklich ins Surrealistische, Onirische, Mythische gleitet. Doch das wird weder pathologisiert noch verklärt, vielmehr weiten diese Ausflüge ins Traumhafte Davies emotionalen und intellektuellen Erkenntnisraum, ohne sein Ich zu spalten oder zu zerreiben. Der Kinder entführende und vertauschende Bussard, von dem ihm eine Frau, der er begegnet, halb belustigt, halb ernsthaft erzählt, ist für den Jungen keine bedrohliche, sondern eher eine inspirierende mythische Gewalt, er kommt von seinem fantastischen Höhenflug gereift und um viele Bilder reicher, aber doch innerlich als derselbe Davie zurück, als der er aufgebrochen ist, nämlich als einer, der die Welt um sich staunend betrachtet und dem Dasein offen für jedes seiner Wunder entgegenblickt.

Ein witziges und melancholisches, wunderbar poetisches Abenteuer, skurril, berührend und voller kleiner Überraschungen!

Bibliographische Angaben
David Almond: Ein finsterheller Tag, FISCHER Sauerländer (2021)
Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Ernst
ISBN: 9783737356282

Ab 12 Jahren

Bildquelle
David Almond, Ein finsterheller Tag
© FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderJudith Hermann: Daheim

„Daheim“, dieses mit Sehnsucht aufgeladene, wohlvertraute kleine Wort, ist ein guter Titel für dieses Buch, das eher die stille Schönheit einer Erzählung hat als die epische Wucht der Geschichte eines Lebens, wie man sie mit dem Roman verbindet.

Man erfährt so vieles nicht aus dem Leben der Protagonistin und der Gestalten, denen sie im Lauf der Geschichte begegnet, und dennoch gelingt es der Autorin, sie uns auf einer anderen Ebene ganz nahe zu bringen, ihre unausgesprochenen Gefühle, Enttäuschungen, Sehnsüchte ahnen zu lassen und die Intensität der Momente zu spüren, aus denen sich die Handlung im Grunde zusammensetzt.

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, der uns aus dem Leben der Ich-Erzählerin gezeigt wird, einer Frau Ende 40, die nach dem Auszug ihrer Tochter die Stadt verlässt und allein in ein abgelegenes Haus an der Nordsee zieht, mit ihrem etwas skurrilen, sammelwütigen (Ex-)Mann aber immer noch in einem engen und zärtlichen Briefwechsel steht, die sich selbst als wurzellos betrachtet, aber insgeheim mit Ängsten und Gefühlen zu kämpfen hat, die wohl bis in ihre Kindheit zurückreichen, die ungebunden und offen in ein neues Leben aufbrechen möchte, aber einen geheimen Wunsch nach menschlicher Nähe und Bindung nicht unterdrücken kann. Heimat, so vielleicht der zentrale Gedanke dieser Erzählung, ist ein widersprüchliches Gefühl, ein merkwürdiges und doch essenzielles Konstrukt, um das sich alle Figuren, die in der Geschichte vorkommen, auf irgendeine Weise bemühen.

Insofern ist der auf den ersten Blick überraschende, ja fast befremdliche Anfang der Geschichte, der wie eine kleine, fast eigenständige Novelle anmutet, letztlich doch enger mit der Erzählgegenwart verbunden, als es den Anschein hat. Die Ich-Erzählerin erinnert sich nämlich zu Beginn an eine seltsame, ein wenig unheimliche Begebenheit, die ihr als junger Frau widerfahren ist, als sie sich von einem greisenhaften Zauberer zur Probe in einer Kiste zersägen ließ und um ein Haar ihr wenig aufregendes, monotones Arbeiterinnenleben hinter sich gelassen hätte. Jahrzehnte später wagt sie tatsächlich einen Aufbruch, und braucht doch viel Zeit und die Begegnung mit anderen, um vielleicht nicht den fast naiven Mut ihrer Jugend wiederzuerlangen, aber sich doch allmählich, vorsichtig, behutsam einer neue Form von Vertrauen und Widerstandskraft anzunähern. Mit der Zauberkiste wird außerdem ein Symbol eingeführt, das als Motiv des Eingesperrtseins in der Handlung mehrfach wiederkehrt und der Erzählung eine weitere Bedeutungsebene verleiht, in der sich ganz unterschiedliche Menschenschicksale überindividuell miteinander verknüpfen.

So ist die Geschichte psychologisch fein, aber eben gerade nicht psychologisierend erzählt, man muss schon auf die literarischen Zwischentöne lauschen, wenn man in das Leben der Figuren eintauchen will. Die Dialoge und auch die Beschreibungen der Landschaft wirken stets unaufgeregt, fast beiläufig, nie wird hier etwas aufgehübscht oder verklärt, und doch dringt hinter der lakonischen Erzähloberfläche ein poetisches Funkeln durch. Ganz unscheinbar kommen manche Sätze daher, während sie sich ganz nah am Wesentlichen bewegen:

Weißt du, sagt Arild, manchmal laufen die Dinge schon so lange geradeaus, dass es keiner mitkriegt, wenn du deinen Lauf änderst.

Judith Hermann, Daheim

Wer aufmerksam liest und sich auf den besonderen, manchmal etwas schroffen Stil der Erzählung einlässt, wird dann vielleicht doch so manches mitkriegen, nicht zuletzt, welches Spannungspotential auch in den unscheinbarsten, inneren Veränderungen liegt…

Bibliographische Angaben
Judith Hermann: Daheim, S. Fischer Verlag (2021)
ISBN: 9783103970357

Bildquelle
Judith Hermann, Daheim
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 

bookmark_borderJoël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622

Joël Dickers neuer Roman, in dem ein Schriftsteller namens Joël, der vor ein paar Jahren einen weltweiten Überraschungserfolg mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert feierte, einen neuen Roman zu Ehren seines kürzlich verstorben Verlegers Bernard de Fallois zu schreiben beginnt, erschien letztes Jahr im Verlag Editions de Fallois, zwei Jahre nach dem Tod von Bernard de Fallois, dem Verleger und väterlichen Freund des jungen Schweizer Schriftstellers, der mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert tatsächlich einen überraschenden Welterfolg feierte.

Aber Achtung! So augenzwinkernd Joël Dicker hier auch ein Spiel mit den Ebenen von Fiktion und Realität, von Dichtung und Wahrheit treibt, die verschachtelte, wendungsreiche und turbulente Agenten-, Liebes- und Bankiersgeschichte, die er hier entspinnt, ist dann doch wieder ganz das kreative Produkt seiner schriftstellerischen Imagination, die der Autor in seinen Vorgängerromanen bereits mehrfach bewiesen hat. Die Ausgangskonstellation erinnert an seine anderen Romane, ein unglücklich verliebter Schriftsteller trifft in einem distinguierten Hotel in den Schweizer Bergen nicht weit von Genf, dem Palace de Verbier, eine spitzfindige und abenteuerlustige weibliche Muse, und gemeinsam machen sie sich auf die Spur des geheimnisvollen Mordes, der vor vielen Jahren in eben jenem Hotel auf Zimmer 622 geschah. Puzzlestück für Puzzlestück setzen sie die Geschehnisse zusammen und gehen dafür auch immer weiter in die Vergangenheit zurück, um die verwickelten Intrigen rund um eine Schweizer Bankdynastie zu entwirren. Anfangs meint man, dem Schriftsteller beim Entstehen des neuen Romans direkt über die Schulter schauen zu können — doch so ganz passt das alles dann doch nicht zusammen, woher kommen die Wissensvorsprünge des Erzählers, warum bleibt seine selbst ernannte attraktive Agentin und Co-Ermittlerin so seltsam abstrakt? Und ist der Teufel wirklich ein machthungriger Bankier oder verbirgt sich jemand ganz anderes dahinter?

Joël Dicker ist ein Meister der Konstruktion und sein neues Buch wieder ein äußerst unterhaltsames, bis zur letzten Seite spannendes Intrigenspiel, bei dem der Teufel die Kunst der Maskerade so virtuos beherrscht wie der Schriftsteller das spannungserzeugende Ineinander der verschiedenen Erzählebenen. Immer wenn es romantisch wird, nähert der Roman sich zwar auch dem Kitsch an, doch dient eben diese etwas gröbere Figurenzeichnung, das immer etwas Überzogene, zu dick Aufgetragene dann an anderer Stelle auch wieder so manch köstlicher Gesellschaftssatire. Denn in dieser Welt des äußeren Glanzes, im Milieu der Reichen, Mächtigen und Schönen, die im Dunstkreis der Schweizer Finanzwelt ihren Intrigen nachgehen, ist hinter den Kulissen und den zur Schau getragenen Rollen so einiges am Brodeln. Kein Wunder, dass sich in diesem Biotop auch so mancher Hochstapler tummelt, von denen einer ganz besonders talentiert ist und das Spiel um Geld und Macht, das letztlich alle spielen, zur Perfektion getrieben hat.

Nach über 500 atemlos durchjagten Seiten löst sich dann, teils im fiktionsironischen Wortsinne, teils aber auch in romantischem Wohlgefallen, alles endgültig auf…

— Noch ein Nachtrag: Mein absoluter Liebling von Dicker bleibt Die Geschichte der Baltimores, hier finde ich die Figurenpsychologie einfach am stimmigsten, das Ineinander und Gegeneinander der beiden Familienzweige einfach faszinierend erzählt! Aber auch Die Wahrheit über den Fall Harry Québert, auch Das Verschwinden der Stephanie Mailer sind richtige Schmöker, die ich jedem, der intelligent unterhalten werden will, wärmstens empfehle! Übrigens lesen sie sich auch gut im Original, wer gewisse Vorkenntnisse hat, kann hier ganz nebenbei auch noch wunderbar sein Französisch auffrischen.

Bibliographische Angaben
Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622
Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
ISBN: 9783492070904

Bildquelle
Joël Dicker, Das Geheimnis von Zimmer 622
© 2021 Piper Verlag GmbH, München


bookmark_borderLana Bastašić: Fang den Hasen

Dürers Hase ist so etwas wie das versteckte Symbol dieses aufwühlenden Romans, der die konfliktreiche Geschichte zweier Kindheitsfreundinnen aus Banja Luka ebenso leidenschaftlich wie bildgewaltig erzählt und ihre später so divergierenden Lebenswege in Beziehung zu den Nachwirkungen der Gewalt und der ethnischen Konflikte im früheren Jugoslawien setzt. Ein tückisches Symbol allerdings, eines, in das sich der Zweifel an der scheinbar so realitätsgetreuen Abbildung eingeschlichen hat, und mit ihm die von der Autorin immer wieder mit einem fiktionsironischen Augenzwinkern aufgeworfene Frage nach dem Einfluss der Emotionen, der subjektiven Bilder des eigenen Innenlebens auf die Erzählung und ihre Verwobenheit mit dem immer nur bruchstückhaft funktionierenden Prozess der Erinnerung.

Dürers Hasen erwähnt, so erinnert sich die Ich-Erzählerin Sara, ihre Freundin Lejla das erste Mal, als die beiden Lejlas weißen Hasen, strenggenommen ein Kaninchen, beerdigen. Ihr Bruder Armin habe als kleiner Junge fasziniert das berühmte Kunstwerk angefasst und so im Museum den Alarm ausgelöst. Zu dem Zeitpunkt, als Lejla das erzählt, ist Armin bereits einige Jahre verschwunden, Schmerz und fehlende Worte haben die Beziehung der beiden heranwachsenden Freundinnen aus dem ohnehin nie vollkommenen kindlichen Gleichgewicht gebracht. Diese Szene ist eine der vielen eingeschobenen Erinnerungen Saras an ihre gemeinsame Vergangenheit mit Lejla, die sie in diesen Einschüben stets in der Du-Form anredet, was der Lektüre eine große Intensität und Eindringlichkeit verleiht und durch die fingierte Dialogizität auch das enge, wenngleich sehr strapazierte Band zwischen den beiden Freundinnen spürbar macht.

Eigentlicher Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Anruf Lejlas bei Sara, nachdem sie zwölf Jahre nichts mehr voneinander gehört hatten. Sara ist während des Studiums nach Dublin gezogen und dort geblieben, sie lebt mit einem Iren zusammen und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin, zu ihrer Familie sowie zu ihrem Heimatland Bosnien besteht so gut wie keine Verbindung mehr. Heimat ist für sie ein englisches Wort geworden:

Home war nicht Bosnien. Bosnien war etwas anderes. Ein verrosteter Anker in irgendeinem verpissten Meer. Man schürfte sich auf und bekam Tetanus, auch nach so vielen Jahren.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Auch zwischen ihr und ihrer ehemals besten Freundin Lejla muss in der Vergangenheit etwas vorgefallen sein, so sehr wirft Sara dieser Anruf aus der Bahn. Doch obwohl sie gerne abweisend reagieren und Lejla mitsamt der ganzen bosnischen Vergangenheit vergessen würde, lässt sie sich von ihr zurück in das Land ihrer Herkunft dirigieren: Sara soll Lejla in Mostar abholen und mit dem Auto nach Wien fahren — wo Lejlas Bruder Armin nach all den Jahren wieder aufgetaucht sein soll. Der abwesende Armin, das wird im Verlauf der Erzählung deutlich, ist noch immer latentes Bindeglied und wunder Kristallisationspunkt so vieler unausgesprochener Ängste und unverarbeiteter Erinnerungen im Leben der beiden jungen Frauen; er ist ein gegenseitiges unausgesprochenes Versprechen, das gebrochen wurde, und das nun viele Jahre später vielleicht wieder erneuert werden kann?

Wir wussten, dass Armin am Leben war. Dieses Wissen verband und mehr als die gemeinsame Schulbank. Jetzt war es unsere Pflicht, bis ans Ende zusammenzubleiben, so lange, bis dein Bruder wieder auftauchte. Wenn wir uns zerstritten, wenn wir uns trennten, würde sich mit uns auch dieses fragile Wissen auftrennen. Als wäre im Stoff unserer Freundschaft sein ganzes Leben eingewebt. Es gab ihn nur noch dort.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Die Reise von Lejla und Sara ist eine Reise in die gemeinsame Vergangenheit und in die Vergangenheit ihres Landes. Die Ich-Erzählerin formuliert es einmal so:

Durch Bosnien zu fahren verlangte eine andere Dimension: die eines verkehrten Wurmlochs, das nicht zu einem äußeren, wirklichen Bestimmungsort führt, sondern in die düsteren, kaum begehbaren Tiefen des eigenen Wesens.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Die Wiederannäherung der beiden Frauen gestaltet sich dabei genauso schmerzhaft, verletzend und widerborstig wie Saras Wiederannäherung an das von ihr zurückgelassene Heimatland, auf das sie auch körperlich geradezu mit Abwehr reagiert und das doch mit aller Macht wieder von ihr Besitz ergreift. Sie stellt sich vor, wie Lejla ihr neues Dubliner Leben abschätzig begutachtet, und in diesem imaginierten Blick liest sie ihren eigenen schonungslosen Blick auf sich selbst, den sie in Bosnien, in Lejlas Anwesenheit nicht mehr unterdrücken kann:

Sie [Lejla] würde nicht mal etwas sagen, nur mit den Augen würde sie mir Europa ausziehen wie einer Neureichen den Pelzmantel und die Narben des Balkans schamlos an die Öffentlichkeit zerren.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Die individuelle Geschichte der einander in Hassliebe verbundenen Freundinnen erinnert nicht nur wegen der vielschichtigen Gefühlsebenen, sondern auch wegen der selbstreflexiven Elemente des Textes an Elena Ferrantes neapolitanische Protagonistinnen; in beiden Texten ergibt sich eine wesentliche erzählerische Spannung daraus, dass die eine der Freundinnen, die schriftstellernde, das immer wieder sich entziehende und so faszinierende Wesen der anderen, daheim und arm gebliebenen, einzufangen versucht. Das ist bereits für sich literarisch und emotional überzeugend erzählt. Doch in diesen individuellen Lebens- und Gefühlswegen der Figuren spiegelt sich, ohne dass diese Überlagerung überstrapaziert würde, die Geschichte des von einem schrecklichen Krieg noch immer versehrten Landes sowie die Geschichte einer ganzen Generation, die das Erbe dieser Gewalt auf ihren Schultern trägt und sich zwangsläufig zu diesem irgendwie verhalten muss.

Die politischen und religiösen Konflikte sind in Bastašićs Text auf unterschwellige Weise omnipräsent; sie kommen nicht in der direkten Darstellung kriegerischer oder verbrecherischer Handlungen, sondern eher andeutungsweise und sekundär, oft auch in den psychischen und gleichwohl ganz realen Auswirkungen auf die Menschen zum Vorschein. So ist die Gewalt latent vorhanden, wenn Lejlas Bruder verschwindet, während ein gleichfalls muslimischer Freund von ihm später tot aus dem Fluss gefischt wird. Oder wenn Lejlas Familie ihren Namen ändert, das Muslimische daraus tilgt, so dass aus Lejla Begić auf einmal Lela Berić wird. Der gewaltsame Mechanismus von Inklusion und Exklusion wird auch von Sara unbewusst imitiert, als sie sich, anders als ihre Freundin Lejla, der stärkeren Schülergruppe anschließt und ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen tötet, was in ihr ein Scham- und Schuldgefühl gegenüber Lejla hervorruft, das sie lange nicht recht einordnen kann. Doch vor dem Hintergrund einer anderen Szene im Elternhaus von Sara, an die sie sich gleichfalls später wieder erinnert, bekommt dieses brutale Kinderspiel noch eine ganz andere Dimension: Etwa zur gleichen Zeit nämlich, als Lejla zu Lela wird, feiert man bei Sara zuhause zum ersten Mal Slava, das traditionelle orthodoxe Fest zu Ehren des Familienheiligen, doch in der eigentlich nicht sehr gläubigen serbischen Familie, die auf diese Weise ihre Zugehörigkeit zur staatstragenden Mehrheit nach außen zur Schau tragen will, wirken die festlichen Handlungen unbeholfen, aufgesetzt. Die Polarisierung und Politisierung des Glaubens deutet sich in solchen Szenen und Bildern immer wieder an, ohne explizit als solche benannt zu werden.

Aus all diesen Szenen, die vor dem inneren Auge der sich erinnernden Erzählerin wieder aufleben, setzt sich die Geschichte der beiden jungen Frauen erst andeutungsweise und dann in immer größerer Dichte zu einem komplexen und spannungsreichen Erinnerungsbild zusammen. Dabei wird das Prozesshafte des Erzählvorgangs immer wieder herausgestellt, es ist ein Erzählen, das seine Subjektivität hervorkehrt, das zweifelnd, suchend, verwerfend, fragend, tastend vorgeht. Sara ist sich der Subjektivität und Lückenhaftigkeit ihrer Erinnerung bewusst:

Vielleicht ist das Erinnern für mich wie ein zugefrorener See — trüb und glatt –, an dessen Oberfläche sich von Zeit zu Zeit ein Riss auftut, durch den ich meine Hand stecken und ein Detail, eine Erinnerung im kalten Wasser fassen kann. Doch zugefrorene Seen sind heimtückisch. Mal erwischt man einen Fisch, ein anderes Mal bricht man ein und ertrinkt. Aus Erfahrung weiß ich, dass fast alle Erinnerungen an die die Tendenz zu Letzterem haben. Deshalb hatte ich mich auch zwölf Jahre lang bemüht, mich nicht zu erinnern.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Und ebenso bewusst ist ihr die Schmerzhaftigkeit, die in der Erinnerung mit eingeschlossen oder, um im Bilde zu bleiben, eingefroren ist und die mit Wucht über einen hereinbricht, wenn der zugefrorene See des Vergessens Risse zeigt.

Eine weitere Protagonistin des Romans ist somit die metaphernreiche Sprache, mit der die Autorin die vielschichtigen Gefühle und Gedanken ihrer Figuren zugleich intensiv und doch mehrdeutig zum Ausdruck zu bringen versteht. Lana Bastašić neigt ein wenig dazu, sich von ihren schillernden Sprachbildern hinreißen zu lassen, doch sind diese stets auch durchdacht, tauchen an anderen Stellen leicht verändert wieder auf und machen den Text zu einer fortwährenden Metamorphose, die auch einen großen Lesesog erzeugt und einen davor bewahrt, in einem vorgefertigten Urteil über die Figuren und ihre Geschichten zu verharren. Trotzdem sucht die Ich-Erzählerin, für die Sprache Beruf und Berufung ist, natürlich nach der Wahrheit in den Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit. Und war die Literatur nicht früher auch eine Art sinnstiftender Code der Freundschaft der beiden Mädchen? Über Jahre hinweg spielten sie immer wieder das Spiel, anhand eines Zitats den Buchtitel zu erraten, aus dem dieses entnommen war. Dieses Spiel war auch ein Code des gegenseitigen Verstehens, eine Art uneigentliches Sprechen, wie es ja auch die Sprache der Literatur kennzeichnet. Doch gerade von Lejla kommt der Vorwurf, Sara konstruiere eine Geschichte, die so nur in ihrer Fantasie stattgefunden habe; und tatsächlich streut die Autorin bzw. die Ich-Erzählerin selbst, indem sie punktuell auch Lejlas Gegenerzählungen wiedergibt, immer wieder Unsicherheitsstellen in den Text ein. Liegt die Wahrheit wirklich in den Worten? Und liegt das wahre Wesen Lejlas wirklich in ihrem alten Namen, mit dem nur Sara sie noch anredet, ihn symbolisch aufladend, ja fast magisch überhöhend?

Letztlich verhandelt der Roman nichts weniger als die Frage nach dem Verhältnis von Kunstwerk und Wahrheit, und folgerichtig stehen die beiden Frauen am Ende ihrer gemeinsamen Reise, die eigentlich kein konkretes erreichbares Ziel haben kann, sondern therapeutischer und metaphorischer Art ist, in Wien vor Dürers Hasen. Wird Sara hier den verschollenen Armin wiedersehen? Oder ist auch er zu einem Bild in ihrer Erinnerung geworden, das sich längst von der Wirklichkeit entfernt hat? So sehr sie die Wiederbegegnung mit diesem früher so faszinierenden Jungen herbeisehnt, der im gewaltsamen Chaos der ethnischen Auseinandersetzungen verschwunden ist, so sehr fürchtet sie sich auch vor der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit in einer Familie, in einem Land, in einer Zeit, die unübersehbare Narben hinterlassen hat, die auch nicht verschwinden, wenn man wie Sara Bosnien den Rücken gekehrt hat.

Sie [Lejla] erinnerte mich daran, dass der natürliche Zustand dieser Welt Unordnung war und dass unsere Leben, die um die Anstrengung herum organisiert waren, Ordnung in all dieses Chaos zu bringen, eigentlich nichts anderes waren als ein Spiegelbild endloser Arroganz.

Lana Bastašić, Fang den Hasen

Sicher geht man nicht zu weit, wenn man die Autorin selbst ein bisschen in ihrer Ich-Erzählerin wiederzufinden meint; auch die in Bosnien aufgewachsene Lana Bastašić ist ausgewandert, hat in Irland gelebt, dann in Spanien, und auch sie verwandelt ihre Erfahrungen in Kunst, transponiert das Chaos der Welt in die alles andere als arrogante, vielmehr komplexe und ambivalente Sprache der Literatur.

Bibliographische Angaben
Lana Bastašić: Fang den Hasen, S. Fischer (2021)
Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger
ISBN: 9783103970326

Bildquelle
Lana Bastašić, Fang den Hasen
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderOlga Grjasnowa: Der verlorene Sohn

Der verlorene Sohn ist ein eher schmales Buch, das aber in einer wie von selbst dahinfließenden Sprache wahrhaft ein ganzes Menschenleben hervorzaubert: ein Leben, hin und her katapultiert zwischen zwei Welten, die mehr vielleicht als durch Tradition, Kultur und Glauben durch die Gewalt des Krieges gänzlich unvereinbar scheinen, ein Leben, das allen Fremdbestimmungen zum Trotz mit Mut und Hoffnung gestaltet wird, ein Leben, das dann auch wirklich die aufregendsten Wendungen nimmt und doch so unendlich traurig endet…

Jamalludin ist der Sohn des Imams Schamil, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Nordkaukasus sein kleines Reich gegen die Übermacht der Russen verteidigt. Als sein muslimisches Volk der Belagerung angesichts des Hungers und der vielen Toten in diesem ungleichen Kampf gegen die russische Armee nicht mehr länger standhalten kann, sieht Schamil sich gezwungen, für Waffenstillstandsverhandlungen seinen ältesten und doch noch so jungen Sohn Jamalludin den Russen als Pfand anzuvertrauen. Doch anders als versprochen wird Jamalludin nach den dreitägigen Verhandlungen nicht wieder freigelassen, sondern nach Sankt Petersburg zum Zaren gebracht, der fortan über den weiteren Lebensweg des potentiellen Nachfolgers an der Spitze dieses kleinen kaukasischen Volkes entscheidet.

Die Ängste und Herausforderungen, die seit seinem Abschied von der geliebten und vertrauten Familie über den Jungen hereinbrechen, der — und das durchzieht wie eine leitmotivische Grundspannung die ganze Handlung — so völlig der Willkür der anderen ausgeliefert ist, am Anfang nicht einmal die Sprache versteht, geschweige denn die Umgangsformen der höheren russischen Gesellschaft kennt, in die er nun Schritt für Schritt eingeführt wird, schildert Olga Grjasnowa auf sehr einfühlsame und zugleich reflektierte Weise. Nie klingt ihr Stil lamentierend oder gefühlsduselig, und doch führt sie den Leser ganz nah an die Gefühle, das Innenleben des Protagonisten heran, an seinen Schmerz über die Trennung von der Familie, seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, seine Einsamkeit inmitten der geselligen Kameraden.

In eindrücklichen Szenen, die mitunter an die großen russischen und französischen Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts erinnern, deren Lektüre auch für den Protagonisten prägend ist, erzählt die Autorin von den Begegnungen, Beobachtungen und Erfahrungen, die Jamalludin mit der ihn umgebenden Außenwelt macht, von seinen unermüdlichen Anstrengungen, sich immer wieder in eine neue Umgebung einzufügen, ohne dabei seine Herkunft zu verleugnen, sich als Heranwachsender eine eigene Persönlichkeit zu formen, sich zu bilden, ein Leben zu leben, und ja, ganz behutsam auch eine Liebe, zu einer Frau, die ihrerseits gegen ganz andere gesellschaftliche Vorurteile kämpft.

Dieser kulturelle und existentielle Spagat erweist sich jedoch als eine schier übermenschliche Aufgabe, hat Jamalludin doch in Russland, protegiert vom Zaren, dessen strategische Absichten ihm nie offen gelegt werden, keinerlei Kontakt mehr zu seiner Familie. Die Briefe, die er an den Vater schreibt, bleiben jahrelang unbeantwortet, die Sprachen, die er nun fließend spricht, sind andere als die immer mehr ins Vergessen rückende Muttersprache des Awarischen. Er reift zum jungen, gebildeten Mann heran, bewegt sich in adligen Kreisen und blickt schließlich als russischer Offizier einer möglichen Konfrontation mit den Kriegern seines Vaters entgegen, der sich weiterhin gegen die Russen zur Wehr setzt. Doch bevor es soweit kommt, ändert sich wieder einmal der Lauf der Geschichte, und der verlorene Sohn muss erneut von heute auf morgen das Leben, das er sich aufgebaut hat, im Stich lassen und kehrt, wiederum als Tauschobjekt im nicht enden wollenden Krieg, zurück zu seinem Vater, zurück in seine Heimat, in der er misstrauisch beäugt wird und sich nach all den Jahren in der Ferne von Neuem als Fremder fühlt…

Der verlorene Sohn, der vor dem Hintergrund des Krimkriegs und der kriegerischen Auseinandersetzungen Russlands mit den Völkern im Kaukasus angesiedelt ist, den Tscherkessen, Georgiern, Tschetschenen, ist ein historischer Roman in dem Sinne, dass hier ein menschliches Schicksal nicht etwa vor einer bloß historisierenden Kostümkulisse, sondern wirklich im direkten Zusammenhang mit der geschichtlichen Realität des 19. Jahrhunderts erzählt wird. Und diese historische Wirklichkeit erscheint in einem ganz klar literarisierten Gewande, in der Form eines poetischen Realismus, der, ausgehend von einer anschaulich und mitreißend geschilderten fiktiven Lebensgeschichte, ein zeitenthobenes menschliches Schicksal entwirft: das Schicksal eines Menschen, der seine Individualität unablässig gegen die Macht der Geschichte aushandeln muss und dessen verzweifelte Suche nach Autonomie, nach Identität und Zugehörigkeit in dieser Welt nie an ihr Ende gelangt.

Ein schönes, ein melancholisches und ein tieftrauriges Buch, das eine Versöhnung, eine Verständigung zwischen den Kulturen als durchaus menschenmögliche Utopie in den Raum stellt.

Bibliographische Angaben
Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn, Aufbau Verlag (2020)
ISBN: 9783351037833

Bildquelle
Olga Grjasnow, Der verlorene Sohn
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderClaudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens

Zeitmanagement, Effizienz, Leistung, Optimierung — das sind sehr geläufige und auch ideologisch aufgeladene Begriffe aus unserer von einer bestimmten Art von wirtschaftlichem Denken geprägten Zeit. Ruhe, Muße, Müßiggang kommen darin nicht vor, oder wenn sie es tun, dann in unterschwelliger moralischer Abwertung oder in Abhängigkeit vom Ideal der Geschäftigkeit definiert und als Pause von einer Tätigkeit für diese nutzbar gemacht. Während wir einerseits die in früheren Zeiten durchaus geadelte Muße heute geringschätzen und ein hohes Arbeitspensum mit Bedeutsamkeit gleichsetzen, klagen wir andererseits über Stress, sehnen uns nach Erholung und tun uns doch oft so schwer, sie zu finden. Kein Wunder, dass der Markt von Ratgebern für Achtsamkeit und Selbstfürsorge verschiedenster Qualität inzwischen nur so wimmelt.

Die Kunst des Ausruhens kommt also nicht aus dem Nichts. Die Autorin Claudia Hammond versucht darin auf spielerische und zugleich wissenschaftlich fundierte Weise, die für uns Menschen so essentiellen Phasen der Entspannung auch moralisch aufzuwerten bzw. von einem einengenden moralischen Denken zu befreien. Denn auch wenn etwa der Begriff der Resilienz in aller Munde ist — tendiert er nicht oft dazu, heimlich wiederum in den Dienst einer gesteigerten Leistungsfähigkeit gestellt zu werden? Die Aufwertung der Muße erfordert daher für uns heute wahrscheinlich ein tieferes Umdenken, dessen ist sich, so spürt man es bei der Lektüre, auch die Autorin bewusst. Bewusst ist sie sich außerdem auch darüber, dass wir, um wirklich Erholung empfinden zu können, gerade aus der verbreiteten Logik der Effizienz ausbrechen müssen und dass uns mit einem mahnenden Appell zu mehr Erholung, erst recht in einer gewissen vorgegebenen Form, deshalb kaum geholfen wäre, sondern nur neuer Stress hervorgerufen würde. In ihrem Buch, das eine kurzweilige und erhellende Lektüre bietet, geht es vor allem darum, Anregungen und Impulse zu geben, auf deren Basis wir weiter darüber nachdenken können, wie wir uns unsere eigenen Ruheorte schaffen und gestalten können.

Claudia Hammond — das erfährt man nicht nur vom Klappentext, sondern auch bei der Lektüre des Buches — arbeitet als Rundfunksprecherin bei der BBC, ist Dozentin für Psychologie an der Boston University in London, zudem ausgezeichnet als Verfasserin populärwissenschaftlicher Bücher (z.B. zur Wahrnehmung der Zeit) — und sie ist eine leidenschaftliche Hobbygärtnerin: für sie eine ganz persönliche Strategie, immer wieder Ausgleich und Erholung vom Berufs- und Alltagsstress zu finden. Auch wenn Hammond ihre eigenen Erfahrungen anekdotenhaft in den Text mit einfließen lässt, bleibt dieser zum Glück frei von Ratgeberallüren und ist auch alles andere als ein esoterisch angehauchtes Aus-dem-Nähkästchen-Plaudern. Denn als Ausgangspunkt und wissenschaftliche Verankerung dienen der Autorin die aufschlussreichen Ergebnisse einer groß angelegten Studie zur Frage, wie wir am besten zur Ruhe kommen, dem so genannten „Ruhe-Test“, den sie als Psychologin mit initiiert und gestaltet hat.

In ihrem Buch stellt sie die zehn Arten der Erholung vor, die von den Studienteilnehmern am häufigsten genannt wurden, darunter ein heißes Bad nehmen, in der Natur sein, wandern, aber z.B. auch das mentale Wandern der Gedanken, das Tagträumen; an erster Stelle befindet sich übrigens das Lesen, für alle Literaturbegeisterten keine Überraschung, sondern Auslöser stillfreudiger Genugtuung; genauso hat es aber auch das Fernsehen, von der Autorin mit der gleichen Genauigkeit untersucht, in die engste Auswahl geschafft. Claudia Hammond beschreibt jede dieser zehn verschiedenen Arten der Erholung sehr detailliert, begutachtet und prüft sie von allen Seiten, ordnet sie, viele andere Studien heranziehend, wissenschaftlich ein, geht auf die historischen, kulturellen, gesellschaftlichen Hintergründe ein und hinterfragt sie auch in ihrer Wirksamkeit. Das letzte Urteil aber überlässt sie dem Leser, der sich frei entscheiden kann, welche Impulse er aufnehmen will, was sich vielleicht lohnt, einmal ausprobiert zu werden, und was für ihn selbst eher nicht in Frage kommt. Denn was die Autorin immer wieder betont, ist die Subjektivität des Ruheempfindens, das je nach persönlichen Vorlieben ganz verschieden sein kann und zudem noch von vielen anderen Faktoren abhängig ist: von der Dauer, dem Umfeld, aber z.B. auch von der Variationsbreite und der freien Entscheidung; so scheint ein Wechsel zwischen Aktivität und Erholung die Intensität des Ruhegefühls zu steigern, während Ruhe, wenn sie erzwungen ist, sogar äußerste Anspannung hervorzurufen imstande ist. Auch die Frage, inwieweit darüber hinaus einerseits der kulturelle Kontext beim Empfinden von Erholung eine Rolle spielt und inwieweit dieses andererseits von anthropologischen Grundkonstanten bestimmt wird, klingt mitunter an, bleibt in dem vorwiegend empirisch ausgerichteten Text aber eher an der Oberfläche.

Ihre Ausgangsfrage hat die Autorin trotz aller erkenntnisreichen philosophischen, anekdotenhaften und wissenschaftlichen Ausschweifungen dennoch durchgehend im Blick. Es geht ihr primär um die Art und Weise, wie wir Erholung und Ruhe finden, nicht darum, worin wir Glück empfinden. Es ist durchaus aufschlussreich, hier zu differenzieren, auch wenn Ruhe und Wohlbefinden natürlich eng zusammenhängen, was auch aus vielen der vorgestellten Ruhe-Arten hervorgeht. Spannend ist auch der Befund, dass Ruhe nicht mit physischer oder mentaler Inaktivität gleichzusetzen ist. Der Ruhemodus ist kein komaartiger Zustand, im Gegenteil, davon zeugen zwei der beliebtesten Arten zu entspannen, die zugleich körperlich bzw. mental anspruchsvoll sind, nämlich das Wandern und das Lesen. Erholung finden wir demzufolge durch eine veränderte Zeit- und Selbstwahrnehmung, in die wir geraten, wenn die Sorgen zurücktreten und der intensiv wahrgenommene Augenblick in den Vordergrund tritt.

Eine mehr als auffällige Gemeinsamkeit aller zehn durchleuchteten Ruhepraktiken besteht außerdem darin, dass sie nicht in Gesellschaft, sondern alleine erlebt werden, während der Kontakt zu Freunden und zur Familie ja als wichtigster Faktor für das psychische Wohlbefinden gilt. Übrigens ist dieser Zusammenhang von Ausruhen und temporärem Rückzug aus der Gemeinschaft unabhängig davon, wie gesellig man sonst ist, auch Extrovertierte suchen und finden die Ruhe in erster Linie bei sich. Zur Ruhe kommen scheint also ganz wesentlich mit einem In-Sich-Gehen verbunden zu sein, damit, einen Platz für sich in der Welt, im Dasein zu definieren. Wenn vielen von uns das Ausruhen oft so schwer fällt, liegt das deshalb auch daran, dass das Zurechtkommen mit der eigenen Innenwelt durchaus eine Herausforderung darstellen kann. Negative, ins Grüblerische neigende Gedanken und Schuldgefühle, z.B. wegen unserer scheinbaren Untätigkeit, kommen gerade dann nach oben, wenn wir innehalten. Dann heißt es, in uns zu horchen und die geeignete Strategie zu finden, diese Gedanken in andere Bahnen zu lenken, etwa mit einem Achtsamkeitstraining. Da es kein Allheilmittel gegen Stress gibt, bleibt uns also nichts anderes übrig, als je nach Situation oder psychischer Disposition eine andere Art der Ruhe zu suchen; was uns diese aber, wenn wir sie tatsächlich einmal für einen Moment gefunden haben, wahrscheinlich umso intensiver und erfüllter genießen lässt. So können Fernsehen oder Bewegung in der Natur dem ein oder anderen vielleicht besser dabei helfen, abzuschalten und dem nervigen, belastenden Alltag zu entfliehen; wenn man einfach seine Gedanken schweifen lässt, riskiert man womöglich, ins Grübeln zu geraten, es kann aber auch sein, dass wir dadurch auf einmal einen überraschenden kreativen Schub erleben, wie von Zauberhand neue Ideen über uns selbst, über die Welt entwickeln; auch das Lesen ist eine Art der Ruhe, in der man seine Wahrnehmung auf ganz beglückende und entspannende Weise erweitern kann.

Wie und vor allem ob wir zwischendurch zur Ruhe kommen, das schwingt als Grundtenor im gesamten Buch mit, hängt letztlich von der Autonomie ab, die unserer Erholungssuche innewohnt. Was für die Zufriedenheit im Beruf, in der Beschäftigung, erwiesen ist, nämlich dass wir darin den meisten Sinn ausmachen und die größte Zufriedenheit empfinden, wenn wir möglichst viel Entscheidungsfreiheit haben — wozu im besten Fall auch die Freiheit gehört, sich selbst kleine Ruhepausen einzubauen, gilt — eigentlich gar nicht so überraschend — genauso für die Zeit, die wir mit Ausruhen verbringen, und die in dieser selbst gestalteten Form dann nicht nur ein menschliches Grundbedürfnis erfüllt, sondern auch ein großes kreativ-philosophisches Potential in sich birgt.

Bibliographische Angaben
Claudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens — Wie man echte Erholung findet, DuMont (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör
ISBN: 9783832181499

Bildquelle
Claudia Hammond, Die Kunst des Ausruhens
© 2021 DuMont Buchverlag & Co. KG, Köln

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