bookmark_borderRobert Seethaler: Das Café ohne Namen

Robert Seethaler widmet sich in seinem neuen Buch wieder ganz den kleinen Leuten, den einfachen Menschen aus dem Volk, den Marktleuten und Fabrikarbeiterinnen, den Obdachlosen, brotlosen Künstlern und Kriegswitwen. Sie alle sind in dieser zarten Erzählung, der die Vergänglichkeit fast auf jeder Seite eingeschrieben ist, Verirrte oder Gestrandete: in einer vergangenen Zeit, dem Wien der 60er, 70er Jahre, und an einem namenlosen Ort, dem titelgebenden Café ohne Namen.

Dieses Café, das Robert Simon, der sich zuvor auf dem Markt mit Gelegenheitsarbeiten verdingt hat, in Erfüllung seines Lebenstraumes neu eröffnet, ist eigentlich kein Café, zumindest nicht im Sinne eines mondänen Kaffeehauses, sondern eher eine kleine bescheidene Wirtsstube mit Sommerterrasse und nur einer Bedienung, der jungen, zupackenden Mila, die vom Land kommt und ihrerseits im Café gestrandet ist, nachdem sie ihre Stelle in der Fabrik verloren hat.

Bescheidenheit und Unaufgeregtheit charakterisieren aber nicht nur die durchaus aufgewühlten und vom Schicksal gebeutelten Hauptfiguren, die mit einer Art radikalen Akzeptanz wie ein moderner Sisyphus ihren Fels immer wieder nach oben rollen und ihr Leben leben, sondern auch den Ton der Erzählung. All die Schicksale, in die man als Leser eintaucht wie in ein unbeabsichtigt belauschtes intimes Gespräch am Nebentisch eines Cafés, berühren in ihrer innewohnenden Traurigkeit, ohne einen jedoch deprimiert zurückzulassen. Denn in fast all diesen so einfachen Leuten, ob derb, skurril, verwirrt, verrannt oder sonstwie versehrt, ahnt man eine „verborgene Zärtlichkeit“, um den treffenden Ausdruck einer der Figuren zu verwenden. Diese ist auch der in ihrer scheinbaren Schlichtheit doch so gefangen nehmenden Schreibweise Seethalers eigen, dessen Erzähler verborgen ist, hinter seinen Figuren ganz zurücktritt, um ihnen momenteweise auf eine doch fast zärtliche Weise nahe zu kommen, ehe er sie wieder in das unaufhaltsame Wirken der Geschichte, in das unerbittliche Räderwerk der Zeit, entlässt.

Bibliographische Angaben
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen, Claassen 2023
ISBN: 9783546100328

Bildquelle
Robert Seethaler, Das Café ohne Namen
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderMartin Suter: Melody

Was für Robert Seethaler das Leben der einfachen, kleinen Leute ist, das sind für Martin Suter die gehobenen Milieus, in denen seine Romane mit Vorliebe spielen. Bei der Schilderung dieser Welten, in denen Champagner fließt, die Anzüge maßgeschneidert sind und die Dialoge elegant, hat Martin Suter sichtlich eine große Freude, genauso wie darin, in diese so geglätteten Oberflächen feine Risse einzuweben, die sich mit Hintersinn füllen lassen.

Auch in Melody werden im Hause, nein, in der Villa des ehemaligen Weltmannes Dr. Peter Stotz edle Tropfen kredenzt, köstliche Gerichte von einer ergebenen italienischen Köchin serviert und die Millionen ebenso wie die edlen Oldtimer an die Erben vermacht. Was außerdem vermacht werden soll, ist die Deutungshoheit über das Leben des in Politik- und Finanzkreisen berühmt und reich gewordenen Dr. Stotz, der kurz vor seinem absehbaren Tod einen jungen Juralangzeitstudenten gegen Kost und Logis und ein immenses Honorar engagiert, seinen Nachlass zu sichten und für die Nachwelt zu ordnen. In vertraulichen Kamingesprächen offenbart er dem jungen Mann nach und nach den Teil seiner Lebensgeschichte an, der in dem zu sichtenden Ordnerchaos eine Leerstelle bleibt — seine große, verlorene Liebe zu einer Frau, die sich Melody nannte, die er in einer Buchhandlung kennenlernte und die kurz vor der geplanten Heirat scheinbar spurlos verschwand. Diese wie ein Feuilletonroman von Kamingespräch zu Kamingespräch fortgesetzte Liebesgeschichte baut Suter als zweite Erzählebene in seinen Roman ein, der natürlich gegen Ende auch noch in eine dritte mündet, in der alle Gewissheiten der ersten und zweiten erschüttert werden. In dem Wein, der im Hause Stotz eingeschenkt wird, liegt weniger die Liebe zur Wahrheit als zur Fiktion, mit der Suter, wie seine immer zwielichtigere Hauptfigur, sein fiktionsironisches Spiel treibt.

Das alles liest sich unbestreitbar süffig wie die Spirituosen in der Villa Stotz, auch wenn mir, im Vergleich mit früheren Romanen wie Elefant oder Small World, ein wenig die thematische Komplexität gefehlt hat. Es ist dann doch eine sehr selbstreferentielle Erzählung geworden, eine Feier der Fiktion, in der Lebenslügen und Liebesfluchten zur intelligenten Unterhaltung der Leser gesponnen werden.

Bibliographische Angaben
Martin Suter: Melody, Diogenes 2023
ISBN: 9783257072341

Bildquelle
Martin Suter, Melody
© 2023 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderTomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben.“ Dieses Du, diese so intime Anrede des Erzählers, die für einen Moment auch etwas Irritierendes hat, als öffne man einen nicht für einen selbst bestimmten Brief, nimmt einen doch von der ersten Seite an gefangen und trägt einen hinein in eine Geschichte, in der Persönliches und Historisches sich auf eben sehr intime Weise miteinander verbinden. Der Erzähler richtet sich, wie im Laufe der Geschichte klar wird, an seinen Geliebten Janusz, und stellt mit dieser zumindest ungewöhnlichen Erzählhaltung eine Reminiszenz an den Autor James Baldwin her — dazu weiter unten noch mehr.

Im Wasser sind wir schwerelos ist der Debütroman von Tomasz Jedrowski, der als Kind polnischer Eltern in Westdeutschland aufgewachsen ist, in Cambridge und Paris studiert hat und heute in Paris lebt. Sein Erzähler Ludwik ist freilich eine fiktive Figur, doch kehrt er mit ihr gewissermaßen zurück in das Osteuropa seiner Vorfahren, in ein Polen, das in den 1980er Jahren einen Kampf zwischen rigoroser kommunistischer Staatspolitik und revolutionärer Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie ausfocht. Im Roman wächst Ludwik in Breslau bei Mutter und Großmutter auf, seine Kindheit ist von Geheimnissen umwoben, wie das heimliche Radiohören zuhause, und von einem tiefen Verlustgefühl geprägt; er wächst ohne Vater auf, die Mutter stirbt früh, sein jüdischer Freund Beniek, in den er sich verliebt, ist eines Tages von heute auf morgen verschwunden; die Zusammenhänge werden Ludwik erst im Nachhinein klar, die Unruhen im Land und die Repressionsmaßnahmen der Partei, für die die jüdische Bevölkerung ein willkommener Sündenbock ist.

Deshalb war Benieks Familie fortgezogen. Nachdem sie weg waren, sprach niemand mehr über sie. An einem Tag ist es dein Land und am nächsten nicht mehr.
Benieks Abreise bedeutete das Ende meiner Kindheit und meines kindlichen Denkens: Es schien, als hätte sich alles, wovon ich vorher ausgegangen war, als falsch erwiesen […].

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Ludwik geht zum Studium nach Warschau, vertieft sich heimlich in die Lektüre von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer und lernt bei einem verpflichtenden Landwirtschaftshilfsprogramm Janusz kennen, der ihn fasziniert und der zugleich ein Seelenverwandter und so anders ist als er. Janusz kommt vom Land und sein größter Wunsch ist es, sozial aufzusteigen und sei es um den Preis der Anpassung an das System, während Ludwik seine Ideale, vor allem seinen Wunsch nach Freiheit, nicht verraten will. Ihre Liebe ist eine Zeit lang leicht und wunderbar, doch der nur schlecht verdrängte weltanschauliche Konflikt kommt an unvermuteter Stelle immer wieder an die Oberfläche. Was Ludwik während seiner Promotion in Warschau erlebt, schürt seine Gewissenskonflikte weiter an; die von oben gesteuerte Ernährungspolitik, die Schlangen vor den Geschäften, der Hunger, der Aufstand der Landwirte, ebenso wie das Versteckspiel seiner Liebe zu Janusz, all das lässt ihn zweifeln, ob es für ihn mit seinem Gewissen vereinbar ist, in einem Land zu bleiben, in dem er sich in jeder Hinsicht verbiegen und verstellen muss. Womit er sich in seiner Doktorarbeit über den schwarzen Schriftsteller Baldwin philosophisch auseinandersetzt, nämlich mit dem Versuch, innerhalb eines repressiven Systems eine äußerste gedankliche Freiheit zu erreichen, erscheint ihm in der eigenen Realität unmöglich.

„Komm mit mir“, flüsterte ich. „Es ist nicht zu spät. Wir könnten gehen, ohne dass jemand davon weiß, über die Berge in die Tschechoslowakei, dann weiter nach Österreich. Dort kennt uns niemand.“
„Wir hätten nichts“, kam es unter deinen Händen hervor. „Wir sprechen nicht die Sprache. Wir wären verloren.“
„Wir wären frei.“
Das Zimmer war so erfüllt von uns, von den geballten Wolken unserer Worte, dem Nebel unserer Gedanken.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Eins mit sich sein, ein Mensch sein, das bleibt im sowjetischen Satellitenstaat eine Utopie für Ludwik. Jedrowski gibt dieser Sehnsucht seiner Hauptfigur mit einer stark verdichteten Schreibweise seines Romans Ausdruck, in einer Art neuem poetischem Realismus.

Ich akzeptierte die Verbindung zwischen der Erde und meinem Körper, ich ließ los, und zum ersten Mal in meinem Leben honorierte ich alles als das, was es war, betrachtete es als Wunder. Ich sah die Erde als Erde, meine Hände als Hände, die Pflanzen, aus denen Samen wuchsen, die anderen um mich herum, alle mit ihren eigenen Rechten, Träumen und Innenleben.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Neben der nur augenblicksweise erspürten Verbundenheit mit der Erde ist auch das Element des Wassers von besonderer Bedeutung für Ludwik. In ihm kristallisiert sich die für den Roman zentrale Metapher der Schwerelosigkeit, die sich wie zur Probe mit den verschiedenen Elementen verbindet.

Ich dachte dann an unseren gemeinsamen Sommer, an die Unbeschwertheit, mit der wir durch den See geschwebt waren. Wenn ich schwamm, löste ich mich im Wasser auf, und aus den Tiefen meiner Erinnerung tauchte etwas in mir auf.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Diese Leichtigkeit im Wasser, das Gefühl von Vertrauen und Freiheit, verbindet er mit seiner früh verstorbenen Mutter, und er erfährt sie erneut, als er Janusz weitab von den anderen in der Hitze des Sommers und der gegenseitigen Anziehungskraft beim Baden im Fluss begegnet. Aber auch die riskante Schwerelosigkeit der herabsegelnden Flugblätter, die er als Akt des äußersten Widerstands, den er im System zu leisten imstande ist, und die betäubende Schwerelosigkeit der Rauschmittel, die er mit Janusz‘ Freunden einnimmt, sind Varianten derselben Metapher.

Schließlich noch ein Wort zur Intertextualität des Romans, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine sprachliche ist. Jedrowski bezieht sich explizit auf James Baldwin, indem er parallel zum Erwachen von Ludwiks Liebe zu Janusz seine intensive Leseerfahrung des amerikanischen Schriftstellers schildert. Die Darstellung einer homosexuellen Liebe in einem feindseligen gesellschaftlichen Umfeld ist teilweise bis in die Details eine deutliche Reminiszenz an Baldwins Roman Giovannis Zimmer (vgl. Rezension vom 09.07.2020). Besonders auffällig ist die in beiden Texten gewählte Erzählsituation eines unmittelbaren Rückblicks, der auf die Du-Form zurückgreift, und mit einer nachdenklichen, selbstbefragenden Schreibweise einhergeht, einer Gewissenserforschung, die einen großen Schmerz bereithält, den Schmerz der Liebe und der Erkenntnis ihrer Ausweglosigkeit in einer als unaufrichtig empfundenen Daseinsform. Auch der poetisch-melancholische Stil, der einen Realismus der Sprache nicht ausschließt, hat mich sehr an Baldwins Roman erinnert, den er zitiert, ohne ihn bloß zu imitieren. Denn Jedrowski gelingt über alle Ähnlichkeit hinaus zum Glück ein eigenständiger Stil, der Im Wasser sind wir schwerelos zu einer neuen und sehr lesenswerten Antwort auf Giovannis Zimmer macht. Hier ein abschließendes Textbeispiel:

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben. Und dennoch hatte ich an jenem Abend Angst, als ich im Bett lag und las […]. Angst wegen des Lochs, das durch mein Vertrauen in dich entstanden war, Angst vor der Verletzlichkeit, die es geschaffen hatte. […] Vor mir lag schwarz auf weiß die Unermesslichkeit der Lügen, die ich mir all die Jahre eingeredet hatte, gespiegelt im Leben des Erzählers, […] als würde meine Scham von einem kalten, klaren Licht beleuchtet. […] Seine Angst schürte meine Angst. Ich war wie David [die Hauptfigur aus Giovannis Zimmer], weder hier noch dort, fühlte mich nirgendwo wohl und sah keinen Ausweg.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Bibliographische Angaben
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos, Hoffmann und Campe (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783455011173

Bildquelle
Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos
© 2021 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

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