bookmark_borderNona Fernández: Twilight Zone

Wie kann man, ohne Sensationslust oder Voyeurismus zu schüren und ohne in Betroffenheit zu erstarren, über Folter, über Gewalt, über die Unmenschlichkeit in einem diktatorischen Regime schreiben, ihren Ursachen auf die Spur kommen und ein Stück historischer Aufarbeitung versuchen, das über die Lippenbekenntnisse offizieller Gedenktage und die Leerstellen musealer Dokumentation hinausgeht?

Nona Fernández, 1971 in Chile geboren, Schauspielerin und prämierte Autorin von Theaterstücken, Drehbüchern, Prosatexten, erlebte ihr Land quasi von Geburt an als Diktatur. In Twilight Zone schlüpft sie in eine sehr subjektive erzählerische Rolle, die ihrer eigenen Biographie entspringt, doch literarisch nach allen Regeln der Kunst darüber hinausgeht. Der Nucleus ihres Textes ist die in die Kindheit zurückreichende Erinnerung an ein eigentlich ganz durchschnittlich wirkendes Gesicht in einer Zeitung, unter dem aber der brutale Satz: „Ich habe gefoltert“ prangte. Dieses Gesicht und dieser Satz lassen die Ich-Erzählerin nicht mehr los, sie wird Journalistin und Dokumentarfilmerin und betreibt ihre ganz eigenen Recherchen zu dem Mann, Geheimagent der Pinochet-Diktatur, der zugleich als Monster und Aufklärer erscheint, der das Böse ebenso verkörpert wie den Mut der öffentlichen Reue, die ohne die juristische Unterstützung, die er erhielt, damals einem Todesurteil gleichgekommen wäre.

Um die Distanz des aufklärerischen Verstandes zu bewahren und zugleich ohne den verurteilenden Gestus des scheinbar Außenstehenden zu erforschen, wie Menschen sich in Folterer verwandeln können, und auch, um sich der ebenfalls unvorstellbaren und doch so breiten Dimension derjenigen anzunähern, die mit dem Verschwinden von Menschen aus ihrer Familie, ihrem Umkreis konfrontiert wurden, schafft Nona Fernández eine ganz eigene Textsorte, die zwischen faktenbasiertem dokumentarisch-investigativem Stil und subjektiver autobiographischer Haltung und Nähe schaffender Einbettung der Fakten variiert. Das Neben- und teilweise Ineinander vom Alltag der Fernsehserien und Schulbesuche und dem Ausnahmezustand der Entführungen und gewalttätigen Ausschreitungen, die für diese Zeit der Diktatur charakteristisch waren, führt sie uns auf diese Weise eindringlich vor Augen.

Immer wieder gesteht die Ich-Erzählerin im Verlauf des Textes, dass sie sich selbst wie eine Spionin fühlt, die ungesehen in privateste Szenen hineinschlüpft, etwa wenn sie sich ein letztes alltägliches familiäres Zusammensein ausmalt, ehe eines der Familienmitglieder für immer im Dunkel der Folterkammern verschwindet, oder wenn sie in präziser Genauigkeit von der schweißtreibenden Angst des sich auf der Flucht über die Landesgrenze befindlichen ehemaligen Folterers erzählt. Dabei bleibt sie jedoch jederzeit eine Schriftstellerin; sie schöpft mit ihrem Text das Potential der Literatur aus, die es möglich macht, sich in anderen Figuren zu spiegeln, sich in fremde Gefühle und Gedanken einzufühlen. So kann sie in das Innerste des Mannes vordringen, der gefoltert hat, sich literarisch in den Grauzonen, dem Dämmerlicht bewegen, in der „Twilight-Zone“, wie auch eine Fernsehserie hieß, die die Erzählerin sich in ihrer Kindheit gerne ansah und die in jeder Folge mit den Grenzen der Realität spielte. Wenn sie sich in die Psyche des ehemaligen Folterers einfühlt, in seine Gewissensqualen, in seine Alpträume, unterbricht Nona Fernández ihren Prosatext für kurze, aber nachhallende lyrische Passagen, eine gute Form, um sich eine ja letztlich unterstellte Gefühlswelt anzueignen und in literarische Wahrheit zu verwandeln. Das Monster wird, auch wenn viele Leerstellen bleiben, von der Autorin als ganzer Mensch mit einer Biographie erfasst, es wird aus seiner monströsen Dimension herausgelöst, ohne das Monströse der in diesem Regime verübten Taten zu verleugnen. Das Böse, so geht es aus Fernández‘ Text hervor, nimmt im Verhalten der Menschen perfideste Ausmaße an, psychisch wie physisch, und ist, wie Hannah Arendt das in Bezug auf die Verbrechen der Nazidiktatur analysierte, doch ganz häufig von einer erschreckenden Banalität — um in die Mechanismen der Gewalt hineinzugeraten, genügt es, ein Mensch zu sein, man muss nicht als Monster geboren werden.

Bibliographische Angaben
Nona Fernández: Twilight Zone, Culture Books 2024
Aus dem chilenischen Spanisch von Friederike von Criegern
ISBN: 9783959881937

Bildquelle
Nona Fernández, Twilight Zone
© 2024 CulturBooks Verlag GbR, Hamburg

bookmark_borderTheodora Bauer: Glühen

Das Glühen ergreift in dieser kurzen, novellenartigen Liebes- und Weltuntergangsgeschichte, in der eine unerhörte Begebenheit im Leben einer jungen Frau auf eine viel umfassendere unerhörte Begebenheit im irdischen Dasein der Menschheit verweist, nicht nur das Innenleben der Protagonistin, sondern zirkuliert so innig wie bedrohlich auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit und der mit ihr nicht unbedingt deckungsgleichen Wahrnehmung.

Die Erzählerin, deren subjektiver Wahrnehmung man einzig folgt, nennt sich Lima, wie Lisa-Marie oder wie die peruanische Hauptstadt, in der sie in einer Vergangenheit, die nur angedeutet wird, eine gescheiterte oder unerfüllte Liebe erlebt haben muss. Als Literaturwissenschaftlerin, die zu Sexualität und Begehren bei Arthur Schnitzler forscht, dem Wiener Schriftsteller des Fin de Siècle, und deren Gedanken immerzu um die literarische und gesellschaftliche Leerstelle weiblichen Begehrens kreisen, blickt sie mit einer gewissen Desillusion auf die Geschlechterverhältnisse, die jedoch eine geheime Hoffnung, vom Gegenteil überzeugt zu werden, eine etwas verzweifelte Liebessehnsucht, nicht ausschließt. Nun hat sie der Stadt den Rücken gekehrt, möchte für einige Tage in den Bergen, fernab der von Krisen gepeinigten, stressigen Zivilisation zur Ruhe und zu sich kommen, herausfinden, ob das Wahre noch immer in der Natur verborgen liegt. Sie kommt in einer abgelegenen Pension bei einer kauzigen alten Frau unter und übt sich in täglichen Wanderungen den Berg hinauf, durch den Wald und bis zu einer Wiese, auf der ein junger Mann, dessen Erscheinung sie anfangs kaum trauen mag, das Heu mäht. Sie ist fasziniert, von der körperlichen Attraktivität des Mannes ebenso wie von der aus der Zeit gefallenen Tatsache, dass er mit einem Pferd zum Heumachen kommt. Vorsichtig, langsam lässt sie sich auf ihn ein, auf die unbestreitbare Romantik der täglichen Begegnungen auf dem Berg. Doch dann ist er eines Tages nicht mehr da, und die Welt bricht zusammen.

Die Autorin Theodora Bauer tastet sich in dieser traumwandlerisch und in eindrücklichen Bildern erzählten Geschichte einer so wütenden wie verzweifelten wie abgeklärten wie romantischen Protagonistin, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst ist und sich ihr in dieser scheinbar ganz anderen, abgeschiedenen Bergwelt doch noch einmal aussetzt, an Grenzen entlang, die der Erzählung etwas Geheimnisvolles und zugleich Bedrohliches geben. Die Grenze zwischen Natur und Zivilisation wird ebenso ausgelotet wie die genauso fragile und genauso von Machtverhältnissen konturierte Grenze zwischen zwei Menschen. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt immer wieder, den jungen Mann, der sich Michael nennt, hält Lima zunächst für eine Halluzination, und auch der aufdringliche Pudel, der ihr immer wieder auflauert, erscheint in ihren Träumen ebenso wie in der Wirklichkeit. Des mephistophelischen Pudels Kern kommt sie bald auf die Schliche, bevor sie am Ende erfährt, dass er in Wahrheit ein Weibchen ist und Luzi heißt — der Teufel eine Frau, das scheint eine zwangsläufige Pointe in einer Erzählung, die es sich zum Anliegen macht, die von der Protagonistin beklagte Leerstelle des sich seiner selbst bewussten weiblichen Blicks zu füllen. Der, der von diesem Blick erfasst wird, der mit einem Engel verglichene Michael, verweist seinerseits auf eine gnostische oder christliche Aufladung der Geschichte, die die Symbolkraft einer klassischen Novelle anstrebt. Ist Michael der Gegenspieler der Pudeldame Luzi(fer) oder ist er in Wahrheit ein Todesengel? Die Erzählung läuft zielstrebig auf einen Untergang hin, auf eine Apokalypse, die sich im Einzelnen spiegelt. Ein Waldbrand wird zur Hölle, eine junge Frau erliegt ihrer Sehnsucht, sich hinzugeben — oder scheitert sie vielmehr an ihrer Angst, an ihrer Unsicherheit? Ist unser Dasein, wie wir es heute führen, gleichbedeutend mit Tod und Zerstörung? Ist es naiv, ja wahnsinnig, an die Liebe, an ein Leben im Einklang mit unserer Umwelt zu glauben? Oder zerstören wir uns letztlich selbst, wenn wir es nicht tun? Der in seiner Kürze vielschichtige Text gibt keine eindeutigen Aussagen, das Einzige, was als klar aus ihm herauszulesen ist, ist die existentielle Verbundenheit alles irdischen Daseins, von Mensch und Natur, zum Guten und zum Schlechten.

Bibliographische Angaben
Theodora Bauer: Glühen, Rowohlt Berlin 2024
ISBN: 9783737102025

Bildquelle
Theodora Bauer, Glühen
© 2024 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderSasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dass Komik von den Herrschenden am meisten gefürchtet wird und Literatur durchaus eine Waffe sein kann, darum hat Umberto Eco in Der Name der Rose eine vielsinnige Geschichte gesponnen. Sasha Filipenko, belarussischer Autor von im Vergleich zu Eco wesentlich kürzeren Romanen führt uns in Der ehemalige Sohn, der im russischen Original schon 2014 erschien, vor Augen, dass Komik und Satire in einem autoritären System vielleicht das letzte Instrument diesseits der Gewalt darstellen, um Protest auszudrücken. Oder es zumindest zu versuchen.

Die Mündlichkeit des Stils fällt einem als allererstes auf, wenn man in die in lockerem, oft spöttischem, ironischem Ton erzählte Geschichte des jungen Franzisk aus dem belarussischen Minsk eintaucht, der 1999 als eines der vielen Opfer einer Massenpanik bei einer städtischen Freizeitveranstaltung ins Koma fällt und erst zehn Jahre später wieder erwacht. Fast der ganze Text besteht aus Gesprächen, aus Monologen und Dialogen, wobei ersteren immer auch eine Dialogizität in dem Sinne innewohnt, wie sie Bachtin für die Romane Dostojewksis festgestellt hat, so dass man sich als Leser auch in den vermeintlichen Selbstgesprächen indirekt stark angesprochen oder herausgefordert fühlt. Umkehrt werden auch die Dialoge oft mit nicht gänzlich präsenten Gestalten geführt, mit Bewusstlosen, unter der Erde Begrabenen; das Motiv des Komas erstreckt sich gewissermaßen auf den ganzen Roman, eine Metapher auch für ein im autoritären Stillstand begriffenes Land. Es wird an Nebentischen gelauscht, es werden Witze gerissen, der Humor ist meistens ein eher schwarzer und vor allem sind Witz und Wirklichkeit oft gar nicht klar voneinander zu unterscheiden. Man merkt dem Roman an, dass sein Autor selbst Satiriker ist, übrigens auch Moderator und Journalist, jemand, der das Zeitgeschehen in seiner ganzen Absurdität intensiv wahrnimmt und, mit nicht zu unterschätzenden literarischen Mitteln, kritisiert.

Deutlich wird auf diese Weise nicht nur die Fassadenhaftigkeit, sondern auch die Unmenschlichkeit eines Systems, das den Einzelnen weder als demokratisches noch überhaupt als ein selbstbestimmtes Subjekt betrachtet. Nachdem Franzisk ins Koma gefallen ist, glaubt seine Babuschka — im Gegensatz zu den Ärzten und auch zum Rest der Familie — als einzige an ihn. Sie zieht mehr oder weniger in sein Krankenzimmer, das sie mit allen Mitteln und Beziehungen, die sie hatte, für ihn durchsetzen konnte, und kümmert sich rührend und energisch um den im Laufe der zehn Jahre trotz seiner Bewegungs- und Rührungslosigkeit allmählich vom Teenager zum Mann reifenden Enkel. Und tatsächlich wacht Franzisk wieder auf, etwa in der Mitte des Buches und genau einen Tag nach dem Tod seiner treuen Babuschka, als hätte er Sorge, ohne seine kämpferische Beschützerin endgültig dem Tod preisgegeben zu werden, wenn er seiner Umwelt jetzt nicht schnell zeigt, dass er noch sehr wohl am Leben ist.

Franzisks Erwachen kommt seiner Mutter, die in der Zwischenzeit den Arzt geehelicht und mit ihm einen weiteren Sohn bekommen hat, auch moralisch eher ungelegen. Und erst recht seinem neuen Stiefvater, der als deutlich opportunistisch bzw. regimetreu und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht gezeichnet wird. Immerhin hat Franzisks hellsichtige Babuschka ein wenig für ihn vorhergeplant, und auch an die Freundschaft mit seinem ehemaligen Schulfreund Stassik kann er zumindest zeitweilig wieder anknüpfen. Allmählich begreift Franzisk, was in den zehn von ihm „verschlafenen“ Jahren alles passiert bzw. gerade nicht passiert ist. Schritt für Schritt eröffnet sich ihm bei seinen Gängen durch die Stadt die ganze Absurdität des Stillstands in seinem Land. Trotzdem ist in ihm ein Gefühl der Hoffnung, des Veränderungswillens, das ihn auch an einer Massendemonstration teilnehmen lässt. Man glaubt einen Moment an eine positive, politische Wendung der Massenpanik, die ihn zehn Jahre zuvor ins Koma gebracht hatte, an literarische Gerechtigkeit; doch das Ende des Romans ist nicht utopisch, sondern düster realistisch.

Bibliographische Angaben
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, Diogenes 2021
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
ISBN: 9783257071566

Bildquelle
Sasha Filipenko, Der ehemalige Sohn
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

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