bookmark_borderBirgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Arthur heißt die Hauptfigur dieses ein wenig skurrilen und sehr liebevollen Romans über einen, der auf die schiefe Bahn geraten ist und mit psychologischer Hilfe wieder auf den rechten Weg gebracht werden soll. Arthur ist das erzählerische Subjekt, aus dessen Perspektive wir den Großteil der Geschichte erfahren. Er ist aber zugleich auch das Studienobjekt von Börd und Betty, zweier Psychologen, die eine neue Methode der Wiedereingliederung ehemaliger Gefängnisinsassen in die Gesellschaft entwickelt haben. Diese Methode besteht, knapp umrissen, darin, dass der Patient sich in der Therapie sein „ureigenes Optimalbild“ von sich aufbaut, sich sozusagen zur strahlenden Hauptfigur seines Lebens macht, erzählerisch eine bessere Version seiner selbst konstruiert, in deren Rolle er dann im Notfall jederzeit hineinschlüpfen kann, um einen Rückfall zu verhindern.

Erzählen, um das Leben zu meistern, sich einüben in psychologisch wirksame Narrative — die österreichische Autorin entwirft in ihrem Roman ein so anschauliches wie ausgefallenes Szenario bibliotherapeutischer Praxis, also des Heilens, des Verarbeitens der eigenen Lebensgeschichte mit den Kräften der literarischen Fiktion, die wohl noch eher ein Randphänomen der Psychotherapie darstellt, aber längst nichts Exotisches mehr hat. Im Roman wird dieses therapeutische Verfahren, das das Erzählen in den Mittelpunkt rückt, „Schwarzsprechen“ genannt. Arthur erzählt von sich, wie das in einer Therapie üblich ist, doch tut er das nicht in Anwesenheit des Therapeuten, sondern er spricht gewissermaßen ins Schwarze hinein, nimmt die Texte auf und gibt die Tondokumente anschließend an Börd, seinen Psychiater, weiter, ohne mit Sicherheit zu wissen, ob der sie auch wirklich anhört. Das Wesentliche ist hier nicht das Zuhören, sondern das Sprechen.

Manchmal ist ihm, als erzählte der Mensch sich die eigene Geschichte deshalb wieder und wieder, damit er sich auch die unglaublichsten Dinge begreiflich macht. Und variiert die Geschichte von Erzählung zu Erzählung, immer ein Stück näher ans Erträgliche, bis er sie irgendwann als Teil seiner selbst versteht.

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Dramaturgisch kennzeichnet den Roman ein Wechsel zwischen der Erzählgegenwart, den Inhalten des Tonmaterials und Rückblicken, so dass sich den Lesern nach und nach der bewegte Lebensweg Arthurs erschließt und man nachvollziehen kann, wie er auf die schiefe Bahn geraten konnte und zum Internetbetrüger wurde. Man erfährt von seiner Kindheit in einem sozial schwachen Viertel, vom neuen Partner der Mutter, vom Umzug nach Spanien und dem Aufbau eines luxuriösen Hospizes durch seine Eltern, das Arthur von heute auf morgen in die Welt der Neureichen katapultiert. Nach dem Unfalltod der Freundin kehrt Arthur nach Österreich zurück, wo ihn die Geldprobleme nicht mehr loslassen.

Eine fast genauso interessante Figur wie Arthur ist Börd, mit vollem Namen Konstantin Vogl, den Birgit Birnbacher als Psychologen anlegt, der selbst psychische Probleme hat. Das mag keine ganz neue Idee sein, ist aber so plastisch und mit einem untergründigen Humor umgesetzt, dass einem dieser Charakter lange im Gedächtnis bleibt. Schon Börds Erscheinungsbild ist für einen Psychiater ungewöhnlich: Er trägt weder dezentes Zivil noch weiße Ärztekluft, sondern läuft in Latzhose und blauem Arbeitsmantel herum, um, wie es heißt, „leichter zu akzeptieren, dass er nicht mehr der ist, der er mal war“. Vieles erfährt man in diesem Roman nur in Andeutungen, so auch, dass er in prekären Verhältnissen in einer Autowerkstatt wohnt, von seiner Frau verlassen wurde und zu viel trinkt. Börd ist selbst kein wirklich sozial verträglicher Charakter, er verhält sich manchmal unmöglich, dann aber auch wieder wohltuend unvoreingenommen gegenüber seinen Patienten, und ist in jedem Fall ein sehr unorthodoxer Therapeut. Nachdem Börd mehrfach angeeckt und aus der institutionellen Wissenschaft, um ein wenig zu kalauern, heraus-geflogen ist, wird die Studie, an der Arthur teilnimmt, offiziell von Betty geleitet, einer ehemaligen Studentin von Börd. Es gibt also immer wieder verschwimmende Grenzen in dieser Geschichte, die Grenzen von normal und unnormal werden fließend, ebenso die von Psychiater und Patient, und nicht einmal die Hierarchien sind klar gesteckt. Das sorgt in Birgit Birnbachers Erzählstil für Humor und für einen erfrischend unkonventionellen, befreiten Blick.

Und so liegt die (erste) Pointe der Erzählung darin, dass sich bei Arthur ein Therapieerfolg gerade dadurch andeutet, dass ihn die Übungen und Sitzungen mit Börd dazu bringen, die Studie in Frage zu stellen und in durchaus selbstwirksamer Weise zu widerlegen:

„Es kommt mir so vor“, hatte Arthur zu Betty gesagt, „als habe gegen euer allzu großes Einwirken eine Verteidigung meines Selbst begonnen. Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier herausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite.“

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Doch dann funkt das Leben in all seinen Irrungen und Wirrungen und bürokratischen Finessen schon wieder dazwischen. Die Geschichte endet, so könnte man monieren, vielleicht etwas zu abrupt, andererseits wird der Hauptfigur so auch eine Offenheit gewährt, die nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine Chance für ihn sein kann, die Chance eines Lebens in Freiheit. Diese Freiheit erscheint in Birgit Birnbachers Roman zweischneidig, und man beginnt zu begreifen, welch herausfordernde Aufgabe eine Wiedereingliederung in die so genannte Gesellschaft ist. Einerseits bedeutet Freiheit für Arthur, das Gefängnis verlassen zu können, das, wie man nur in Andeutungen erfährt, ein Raum schlimmer Erfahrungen für ihn gewesen ist, ein gefährliches Milieu, dominiert von sozialem Druck und sich in schwer kontrollierbarer Eigendynamik entwickelnder Gruppengewalt. Davon unabhängig bedeutet die Entlassung aus dem Gefängnis, andererseits, nicht die Entlastung von seinen Gedanken, mit denen man in therapeutischer Arbeit vielleicht einen Umgang finden lernt. Und schließlich entpuppt sich das Zurechtfinden in der so genannten Freiheit als Lebensaufgabe für Arthur, der überall auf Zäune und Grenzen stößt, auf soziale und bürokratische und imaginäre Schranken, die unüberwindlich scheinen.

Ich an meiner Seite ist ein aus vielen Gründen lesenswerter Roman; was alles zusammenhält, sind aber in meinen Augen die Figuren, die in ihren Qualen und Nöten zugleich liebevoll und grotesk charakterisiert werden und trotz ihrer humorvollen Überzeichnung sehr lebensnah wirken: die jahrelang todkranke ehemalige Schauspieldiva, mit der Arthur eine ganz besondere Freundschaft verbindet, und der psychische Seelennöte ausstehende Psychiater, der sein Leben selbst kaum in den Griff bekommt, sind vielleicht die zwei berührendsten Charaktere. Man möchte den Figuren immer wieder zurufen, tu das nicht, und kann gleichzeitig doch verstehen, warum sie so irrational handeln, nur um dann von den eigentlich erwartbaren Konsequenzen überrollt zu werden. Ein sehr lebensechtes Stück literarischer Fiktion!

Bibliographische Angaben
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite, Zsolnay 2020
ISBN: 9783552059887

Bildquelle
Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite
© 2020 Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien, bei der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderClare Chambers: Scheue Wesen

Vögel sind scheue Wesen, Tiere, die Freiheit brauchen, wenn man sie zeichnen will, muss man sie vorher lange beobachten und ihre Bewegungen und Regungen studieren, aus der Ferne, mit gebührendem Abstand, um sie nicht zu erschrecken. Auch unter Menschen gibt es scheue Wesen, die britische Autorin Clare Chambers macht in ihrem neuen Roman (mindestens) eines davon zur Hauptfigur: William Tapping, ein zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart in den 1960er Jahren nicht mehr ganz junger Mann, der jahrelang ohne Wissen der Nachbarn und der Behörden im Haus seiner nach und nach verstorbenen Tanten lebte und dessen Lieblingsbeschäftigung, der er in diesem merkwürdigen, nicht hinterfragten Gefängnis nachging, das Zeichnen von Vögeln ist.

Clare Chambers, die schon einige Romane in England publiziert hatte, bevor sie mit Kleine Freuden auch in Deutschland einen Überraschungserfolg hatte, hat mit ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman Scheue Wesen einen einfühlsamen, spannend konstruierten und auch stilistisch überzeugenden Text geschrieben, den man geradezu verschlingen mag, hinter dessen Unterhaltungs- und Spannungspotential aber weitere Schichten zutage treten, die der scheinbaren Leichtigkeit Kontur und Tiefe geben und mehrere Lesarten zulassen. So ist Scheue Wesen erstens lesbar als Geschichte über die tröstende Kraft der Kunst. Die zweite (oder eigentlich erste) Hauptfigur des Textes ist denn auch die Kunsttherapeutin Helen Hansford, sie steht im Zentrum der Geschichte, die in den 1960er Jahren in England spielt. Eine zweite Ebene wird mit Helens Arbeitsplatz eingeführt, an dem sich die verschiedenen Fäden der Geschichte kreuzen: Es ist auch ein Roman über die Entwicklung der Psychiatrie und ihrer verschiedenen Leitbilder und Methoden von den 1930er bis in die 1960er Jahre. Und drittens kann man den Roman auch mit einem feministischen Blick als die Geschichte einer sich behauptenden und sich selbst-bewusst zur Gesellschaft und zum Leben ins Verhältnis setzenden Frau lesen: Helen ist eine selbständige, viel reflektierende Frau, die seit einiger Zeit eine leidenschaftliche, aber auch sehr eingeschränkte heimliche Liebesbeziehung mit einem Psychiater der Londoner Klinik hat, an der sie arbeitet. Während sie bisher ihr als unkonventionell und frei betrachtetes Leben genoss und es immer wieder auch gegen ihre Familie verteidigte, schleichen sich nun Zweifel ein, die auf entwicklungspsychologischer Ebene die Handlung vorantreiben.

Als Helen dem zunächst stummen, ein wenig verwahrlosten Mann, der als William Tapping identifiziert werden kann, im Rahmen ihrer Arbeit in der Klinik begegnet, in die er nach seinem überraschenden Auffinden gebracht wird, ist sie beeindruckt von seiner künstlerischen Begabung, die alles in den Schatten stellt, was sie sonst bei den von ihr betreuten Patienten erlebt. Die Begegnung mit ihm ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte, in der daraufhin in mehrfacher Hinsicht die Weichen neu gestellt werden. Helen setzt alles daran, Williams Geheimnis auf die Spur zu kommen, um ihn aus seiner Stummheit zu lösen und ihm aus der Psychiatrie heraus wieder ins Leben zurückzuhelfen. Je mehr sie sich William nähert, je mehr sie sich sein Vertrauen erarbeiten kann und durch zusätzliche private Recherchen seine Geschichte zu rekonstruieren beginnt, desto mehr stellt sie jedoch auch ihr eigenes Leben, ihre Beziehungen, ihre Gefühle und Werte, infrage. Als zweites Schlüsselmoment kommt hier die psychische Krise ihrer Teenager-Nichte Lorraine hinzu, für die Helen eine wichtige Bezugsperson ist und deren aufkeimende Liebe zum Zeichnen Helen zu fördern versucht. Auch Lorraine gehört, so merkt man bald, zur Gattung der scheuen Wesen. Als sie nach einem Zusammenbruch in die Klinik kommt, die sie zunächst gar nicht mehr verlassen mag, trifft auch sie auf William, dessen Zeichentalent sie bewundert, und auf Dr. Gil Rudden, den Psychiater und heimlichen Geliebten ihrer Tante.

Während die emotionalen Verwicklungen in der Erzählgegenwart ihren Lauf nehmen, entfaltet sich in eingeschobenen und immer weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Kapiteln auch die Geschichte Williams, der über 20 Jahre lang mehr oder weniger eingesperrt im Haus seiner Familie gelebt hat. Seine Lebensgeschichte wird nun in Rückblenden, die bis in die 1930er Jahre gehen, nach und nach aufgerollt, soll aber hier natürlich nicht verraten werden. Nur soviel sei verraten: Es lohnt sich sehr, es lesend herauszufinden.

Bibliographische Angaben
Clare Chambers: Scheue Wesen, Eisele 2024
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
ISBN: 9783961611966

Bildquelle
Clare Chambers, Scheue Wesen
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderNora Bossong: Reichskanzlerplatz

Nora Bossong nähert sich in ihrem Roman einer heute — vielleicht auf Kosten tieferer Einsichten — allgemein dämonisierten historischen Figur, der von ihr mit viel literarischem Gespür fiktionalisierten Magda Goebbels (1901-1945), die im Nationalsozialismus zur Vorzeigemutter des Regimes wurde, dem sie am Ende nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder opferte. Ihre monströse Tat kommt im Roman nicht bzw. nur im Nachwort zur Sprache, es geht der Autorin an keiner Stelle um ein wie auch immer geartetes Faszinosum des Bösen, sondern darum, den psychologischen und historischen Nährboden zu beleuchten, auf dem das Böse schließlich möglich wird.

Da das Erkenntnisinteresse in diesem Roman auf der psychologischen und historischen Entwicklung liegt, nimmt den weit größeren Raum daher die Zeit der 1920er Jahre ein, als Magda Goebbels noch gar nicht Magda Goebbels hieß, sondern unter anderem mit dem Industriellen Günther Quandt verheiratet war. Und sie ist im Übrigen auch nicht einmal die Hauptfigur des zwar historischen, aber eben nicht einschlägig biographischen Romans, sondern eine im Hintergrund freilich omnipräsente Nebenfigur, die manchmal kurz ins Licht der Erzählung tritt, um jedesmal wieder im Schatten des Nicht-Weiter-Erzählten zu verschwinden. Nora Bossong gerät somit nicht in die Gefahr, ihre Figur zu romantisieren, sie löst das ethische Dilemma von literarischer Einfühlung und Distanznahme, indem sie eine andere, fiktive Figur zum Ich-Erzähler macht, dessen Lebensgeschichte mal intensiver, mal flüchtiger mit derjenigen der späteren Magda Goebbels in Berührung tritt: Hans Kesselbach begegnet ihr zum ersten Mal bei den Quandts, als der sehr gebildeten, sehr schönen und sehr jungen Stiefmutter seines Mitschülers Hellmut Quandt. Verliebt ist er jedoch, wie er bald begreift, nicht in die faszinierende junge Frau, sondern in Hellmut, in einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur allseits geächtet und daher verheimlicht wurde, sondern noch als Verbrechen galt. Nach Hellmuts frühem Tod 1927 setzt Hans dessen Affäre mit seiner Stiefmutter Magda gewissermaßen fort, für einige Zeit wird er Magdas Liebhaber, bis sie dann in den Bann des damaligen NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels gerät. Über die inneren Konflikte und unverwirklichten Sehnsüchte hinaus, die den jugendlichen Ich-Erzähler quälen, ist Hans Kesselbach eine wirklich sehr gut erzählte Figur, komplex, ambivalent, man fühlt mit ihm, ohne all seine Entscheidungen gutzuheißen, die er unter wahrlich herausfordernden historischen Umständen fällt. Nora Bossong arbeitet an ihm die Grauzone, in der sich die Figur bewegt, sehr nuanciert heraus, was dank der Möglichkeit ihrer romanhaften Individualisierung überhaupt erst möglich wird. Seine inneren Widersprüche treten im Laufe der Handlung immer wieder nach außen, dem nationalsozialistischen Gedankengut steht er mit großer Skepsis und Abneigung gegenüber, macht sich aber trotzdem des Mitläufertums schuldig, und ist gleichzeitig wegen seiner Homosexualität selbst ein potentielles Opfer des neuen Regimes.

Der Roman wäre nicht so gut, wenn er sich nicht über diese individuelle Geschichte hinaus auf vielschichtige Weise auf eine höhere, historische Ebene öffnen würde. Mit der Verwebung der historisch belegten Geschichte der Familiendynastie Quandt in die fiktive Geschichte des Ich-Erzählers etwa gewinnt der Opportunismus, den man der Liebschaft eines Schwulen mit einer angesehenen Frau unterstellen mag, eine ganz andere Dimension, die die folgenreiche Verstrickung deutscher Unternehmer in den Nationalsozialismus problematisiert.

Indem Nora Bossong den jungen Ich-Erzähler in diese ihm sehr fremde Welt der Industriellenfamilie eintauchen lässt, nähert sie sich erzählerisch auch der jungen Magda, die mit ihrer Heirat des Firmenchefs ihrerseits von außen und unten in diese Welt der Reichen und Mächtigen Eingang gefunden hat, sich in ihr jedoch wie selbstverständlich bewegt. Die Gabe der Anpassung scheint ihr im Unterschied zu Hans, der sich im Laufe seines Lebens immer wieder wie ein Fremdkörper fühlt, in die Wiege gelegt. Während der heimlichen Liebschaft von Magda mit ihrem Stiefsohn Hellmut, für die Ausflüge zu dritt mit dem Schulfreund Hans ein willkommenes Alibi sind, kommt man ihr sehr nahe, dringt in der konsequent äußerlich bleibenden Perspektive aber nie bis in ihr Innerstes vor, das sich die Autorin wohlweislich vorenthält.

Der Roman möchte keine eindeutigen Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen: Wie konnte jemand, der so gebildet war, der den Feinsinn der Kunst und der Literatur schätzte, eine solche Entwicklung durchlaufen wie Magda Goebbels? Was war charakterlich in ihr angelegt, wo begann die moralische, politische Verirrung? War ihr Weg vorgezeichnet oder hätte sie sich auch ganz anders entscheiden können? Im Roman erscheint sie als eine Frau voller Ambivalenzen: zwischen Idealismus und Anpassung, Intelligenz und Verbohrtheit, Abgrund und Prominenz. Ihre Schönheit, ihre Kühle, ihre Bildung, ihr Wille etwas zu bedeuten, das Leben auszuschöpfen, bewegten sich auf einem dünnen Grat, von dem aus sie in übersteigerten sozialen Ehrgeiz, in Narzissmus und Fanatismus zu kippen drohten. Auch das unmerkliche Hinübergleiten eines gesunden Selbsterhaltungstriebs in einen rücksichtslosen Aufstiegswillen, die nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, lässt Nora Bossong in ihrem Roman anklingen, etwa wenn Magda ihren reichen Exmann mit kompromittierenden Briefen erpresst, um nach der Scheidung nicht nur das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Harald, sondern auch eine stattliche Abfindung zu bekommen, zu der ihre repräsentative Wohnung am Titel gebenden Reichskanzlerplatz gehört.

Welche Rolle spielte die Geschichte, spielten die politischen Verwerfungen? War ihre Radikalisierung vorgezeichnet? War es auch ihr Scheitern, ihr Absturz am Ende, der sich unter der Oberfläche schon länger anzudeuten schien? Konnten ihre Anstrengungen, als überhöhte Mutterfigur und Ehefrau einen Schein zu wahren, der der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach, irgendwann nur noch mit Alkohol und Selbstbetrug aufrechterhalten werden? Das Verstörende daran ist vor allem, wie wir in Nora Bossongs Roman erfahren, dass Magda Goebbels, die später so sehr die „arische“ Ideologie propagierte, selbst als junges Mädchen Fluchterfahrungen machte, dass sie einen jüdischen Stiefvater hatte und einen jüdischen Jugendfreund; auch das ist Teil ihrer Biographie. Und so schreibt Nora Bossong bzw. ihr Ich-Erzähler Hans Kesselbach, sehr philosophisch, an einer Stelle: „man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ Diese Wahrheit, die dem Roman zugrundeliegt, oder vielleicht: die sich aus ihm entwickelt, gilt im Übrigen für beide Figuren, für den fiktiven Ich-Erzähler ebenso wie für die fiktionalisierte Magda Goebbels. Man kann der Geschichte nicht ausweichen, aber man kann sich vielleicht doch auf verschiedene Weise zu ihr verhalten.

Reichskanzlerplatz ist ein nachdenklicher, fein erzählter Roman mit vielen Zwischentönen und das Porträt einer Zeit und der sich in ihr Verhaltenden. Im Raum der Literatur verfügt Nora Bossong über andere Mittel als die historische Dokumentation, und diese schöpft sie aus, mit einer auch stilistisch überzeugenden Zurückhaltung, die sich der Grenzen und der Möglichkeiten der literarischen Fiktionalisierung gleichermaßen bewusst ist.

Bibliographische Angaben
Nora Bossong: Reichskanzlerplatz, Suhrkamp 2024
ISBN: 9783518431900

Bildquelle
Nora Bossong, Reichskanzlerplatz
© 2024 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

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