bookmark_borderWolf Haas: Wackelkontakt

Franz Escher ist ein Meister im Puzzeln, er macht es nicht unter 500 Teilen, am liebsten hat er 1000teilige Puzzles, deren Bildmotive Werke aus der Kunstgeschichte zeigen. Bei einem aus seiner wahrhaft umfangreichen Sammlung jedoch, der Erschaffung Adams von Michelangelo, fehlt ein Puzzleteil. Nicht etwa, weil Escher es verloren hätte, es wurde aufgrund eines, wie sich herausstellt, seriellen Herstellungsfehlers nur mit 999 Teilen geliefert. Was fehlt, ist ausgerechnet das Nichts. Das entscheidende Puzzleteil zwischen Adam und Gott, der Abstand, die Leere, ein winziges Teil, doch von tragender Bedeutung.

Wolf Haas‘ neuer Roman lässt sich als eine Variation dieses Nichts lesen. Wackelkontakt ist ein Zauberspiel mit der Fiktion, die ja auch ein Kunstwerk sein kann. Hervorgezaubert wird, wie aus dem Nichts, eine wahnsinnig spannende und unterhaltsame und witzige Geschichte.

Zu Beginn wird eine fast Beckett’sche Situation des Absurden evoziert, der Protagonist wartet — nicht auf Gott oder Godot, sondern auf den Elektriker, der einen Wackelkontakt in der Küchensteckdose beheben soll. Auch der Tod bricht unversehens herein — nicht in Gestalt eines metaphysischen Schicksals, sondern in seiner ganzen Absurdität als geradezu kläglich anmutende Folge reiner Physik. Es ist faszinierend, wie es Wolf Haas gelingt, die absurde Banalität einer alltäglichen Situation humorvoll zu fassen und zugleich, von unerwarteter Seite, gleichsam durch die Hintertür, wieder einen kleinen Schimmer metaphysischer Bedeutsamkeit hineinlugen zu lassen, der, ganz bescheiden, wie es dem absurd-weisen Humor des Autors entspricht, fortan über dem gesamten weiteren Verlauf der wendungsreichen Romanhandlung schweben wird.

Franz Escher wartet also auf den Elektriker, und das dauert, wie man das so kennt, wenn man auf den Elektriker wartet. Er liest deshalb ein Buch, genauer gesagt einen Mafiaroman, da er in diesem doch recht speziellen Genre seine zweite Leidenschaft neben Puzzles gefunden hat. Sobald Franz Escher zu lesen beginnt, verschmelzen wir Leser der Geschichte von Franz Escher gleichsam mit dem Leser Franz Escher und tauchen in die Geschichte des italienischen Ex-Mafioso Elio ein, der im Gefängnis auf seine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm wartet, ehe er seine abenteuerliche Reise in ein neues Dasein als der Deutsche Marko Steiner beginnt. So weit, so bekannt: Hier handelt es sich um die nicht ungewöhnliche Technik des Romans im Roman. Doch auch Elio befindet sich in einer quälenden Situation des Wartens, die ihrerseits absurd-komische Züge hat, und auch er liest, um diese Situation zu überbrücken, ein Buch, und zwar ein deutsches Buch über einen, der Escher heißt und auf einen Elektriker wartet. Damit ist eine weitere Treppenstufe der Fiktionsironie erreicht, auf der Wolf Haas von nun an in allmählich gesteigertem, am Ende furios rasantem Tempo, zwischen den Handlungsebenen springend, sie hinterhältig verzwirbelnd, immer weiter klettert, um am Ende… doch dazu später.

Von der pointenreichen, verblüffende Haken schlagenden Handlung soll hier gar nicht mehr verraten werden. Doch, vielleicht noch so viel: Es kommt auch eine Witwe vor, eine junge Witwe. Über das Wort stolpert der Protagonist Franz Escher, der sich als freiberuflicher Trauerredner davon eigentlich nicht aus der Fassung bringen lassen dürfte, immer wieder. Wir erfahren, dass das Wort „Witwe“ eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, bei denen die männliche Form aus der weiblichen gebildet wird, also zur Abwechslung einmal Adam aus Eva erschaffen wird, und von einem althochdeutschen Ausdruck abgeleitet ist, der „Mangel haben“ bedeutet. Der Mangel, das Fehlen, die Leere, auch hier tauchen sie wieder auf, diesmal klar mit Tod und Trauer assoziiert, der metaphysischen Grundierung einer Handlung, die sich ihrerseits permanent in einem Wackelkontakt zwischen Absurdität, Komödie und Melodram befindet.

Überhaupt ist die Sprache auch in diesem neuen Buch des gerne mit Sprache spielenden österreichischen Schriftstellers wieder sehr bedeutsam und Quell zahlreicher komisch-abseitiger Abschweifungen auch von Seiten der Protagonisten, die sich beide durch ihr fast pingelig genaues Sprachbewusstsein auszeichnen. Während Escher über die etymologische Herkunft des Wortes „Witwe“ sinniert oder sich über den aus synchronisierten Filmen übernommenen fragwürdigen deutschen Gebrauch der Wendung „Oh mein Gott“ aufregt, legt der ehemalige Mafioso eine erstaunliche Sprachbegabung an den Tag und lernt mit Engagement und in einem zweiten Schritt auch mit Fingerspitzengefühl die deutsche Sprache, um seine neue Identität glaubhaft zu verkörpern. Den derben Slang, den er sich von einem Junkie im Knast abschaut, verfeinert er später im Privatunterricht bei einer älteren deutschen Dame, um schließlich infolge eines erzwungenen Umzugs nach Österreich sich auch dieser dialektalen Variante gekonnt anzupassen.

Konstruiert ist der Roman, wie bereits angedeutet, wie ein Bild von M. C. Escher, dem niederländischen Künstler und Erschaffer optischer Täuschungen und perspektivischer Unmöglichkeiten. Berühmt ist etwa das Bild einer Treppe, die ein geschlossenes Viereck bildet und doch endlos weiter bergauf zu führen scheint, oder das zweier Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Diese unmöglichen Figuren entstehen durch klitzekleine logische bzw. perspektivische Fehler, ein winziges Detail, das das Irrationale in den Bereich der Wahrnehmung rückt, den Betrachter verwirrt und für einen Moment an die Unendlichkeit glauben lässt. In Wackelkontakt entstehen die unmöglichen Figuren auf narrativer Ebene infolge fiktionsironischer Elemente, die der Autor immer wieder einstreut. Es gibt Doppelungen, Unwahrscheinlichkeiten und kleine Verschiebungen in der Zeit, die mein Literaturwissenschaftlerherz gern mit Beispielen belegen würde, was ich mir in diesem Fall aber verkneife, um denen, die das Buch noch nicht gelesen haben, den Genuss der Überraschung zu bewahren.

Was den Roman zu einem so kurzweiligen und intelligenten Lesevergnügen macht, ist vor allen Dingen der Humor, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig wirkt: auf der Ebene der Figuren, auf der Wolf Haas wieder so eigenwillige und verstockte wie zugleich einfach liebenswürdige Charaktere erschafft, wie man sie aus seinen anderen Romanen kennt; auf der Ebene der Sprache und auf der Meta-Ebene der Fiktionsironie. So wie sich die beiden Handlungsebenen mit den verschiedenen Protagonisten auf einmal ineinander verschränken, verschränken sich in diesem Roman Absurdität und Lebensnähe untrennbar miteinander. Und am Ende dieses Zauberspiels geschehen fast noch Wunder. Die Antwort auf die conditio humana, die in der bedrohlichen Langeweile des Wartens ihre Metapher gefunden hat, ist natürlich der Griff zum Buch, das Lesen, das Eintauchen in die Bildwelten der Fiktion. Auf diese Weise, so staunt man, wird sogar der Tod überwunden — oder ist alles nur ein Zaubertrick?

Bibliographische Angaben
Wolf Haas: Wackelkontakt, Hanser 2025
ISBN: 9783446282728

Bildquelle
Wolf Haas, Wackelkontakt
© 2025 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderSteffen Kopetzky: Monschau

Große Aufregung herrschte 1962 in Monschau, einem kleinen Landkreis in der Eifel: Die Pocken, die man eigentlich aus Deutschland vertrieben glaubte, brachen aus, Monschau wurde „internationales Infektionsgebiet“. Steffen Kopetzky hat während der Corona-Pandemie aus diesem historischen Ereignis einen Roman entworfen, der eine Liebesgeschichte mit einem Stück bundesdeutscher Geschichte verbindet.

Auch wenn es sich mit der durchgehenden Situierung der Handlung in den 1960er Jahren um einen historischen Roman handelt, scheint der Aktualitätsbezug fast auf jeder Seite durch. Zwar handelte es sich bei der Pockenepidemie in der Eifel um einen lokal begrenzten Ausbruch, der aber auch schon infolge der globalen Vernetzung ausgelöst worden war. Im Roman treten Virologen und Dermatologen auf, unter ihnen ein talentierter junger Arzt namens Nikolaos Spyridakis, der aus Griechenland in die Eifel gereist ist, um bei der Eindämmung der Epidemie zu helfen. Er wird direkt im „hot spot“ eingesetzt, in den Rither-Werken in Monschau, einer großen Papierfabrik, eines der vielen an die Erben weitergegebenen Unternehmen, die in der Nachkriegszeit weiter Profite einstrichen. Dort lernt er Vera Rither kennen, die junge Firmenerbin, die der erwarteten Aufgabe, die Fabrik weiterzuführen, widerwillig gegenübersteht.

Diese Ausgangskonstellation verrät bereits, dass sich Steffen Kopetzky vor allem für die mit weitreichenden Konsequenzen verbundene Verknüpfung von Epidemie und Wirtschaft interessiert. Das bald verzweifelte Züge annehmende Krisenmanagement wird hier tatsächlich in erster Linie von Seiten des Unternehmens bestimmt, in einseitiger Rücksicht auf die internationalen Beziehungen und Absatzmärkte. Natürlich ist Vertuschung am Werke, wenn infolge der Ausbreitung der Krankheit, die einer anderen, mit Macht und Geld allein nicht einzudämmenden Logik gehorcht, die Interessen der Wirtschaft in Konflikt mit der Sicherheit der Bevölkerung treten. Kopetzky entwirft darüber hinaus ein Gesellschaftspanorama der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahren und zeigt, wie die Schatten des Krieges noch immer auf die damalige Gegenwart der Nachkriegszeit fielen. Auf Figurenebene steht die junge Generation in klarer Opposition zur alten, noch in den Krieg verstrickten Generation, von der nicht wenige weiterhin so handeln wie zuvor, opportunistisch, auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Das ungleiche Paar Nikolaos und Vera jedoch, die in Paris Journalismus studiert, und ebenso ein allzu neugieriger, nach dem Vorbild von Johannes Mario Simmel gezeichneter österreichischer Reporter, arbeiten der Vertuschung entgegen. Vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation der Epidemie bringen sie Dinge in Erfahrung und ins Rollen, von denen andere sich massiv bedroht fühlen…

All dies ereignet sich während der kurzen, anarchischen Zeit des Karnevals, die man natürlich als Metapher lesen muss. Die karnevaleske Maskierung steht für das Vertuschen, das sie zugleich enthüllt und entlarvt. Verdrängtes, Wildes in den Gefühlen und Verhaltensweisen wird zum Vorschein gebracht, die Hierarchien, die auch nach dem Krieg noch fortdauerten, erschüttert, unten und oben verkehren sich.

In der Hörfassung, gesprochen von Johann von Bülow, bekommen die sich überstürzenden Ereignisse eine zeitlupenartige Langsamkeit, die ein wenig an einen Brecht’schen Verfremdungseffekt erinnert. Von Bülow liest bedächtig und artikuliert, in einer für meinen Geschmack etwas zu gedehnten Sprechmelodie, findet aber einen charakteristischen und beim Hören gut wiedererkennbaren Duktus für jede der Figuren und beherrscht die vielfältigen Akzente und Dialekte, die im Figurenpersonal aufeinandertreffen, vom Bayerischen des Geschäftsführers der Rither-Werke über die rheinische Färbung der Eifel-Bewohner bis zum Österreichischen des Journalisten.

Ob nun gelesen oder gehört: Monschau ist ein Roman, der eine spannende und reflektierte Unterhaltung bietet, der einen kleinen historischen Zeitabschnitt aus der deutschen Geschichte am Beispiel einer fiktionalisierten Extremsituation ausleuchtet und, ohne zum Thesenroman zu erstarren, einige kleine Lichtblitze, etwa zu den Themen Krisenmanagement und Einwanderung, auch auf unsere jüngste Vergangenheit wirft.

Bibliographische Angaben
Steffen Kopetzky: Monschau, Rowohlt Taschenbuch 2022
ISBN: 9783499005671

Hörbuch: Argon Verlag AVE, 2021
Gelesen von Johann von Bülow
ISBN: 9783839818664

Bildquelle
Steffen Kopetzky, Monschau
© 2025 Rowohlt Verlag, Hamburg

bookmark_borderLeon de Winter: Stadt der Hunde

Jaap Hollander, jüdischer Arzt aus den Niederlanden, (ehemaliger) Frauenheld und Meister seines Fachs, der Neurochirurgie, reist alljährlich auf den Spuren seiner Tochter nach Israel, die dort vor inzwischen zehn Jahren verschwunden ist. Seine Frau, die längst seine Exfrau ist, fährt nicht mehr mit, er reist alleine, ein Einzelkämpfer, treu oder verblendet, der hartnäckig an das Überleben seiner Tochter glauben will. Bei seinem diesjährigen Aufenthalt bietet sich ihm eine einmalige und zugleich wahnsinnige Gelegenheit, im Gegenzug für seine chirurgischen Künste eine unglaubliche Summe Geld zu erhalten — mit der er die besten Geologen engagieren könnte, die Schichten der Höhle zu erforschen, in der seine Tochter zusammen mit ihrem Freund verschwunden ist.

Leon de Winter entwirft einen wendungsreichen, spannenden Plot, ein kurzweiliges Spiel mit verschiedenen Bewusstseinsebenen, in denen die Hauptfigur zeitweise sogar mit einem streunenden Hund kommunizieren kann und im Reich der Toten wandelt, doch hinter der Oberfläche guter Unterhaltung verbergen sich tiefere Schichten. Die Geschichte zeichnet im Grunde einen komplexeren psychologischen Verarbeitungsprozess nach. Jaap Hollander kämpft nicht nur mit dem Älterwerden und einer zunehmenden kognitiven Schwäche, was die Erinnerung an fremde Gesichter betrifft — die er sich im Rückgriff auf sein noch immer reiches Gedächtnisarchiv an Filmsequenzen über Vergleiche mit Filmschauspielern einzuprägen versucht. Ihn plagen auch Gewissensbisse verschiedener Art; angesichts der einschneidenden, auch bedrohlichen, sich überstürzenden Ereignisse drängt sich ihm eine reflektierende Rückschau auf sein bisheriges Leben auf. Von zentraler Bedeutung ist darin die Verarbeitung des Verschwindens der Tochter, es geht um Verlust und Trauer, um das langsame und schmerzhafte Sich-Eingestehen von etwas, was er lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Und schließlich geht es auch immer wieder um das Jüdischsein, dem Jaap gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand, während seine Tochter es im jungen Erwachsenenalter auf einmal zu praktizieren begann. Sie bemühte sich, als Vaterjüdin anerkannt zu werden, und war deshalb auch zu ihrer fatalen Reise nach Israel aufgebrochen.

Das Israel, in dem sich Jaap Hollander bewegt, ist das Israel kurz vor dem siebten Oktober, ein Israel mit realistischen und halluzinatorischen Elementen, sogar der israelische Premierminister und ein saudiarabischer Herrscher tauchen auf. Es ist auch ein Israel mit vielen Widersprüchen, die sich im Gegensatz der Landschaften abbilden. In der Wüste, wo die Tochter verschwunden ist, begegnet er auch zum ersten Mal dem Hund, der ihn noch lange verfolgen wird, im modernen Großstadtleben in Tel Aviv löst sich die Privatheit in Öffentlichkeit auf, man kann flanieren oder aber in der protestierenden Menge auf- oder untergehen.

Was auf den ersten Blick wie eine ganz persönliche Geschichte mit Krimi-Elementen erscheint, wie ein privater Prozess von Trauer und Verarbeitung, öffnet sich immer wieder ins Politische. Und wirft einen ebenso kritischen und selbstironischen wie einfühlsamen Blick auf seine Hauptfigur, die in ihrer verzweifelten Männlichkeit letztlich sehr menschlich wirkt.

Bibliographische Angaben
Leon de Winter: Stadt der Hunde, Diogenes 2025
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
ISBN: 9783257072815

Bildquelle
Leon de Winter, Stadt der Hunde
© 2025 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderSally Rooney: Intermezzo

Dass das Leben nicht immer geradlinig verläuft, kann man als Binsenweisheit betrachten. Und dennoch ist es eine Erfahrung, die, obwohl sie sich seit Generationen endlos wiederholt, uns Menschen immer wieder von neuem überrumpelt und deshalb natürlich auch unerschöpflichen Stoff für Romane bereithält. In Widerspruch mit der Gesellschaft, mit einer von außen oder auch selbst gesetzten Moral, mit einer wie auch immer gearteten Normalität zu geraten, ist eine oft konfliktreiche, schmerzhafte Erfahrung, die uns die Romanfiguren nicht abnehmen können. Aber wenn sie literarisch einfühlsam und überzeugend gestaltet sind, fühlt man sich beim Lesen vielleicht ein bisschen weniger allein, als wäre man im Gespräch mit einem guten Freund.

Wie in ihren früheren Romanen erzählt die irische Autorin Sally Rooney in Intermezzo einfühlsam und auch sehr packend von Anziehungskraft, von Verlangen, von Zuneigung jenseits geradliniger, gesellschaftskonformer Biographien. Im Zentrum steht diesmal aber keine Freundschaft, wie zuletzt in Schöne Welt, wo bist du (vgl. Rezension vom 8.2.2024), sondern die Beziehungsgeschichte zweier auf den ersten Blick sehr ungleicher Brüder, Ivan und Peter. Ivan ist Anfang 20, ein eher introvertierter junger Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und mit Leidenschaft und ziemlich viel Talent Schach spielt. Sein deutlicher älterer Bruder Peter ist Anfang 30, ein erfolgreicher junger Anwalt, Gutverdiener, der sich in ganz anderen gesellschaftlichen Kreisen bewegt. Die Handlung setzt ein, kurz nachdem der Vater der beiden gestorben ist. Von Beginn an legt sich der Schatten der Vergänglichkeit über die Beziehungswirren, wodurch einiges Schmerzhaftes anders, melancholischer, auch schärfer, herausgearbeitet wird, als dies in Rooneys Vorgängerromanen passiert ist. Es geht um Trauer, um Verlust, um Verletzungen, und um den Umgang damit. Denn wenngleich Ivan und Peter ein unterschiedlich inniges Verhältnis zu ihrem Vater hatten, wirft die Trauer das Leben und die Beziehungen beider Brüder ziemlich heftig durcheinander, konfrontiert sie mit sich selbst und auch miteinander, mit ihrem seit Jugendzeiten angespannten Verhältnis.

Ivan, der sehr eng mit seinem Vater war, lernt ausgerechnet in der Trauerphase eine Frau kennen, entbrennt in Liebe und muss nicht nur zwei so unterschiedliche wie intensive Gefühlszustände in sich miteinander in Einklang bringen, sondern außerdem damit umgehen, dass diese neue und so leidenschaftliche Liebe auch in anderer Hinsicht Konventionen verletzt. Margaret, so ihr Name, ist deutlich älter als er und hat sich erst vor kurzem von ihrem alkoholsüchtigen Mann getrennt. Mit großem Aufwand versuchen die Liebenden ihre Beziehung, deren Entstehen sie nicht abbremsen können und auch nicht wollen, zu verheimlichen.

Auch Ivans älterer und scheinbar so viel lebenstüchtigerer Bruder Peter hat sein Leben nicht wirklich unter Kontrolle. Seit einem Jahr ist er in einer halboffenen Beziehung mit einer deutlich jüngeren, freizügig lebenden Studentin, Naomi. Da sie einem anderen Milieu entstammt, will es Peter lange Zeit nicht wahrhaben, dass er sich ernsthaft in sie verliebt haben könnte. Die beiden tun so, als hätten sie eine rein sexuelle Beziehung, Peter unterstützt Naomi finanziell und flüchtet sich weiterhin in das Gespräch und in die lang vertraute Nähe seiner Exfreundin Sylvia. Sylvia ist seine große, nie überwundene Liebe, sie hatte vor einigen Jahren einen Unfall mit lebenslangen Verletzungen und anhaltenden Schmerzen, die ihr ein „normales“ (Liebes-)Leben unmöglich machen. Ihre Liebesbeziehung hatte Sylvia damals beendet, trotzdem macht Peter sich noch immer Hoffnungen, dass aus ihrer besonderen Freundschaft eines Tages wieder mehr werden könnte.

Ungeachtet der modern anmutenden äußeren Form der Beziehungskomplikationen, die an Eva Illouz‘ philosophische Analysen von Liebe und Verbindlichkeit im 21. Jahrhundert erinnern, ist Intermezzo im Grunde ein psychologischer Entwicklungsroman. Der Titel spielt auf eine begrenzte, entscheidende Spanne im Leben an, eine Zwischenzeit, in der vieles noch ungeklärt, unausgesprochen, unverarbeitet ist, in der die Figuren, die noch in der Luft hängen, motiviert werden, ihr Leben, wie auch immer, zu gestalten. So begreifen Ivan und Peter allmählich, dass sie nicht glücklich damit werden, wenn sie sich aus dem Weg gehen und hassen, ja, dass die an den Tag gelegte Gleichgültigkeit am Schicksal des anderen nicht ehrlich ist, und dass sie, so schwer es angesichts all der gegenseitigen Verletzungen scheint, aufeinander zugehen wollen, um all das Unausgesprochene endlich zur Sprache zu bringen. Fast schien es mir am Ende des Romans, dass trotz der wirklich innig geschilderten Liebe zwischen Ivan und Margaret die eigentliche Liebesgeschichte diejenige zwischen den beiden Brüdern ist. Von Enttäuschung bis zum Geständnis, von Unsicherheit über Ablehnung, Wut bis zur innigen Zuneigung ist die Geschichte der beiden Brüder voller Emotionen und Projektionen, die sich auf unterschiedliche Weise in den anderen Beziehungsgeschichten spiegeln, die die Autorin um diese zentrale Geschichte herum gruppiert hat.

Der dialogische Stil erinnert übrigens wieder sehr an Rooneys frühere Romane, die Form von Gesprächen mit Freunden, so der Titel ihres ersten Romans, oder wahlweise unter Brüdern oder Liebenden, ist die Ausdrucksweise, die ihr liegt und die es ihr, mit der wechselnden inneren Perspektive der verschiedenen Liebes- und Gesprächspartner, ermöglicht, nicht nur in die Innenwelt der Brüder, sondern ergänzend auch in die der mit ihnen in Beziehung stehenden Frauenfiguren einzutauchen, uns die Ängste, Sorgen, Vorbehalte, Enttäuschungen, Ausflüchte, Sehnsüchte und Wünsche ihrer Figuren so nahezubringen, als wären wir mit ihnen befreundet.

Bibliographische Angaben
Sally Rooney: Intermezzo, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Zoë Beck
ISBN: 9783546100526

Bildquelle
Sally Rooney, Intermezzo
© 2025 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderAudrey Magee: Die Kolonie

In der sehr atmosphärischen Anfangsszene des Romans lässt die irische Autorin Audrey Magee ein kurioses Bild des Aufbruchs entstehen. Ein exzentrischer englischer Maler besteht aus Authentizitätsgründen darauf, mit einem einfachen Fischerboot auf die kleine Insel überzusetzen, auf der er den Sommer verbringen will, um zu malen. Er zeigt sich vor allem besorgt um sein Gepäck, das vornehmlich aus Staffelei und Farben besteht, und trotzt, den Zeichenblock auf dem Schoß, mehr schlecht als recht den Wellen und der Seekrankheit. Dank der Erfahrung der beiden Fischer, von denen der eine nur Irisch spricht, kommen sie nach einer turbulenten Fahrt über das Meer auf der kleinen Insel an.

So wie die beschriebene Eingangsszene erinnert der ganze Roman an eine fortlaufende Gemäldebeschreibung. Wie ein Selbstkommentar werden aus der Perspektive des englischen Malers immer wieder, fast zwanghaft, Bildunterschriften eingefügt, als würde er ununterbrochen malen oder sich zumindest in seiner Umgebung so bewegen, als verwandelte er alles, was in seine Wahrnehmung tritt, in eine gemalte Szene. Genauso wie die lyrischen Kurzzeilen, die das Textbild an einigen Stellen verdichten, lösen sich diese malerischen Einsprengsel nicht aus dem Gesamttext heraus, sondern verschmelzen mit ihm. Zu dieser fließenden sprachlichen Form passt es, dass die Autorin auch viel mit inneren Monologen arbeitet, ohne scharfe Trennung zwischen Gedachtem und Geäußertem. Auch der Übergang der Figurenperspektive ist gleitend, wenngleich die Handvoll Protagonisten durchaus klar voneinander unterschieden wird, jeder Charakter konturiert gezeichnet und vielschichtig ausschraffiert.

Es gibt die irischen Inselbewohner, von denen hauptsächlich eine kleine Fischerfamilie zu den dramatis personae gehört, und die nicht-irischen Gäste oder Eindringlinge. Ein französischer Sprachwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über den Wandel und die Bedrohung der irischen Sprache verfasst, betreibt seit mehreren Jahren Feldforschung auf der kleinen irischen Insel. Als er in diesem Sommer, es ist das Jahr 1979, für seinen fünften Forschungsaufenthalt auf der Insel ankommt, ist er zu seinem Entsetzen aber nicht der einzige. Dass sich der bereits erwähnte englische Maler in diesem Sommer auch dort einquartiert hat, empfindet der französische Linguist nicht nur als eine persönliche Zumutung, sondern vor allem als eine Gefahr für den Fortbestand der irischen Sprache der Inselbewohner, die in Versuchung geführt werden, zu Kommunikationszwecken Englisch zu reden. Auch der Maler, der die Einsamkeit der Insel gesucht hat, um die Küstenlandschaft zu studieren und die Klippen zu malen — oder vielleicht auch nur, um endlich ein Bild zu schaffen, mit dem er seine Frau beeindrucken kann, eine Galeristin, die die avantgardistischere Kunst eines anderen seiner Landschaftsmalerei vorzieht –, ist alles andere als erbaut, als der Linguist in unmittelbarer Nähe zu ihm untergebracht wird. Um ungestört malen zu können, zieht er in eine baufällige Hütte direkt an der Küste. Doch auch dort, wo es weniger romantisch als ungemütlich ist, bleibt er nicht lange ungestört.

Die Streitereien zwischen den beiden Gästen auf der Insel schüren neue Konflikte, auch zwischen den Inselbewohnern, und lassen verborgene zutage treten. Porträtiert, auf mehreren Ebenen, wird in diesem Roman eine durch ein Unglück stark verkleinerte Familie von Fischern über mehrere Generationen: das Studienobjekt des französischen Linguisten, bei denen die Gäste einquartiert sind. James, der jüngste, den der Franzose, ungeachtet der Proteste des Jungen, mit der irischen Namensvariante Seamus ruft, ist zweisprachig. In der Familie spricht er Irisch, Englisch in der Schule, in der er sich als Außenseiter fühlt. Genauso wenig wohl fühlt sich James allerdings mit der Perspektive, in der Tradition seiner Vorfahren ein Fischer zu werden; er weigert sich aufs Meer hinauszufahren und fängt lieber Kaninchen. Seine Mutter ist eine schöne, noch junge Witwe, die in der Aussich lebt, irgendwann eine alte Witwe zu werden, wie ihre Mutter, James‘ Großmutter, die dem Engländer anfangs ähnlich feindselig gegenübersteht wie der Franzose, dessen linguistisches Anliegen sie als legitimeres Unterfangen auf der Insel betrachtet als die Malerei des Engländers, der sich augenscheinlich bald nicht mehr mit Landschaftsmalereien begnügt, sondern mit seinen Pinseln und Farbtuben in die Intimität der Inselbewohner einzudringen beginnt. Die Urgroßmutter von James schließlich ist diejenige, die sich ihr Irisch in Reinform bewahrt zu haben scheint. Aber auch sie versteht deutlich mehr, als es von außen den Anschein hat.

Das alles ereignet sich im Jahr 1979, als der Nordirlandkonflikt längst eine unaufhaltsame Gewaltspirale entfesselt hat. Trotz der scheinbaren Isolation der Insel ist er mehr als ein Hintergrundrauschen der Romanhandlung. In kurzen Zwischenkapiteln werden in immer rasanter erscheinender Dynamik die Morde des Jahres 1979 berichtet, die Opfer, katholisch, protestantisch, Familienväter, Kinder, alte Frauen, für einen kurzen, sachlichen und umso erschreckenderen Moment ins Licht geholt. Bezug darauf nehmen auf Handlungsebene dann gerade die Inselbewohner, die bei weitem nicht so abgeschottet sind, wie ihre Gäste es meinen oder erhoffen, die ihrerseits mit dem Egoismus der in eine größere Sache (die Kunst, die Wissenschaft) Verbohrten nur am Rande davon Kenntnis nehmen. Die Gewaltsamkeit der Kolonisierung ist denn auch das zentrale Thema des Romans, das mit den realen Anschlägen der IRA und den Vergeltungsschlägen von britisch-protestantischer Seite sein schreckliches eindimensionales Antlitz zeigt und auf der fiktionalen Handlungsebene auf subtile und vielschichtige Weise gespiegelt wird. Man erfährt, nicht zuletzt mittels der Figur des französischen Linguisten, viel über die Geschichte Irlands und Nordirlands, die die Autorin, auf eine übergeordnete Ebene der Gewalt- und Kolonisationsgeschichte abhebend, mit der Figur des Franzosen überdies mit der französischen Kolonisierung in Nordafrika in Verbindung bringt. Es geht auch viel um Sprache, die vom Zeugnis einer kulturellen Identität über ein sozial bedeutsames Kommunikationsmittel bis zum Machtinstrument der Kolonisatoren mit einer facettenreichen Spannbreite an Funktionen beladen ist.

Am spannendsten ist auf der fiktionalen Ebene in diesem Kontext auch die Beziehung zwischen dem englischen Maler und dem Inseljungen James, der ein erstaunliches natürliches Maltalent offenbart, da sie die Komplexität und Ambivalenz der (nicht nur) irischen Kolonisationsgeschichte erzählerisch überzeugend entfaltet. Über die Kunst nähern sich die beiden so ungleichen Menschen einander an, kommen ins Gespräch und entwickeln den Vorurteilen der Umgebung zum Trotz eine Beziehung, die einer Freundschaft auf Augenhöhe nahe zu kommen scheint. Doch ihre Beziehung bleibt fragil, vor allem von Seiten des Engländers getrübt und bedroht von Neid und Konkurrenzgedanken. Die winzige Künstlerkolonie, in der beide voneinander lernen, der erfahrene Maler vom frischen Blick des Jungen, der talentierte Junge vom Wissen und der Technik des Älteren, wird so doch wieder auf eine Machtkonstellation reduziert, die den einen enttäuscht, den anderen verunsichert zurücklässt.

Die Autorin lässt ihrerseits ein sehr zwielichtiges und widersprüchliches Bild von einigen ihrer Figuren beim Leser zurück. Während der Franzose, dem die irische Sprache so am Herzen liegt, als Sohn einer algerischen Mutter und eines ehemaligen französischen Soldaten mit seiner eigenen verdrängten Familiengeschichte zu kämpfen hat, die den Konflikt zwischen Kolonisator und Kolonisiertem auf kleinstem, scheinbar privatestem Raum, enthält, legt der Engländer, der mit dem Inseljungen und seiner Mutter auf verschiedene Weise in intime, auch wertschätzende Beziehungen tritt, dann doch wieder ein Verhalten an den Tag, das an das der englischen Kolonisatoren erinnert: Er eignet sich die Ideen des naiven Künstlers an und lässt ihn am Ende im Stich. So die eine Lesart, neben der weitere möglich sind, etwa in Form der Frage, was es mit authentischer Kunst auf sich hat, ob es eine solche überhaupt gibt, angesichts des Ineinanders von Traditionen und Kulturen. Was ist eine kulturelle Aneignung, was ein schnödes Plagiat? Offenbaren sich rückständige oder fortschrittliche Ansichten in der künstlerischen Form, die man wählt? Das Thema Kunst scheint mir, auch durch die äußere Form des Textes, das am tiefsten in den Roman eingewobene zu sein, mehr noch als das scheinbar im Vordergrund stehende Thema Sprache, bei dem die Autorin weniger in die Tiefe geht. Es sei denn, man betrachtet auch die Malerei als eine Sprache, als eine Art sich auszudrücken. Mit ihrem sehr in diese Sprache eintauchenden Text verwickelt die Autorin ihre lesenden Betrachter auf alle Fälle in ein inneres Streitgespräch mit ihren teils impressionistisch hingetupften, teils in ein fast barockes Licht- und Schattenspiel integrierten Figuren.

Bibliographische Angaben
Audrey Magee: Die Kolonie, Harper Collins 2025
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
ISBN: 9783312012893

Bildquelle
Audrey Magee, Die Kolonie
© 2025 Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

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