bookmark_borderElizabeth Anderson: Private Regierung

Ich finde, auch in Deutschland reden wir zu wenig und zu undurchsichtig über unsere Arbeit, weshalb willkürliche Ungleichheiten der Entlohnung ebenso wie eine unverhältnismäßige Ungleichheit der sozialen Hierarchien am Arbeitsplatz, in Form belastender oder gar entwürdigender Einschränkungen von Respekt, Status und Autonomie der Arbeitnehmer zur Steigerung des unternehmerischen Profits, oft unhinterfragt hingenommen werden. Die amerikanische Philosophin Elizabeth Anderson bricht in ihren 2014-15 in Princeton gehaltenen Tanner Lectures, die inzwischen in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen sind, ein unausgesprochenes Tabu: Sie entlarvt die in Persönlichkeitsrechte hineinreichende private, d.h. nicht öffentlich diskutierte, sondern rechenschaftsfreie Herrschaft der Arbeitgeber über ihre Arbeitnehmer in privaten Unternehmen als anstößig und vielfach ungerechtfertigt und unterzieht die allseits akzeptierte Legitimierung solcher quasi diktatorisch agierenden „privaten Regierungen“ inmitten demokratischer Staaten durch die mit der modernen Lebens- und Arbeitswelt nicht mehr in Einklang zu bringende liberalistische Idee des freien Marktes einer grundlegenden Ideologiekritik.

Zentrales Anliegen der Philosophin ist es denn auch, die heute aus dem Blick geratene Frage nach Formen privater Herrschaft und Unterdrückung am Arbeitsplatz wieder zum Thema der politischen Theorie zu machen und einen öffentlichen Diskurs darüber anzustoßen, wie auf Kosten zahlloser Lohnarbeiter — und ganz besonders der Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnsektor — eine kleine Schar privater Geschäftsmänner von einem „symbiotische[n] Verhältnis zwischen Libertarismus und Autoritarismus“ profitieren, „das unsere politischen Diskurse […] wie Mehltau überzieht“ (Anderson, S. 11) und mit der ursprünglichen Idee des Liberalismus nichts mehr zu tun hat.

Denn das Ideal einer freien Marktwirtschaft, so stellt Anderson es in einem historischen Rückblick heraus, war zu Beginn ein Anliegen der Linken und untrennbar mit egalitären sozialen Zielen verbunden. So ging es den frühen Fürsprechern des Liberalismus im 17. Jahrhundert, den Levellers, um die Befreiung der Menschen aus patriarchalen Formen der Unterwerfung und um den Abbau von Monopolen in allen Lebensbereichen der Gesellschaft zugunsten der sozialen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Individuen. Adam Smith knüpfte mit seiner ökonomischen Vision an diese Ideen an und hatte ebenfalls vor allem Kleinbauern und Kleinunternehmer im Blick, in deren durch den Liberalismus garantierten wirtschaftlichen Unabhängigkeit er die beste Voraussetzung für eine human und freiheitlich gestaltete zukünftige Gesellschaft sah. Doch die Vordenker des Liberalismus konnten nicht ahnen, dass sich die Markt- und Arbeitsverhältnisse mit der Industriellen Revolution grundlegend verändern würden. Anderson hebt hervor, welch radikaler Einschnitt mit der Ausbreitung der großen Fabrik- und Industriebetriebe für die sozialen Hierarchien zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verbunden war. Die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung bestand von nun an aus abhängigen Lohnarbeitern und war weit entfernt vom Ideal der wirtschaftlichen Selbständigkeit eines Handwerkers oder Kleinbauern. In einer solchen Situation bedeutet ein von staatlichen Eingriffen freier Markt jedoch nicht mehr Gleichheit und Freiheit, sondern im Gegenteil Konzentration einer mit Macht verbundenen unternehmerischen Autonomie in den Händen einzelner einflussreicher Großbetriebe und damit die Etablierung eines nicht öffentlichen Raums privat regierter Arbeitsplätze:

Wenn der Großteil der Bevölkerung selbständig ist, ist ein Plädoyer gegen staatliche Einmischung eine völlig andere Aussage, als sie es heute wäre.

Anderson: Private Regierung, S. 66

Während Anderson ihren Blick hauptsächlich auf die große Zahl der Angestellten und Lohnarbeiter richtet, erstrecken sich die Formen privater Herrschaft meines Erachtens in vielen Fällen auch auf scheinbar unabhängige Soloselbständige oder Kleinunternehmen, die — gerade zur Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit — bisweilen gezwungen sind, hierarchische Ungleichheiten und Autonomieverluste in Kauf zu nehmen, etwa wenn sie Aufträge auch um den Preis einer diktatorischen Behandlung durch die auftraggebenden Konzerne annehmen müssen. Dies liegt nicht zuletzt an der Entstehung neuer Monopole — große Finanzhäuser oder Konzerne wie Google, Amazon oder Netflix –, die nicht etwa unter staatlicher Herrschaft stehen, sondern in einem zu wenig regulierten ökonomischen Freiraum gedeihen können und den freien und gleichen Wettbewerb verzerren. In einem Artikel in der ZEIT vom 26.3.2020 spricht genau in diesem Sinn der Finanzexperte und ehemalige Abgeordnete der Grünen, Gerhard Schick, von einer Transformation der sozialen Marktwirtschaft in eine „Machtwirtschaft“, in der nicht das beste Produkt gewinnt, sondern eine kleine wirtschaftliche Machtelite, die dem Staat die Regeln diktiert und über die einflussreichsten Lobbys und größten Geldakkumulationen verfügt. Wirklich frei und selbständig wirtschaften können heute nur die wenigsten, allen gleich ist nur die Marktwertabhängigkeit, die neue Privilegien schafft. Denn wie Anderson schreibt, liegt ein Denkfehler des mit der Industriellen Revolution einhergehenden neuen Liberalismus darin, dass auch die Arbeitskraft selbst, also der Mensch, als Ware betrachtet wird anstatt als autonomes Subjekt. So kommt letztlich nur eine kleine Schar Privilegierter in den Genuss der Vorteile des freien Marktes, die einst für die große Mehrheit angedacht waren:

Während Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an der Spitze der Unternehmenshierarchie eine solche Freiheit ebenso besitzen wie eine Handvoll Topathleten, Mediengrößen und Starakademiker, [wird in der vielfach geäußerten Verteidigung privater Regierung die Tatsache ignoriert], dass die große Mehrheit der Arbeitnehmer, die nicht durch Gewerkschaften vertreten wird, die Bedingungen für die Autorität des Arbeitgebers überhaupt nicht aushandelt.

Anderson: Private Regierung, S. 106

Anderson zufolge ist der reine Arbeitsvertrag, der den freien Ein- und Austritt aus dem Arbeitsverhältnis garantiert, alles andere als ausreichend, um die Möglichkeit des Machtmissbrauchs in der privaten Regierung des Arbeitgebers zu minimieren. Auch der Zeitraum dazwischen muss mit einer rechtlichen Infrastruktur versehen werden. Anderson ist grundsätzlich dafür, hier die Rolle des Staates zum Schutz der Arbeitnehmer zu stärken, hält darüber hinaus aufgrund der vielfältigen, ganz unterschiedlich strukturierten Arbeitsplätze aber auch interne Regelungen, etwa in Form von Mitspracherechten der Arbeitnehmer, für unverzichtbar.

In einiger Hinsicht sind die europäischen Länder hier weiter als Amerika, dessen Arbeitsverhältnisse den Ausgangspunkt von Andersons Kritik darstellen. Doch auch wenn die Autorin sogar gewisse in Deutschland praktizierte Formen der Mitsprache in Betrieben als Vorbild anführt, lassen sich auch hier Strukturen der Ungleichheit am Arbeitsplatz ausmachen, die unnötig Stress und Unzufriedenheit hervorrufen. Viele Arbeitnehmer leiden unter willkürlichen Arbeitszeiten, kurzfristigen und familieninkompatiblen Einsatzplänen, unter der unterschwelligen Stigmatisierung von kurzen Wortwechseln mit Kollegen oder Toilettengängen als „Zeitdiebstahl“, unter mangelnder Anerkennung, Leistungsdruck auf Kosten der (psychischen) Gesundheit oder unter einer Überstrapazierung der vertraglich oft bewusst unbestimmt gehaltenen Arbeitsbereiche, die es dem Arbeitgeber ermöglicht, sein Personal in nicht weiter zu rechtfertigenden „ökonomischen Notlagen“ willkürlich zu Aufgaben zu zwingen, die nichts mit der Qualifikation des Arbeitnehmers zu tun haben. Gerade in nicht hochqualifizierten Berufen wie Einzelhandel oder Pflege ist ein Verschleiß von menschlichen Arbeitskräften alles andere als unüblich. Öffentlicher Redebedarf ist also auf jeden Fall angebracht, in Deutschland ebenso wie in Amerika.

Ich lege keine Blaupause für eine bessere Verfassung der Regierung am Arbeitsplatz vor. Vielmehr schlage ich einen Rahmen für das Reden über den Arbeitsplatz vor, in dem wir artikulieren können, wie die Arbeitnehmerinteressen von der Macht beeinträchtigt werden, die Arbeitgeber über die Beschäftigten ausüben, und wie alternative Verfassungen für die Regierung am Arbeitsplatz angelegt sein könnten, um den Interessen der Beschäftigten aufgeschlossener und ihrer Würde und Autonomie respektvoller zu begegnen.

Anderson: Private Regierung, S. 30

Private Regierung ist ein wichtiges Buch. Denn das Bedürfnis nach mehr Mitsprache und Autonomie am Arbeitsplatz ist unumstritten vorhanden; dass es bisher zu wenig firmeninternen Diskurs darüber gibt, liegt sicher auch an der das Schlaglicht auf die ungleichen sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz werfenden Angst vor Entlassung. Und gerade deshalb ist ein öffentlicher Diskurs, den die einflussreiche Philosophin Elizabeth Anderson mit ihren Vorlesungen in Amerika angestoßen hat, so wichtig und sollte unbedingt auch hier Gehör finden.

Elizabeth Anderson: Private Regierung — Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden), Suhrkamp (2019)
ISBN: 9783518587270

–> Zur Neuauflage 2020 in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

bookmark_borderHelena Janeczek: Das Mädchen mit der Leica

Absolut zu Recht hat dieses stilistisch und emotional überzeugende Buch über die jüdische Fotografin Gerda Taro 2018 den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, bekommen! Und dabei ist das Thema kein spezifisch italienisches, sondern ein gesamteuropäisches, es ist eine Geschichte von Exil und Widerstand, von Berufung und Leidenschaft, von Eifersucht und Freundschaft, die in Berlin und Leipzig spielt, in Budapest, Rom, Paris, Madrid und die bis über den Ozean nach Nord- und Südamerika reicht.

Die Autorin Helena Janeczek, Tochter polnischer Juden, deren traumatische Geschichte sie in ihrem autobiographischen Roman „Lezioni di tenebra“ bereits literarisch verarbeitet hat, ging zum Studium von Deutschland nach Italien, wo sie heute immer noch lebt und arbeitet, und schreibt auch ihre Bücher nicht auf Deutsch, in der Sprache ihrer Kindheit, und ebensowenig in der Sprache ihrer Eltern, die sie zu wenig beherrscht, sondern auf Italienisch. Auch in ihrem neuen Roman, der jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist, geht es um den Einfluss der Geschichte auf das Leben der Protagonisten, um Menschen, die auf ihre persönliche Weise Widerstand leisten und den Wirrnissen der Geschichte mit Überzeugung und Courage, mit unbekümmertem Freiheitsdrang, mit Solidarität und Freundschaft entgegentreten.

Im Zentrum der in drei aufeinanderfolgenden Teilen aus verschiedenen Perspektiven erzählten Handlung steht das „Mädchen mit der Leica“, Gerda Pohorylle, die sich als Fotografin Gerda Taro nannte und für ihren ungarischen Freund und Kollegen André Friedmann das mondäne Pseudonym Robert Capa erfand und die in der künstlerisch beflügelnden Atmosphäre des Paris der Zwischenkriegszeit mit (späteren) Berühmtheiten wie Cartier-Bresson oder Fred und Lilo Stein zusammenarbeitete. Ihr früher gewaltsamer Tod an der Front im spanischen Bürgerkrieg, den sie fotografisch dokumentierte, machte sie für ihre Zeitgenossen, und vor allem für ihre Freunde und Kollegen, die sich im Roman an die Zeit mit ihr erinnern, zu einem fast mythischen Geschöpf, dessen eigensinnige Lebensfreude und selbstbewusste Zielstrebigkeit Männer wie Frauen faszinierte und mitunter vor den Kopf stieß.

Dass die Autorin auf eine Innenschau Gerdas verzichtet und sich der einst schillernden Persönlichkeit der in Vergessenheit geratenen Fotografin, deren Werk lange Zeit ihrem Freund Capa zugeschrieben wurde, über die Reflexionen und szenischen Erinnerungen ihrer Freunde annähert, macht den auf biographischem und historischem Material basierenden Roman authentisch, glaubhaft und lebensnah. Tatsächlich fängt sie Charakterzüge, Stimmungen und Milieus über die im Rückblick erinnerten und reflektierten Szenen literarisch ein wie fotografische Schnappschüsse, in denen sich ein bestimmtes Wesensmerkmal, eine Beziehung oder ein biographischer Wendepunkt kristallisieren, die ein Schlaglicht auf die Ereignisse und die in ihnen handelnden Figuren werfen, ohne sie zu determinieren und als einzig gültige Wahrheit zu deklarieren. Die bleibt letztlich offen, und doch ist man nicht nur Gerda, sondern auch ihren Freunden und Zeitgenossen für die Zeit der Lektüre so nah gekommen, wie es eben literarisch geht.

Bibliographische Angaben
Helena Janeczek: Das Mädchen mit der Leica, Berlin Verlag (2020)
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
ISBN: 9783827013989

Bildquelle

Helena Janeczek, Das Mädchen mit der Leica
© 2020 Berlin Verlag in der Piper Verlag Gmbh, München

bookmark_borderDein ist mein ganzes Herz — Ein Franz-Lehár-Lesebuch

Bald ist es wieder soweit, und die Apfelblüten leuchten in der silbernen Frühlingssonne, ein orphisch-chinesischer Jüngling, dessen Liebe die Saiten in der erwartungsvollen Dämmerung zum Klingen bringt, hat ein paar dieser rosaweißen Frühlingsjuwelen gepflückt und legt in zartem Tenor einen Kranz daraus seiner Liebsten vors Fenster, und eine melancholische Weise erklingt… Am 30. April werde ich mein ganz persönliches Lieblingslied von Franz Lehár auflegen und mit seiner unvergleichlich schönen Musik lächelnd seines Geburtstags gedenken!

Auch der Böhlau Verlag feiert Franz Lehár. Zum 150. Geburtstag des Komponisten ist dort ein Sammelband mit dem Titel „Dein ist mein ganzes Herz“ erschienen, herausgegeben von Heide Stockinger und Kai-Uwe Garrels. Der Untertitel – „Ein Franz-Lehár-Lesebuch“ – legt nahe, welche Zielgruppe die Herausgeber mit dem etwa 200seitigen, mit historischen Fotografien und Karikaturen illustrierten und mit einer umfangreichen biographischen Übersicht ausgestatteten Buch im Blick haben: Es richtet sich nicht an Musikwissenschaftler und Spezialisten, sondern an eine musik- und vielleicht noch besser musiktheaterinteressierte Leserschaft, die in den „bezaubernden Kosmos“ (Geleitwort), den Lehár mit seiner Musik geschaffen hat, eintauchen will, die sich für den Mythos begeistern, der den Schöpfer des Welthits der „Lustigen Witwe“ immer noch umgibt, und die neugierig ist auf historische Hintergründe und biographische Anekdoten. Entsprechend dem Anliegen des Verlags, der sich als Wissenschaftsverlag bezeichnet, aber darüber hinaus auch einem breiteren Publikum Sachthemen näherbringen möchte, ergibt sich aus dieser neuesten populärwissenschaftlichen Publikation zu Franz Lehár insgesamt ein facettenreiches Bild des Komponisten, seines Schaffens und seiner Zeit. Jedoch werden sich völlig „lehárferne“ Leser ohne Kenntnis seiner Musik und seines geradezu mythischen Stellenwerts in der „Silbernen Ära“ der Operette wohl eher schwerer tun, dem weniger der Chronologie denn persönlichen Vorlieben folgenden Enthusiasmus der Artikelschreiber zu folgen. Also doch eher ein Buch für Fans, die sich in dieses Lesebuch in ebensolcher Muße vertiefen können, wie sie auch einer Lehár-Aufnahme an der heimischen Stereoanlage lauschen würden… und die es bei der Lektüre dann über kurz oder lang in den Füßen juckt, zu Lehárs berühmter Villa in Ischl zu pilgern oder zu einem Konzert im Garten seines barocken Schlössls in Wien, das übrigens einstmals im Besitz von Emanuel Schikaneder war.

Geschrieben wurden die Aufsätze dieses Lesebuchs von einer Hand voll Kulturschaffender aus Österreich, die alle einen beruflichen oder persönlichen Bezug zu Franz Lehár oder zur Operette haben; fast scheinen die Fäden des Sammelbandes alle im Lehár Festival Bad Ischl zusammenzulaufen, und so macht Michael Lakner, der die Festspiele dort viele Jahre lang prägte, durchaus auch mal nicht ganz uneitel Werbung in eigener Sache. Was dem ehemaligen Intendanten von Ischl besonders am Herzen liegt, nämlich die Aufführung auch unbekannterer Werke des Komponisten, ist auch eines der Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, der zum Beispiel eine Begegnung mit Lehárs „italienischer Operette“, „La danza delle libellule“, enthält; hier erinnert sich Eduard Barth mit sehr persönlichen Eindrücken an eine Aufführung in Triest 1982, um anschließend dem Leser informatives Hintergrundwissen darüber an die Hand zu geben, wie aus Lehárs eher unpopulärem „Sterngucker“ im neuen Arrangement des umtriebigen Impresarios Carlo Lombardo ein Überraschungserfolg als italienischer „Libellentanz“ beschieden wurde.

Dabei war Lehár, so erfährt man in diesem Lesebuch an mehreren Stellen, Änderungen an seinen Stücken, sofern er sie nicht selbst vornahm, eher abgeneigt. Vor diesem Hintergrund gibt auch die sich endlos hinziehende (und letztlich Stückwerk gebliebene) „Arisierung“ seiner frühen, „jüdischen“ Operette „Der Rastelbinder“ — aus der Feder des jüdischen Librettisten Vicor Léon, mit der jüdischen Hauptfigur Pfefferkorn, der in der Uraufführung auch vom jüdischen Tenor Louis Treumann gesungen wurde –Aufschluss über das berufliche und persönliche Dilemma, in dem sich der Komponist, dessen Ehefrau Sophie selbst Jüdin war, seit Beginn der Naziherrschaft befand. Wolfgang Dosch verteidigt Lehár in seinem Aufsatz gegen den mitunter erhobenen und angesichts der Begeisterung Hitlers für die „Lustige Witwe“ und der Ohnmacht des Komponisten gegenüber dem Schicksal seines Librettisten Fritz Löhner-Beda, der im KZ zu Tode geprügelt wurde, nicht völlig abwegigen Vorwurf, ein Mitläufer oder Sympathisant der Nazis gewesen zu sein. Doch zahlreiche jüdische Stimmen sprechen für den Komponisten, ebenso wie die langjährige Zusammenarbeit Lehárs mit dem Kabarettisten Rudolf Weys, der mit der Neufassung des „Rastelbinder“ betraut wurde, ebenfalls eine jüdische Frau hatte und gerade dank dieser Zusammenarbeit mit dem berühmten Komponisten einigen Schikanen der Nazis entkam.

Schön ist es, dass den zum Großteil jüdischen Librettisten in diesem Lehár-Lesebuch auch eine gebührende Würdigung zuteil wird. So erfährt man etwa von dem damals viel gebuchten Duo Leo Stein und Béla Jenbach, die „eine regelrechte ‚Operettenlibrettofirma‘ betrieben“ (Michael Lakner) und schon einmal in einen an heutige Arbeitsverhältnisse erinnernden Abgabestress gerieten, etwa als sie 1920 gleichzeitig an der „Blauen Mazur“ für Lehár und dem „Hollandweibchen“ für seinen Konkurrenten Emmerich Kálmán arbeiteten. Und dabei war Meister Lehár es doch gewohnt, das fertige Libretto vor sich liegen zu haben, bevor er sich an die Vertonung machte! Auch der große Einsatz der Librettisten Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer für das ihnen besonders am Herzen liegende Stück „Friederike“ kommt in Heide Stockingers spannendem und in die Tiefe gehendem Aufsatz zur Sprache, in dem sie schildert, wie die beiden Librettisten auf die für eine Operette durchaus ungewöhnliche Idee des Goethe-Stoffes kamen, wie intensiv sie sich mit Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und seinen „Sesenheimer Liedern“ auseinandersetzten und wie sie den anfangs skeptischen Lehár mit ihrer Begeisterung für den Stoff anstecken konnten. Für die Transformation des biographischen Materials, das der große Goethe seinerseits ja in seinen Erinnerungen bereits literarisiert hatte, in eine bühnenwirksame musiktheatralische Fassung nahmen sich die Librettisten natürlich auch die Freiheit heraus, die „Wahrheit“ ein wenig anzupassen:

Weder hat Friederike auf ihren Goethe verzichtet, um ihm nicht seine Karriere zu verbauen (…) – die Berufung nach Weimar, im Singspiel Anlass für Friederikes „Opfer“, kam ja erst Jahre später. Noch hat Goethe, wie im Singspiel ausgeführt, bei der Tanzveranstaltung in Straßburg Ringe für sich und Friederike bereit. Unterwerfung der Protagonistinnen unter männliche Lebensentwürfe wie in der „Friederike“ und zum Beispiel auch in Lehárs Operetten „Paganini“ und „Zarewitsch“ müssen als Dokument der Zeit begriffen werden, was weiblichen Operettenfreunden heutzutage mitunter schwerfällt…“

Heide Stockinger im Franz-Lehár-Lesebuch

Ungeachtet manch beißender Kritik, die sich an der Verwandlung Goethes in eine Operettenfigur entzündete, war das Publikum damals tief beeindruckt von den wunderschönen Melodien, die Lehár zu den von Löhner-Beda behutsam-poetisch in Liedtexte umgearbeiteten Goethe-Gedichten schrieb. Das innige Duett „All mein Fühlen, all mein Sehnen“ lehnt sich an Goethes „Willkommen und Abschied“ an, so mancher, der die 6. Strophe von Goethes „Mailied“ liest, hört sie innerlich in der berühmt gewordenen Interpretation des Lehár-Goethes Richard Tauber („Oh Mädchen, Mädchen, / Wie lieb‘ ich dich“) und Lehárs „Röslein auf der Heiden“ kann, so das Urteil einer hingerissenen Heide Stockinger, sogar mit der bekannten Schubert-Melodie mithalten.

Überhaupt wird die enge Zusammenarbeit und Freundschaft des Komponisten mit dem Tenor Richard Tauber, dem Lehár ab seinem „Paganini“ die Musik sozusagen auf den Leib schrieb, in dem Sammelband ausführlich hervorgehoben. Als „Tauber-Lieder“ haben viele der wunderschönen Operettenarien Lehárs einen geradezu mythischen Zauber entwickelt, der die Beliebtheit des Komponisten und des Interpreten gleichermaßen steigerte.

Inwieweit der mit Lehár im Bad Ischler Sommer 1928 die „Tauber-Lieder“ komponierende Richard Tauber auch seinen Anteil an der musikalischen Gestaltung der Sesenheimer Liebesgeschichte und der Innigkeit der „Goethe-Lieder“ hat, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Nicht nur das Mitkomponieren von Liedern für Lehár, auch seine Bühnenpräsenz, schauspielerische Begabung, seine wie für die Operette geschaffene Stimme (die aber auch für lyrische Gesangspartien in Opern „wie geschaffen war“) und nicht zuletzt seine umgänglich humorvolle Wesensart beförderten Lehárs Kreativität während der Spätblüte der Silbernen Operettenära in einem kaum groß genug einzuschätzenden Maß. Was wäre aus dem „Meister“, der die Lebensmitte bereits überschritten hatte, geworden, hätte es „den Tauber“ nicht gegeben?

Heide Stockinger im Franz-Lehár-Lesebuch

Lassen wir zum Abschluss noch Richard Tauber selbst zu Worte kommen, von dessen Erinnerungen aus dem Londoner Exil an die künstlerische Hoch-Zeit mit Lehár in diesem Lesebuch einige ausführliche und überaus lesenswerte Auszüge abgedruckt sind:

Viele hunderte Male habe ich von der Bühne herab, wenn „Franzl“ am Dirigierpult saß, ihm seine mir gewidmeten „Lieder“ zugesungen, und er wird wissen, dass ich immer mit meinem ganzen Herzen dabei war. Wie oft sah ich um seine Lippen einen ironisch lachenden Zug, wenn ich oben auf der Bühne meinem musikalischen Übermut freien Lauf ließ, wenn das Publikum die Wiederholung seiner Schlager mit den Füßen zu erkämpfen anfing und ich vom Falsett zum Fortissimo und wieder Piano überging und einige musikalische Husarenstückchen einschob, bis ich wieder Anschluss an Lehár fand. In solchen Augenblicken bestand jedoch zwischen uns beiden immer innerer Kontakt. Ich wusste, dass der feine Musiker da unten am Pult wissen wird, wie ich es meine.

Richard Tauber in seinen Londoner Erinnerungen, abgedruckt im Franz-Lehár-Lesebuch

Dein ist mein ganzes Herz — Ein Franz-Lehár-Lesebuch, herausgegeben von Heide Stockinger und Kai-Uwe-Garrels, Böhlau 2020
ISBN: 9783205209638

bookmark_borderAlfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens

Taucht mit ein in die „Nacht des Sehens“, in diese Sammlung wunderschöner Gedichte von schlichter Anmut und großer Poesie, in denen man sich verlieren und immer wieder augenblicksweise finden kann, an der Schwelle von Schatten und Licht, auf der sich alle Texte fragend, suchend, hoffend, (ver)zweifelnd bewegen. Aus dem Titel sprechen bereits die Melancholie und die große poetische Spannung, die diesen schmalen, edlen Gedichtband aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Alfred Kolleritsch auszeichnen. Kolleritsch schreibt schon sein Leben lang Gedichte und auch Prosa, promovierte einst über die Philosophie Martin Heideggers und ist auch bekannt als Herausgeber der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ und früher Förderer von Talenten wie Ernst Jandl und Peter Handke, mit dem ihn eine enge (Brief-)Freundschaft verbindet.

Mit seinem jüngst im Wallstein Verlag erschienenen neuesten Gedichtband „Nacht des Sehens“ schöpft er eine Poesie des Widerspruchs, wie ich es nennen würde, die unter die Haut geht und zugleich sehr nachdenklich ist.

Wer ersetzt das Wunder
und macht die Nacht des Sehens
zum Tage?

(…)

Das ist das Spiel.

Es spricht mit uns,
dunkel und licht zugleich,
Unvergängliches ohne Dauer.

Die Nacht des Sehens, S. 46f.

Kolleritschs Gedichte sprechen eine Sprache des Verschwindens, des Sich-Entziehens, des Widerspruchs, der auch als Widersprechen, als Protest, als Aufbäumen gegen eben jenes Verschwinden gemeint ist. Sie gliedern sich in zwei Teile, denen jeweils ein melancholisch-poetischer Vers wie ein Motto vorangestellt ist: „Die Melodien vollenden die Begegnung“ und „Sag mir etwas, das nicht verschwindet“.

Die auffällig kurzen Texte haben mich mit ihrer klaren, melodischen Sprache und ihren ahnungsvoll poetischen Bildern, die nicht überfrachtet sind, sondern von tiefer, aufrichtiger und noch lange nachklingender Poesie, sofort in ihren Bann geschlagen. Sie verwehren sich eines eindeutigen Lesens, doch trotz ihrer Vielsinnigkeit und manchmal auch Rätselhaftigkeit, die zum Immer-Wieder-Lesen ermuntern, fühlt man sich sofort vertraut mit der suchenden, findenden und wieder verwerfenden Bildersprache, die aus dem Dunkel ans Licht drängt, die hofft und bangt, trauert und wehmütig ist, die in den Schmerz des Abschieds dringt — aber all das eben nicht dramatisch oder pathetisch, sondern zart und schonungslos, sich öffnend und hinterfragend.

Immer wieder musste ich beim Lesen an Motive aus Paul Eluards surrealistischer Poesie denken, besonders an seinen Gedichtband „Capitale de la douleur“. Die Nacht assoziiert Eluard dort mit Schlaf und Tod, der Tod wird surrealistisch aufgewertet als Erfüllungsraum, als Raum der Kreativität, in dem sich die Distanz zum Tag, zum Licht, zur Frau überwinden lässt. Die surrealistische Nacht beinhaltet ein schöpferisches Sehen, der Widerspruch wird aufgelöst, indem der Blick umgekehrt wird, sich nun von der inneren Welt auf die äußere richtet. Erkenntnis und intensives Erleben erheben sich auch aus Alfred Kolleritschs metaphorischer Nacht, die gleichwohl den schmerzhaften Widerspruch nicht auflösen will:

Erleuchtet aus dem Entschwinden
bewegt uns die Erfahrung,
sie ereignet den „höchsten Augenblick“
den unvergleichbaren,
den Untergang,
als Beginn des Schönen,
verdammt außerhalb der Sprache.

Die Nacht des Sehens, S. 49

Auch der kunstvolle Umgang mit einem im philosophischen Sinne elementaren Wortschatz, die aufs Wesentliche konzentrierte Sprache, die höchste Verdichtung durch wechselnde Bezüge und durch die Überlagerung verschiedener Bildbereiche erlangt, lassen sich nicht nur bei Eluard, sondern genauso in der Lyrik Kolleritschs finden:

er mähte die Blumen fort
und löschte das Abendlicht,
er vergrub es in der Mulde

Die Nacht des Sehens, S. 23

Das Licht lässt sich freilich nicht vergraben, wohl aber die Blumen, doch begräbt der von seiner Liebe Verlassene hier nicht auch seine hell leuchtende Hoffnung? Immer wieder eröffnen solche poetischen Verschiebungen den Blick auf das Unerwartete und lenken ihn in eine neue Richtung. Die Sprache entwickelt auf diese Weise ein gewisses Eigenleben, das sich auch über die Grenzen der einzelnen Gedichte hinweg fortsetzt, denn im Kontext entfalten die Verse wieder neue Bedeutungen, und alle gemeinsam formen sie einen verschlungenen, Zickzacklinien folgenden Pfad. Michael Krüger spricht im Nachwort auch von „Gegenwegen“, die Kolleritsch in seiner Lyrik einschlägt.

Im Unterschied zum Surrealismus ist es in Kolleritschs „Nacht des Sehens“ weniger das Freud’sche Unterbewusstsein, das an die Oberfläche geholt wird, als vielmehr das Sein und das Dasein des Menschen an sich. Es sind zutiefst philosophische Fragen, um die Kolleritschs Verse kreisen; es geht um eine existenzielle Suche, in deren Zentrum der Tod als Schmerz und als Herausforderung steht. Und immer wieder drückt sich dabei der Zwiespalt aus, das Hin- und Hergerissen-Sein — „sie stürmt fort, um dazubleiben“ (S. 9) — und die Vergänglichkeit, auch der Worte:

Sag mir etwas,
das nicht verschwindet.
Was war,
ist weggeraten.
Auf der Hand klebt der Gedanke
den Flügelschlag
eines Vogels lang.

Die Nacht des Sehens, S. 69

In den Gedichten wird danach gerungen, angesichts des großen Widerspruchs des Daseins eine Sprache zu finden, es wird nach Worten gesucht für das „unfassbar Gewordene“ (S. 8). Die Nacht zeigt sich auch als letzter Schrei vor dem Verstummen. Doch des Dichters Sprache vermag es trotz aller Zweifel, Gegensätzliches zusammenzubringen, um aus dem Widerspruch den Augenblick der Poesie freizusetzen!

Sie schrieb sich in das Tal ein,
verletzte die Luft mit ihrer Sprache,
riss sich los in die Not.

Es entstanden die zerbrechlichen Reste des Sagens.
Sie versprach den Wiesen den Weg,
schuf sich die Spur durch das Geröll,
das andere Schweigen zu finden.

Die Nacht des Sehens, S. 61

Schönheit und Schmerz des Daseins offenbaren sich auch in der Begegnung mit dem Anderen. Die Personalpronomen wechseln, wir treffen auf ein Er, auf eine Sie im dunklen Kleid, ein Sie im Plural, ein Wir. Eine Umarmung kann dabei ins Gewaltsame kippen oder aber das Paar wie einen poetischen Klang zusammenbringen :

Im Gesang verschwinden,
im Geflecht der Töne,
Mann und Frau.

Das Gefühlte hoch im Klang
schweißt zusammen,
keines verliert sich
in Ängsten des Verschwindens.
Die Melodien vollenden
die Berührung

Die Nacht des Sehens, S. 12

Was sich dem Verschwinden widersetzt, sind auf jeden Fall die Gedichte und mit ihnen das Gefühl, die Reflexion und das Gedächtnis, das Tod und Gewalt, Natur und Schönheit, Schmerz und Lust in sich vereint. Sie berühren einen wie ein sanft herabsegelndes Herbstblatt, das einen nur zart anzustupsen scheint, aber eine umso innigere Melancholie entwickelt, die weiter in einem klingt, eine Begegnung voll Melodie, schmerzhaft und schön.

Alfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens, Wallstein (2020)
Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger
ISBN: 9783835336728

bookmark_borderAntonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts

Sich auf Antonio Scuratis monumentales Projekt einer dreiteiligen fiktionalisierten Geschichte des italienischen Faschismus und seines Protagonisten Benito Mussolini einzulassen, bedeutet ein Leseerlebnis, das zugleich Faszination und Schock hervorruft, darüber hinaus aber auch einige wertvolle historische, politische und menschliche Erkenntnisse im Geist des Lesers zurücklässt, der nach der an gewaltsamen Szenen nicht sparenden Lektüre noch einige Zeit weiterarbeitet, um das Gelesene, das keineswegs reißerisch, aber eben in seinem historisch bezeugten Realismus umso erschreckender ist, zu verdauen und einzuordnen.

Schon dieser erste Teil, der die Zeit von 1919-1925 behandelt, also die ersten Jahre des durchaus wechselvollen Aufstiegs des Faschismus, umfasst in der deutschen Übersetzung stolze 830 Seiten, für die der Schriftsteller und Historiker Antonio Scurati, der an der Universität in Mailand das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen koordiniert, umfangreiches historisches Material zusammengetragen, gesichtet und ausgewertet hat. Davon zeugt das seitenlange Personenverzeichnis, das all die im Text vorkommenden Zeitgenossen Mussolinis auflistet, all die politischen Akteure, neben den Faschisten auch die Sozialisten und Kommunisten, die Liberalen, die Konservativen, sowie die wichtigen Privatpersonen, Unternehmer und Künstler; davon zeugen auch die auf die Ereignisse in den jeweils vorangehenden Kapiteln Bezug nehmenden Quellenauszüge — geheime Telegramme, Auszüge aus Zeitungsartikeln, parteipolitische Reden oder Direktiven, private Briefe usw. –, die in Kombination mit dem Erzähltext, der die wechselnden Perspektiven der fiktionalisierten historischen Figuren — am häufigsten Mussolini selbst — einnimmt, ein differenziertes und spannungsreiches Bild der Zeit und der Gesellschaft hervorbringen.

Spannung und Konfliktpotential erhält der in unaufhaltsamer Chronologie voranschreitende Roman, indem er die Dynamik des gar nicht so reibungslosen, aber letztlich nicht zu bremsenden Aufstiegs des faschistischen Duce nachzeichnet, der ein ebenso großer Taktierer wie Frauenheld war, die Geliebten wie die politischen Verbündeten nach Bedarf auswechselte, die schmutzige Seite der Gewalt zwar verachtete, aber sich zunutze machte, den ein unbändiger Wille, voranzukommen, leitete, der zugleich aber immer wieder auch seine schwachen, verzweifelten, wütenden Momente hatte, die nur seine engsten Vertrauten mitbekamen.

Auch wenn der Roman erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzt, erfahren wir von Mussolinis Herkunft aus einfachsten Verhältnissen; er war der Sohn eines Schmieds, arbeitete in jungen Jahren als Grundschullehrer, wurde dann Journalist und leitete die sozialistische Zeitung Avanti!, ehe er, da er sich auf die Seite der Interventionisten schlug, aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen wurde und seine eigene, faschistische Zeitung, Il popolo d’Italia, gründete. Enttäuschte Kriegsheimkehrer um sich scharend rief er in Mailand den ersten faschistischen Kampfbund ins Leben, dem in ganz Italien nach und nach weitere regional organisierte Kampfbünde folgen sollten. Obwohl die Ausbreitung des Faschismus anfangs eher schleppend verlief und die sich formende Bewegung immer wieder Rückschläge gegen die Sozialisten einstecken musste, war aufgrund der stetigen Befeuerung der Gewalt irgendwann der Punkt erreicht, an dem Mussolini die faschistischen Geister, die er rief, schließlich kaum mehr zügeln konnte. Da er sich aber unbedingt politisch etablieren, das Parlament gewissermaßen faschistisch infiltrieren wollte, um es von innen heraus zu zersetzen, verfuhr er immer zweigleisig: Er verhandelt mit den Regierungsparteien, schmiedet Bündnisse und geht scheinbar Kompromisse ein, um die politischen Gegner zu beschwichtigen, und stachelt im Hintergrund heimlich eben die Squadristen an, deren Gewalt er zu besänftigen verspricht, was ihn auch selbst immer wieder in Bedrängnis bringt. Denn so einschüchternd die Drohkulisse ist, die er mit den Kampfbünden aufbaut, so schwer ist es auch, sie im richtigen Moment wieder zu kontrollieren und die einmal entfesselten, taktisch irgendwann nicht mehr erwünschten gewaltsamen Ausschreitungen einzudämmen. Er spielt ein gefährliches Spiel, das er nach der eindrucksvollen Farce des Marsches auf Rom und der anschließenden kritischen Regierungsübernahme zwar knapp gewinnt, das aber ein ohnehin schon in Unruhe befindliches Land in einen fortgesetzten bürgerkriegsähnlichen Zustand versetzt und viele Hunderte Menschenleben kostet. Es ist entsetzlich, als ohnmächtiger Leser den unumkehrbaren Lauf der Geschichte mitzuerleben und zu beobachten, wie die schrecklichen Lynchmorde und Gewaltausbrüche der Faschisten die Gesellschaft zwar in Grauen versetzen, die Mehrheit der politischen Akteure aber dennoch bereit sind, mit ihnen zu koalieren und Mussolini den Weg an die Macht zu ebnen.

Giolitti hat einen eigenen Plan: Die faschistische Ungesetzlichkeit, die er für vorübergehend hält, zügeln, indem man sie auf den Boden der Verfassung zwingt. Mussolini hat einen Gegenplan: Unordnung schüren, um zu zeigen, dass er der einzige ist, der die Ordnung wiederherstellen kann. Die Squadristen mit der einen Hand antreiben, um sie mit der anderen Hand zu zügeln. (…) Selbstverständlich halten sich die Squadristen nicht an die Spielregeln. Sie sind vehement antiparlamentarisch.

Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Unter den unzähligen, fast immer sehr lebensecht gezeichneten historischen Figuren stechen einige besonders heraus: Der fanatisch-überschwängliche, immer wieder dem Wahnsinn nahe Dichter Gabriele d’Annunzio etwa, der im Zeichen des Irredentismo, des italienischen Nationalismus, monatelang die letztlich vergebliche Besetzung der heute kroatischen Stadt Fiume (Rijeka) mit den ihm ergebenen präfaschistischen Arditi des Ersten Weltkriegs aufrechterhielt, bis er — stets zwischen blutigem Heroismus und Lächerlichkeit pendelnd — in Folge internationalen Drucks von der italienischen Armee wie ein räudiger Hund aus seinem chaotischen Traum eines ihm untergebenen italienischen Fiume verjagt wurde und dennoch weiterhin für einen Teil der Faschisten eine wichtige Identifikationsfigur blieb. Oder der überzeugte Sozialist Giacomo Matteotti, einer der wenigen Sympathieträger der Geschichte, der sein privates Glück dem gewaltlosen Kampf für den Sozialismus und gegen die Faschisten opfert — wovon auch der berührende Briefwechsel mit seiner intelligenten Frau Velia Zeugnis ablegt –, der schließlich in der gespaltenen linken Parteienlandschaft, die dem Faschismus nicht mehr viel entgegenhalten kann, wie ein letzter Fels in der Brandung seiner ethischen Verantwortung als Parlamentarier gerecht zu werden versucht und beflissen, fast schon obsessiv Beweismaterial sammelt, um die ungebrochene Gewaltsamkeit und Korruption der faschistischen Partei ans Tageslicht zu bringen. Eine einprägsame Figur ist auch Margherita Sarfatti, die um einige Jahre ältere Dauergeliebte Mussolinis, die ihn von Beginn an unterstützt und umsorgt, ihm nicht nur die Leidenschaft für die Luftfahrt einimpft, sondern ihm auch Nachhilfe in Kunst und intellektueller Bildung gibt und dank ihrer Kontakte die Idee des Faschismus auch in den höheren gesellschaftlichen Kreisen salonfähig macht.

Wenngleich die Politik im Zentrum des Romans steht, geht Scurati auch der Psychologie des Faschismus und seiner Gegner auf den Grund, lässt persönliche Charakterzüge seiner Protagonisten zu Tage treten und schildert die sozialen Milieus, in denen sie sich bewegen. Die Stimme des sich mit persönlichen Wertungen zurückhaltenden Autors scheint dabei immer wieder indirekt über das von ihm häufig eingesetzte Stilmittel der Metapher auf.

An der Wertpapierbörse der Habenichtse wird jetzt das Schwermetall Angst gegen die hoch im Kurs stehende Währung tödlicher Hass getauscht. Hasserfüllte Kleinbürger: Aus ihnen wird ihre Armee bestehen. (…) Alles Leute, die bin in ihr Innerstes von dem unbändigen Wunsch erfüllt sind, sich einem starken Mann zu unterwerfen und zugleich über die Wehrlosen zu herrschen. (…) Wer nur sind diese Leute? Wo hatten sie sich bis gestern verkrochen? (…) Der Krieg hat ihnen keine Wiedergeburt beschert, sondern sie nur sich selbst zurückgegeben und zu dem werden lassen, was sie bereits waren. Vielleicht ist der Faschismus nicht der Wirt dieses sich ausbreitenden Virus, sondern der Gast.

Antoni Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Auch wenn man keine direkten Parallelen zu heute ziehen mag, da sich unsere Gesellschaft in einer ganz anderen Ausgangslage befindet als das traumatisierte Nachkriegsitalien 1919 und unsere parlamentarischen Institutionen bis jetzt noch tief in der Verfassung verankert sind, stellt sich mitunter ein mulmiges Gefühl beim Lesen ein. So ruft einem die Lektüre immer wieder in Erinnerung, dass die Pfeiler der Demokratie nicht gegen jeden Angriff gefeit sind, dass eine Gesellschaft, die den Zusammenhalt verliert, anfälliger ist für antidemokratisches Denken, und wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Denn der Schritt von hasserfüllten Parolen zu handgreiflicher Gewalt ist kein überraschender, das Eingehen von Kompromissen mit antiparlamentarischem, rechtem Gedankengut kann zum Verhängnis werden ebenso wie das Spiel mit der Angst der Bevölkerung; Angst ist ein schlechter Ratgeber und doch lassen wir uns, durch emotionale Berichterstattung und Kommentierung in Echtzeit befeuert, oft von ihr steuern und rufen auch um den Preis der Freiheit nach mehr Sicherheit. Auch der Ruf nach dem starken Mann ist keineswegs aus der Welt. Weil große Teile der Bevölkerung von der Farb- und Ideenlosigkeit der alten Parteien und Politiker frustriert waren, drang der Populismus und Aktionismus des Jahrhundertsohnes Mussolini zu ihnen durch, die Massen waren

hingerissen von diesem neuen Politiker, der von der Straße und von unten kommt und mit dem Volk auf Tuchfühlung bleibt, herausfordernd, verfemt, unverfroren (…). Egal, wohin er geht, die Menge draußen auf dem Platz umringt ihn und schließt ihn in die Arme. Da ist er. Der neue Mann (…). Gegen ihn erscheinen die Politiker des alten Italien, die, mehr tot als lebendig, noch immer mit abgedroschenen Parlamentsfloskeln um sich werfen, wie Schattengestalten aus der grauen Vorzeit. Da ist der starke Mann, der Mann der physischen Stärke — eine andere gibt es nicht –, der Mann der Gewalt, die er besänftigen wird, der Mann der Grausamkeit, die er zähmen wird, der Mann des Kampfes, den er beenden wird.

Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Und schließlich kann auch politisches Desinteresse gefährlich sein, das auch heute durchaus im Bereich des Möglichen liegt, in Form der Abwehr einer als unerträglich empfundenen Überforderung durch die rasante Geschwindigkeit und immer schwerer zu durchschauende Komplexität unserer vernetzten Welt:

Das Land ist müde, verbraucht, am Boden. Es träumt davon, sich auszuruhen, es träumt einen traumlosen Traum, einen Traum von Einfachheit. Das Land ist müde, und genau deshalb ist er (Mussolini) unermüdlich. (…) Die öffentliche Rede taugt nicht mehr, um ins Fleisch zu dringen oder wenigstens am Lack zu kratzen. Je länger der Schatten der Diktatur wird, desto mehr zieht sich das Leben ins Private zurück.

Antonio Scurati, M. Der Mann des Jahrhunderts

Wenn man sich von der schieren Textmenge und dem nicht allzu leichten historischen Stoff nicht einschüchtern lässt, lohnt es sich unbedingt, sich dieses Jahrhundertbuch zu Gemüte zu führen. Ich werde auf jeden Fall die Fortsetzung lesen, die in Italien im Herbst und auf Deutsch dann wohl im nächsten Jahr erscheinen wird, und erwarte sie mit mulmiger Spannung…

Bibliograhische Angaben
Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts, Klett-Cotta (2020)
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
ISBN: 9783608985672

Bildquelle
Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts
© 2020 Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

bookmark_borderZum Welttag der Poesie, ein melancholisches Frühlingsgedicht

Menschentrauben, geschrumpft zu Rosinen
Die Natur atmet auf
Man hört das Summen der Bienen
Ein Jogger – noch – in seinem einsamen Lauf

Keine zertretenen Halme, die Vögel nisten in Ruh‘
Die Natur atmet ein
Kaum einer sieht ihr mehr dabei zu
Unsere Luft zwischen den vier Wänden ist rein

Wir bleiben rücksichts- oder angstvoll im Haus
Begrenzen unsere Freiheit aufs Virale
Die Natur atmet aus
Uns bleibt der stumpfe Abglanz des Lebens: das Digitale

Wie lange trägt die Erinnerung, wovon zehrt die Imagination
Wenn die Sinne sich nicht mehr frei bewegen
Woher kommen Menschlichkeit und Inspiration
Die nicht virtuell sind, sondern duften, sich lebendig regen!

Die Natur braucht uns nicht
Aber wir brauchen den Atem der freien Natur
Die Begegnung, das gemeinsam gelesene Gedicht
Wir atmen ein, wir atmen aus – und kommen aus der Spur.

Lisa Evertz, 21.3.2020

bookmark_borderCécile Wajsbrot: Zerstörung

Zwei gegensätzliche Gefühle durchfahren einen bei der Lektüre dieses unheimlich eindringlichen bzw. unheimlichen und eindringlichen neuen Romans der Französin Cécile Wajsbrot: der mehr als beunruhigende Schauder, dass diese Dystopie einer jede Erinnerung auslöschenden, Reflexion und Komplexität durch Unterhaltung und banale Eindeutigkeit ersetzenden Diktatur im Paris des 21. Jahrhunderts sich als Folge von Entwicklungen darstellt, die wir Leser selbst in unserer unmittelbaren Gegenwart wahrnehmen können, sowie das ehrfürchtige und hingerissene Staunen angesichts der Poesie und metaphernreichen Vielstimmigkeit der Sprache, die all die Zwischentöne kunstvoll heraufbeschwört, die in der fiktionalen Realität des Romans in Auflösung begriffen, der titelgebenden Zerstörung anheimgefallen sind.

Form und Inhalt greifen in diesem poetischen Meisterwerk ineinander. Das Thema des Romans spiegelt sich in der Erzählsituation, die bis zuletzt von Ambivalenz (bzw. Polyvalenz) durchdrungen ist. Mysterium und Zweifel sind dem allmählichen Verstehensprozess eingeschrieben, Hoffnung und Misstrauen wechseln einander ab. Die Erzählerin, oder besser Sprecherin, ist eine namenlose Frau, Schriftstellerin und Literaturliebhaberin, die allein in einer Pariser Wohnung lebt. Eine mysteriöse Organisation, die ihre Ziele geheimhält, hat sie telefonisch kontaktiert. Sie lässt sich rekrutieren, getrieben vom „aufrichtigen Wunsch, zu widerstehen, de[m] Wunsch, etwas zu teilen…“ (Zerstörung, S. 35) Denn Paris, ja ganz Frankreich, wurde von einer diktatorischen Macht usurpiert, die schleichend die Herrschaft ergriffen hat und nun das öffentliche und private Leben der Menschen immer weiter kontrolliert, überwacht, einschränkt, bereinigt. Persönliche Bilder werden beschlagnahmt, Bücher eingezogen, Namen getilgt, die Erinnerung an alles, was älter als zehn Jahre ist, ausgelöscht, das Stadtbild verändert, Häuser abgerissen, Museen, Theater und Bibliotheken gesperrt. Durch diese Bilder fühlt man sich unweigerlich an die Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts erinnert; droht sich hier die überwunden geglaubte Geschichte alptraumhaft zu wiederholen?

Die massive Zerstörung der traditionsreichen Stadt, ihre Verwandlung in eine einzige Baustelle, die ihren Bewohnern den Boden unter den Füßen entzieht, ist eine eindringliche Metapher, die das Bild des porösen, brüchigen, immer mehr Leerstellen und Abwesenheiten schaffenden Untergrunds mit dem fortschreitenden Verlust des kollektiven und individuellen Gedächtnisses zusammenbringt. Die andere Metapher, die das Buch leitmotivisch durchzieht, ist die der Sonnenfinsternis, die auch mit dem Raum der Nacht verschmilzt, aus dem heraus die Erzählerin spricht:

Ich bin in der Nacht — nicht nur in der mich umgebenden, die Sie gerne als einzigen Rahmen meiner Nachrichten sehen möchten (…), sondern auch in jener inneren, die meine sämtlichen Gedanken einhüllt.

Zerstörung, S. 31

Denn akustischen Kontakt zu ihren Auftraggebern hat sie nur des Nachts; der Kern ihres Daseins hat sich in die Dunkelheit verlagert, wenn sie über das Medium eines „Soundblogs“ eine Art Stimmen-Collage quasi ins Nichts hinein entstehen lässt. Dabei vermischt sich ihre eigene Stimme — suchend, fragend, zweifelnd, sich widerspenstig erinnernd — mit den Stimmen anderer namenloser Menschen, deren Gespräche sie aufgenommen und in ihren Text integriert hat. Dieses Sprachmaterial soll roh und unbearbeitet, nicht schriftlich fixiert und literarisiert sein, und bringt doch eine sehr literarische, ästhetisch-philosophische Textform hervor, die uns extrafiktionaler Leserschaft im zum Glück noch nicht verbotenen Medium Buch vorliegt. Allerdings ist man als Leser sehr versucht — und sollte sich unbedingt versuchen lassen –, sich den Text laut auf der Zunge zergehen zu lassen, erinnert die Form doch immer wieder an ein langes Prosagedicht.

Die Erzählerin erlaubt sich immer wieder kleine Akte des Widerstands gegenüber ihren Auftraggebern; so reist sie etwa unangekündigt nach Berlin, in dem noch kein diktatorischer Umsturz stattgefunden hat, vielleicht, weil hier die Erinnerung an die überwundenen Diktaturen der Nationalsozialisten und der DDR noch nicht ausgelöscht wurde? Dennoch kehrt sie in die Unfreiheit ihres eigenen Landes zurück, in banger Erwartung, am Widerstand teilnehmen zu können; und tatsächlich scheint die Widerstandsbewegung allmählich aus der Sonnenfinsternis herauszutreten, als stumme Menge, die ihr einvernehmliches Schweigen als womöglich einzig wirksame Waffe gegen die lärmende Diktatur einsetzt. Doch ist dieser von der ominösen Organisation diktierte Widerstand wirklich ein Widerstand, oder nur ein riesengroßer Fake, mit dem im Gegenteil jeder weitere Widerstand gebrochen wird?

Die große Faszination des Textes, seine poetische Kraft, beruht in der verdichteten Sprache, die niemals eindimensional ist, die Kehrseite eines Wortes immer mitassoziiert und viele weitere Schattierungen mitdenken lässt. Wenn etwa von den körperlosen Stimmen die Rede ist, die in der neuen Welt der Erzählerin bedeutsam sind, wird das mythologische Bild des in die Unterwelt hinabsteigenden Aeneas heraufbeschworen, und mit ihm der Tod, aber auch die Kraft des Gehörten, das frei von der sensationsheischenden Ebene des Visuellen ist; doch ebenso klingt in der Körperlosigkeit immer wieder auch die Entpersönlichung und Entmenschlichung, die Technisierung der Welt an. Ebenso zwiespältig ist die Anweisung der körperlosen Auftraggeber, die sich einen spontanen, ganz auf die Gegenwart gerichteten, vom Ballast der Tradition und der Künstlichkeit des Schriftlichen freien Text von ihr wünschen. Geht es ihnen um Befreiung oder nicht doch um Bereinigung? Entsteht so die Aufrichtigkeit des nackten, ungeschliffenen Gedankens oder eine ephemere, dem sofortigen Vergessen ausgelieferte Mündlichkeit, ein gedächtnisloser Abgrund, in dem wir uns verlieren?

Unbestreitbar ist, dass sich die Erzählerin trotz oder gerade durch den beengten Rahmen, der sie ganz auf sich selbst zurückwirft — „hier, in dieser Nacht, in der ich mit dem Widerhall meiner eigenen, wieder anders klingenden Stimme konfrontiert bin“ (Zerstörung, S. 98) –, auf das Wesentliche konzentriert und einen neuen und unverstellten Blick auf die Dinge freilegen kann. Und dabei spielt die allseits bedrohte und verpönte Erinnerung eine zentrale Rolle:

Die Menschen, die ich befrage (…) sind genauso verloren wie ich. Und in ihrem Verlorensein greifen sie oft auf die Vergangenheit zurück, auf ihre Erinnerungen. (…) um sich zu vergewissern, dass sie wirklich existieren.

Zerstörung, S. 54 f.

Die Stimmen, die sie aufnimmt und in ihre eigenen Gedanken einbaut, sind Stimmungs- und Diskursbilder des frühen 21. Jahrhunderts, und legen somit Zeugnis ab von einer Zeit, die unsere Gegenwart ist:

— Schließen.
— Davon war die Rede.
— Das Wort war allgegenwärtig.
— Die Grenzen.
— Die Türen.
— Sicherheit.
— Vorgeschobene Riegel.
— Schließen.
— Die Sache war allgegenwärtig.
— Aber man nannte sie In-den-Griff-Bekommen, Misstrauen.
— Und man sprach nicht von Intoleranz.
— Man sprach von Achtung.
— Achtung der Gesetze, des Rechts, des Territoriums.
— Nie der Person.

Zerstörung, S. 75

Stets ist diesen Stimm-Collagen eine hinterfragende, kritische Stimme eingeschrieben. Sie zeigen die Suggestions- und Manipulationskraft bestimmter Worte; verkümmerte, sinnentleerte, gewaltsame Parolen werden durch die stilistischen Operationen der Autorin als solche entlarvt und in ein vielschichtiges Klanggebilde eingebettet, das die hinter den vereinfachten Worthülsen und Slogans sich verbergenden Problematiken durchscheinen lässt. Jedoch ist dieses Unterfangen ein Wettlauf gegen die Zeit; die Distanz zwischen der Vergangenheit, welche die Stimmen evozieren, an die sie sich noch erinnern können, und der sich unaufhaltsam verabsolutierenden Gegenwart, die gedächtnislos in eine gewichts- und gesichtslose Zukunft steuert, nimmt immer mehr ab.

Die Erzählerin erkennt in diesen Diskursen, die unserer eigenen Gegenwart so unheimlich ähneln, im Nachhinein Symptome oder Zeichen, die die Zerstörung vorbereitet haben. Es geht um das Ausspielen der Sicherheit gegen die Freiheit, um Polarisierung, Gewalt, um Oberflächlichkeit und den Wunsch nach Vereindeutigung, um Rankings und Akkumulation statt Ästhetik, Reflexion und Komplexität, um steigendes Misstrauen, sinkende Solidarität, Beziehungslosigkeit und Virtualität:


— Man glaubte, mit der ganzen Welt in Kontakt zu sein. (…)
— Während man sich doch immer mehr hinter seinen Bildschirmen isolierte.
Abschirmte.

Zerstörung, S. 156

Im Unterschied zu den Stimm-Kompositionen der Erzählerin ist das Stimmengewirr der virtuellen Netzwerke ein akkumuliertes Chaos, das zwar allerhand Warnungen hervorstieß, die man in dem dabei entstehenden Lärm jedoch nicht mehr wahrnahm. Es gab keine reflexive Distanz mehr, „so dass schließlich der Kommentar unmittelbar auf das Geschehen folgte, quasi gleichzeitig eintrat“. (Zerstörung, S. 188) All das schuf eine Atmosphäre der Zerstörung, die schließlich in der dystopischen Situation mündete, die in der Gegenwart des Romans längst eingetreten ist.

Auch wenn es ihr zunehmend schwerer fällt, schreibt bzw. spricht die Erzählerin gegen das Vergessen an und setzt auf diese Weise einen Verstehensprozess über die Frage in Gang, wie sich die Diktatur etablieren konnte und nach welchen Prinzipien sie funktioniert. Selbstkritisch hinterfragt sie auch ihr eigenes Verhalten und erkennt, dass sie zu leichtfertig war, auch in ihrem früheren Schreiben. Ihr Stil ist jetzt ein anderer, beim Sprechen, aber auch bei ihren neuen Schreibversuchen. Immer wieder schleicht sich auch ein Gefühl der Ohnmacht ein, steht die Frage im Raum, wann die Kräfte des Widerstands aufgebraucht sind, wie lange eine Extremsituation der Bedrohung und Ungewissheit den Einzelnen über sich selbst hinauswachsen lässt und wann sie ihn zerbricht. Mögliche Antworten findet man in dem im Roman omnipräsenten Kontext der Literatur(geschichte), aus der sich erhellende oder ermutigende Vergleiche schöpfen lassen. Solange man sich an die düsteren Zeiten, die bestimmte Literatur verboten, zensierten oder verbrannten, noch erinnert, kann man sich auch Beispiele von Schriftstellern ins Gedächtnis rufen, die trotz dieser Schikanen weiter geschrieben haben, von verfemten Werken, die sich einen festen Platz im Geist ihrer künftigen Leserschaft erobert haben. Zudem ist die Fiktion der Ort, an dem man über die Wirklichkeit hinausgehen kann:

— (…) Warum sollte man sich für Geschichten interessieren, die es nicht gibt, für Ereignisse, die nie passiert sind?
— Weil sie manchmal mehr Existenz haben als die, die passiert sind.

Zerstörung, S. 41

Die Literatur, so lautet vielleicht die zentrale Botschaft des Romans, ist wie die Erinnerung unabkömmlich für den Fortbestand einer Gesellschaft. Gedächtnis, Tod und Imagination sind dabei eng miteinander verwoben:

Auf Friedhöfen ist das Denken freier. (…) wo das Erinnern erlaubt ist, geht der Geist auf Reisen.

Zerstörung, S. 125

Hier ist Cécile Wajsbrot — Tochter polnischer Juden, die während des Nationalsozialismus nach Frankreich geflohen waren, der Vater kam in Auschwitz um — auch geprägt von ihrer eigenen Geschichte. Erinnerungsarbeit und der Umgang mit den Traumata der Geschichte sind Themen, die sie bereits in ihren Vorgängerromanen behandelt hat. In vielem erinnert auch das lyrisch-romaneske Ich ihres neuen Romans an die Autorin, die Komparatistik in Paris studierte, u.a. als Rundfunkredakteurin arbeitete und sich heute als Übersetzerin, Romanautorin und Essayistin dem Lesen und Schreiben widmet.

— Die Ereignisse wiederholen sich nicht.
— Oder vielmehr, ihre Form verändert sich, sodass sie nicht wiederzuerkennen sind.
— Oder vielmehr, man erkennt sie wieder — wenn es zu spät ist.

Zerstörung, S. 3

Der Roman mit seinem offenen, aber beunruhigenden Ende wirft viele Fragen auf, auch die nach der Verantwortung:

Wir dachten, die Dinge stünden schlecht, taten aber, als stünden sie gut, und waren anschließend erstaunt, dass sich nichts änderte.

Zerstörung, S. 85

Unsere Demokratie und unsere Freiheit haben keine Ewigkeitsgarantie, und ihre Unterhöhlung ist ein schleichender Prozess. Umso wichtiger ist es, auf die kleinen Diskrepanzen und Misstöne zu achten, um nicht irgendwann überrumpelt zu werden. Gerade das Feld der Sprache sollte man nicht unterschätzen. Worte können eine performative Kraft entwickeln, im Guten wie im Schlechten, und in der Ausdrucksweise spiegelt sich auch das gesellschaftliche Bewusstsein einer Gesellschaft:

— Endlich äußern wir uns.
— Ohne Filter.
— Also ohne nachzudenken.
— Lassen freien Lauf.
— Dem Hass.
— Dem Groll.
— Dem Offenkundigen.
— Das tut gut.
— Es ist befreiend.
— Wir meiden komplizierte Wörter. (…)

Zerstörung, S. 147

Einer solchen Verarmung und Verrohung der Sprache, die wir als „hate speech“, in Form der enthemmten Beleidigungen und vorschnellen Urteilsbildungen der sozialen Medien längst kennen, setzt die Autorin ebenso wie ihre Erzählerin die reflektierte, vielstimmige Poesie ihrer eigenen Sprache entgegen — eine résistance poétique:

So sprachen sie nicht, sie drückten sich einfacher aus, aber ich will ihre Worte hier nicht wiedergeben, ich lehne es ab, mich von ihrer Sprache anstecken zu lassen. (…) Hinter den besänftigenden Worten kam der Hass zutage, hinter den einvernehmlich gewordenen Ideen tauchte ihr ursprüngliches Ansinnen auf — die Zerstörung. (…) Ich habe angefangen zu schreiben (…), und ich lasse mich mit Genuss in die Windungen der Sprache gleiten, die von den Schriften der Vergangenheit genährt sind.

Zerstörung, S. 66-69

Cécile Wajsbrot: Zerstörung, Wallstein (2020)
Aus dem Französischen von Anne Weber
ISBN: 9783835336100

bookmark_borderEspen Dekko: Sommer ist trotzdem

In sehr zarter, sensibler Sprache entwirft der norwegische Kinderbuchautor, Geschichtenerzähler und Puppenspieler Espen Dekko den komplexen Horizont eines Kindes, dessen Welt durch einen schweren Verlust durcheinander geraten ist, und verfolgt das Auf und Ab der Gefühle, das Reifen der Gedanken ebenso wie die nicht nachlassende Neugier auf das Leben, die sinnstiftende Freude an der Natur und dem Zusammensein mit Menschen, denen man vertraut.

Er zeigt auf meinen Ellenbogen. Er blutet immer noch. Opa holt ein Taschentuch aus der hinteren Tasche seiner Latzhose. Er fragt nicht, was passiert ist. (…) Als er fertig ist, pustet er noch drei Mal auf meinen Ellenbogen. Das macht er immer, wenn ich mich verletzt habe. Jetzt glaube ich, dass es ein bisschen länger dauert, bis alles wieder heil ist.

Espen Dekko: Sommer ist trotzdem

Die Ich-Erzählerin ist ein kleines Mädchen, das seinen Vater durch eine schwere Krankheit verloren hat und den Verlust noch lange nicht bewältigt hat. Den Sommer verbringt sie wie jedes Jahr bei den Großeltern am Meer, doch auch wenn sie mit Oma und Opa im eisigen Meerwasser herumplantscht, die Oma ihr liebevoll Zöpfchen flicht und der Opa sogar mit ihr zum Walebeobachten auf die See hinausfährt, irgendwie ist dieses Mal alles anders. Ein mulmiges Gefühl drängt sich immer wieder auf, auch wenn es gerade noch wunderschön war. Sie entdecken einen kranken Wal, den es an Land geschwemmt hat, und dann gebiert die schwangere Katze Mim auch noch zwei tote Kätzchen. Tod und Verlust lassen sich nicht verdrängen, doch dem kleinen Mädchen gelingt es, zusammen mit seinen liebevollen und zugleich ehrlichen, die Wahrheit offen aussprechenden Großeltern, die Trauer — zunächst über den Umweg der Tierwelt — durch Rituale des Abschieds Stück für Stück anzunehmen und dennoch zugleich Freude, Liebe und Ausgelassenheit ganz bewusst zu erleben. Schließlich kann das Erwachen aus der behüteten Kindheit auch positive Seiten haben, z.B. wenn man zum ersten Mal allein zum Fischen das Ruderboot benutzen darf.

Ich muss über so vieles nachdenken. Und es wird immer mehr. Gedanken, die nicht verschwinden. Gedanken, die sich festkrallen und nicht lockerlassen. Kann man zu viele Gedanken im Kopf haben?

Espen Dekko: Sommer ist trotzdem

Der Roman ist nachdenklich, aber gleichzeitig auch in doppeltem Sinne aufregend geschrieben — ein Sturm auf dem Meer bildet den spannenden Höhepunkt der Geschichte.

Ein durch und durch lebensbejahender Trauer-, Familien- und Abenteuerroman!

Ab 9 Jahren

Altersempfehlung
Ab 9 Jahren

Bibliographische Angaben
Espen Dekko: Sommer ist trotzdem, Thienemann (2020)
Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
ISBN: 9783522185318

Bildquelle
Espen Dekko, Sommer ist trotzdem
© 2020 Thienemann-Esslinger Verlag

bookmark_borderStefan Weidner: 1001 Buch — Die Literaturen des Orients

Den Nahen Osten assoziiert man ebenso wie den Islam gegenwärtig fast nur noch mit Konflikt, Gewalt und Fundamentalismus. Die Medien sind voller Bilder, die uns den „Orient“, einst ein mythisch aufgeladener Begriff, in dem Märchenhaftes, Poetisches schwang, mehr denn je als anders und bedrohlich zeigen. Dabei hat der sogenannte Orient eine unendlich reiche und vielfältige Literaturtradition, die der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner in seinem neuen Buch mit ansteckender Begeisterung in einem zwangsläufig selektiven, aber fundierten Überblick für uns westliche Leser zur Anschauung bringt.

Trotz Edward Saids Entlarvung des „Orients“ als westliche Projektion verwendet Weidner den Begriff für seine Literaturgeschichte; er geht aber von einem weiten, kulturell-ideellen Orientbegriff aus, der sich seiner kolonialistischen Geschichte bewusst ist. Für Weidner ist der Orient ein „polykultureller Imaginationsraum von beträchtlichem utopischen Potential“. Zu den Literaturen des Orients zählt er die islamisch geprägte Literatur — wohl wissend, dass ein über die Jahrhunderte hinweg immer wieder aufscheinendes Merkmal eben dieser Literatur ihre religionskritische Haltung war –, die sich gerade durch ihre Hybridität auszeichnet. Denn diese orientalische Literatur kennt nicht nur den Koran und Tausendundeine Nacht — bezeichnenderweise ist selbst dieser Text, der Inbgriff des Orientklischees, eine hybride, interkulturelle Erscheinung par excellence, mit indischen Wurzeln und in seiner gängigsten Version auf eine in den Orient rückübersetzte, stark erweiterte Form seines ersten westlichen Übersetzers Antoine Galland zurückgehend –, sondern trägt ebenso mystische Traditionen, zoroastrische, spätantike und hebräisch-jüdische Einflüsse in sich, umfasst das Persische, Arabische, Osmanische und viele weitere Sprachen bis hin zur teilweise in europäischen Sprachen geschriebenen Exilliteratur der Gegenwart. Der Austausch zwischen Orient und Okzident, ihre gegenseitige Prägung und die Kulturtransfers in beide Richtungen sind aus der Literaturgeschichte des Orients nicht wegzudenken.

Da es dem Autor vor allem darum geht, Leselust und Neugier auf ein hierzulande wenig bekanntes literarisches Terrain zu wecken, ist seine Literaturauswahl trotz des gleichzeitigen Anspruchs, einen repräsentativen Überblick zu schaffen, deutlich von seiner subjektiven Leseerfahrung geprägt — er legt uns besonders die Texte ans Herz, die uns als potentielle neue Leser orientalischer Literatur begeistern könnten –, sowie nicht zuletzt von dem, was überhaupt in deutscher Übersetzung verfügbar ist, und das ist nur ein Bruchteil des riesigen literarischen Schatzes, den der Orient bereithält. Doch horizonterweiternd ist die Lektüre von Weidners Buch allemal; wenn man es zuende gelesen hat, muss man sich zum einen fast zurückhalten, nicht gleich einen überdimensionalen Stapel spannender Orientlektüre in der Bibliothek zu bestellen, den man in der vorgesehenen Leihfrist niemals bewältigen könnte, und zum anderen wird einem auf sehr anschauliche, mit konkreten Beispielen unterfütterte Weise bewusst, dass sich Weltliteratur zu keiner Zeit auf den westlichen Kanon beschränken lässt.

Indem wir den verschiedenen Stimmen und Gegenstimmen lauschen, die aus den literarischen Texten des Orients zu ihren Lesern sprechen, sensibilisieren wir unser Verständnis auch für die Konflikte, die diese Region geprägt haben und prägen, für die Risse, die durch die Gesellschaften des Nahen Ostens gehen. Natürlich ist ein Eintauchen in diese Texte nicht immer ohne Hürden möglich und manche, gerade sprachliche, Dimensionen bleiben einem in der Übersetzung oft verschlossen; so ist das Hocharabisch des 7. Jahrhunderts noch heute der geltende Standard für literarische Texte, wenn sich die Autoren nicht bewusst für regionale Dialekte entscheiden, deren Klang in den Ohren arabischer Leser dann freilich eine ganz andere Sprengkraft hat. Doch Weidner liefert dankbarerweise jedesmal ausreichend Hintergrundwissen zu den beschriebenen Büchern mit und schildert literarische, aber auch historisch-gesellschaftliche und kulturelle Traditionslinien und Brüche, die sich in der Literatur widerspiegeln.

Vorgestellt werden die religiösen Texte, insbesondere der Koran und die Hadithe, die Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed, und ihre inhaltlichen und stilistischen Besonderheiten, etwa die Abfassung in Reimprosa, die schriftlicher Fixierung widerstrebende Mündlichkeit und die kaum übersetzbare Vieldeutigkeit der heiligen Texte.

Den weitaus größeren Raum nimmt die vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit verfasste fiktionale Literatur ein, die erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert Fahrt aufnehmende Moderne sowie die jüngsten, die arabischen Revolutionen der 2010er Jahre vorausahnenden oder sie verarbeitenden literarischen Texte. Die vorherrschende Erzählliteratur ist lange Zeit die sogenannte Adab-Literatur, gehobene Unterhaltungsprosa. Demgegenüber galten die bei uns so berühmten orientalischen Märchen aufgrund ihrer mündlichen, vorislamischen Ursprünge als weniger anspruchsvoll. Einen großen Einfluss hatten — und haben ihn bis heute — mystische Dichter wie Ibn Arabi, der in seinem Werk Übersetzer der Sehnsüchte mit der Mehrdeutigkeit des Wortes „Islam“ (dt. „Hingabe“) spielt und eine pantheistisch geprägte Verschmelzung von Erotik und Gottesliebe zum Ausdruck bringt; in Abgrenzung zu seinem dem Sufismus nahe stehenden und überaus beliebten und viel rezipierten Werk hat sich früh die fundamentalistische Strömung des Salafismus herausgebildet. In der Literatur des Mittelalters findet sich aber zum Beispiel auch ein Dichter wie al-Ma’arri, ein Skeptiker des mittelalterlichen Islams und womöglich Vorbild von Dante Alighieri, der 300 Jahre vor dem italienischen Dichter eine sehr humorvolle Jenseitsreise, Paradies und Hölle, verfasste. Das islamische Mittelalter brachte jedenfalls eine große Vielfalt an literarischen Texten hervor, von denen uns viele heute überraschend frech, freizügig und religionskritisch erscheinen. Hervorzuheben ist auch die im Vergleich zur europäischen Literaturgeschichte des Mittelalters bedeutende Zahl an Autorinnen. Eine spezielle Situation herrschte damals außerdem im islamischen Teil Andalusiens, wo hebräisch-jüdische, romanisch-christliche und arabisch-islamische Texte einander begegneten.

In der Neuzeit deutlich mehr rezipiert und übersetzt als die arabische wurde die persische Dichtung, von der Hafis‘ Diwan aus dem 14. Jahrhundert nur ein, wenngleich wohl das dank Goethe bei uns prominenteste Beispiel ist. Die Gedichte wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem österreichischen Orientalisten Hammer-Purgstall recht frei, aber in poetischer Begeisterung übersetzt, von der sich viele Europäer, und nicht zuletzt Goethe, der in der Folge seinen eigenen West-östlichen Divan schrieb, anstecken ließen. Tatsächlich zeigt sich in der persischen Diwan-Dichtung, wie Stefan Weidner schreibt, ein universalisierbarer Islam, der auf einem inneren Gottesverständnis beruht und sein vielgestaltiges Erbe nicht leugnet, sondern stolz ist auf die hybriden Quellen, aus denen er schöpft — und der somit gerade heute ein wertvolles Gegenbild zur Intoleranz fundamentalistischer Religionsausübung ins Gedächtnis rufen kann:

Anders als Gotteskrieger, koranschwingende Demagogen und Selbstmordattentäter ist dieser geistige Islam in den Massenmedien natürlich nicht sichtbar. Wir brauchen dafür die Literatur und das Buch.

Stefan Weidner, 1001 Buch, S. 121

Die orientalische Moderne integrierte schließlich auch die Form des Prosaromans nach westlichem Vorbild in ihre Literaturen, es fanden Umbrüche in der Lyrik statt, die bezeichnenderweise v.a. im heute so zersplitterten Irak wichtige Vorreiter hatten, neue weibliche Stimmen kristallisierten sich heraus, die schreibend ihren Platz zwischen individueller Freiheit und kollektiven Traditionen auszuloten suchen. Überhaupt charakterisiert sich die Literatur des Orients bis heute durch eine literarische Verarbeitung von Gesellschaftskonflikten und bringt das Konkurrieren von Religion, Tradition und Moderne sehr vielschichtig und allzu oft mit — der düsteren Realität geschuldetem — gewaltsamem Ausgang zur Darstellung.

So gelingt Stefan Weidner in Form eines Sachbuches das, was der französische Schriftsteller und Orientalist Mathias Enard mit seinem grandiosen Roman Kompass in der Fiktion unternommen hat: uns den Orient als vielgestaltigen, komplexen, faszinierenden geistigen Raum näherzubringen, Klischees, wie etwa die „Blumigkeit“ oder „Unaufgeklärtheit“ der orientalischen Literatur, als solche zu entlarven und im Gegenteil ihre Vielfalt und unauflösbare Verwebung mit den kulturellen Räumen des Okzidents aufzuzeigen.

Bibliographische Angaben
Stefan Weidner: 1001 Buch — Die Literaturen des Orients, Edition CONVERSO (2019)
ISBN: 9783981976335

Bildquelle
Stefan Weidner, 1001 Buch — Die Literaturen des Orients
© 2019 Edition CONVERSO

bookmark_borderHolly-Jane Rahlens: Das Rätsel von Ainsley Castle

Elizabeth, für ihre Freunde Lizzy, zieht mit ihrem Vater zu dessen Freundin — die zu Lizzys Leidwesen bald seine Frau sein wird — an die schottische Küste. Anstatt sich an der idyllischen Gegend zu erfreuen und das neue Familienleben zu genießen, fühlt sich Lizzy in der neuen Umgebung unwohl, ihrer Stiefmutter in spe begegnet sie mit Misstrauen, merkwürdige Schwindelanfälle setzen ihr zu. Aber dann lernt sie den hübschen Mack kennen und kurz darauf auch Betty, die ihr bis aufs Haar gleicht und eine weniger aufmüpfige, weniger aufgeweckte, weniger belesene, wenngleich sehr sympathische und scheinbar perfektere Version ihrer selbst ist. Unversehens sieht sich Lizzy in ein rätselhaftes und ziemlich gefährliches Abenteuer katapultiert. Sie erhält seltsame, bedrohliche Emails von einem unbekannten Absender, der in ihre geheimsten Gedanken und Gefühle hineinblicken kann, ihr Vater schwebt in Lebensgefahr und Lizzy ist sich nicht sicher, welchem Erwachsenen sie noch trauen kann. Zum Glück stehen ihr mit Mack und Betty zwei treue und mutige Freunde zur Seite, und die drei machen sich auf den Weg durch den Wald zur sagenumwobenen Burgruine, um die drohende Gefahr noch irgendwie abzuwenden…

Die Autorin erzählt ihre etwas andere Abenteuergeschichte lebendig und spannend und aus der erfrischenden Perspektive eines verunsicherten und zugleich mutigen, störrischen und zugleich sensiblen Teenagers. Das Besondere ist, dass der Familien-, Liebes- und Abenteuerroman bald fiktionsironisch gebrochen wird, als sich die drei Figuren wie ein Zitat von Pirandello auf die Suche nach ihrer Autorin machen und eine kleine Deutschstunde in Sachen allwissender und personaler Erzähler in den Roman eingebaut wird, die vielleicht etwas didaktisch daherkommt, aber immerhin wesentlich zur Rettung aus der Gefahr beiträgt. Schließlich bleibt Das Rätsel von Ainsley Castle trotz der nicht ganz überzeugenden Auflösung des Konflikts ein sehr unterhaltsamer Freundschafts- und Abenteuerroman.

Altersempfehlung
Ab 11 Jahren

Bibliographische Angaben
Holly-Jane Rahlens: Das Rätsel von Ainsley Castle, Rowohlt (2020)
ISBN: 9783499217470

Bildquelle
Holly-Jane Rahlens, Das Rätsel von Ainsley Castle
© 2020 Rowohlt Verlag

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