bookmark_borderAlena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Der poetische Titel verweist auf ein fiktives Gemälde von Jan Vermeer, das in Alena Schröders Debütroman, in dem Kunst- und Familiengeschichte aufeinander treffen, eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich kann man sich vor seinem inneren Auge gut ausmalen, wie ein solches Gemälde des holländischen Künstlers aussehen könnte, der im 17. Jahrhundert lebte und vor allem für seine Genreszenen bekannt ist. Nicht selten sind darauf Frauenfiguren zu sehen, die in der Nähe eines Fensters stehen und blaue Kleidungsstücke tragen. Das berühmteste ist wahrscheinlich das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, dessen in kräftigem Blau gemaltes Stirnband vielleicht noch mehr im visuellen Gedächtnis präsent ist als der kleine Perlenohrring. Vermeers heute authentifizierter Werkumfang ist mit knapp 40 Bildern eher beschaulich, es sind jedoch in der Vergangenheit immer wieder Werke auf dem Kunstmarkt aufgetaucht, die ihm — meist fälschlicherweise — zugeschrieben wurden.

Ebenso wie der suggestive Titel ist auch die ziemlich fesselnde Geschichte, die die Autorin um dieses Bild herum aufbaut, also Fiktion mit einem plausiblen (kunst)historischen Möglichkeitshintergrund. Ausgangspunkt der Handlung ist unsere Gegenwart, in der wir der Perspektive der jungen und etwas verlorenen Doktorandin Hannah folgen, die am frühen Tod ihrer Hippie-Mutter, zu der sie keine einfache Beziehung hatte, wohl schwerer zu tragen hat, als sie sich das eingesteht. Eine zwar auch nicht reibungslose, aber doch sehr enge Beziehung hat Hannah zu ihrer Großmutter Evelyn, einer selbstbewussten Frau, die mit ihrem Umzug ins Pflegeheim nicht wirklich im Reinen ist. Als ein Brief auftaucht, über den Evelyn sich zunächst weigert, zu sprechen, ist Hannahs Neugier geweckt. Denn der Brief weist ihre Großmutter als einzige Erbin eines verschollenen jüdischen Kunstvermögens aus, das den rechtmäßigen Besitzern im Zweiten Weltkrieg entwendet wurde. Hannah, die davon ebenso wie von einem jüdischen Familienzweig nichts wusste, holt diese aufwühlende und zunächst mysteriös erscheinende Nachricht aus ihrer halb verzweifelten, halb lethargischen Haltlosigkeit heraus und motiviert sie zu einer historischen Spurensuche, die sie auch mit ihrer eigenen bisher verschwiegenen komplizierten Familiengeschichte konfrontiert.

Alena Schröder verbindet in ihrem Roman am Beispiel einer individuellen Familiengeschichte Kunst- und Provenienzgeschichte mit der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, insbesondere mit der düsteren Zeit des Nationalsozialismus und den Verbrechen an den Juden, hier in Gestalt des Schicksals des Berliner Kunstsammlers Itzig Goldmann und seiner Familie. Und sie schlägt den Bogen bis heute, in unsere Gegenwartsgesellschaft und unsere Erinnerungskultur mit ihrer teils aufrichtigen, teils aber auch heuchlerischen oder kontraproduktiven Art der Aufarbeitung.

Die fiktive weibliche Titelfigur des fingierten Vermeer-Porträts steht aber auch für ein Motiv, das der Roman am Beispiel mehrerer Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart durchspielt, nämlich für das Motiv des Frauseins oder der Weiblichkeit, wie sie sich im reibungsvollen Kontext von Geschichte und Gesellschaft herausbildet. Der Konflikt zwischen Beruf(ung) und Bindung, Selbstverwirklichung und Familie, Freiheit und Sinnsuche in oder jenseits von Mutterschaft besteht in unterschiedlicher Ausformung bis heute, das machen die so verschiedenen Persönlichkeiten in Schröders Roman deutlich. Besondere Empathie verspürt man im Laufe der Erzählung mit Senta, der leiblichen Urgroßmutter Hannahs, die sich jung in einen Piloten aus dem Ersten Weltkrieg verliebt, sich in ihrer Rolle als Ehe- und Hausfrau jedoch bald eingeengt fühlt und in Berlin als Journalistin ein neues Leben beginnt, das mit dem alten schwer zu vereinbaren ist. Und deren Konflikte mit der Exschwägerin nicht nur in der Rivalität um das Kind, sondern auch in unterschiedlichen Werten und einer konträren Einstellung zur nationalsozialistischen Politik gründen, ehe die geschichtlichen Ereignisse sie schließlich beide überrollen. Hervorzuheben ist dabei, dass die Hitler anhängende Schwägerin ihrerseits in vielen moralischen Schattierungen gezeigt wird, ebenso wie auch Senta, die ihrerseits keinesfalls nur ethisch einwandfreie Entscheidungen trifft.

Mit hat das leicht und mitreißend geschriebene Buch einiges an Leseglücksmomenten beschert, das Pendeln zwischen einer Hauptfigur unserer Gegenwart, mit der man sich gerade aufgrund ihrer manchmal geradezu verbohrten, lethargischen und dann doch auch wieder engagierten Anwandlungen identifizieren kann, und den Rückblicken in die für uns weit entfernte und doch noch immer schmerzhaft nachwirkende Vergangenheit wird glaubhaft und sehr menschlich erzählt; die Autorin führt uns sehr einfühlsam an die von ihren verschiedenen, bisweilen gegensätzlichen Beweggründen getriebenen Charaktere heran. Was mich trotzdem an manchen Stellen gestört hat, ist der unpassend flapsige Stil vor allem im Gegenwartsteil; der missglückte Versuch, mit der Formulierung, dass ihre Mutter an Krebs „verreckt“ sei, Hannahs Empörung gegen das Schicksal sprachlich einzufangen, ist hier nur ein Beispiel von mehreren. Seinen durchaus immer wieder durchscheinenden kritischen Humor gewinnt der Roman viel überzeugender auf andere Weise, nämlich durch die Entlarvung der Widersprüche im Verhalten der Figuren, das ihre Krisen, ihre charakterlichen Eigenarten oder Verdrängungsstrategien aus dem erzählerischen Kontext heraus viel subtiler offenbart. Besonders laut knirscht es da zwischen Hannah und dem ihr erst gegen ihren Willen an die Seite gestellten jungen Historiker, was immer wieder zu absurd-witzigen Situationen führt und nicht nur über beide Figuren psychologisch Aufschluss gibt, sondern darüber hinaus auch auf satirische Weise auf die gesellschaftliche Herausforderung aufmerksam macht, die der Aufarbeitung der (nationalsozialistischen) Vergangenheit noch immer innewohnt. So engagiert und idealistisch sich Hannahs aufdringlicher Kommilitone mit dem Spezialgebiet Holocaust etwa gegen die Geschichtsvergessenheit seiner Umwelt einzusetzen scheint, so besteht der von ihm begründete Club zum Gedenken an den Holocaust aus einem doch etwas wunderlichen Sammelsurium von allesamt nicht-jüdischen Charakteren mit teils etwas fragwürdigen Motiven und Ansichten, die unter dem Deckmantel eines antisemitischen Aktionismus einer gefährlichen Fremdenfeindlichkeit anderer Art Vorschub leisten.

In der erzählerisch unterhaltsam gestalteten differenzierten Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der Vergangenheit liegt für mich die große Stärke des Buches, das literarisch zwar einem Vergleich etwa mit Rebecca Makkais jüngst erschienenem Roman Die Optimisten, in dem es gleichfalls im Kontext von Kunst und Provenienzforschung um die Aufarbeitung eines anderen Kapitels der Geschichte geht (vgl. Rezension vom 13.8.2020), nicht standhalten kann, aber dennoch eine berührende und spannende Reise in die Vergangenheit unseres Landes darstellt.

Bibliographische Angaben
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlich, blaues Kleid, dtv (2021)
ISBN: 9783423282734

Bildquelle
Alena Schröder, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderRichard Russo: Jenseits der Erwartungen

Einst waren sie unzertrennlich: Lincoln, Teddy und Mickey haben während ihres Studiums am Minerva College in Connecticut eine Freundschaft geschlossen, die sie auch heute, fast ein halbes Jahrhundert später, und obwohl sie seitdem ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben, noch miteinander verbindet. Nach vielen Jahren treffen sie sich nun für ein Wochenende in Martha’s Vineyard, wo sie damals von ihrem Studentendasein Abschied genommen haben, ehe sie weit voneinander entfernt ihr Erwachsenenleben begannen. Doch hält das Wiedersehen trotz aller immer noch empfundenen Vertrautheit weniger ein unbeschwertes Schwelgen in Nostalgie für sie bereit als die sich immer stärker aufdrängende Erkenntnis, dass es da noch immer einige graue Flecken in ihrer Vergangenheit gibt, die danach schreien, aufgearbeitet zu werden — und die das Fundament ihrer als unverbrüchlich betrachteten Freundschaft ins Wanken zu bringen drohen.

Denn — und hier verschmilzt der Autor Richard Russo seinen Roman über eine Männerfreundschaft erzählerisch gekonnt mit der spannungsgeladenen Atmosphäre eines Kriminalplots — bei ihrem letzten gemeinsamen Treffen als Studenten war auch ein Mädchen namens Jacey dabei, in die sie alle drei mehr oder weniger heimlich verliebt waren, deren Verlobung mit einem reichen angehenden Juristen aus ebenso gutem Hause wie sie selbst sie aber alle davor zu bewahren schien, ihre Freundschaft durch rivalisierendes Balzverhalten in Gefahr zu bringen. Unmittelbar nach diesem letzten Treffen aber verschwand Jacey spurlos, um bis heute nicht wieder aufzutauchen. Flucht oder Verbrechen? Geplant oder erzwungen? Einiges an diesem Vorfall ist ungeklärt geblieben, und wirft nun auch Jahrzehnte später seine emotionalen Schatten auf das Wiedersehen der Freunde. Verdrängte Erinnerungen bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche, lassen auf einmal einiges in einem anderen Licht erscheinen und konfrontieren die drei Freunde mit dem Verdacht, dass sie nicht nur ihre gemeinsame Freundin Jacey weniger gut kannten, als sie dachten, sondern womöglich auch zueinander nicht immer ganz aufrichtig waren.

Russo erzählt aus den verschiedenen Perspektiven der drei Freunde und wechselt zwischen dem für alle aufwühlenden Wiedersehen in der Gegenwart und den im Zuge dessen aufkommenden Erinnerungen an damals. So entwirft er bewegende persönliche Lebensgeschichten, die er überdies in einen deutlich konturierten gesellschaftlichen Kontext bettet. Denn auch wenn sich ihre Wege am renommierten Minerva College kreuzten, entstammen die Freunde doch jeweils ganz unterschiedlichen Milieus: Lincoln aus einem konservativen Elternhaus, Teddy aus einer akademisch geprägten Familie und Mickey, der Sohn einer italienischen Einwanderergroßfamilie, aus der Arbeiterschicht. Ebenso wie der Vietnamkrieg als gesellschaftlich und politisch mit hoher Symbolkraft aufgeladener historischer Moment Leben und Denken der Figuren entscheidend beeinflusst, spielt auch die soziale Herkunft eine große Rolle für die so unterschiedlichen Lebenswege, die sie nach ihrem Studium einschlagen. Auf diese Weise gelingt es Russo, in narrativem Gewande zugleich ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama der Vereinigten Staaten Amerikas der letzten 50 Jahre zu zeichnen, das bisweilen erhellende Einblicke in die tieferliegenden Ursachen von so manchen aktuell aufflackernden Verwerfungen gibt.

Und doch wird der Roman auch getragen von dem aufrichtigen jugendlichen Elan und der innigen Sehnsucht der Freunde, sich von ihrer sozialen Herkunft zu befreien und ein unverfälschteres Leben zu führen als ihre Eltern. Ihr Wiedersehen ist daher auch der Moment, in dem sie ihre einstigen Ideale und Hoffnungen mit dem, was sie geworden sind, vergleichen. So ist Lincoln nun ausgerechnet im Immobiliengeschäft tätig und damit gerade innerhalb des Systems, das er einst kritisierte; Teddy korrigiert Manuskripte anderer Leute und tritt damit in die Fußstapfen seiner Lehrereltern, anstatt es endlich zu wagen, selbst einen Roman zu schreiben. Das ist schmerzhaft und desillusionierend, aber eben nicht nur, da Russo zum Glück einen zwar entlarvenden, aber auch gütigen, wertschätzenden Blick auf die Diskrepanzen in ihren Lebenskonzepten wirft.

So wird der bewegende Freundschaftsroman, der spannende Kriminalroman, der gut beobachtete Gesellschaftsroman stellenweise sogar zu einem philosophischen Roman, der Fragen aufwirft, wie das Ich sich zur Welt und zu sich selbst verhalten soll, kann oder muss, welche Grenzen und welche Möglichkeiten sich bei der Verwirklichung der eigenen Ziele auftun und wie wir mit existentiellen Bedrohungen wie Krieg oder Krankheit umgehen können. Besonderes erzählerisches Feingefühl beweist Russo hier, wenn es darum geht, die Verletzlichkeit der Körper und der Seelen am Beispiel seiner Figuren spürbar zu machen.

Diese Verletzlichkeit spielt auch in eine andere Thematik hinein, die den Roman von Anfang bis Ende durchzieht und auf sehr differenzierte Weise intensiv hinterfragt und ausgelotet wird: der Thematik der Männlichkeit nämlich, die sich vom Motiv der unverbrüchlichen Männerfreundschaft bis hin zur strukturellen Gewalt in den verschiedensten Schattierungen erstreckt. Da stehen auf der einen Seite die Erfahrungen eines Expolizisten, der in seiner Laufbahn unzählige Male Zeuge häuslicher Gewalt wurde, und ebenso unzählige Male erlebte, wie diese Fälle erfolgreich vertuscht wurden. Und auf der anderen Seite die drei Freunde, die mit ihrer unschuldigen Verliebtheit ein überzeugendes Gegenbeispiel männlichen Dominanzstrebens verkörpern. Doch sind nicht auch ihnen gewisse Geschlechterstereotype eingeimpft, hat Lincoln nicht erst spät begriffen, dass die von ihm lange nicht hinterfragte Unterordnung seiner Mutter Teil eines Familienmythos war, den sein Vater zur Aufrechterhaltung seiner Ehre errichtet hatte, da er nicht zulassen konnte, dass seine Frau mehr Vermögen besaß als er? Und beruht nicht Teddys religiös überhöhte Weigerung, Frauen näher an sich heranzulassen, in Wahrheit auf einer zur Gänze verinnerlichten Angst, wegen seiner körperlichen Versehrtheit seine männliche Würde zu verlieren? Zu guter Letzt offenbart Jaceys erst am Ende des Romans enthüllte schockierende Geschichte die ganze Komplexität von sozialen Vorurteilen und sexuellem Machtmissbrauch, von fragiler Körperlichkeit und der Unaufrichtigkeit eines Lebens im materialistisch-gesellschaftlichen Korsett; genauso aber auch die Sehnsucht, sich davon zu befreien, und den unbändigen Drang, diese Sehnsucht zu verwirklichen, bis einen unweigerlich die conditio humana in seine Schranken weist, den einen früher, den anderen später.

Bibliographische Angaben
Richard Russo: Jenseits der Erwartungen, DuMont (2020)
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Köpfer
ISBN: 9783832181154

Bildquelle
Richard Russo, Jenseits der Erwartungen
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderPilar Quintana: Hündin

Was der Falke bei Boccaccio, ist die Hündin in der grandios geschriebenen Erzählung der kolumbianischen Schriftstellerin Pilar Quintana. Der kurze, sehr dicht und ohne jeden Schnörkel erzählte Roman, der von der italienischen Renaissance weit entfernt im Lateinamerika der Gegenwart spielt, hat in der Tat einige Ähnlichkeit mit jener stilbildend gewordenen Novelle der Weltliteratur, der „Falkennovelle“ aus Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone. Auch bei Pilar Quintana kristallisiert sich der zentrale Konflikt in dem titelgebenden Tier, das dadurch symbolische Bedeutung erlangt; auch bei ihr steuert der Konflikt, am Leib des Tieres ausgetragen, zielstrebig auf eine Katastrophe zu, welche die Hündin wie der Falke am Ende nicht überlebt.

Die Hauptfigur von Quintanas Erzählung heißt Damaris und ist eine schwarze kolumbianische Frau, die unter ihrer ungewollten Kinderlosigkeit leidet. Neben dem persönlichen Schmerz, den ein unerfüllter Kinderwunsch bedeutet, stellt Damaris‘ Kinderlosigkeit in der Gesellschaft, in der sie beheimatet ist und in der Frauen früh verheiratet werden, um dann möglichst schnell für eine breite Schar Nachkommen zu sorgen, ein regelrechtes Stigma dar. Nachdem sie und ihr Mann alles Mögliche und Unmögliche versucht haben, um schließlich müde und aufgerieben wie von einem vergeblichen Kampf zu resignieren, nimmt Damaris eines Tages einen Hundewelpen bei sich auf, der natürlich zu einem Substitut für ihre enttäuschte Mutterliebe wird. Sie umsorgt ihn mit all der Liebe und Aufmerksamkeit einer Mutter für ihr neugeborenes Baby. Ängstlich und eifersüchtig darauf bedacht, den Welpen ganz für sich zu haben, und wohl auch in der uneingestandenen Furcht, ihrer psychologischen Ersatzhandlung überführt zu werden, hält sie auch ihren Ehemann auf Abstand, gegen den sie den Welpen schützen zu müssen glaubt. Das Ehepaar hat nämlich bereits zwei Hunde, um die sich allerdings Damaris‘ Ehemann kümmert, der diese jedoch eher ruppig behandelt; es sind Wachhunde, die im Haus nichts verloren haben, während Damaris mit dem Welpen nun enger zusammenlebt als mit ihrem Mann. Doch die Natur bestimmt den Lauf der Dinge; der süße, anhängliche Welpe wächst zur erwachsenen Hündin heran und benimmt sich in Damaris‘ Augen wie ein ungezogener Teenager: Das Tier läuft mehrfach einfach davon, verschwindet für einige Zeit im Urwald, um dann zerrupft wieder aufzutauchen. Damaris ist zunächst zutiefst besorgt, doch wandelt sich ihre Sorge bald in Empörung, um sich schließlich in einen geradezu irrationalen Hass zu steigern. Damaris kann nicht damit umgehen, dass die Hündin, die sie mit all ihrer Liebe aufgezogen hat, sie nun auf einmal im Stich lässt, sie betrügt, sie verrät. Denn die Hündin hat nicht nur ihre kindliche Anhänglichkeit verloren und scheint Damaris auf einmal nicht mehr zu brauchen, sondern vor allem kommt sie von einem ihrer Streifzüge trächtig zurück! Damaris, von ihren komplexen Gefühlen überrumpelt, empfindet das als unerträglichen Affront…

Dass die Erzählung so unter die Haut geht und auch so schockierend ist, liegt vor allem daran, dass wir das alles ganz nah und ungeschminkt aus der personalen Perspektive von Damaris erleben. Diese Perspektive gestaltet die Autorin stilistisch so gewandt, dass unter der unaufgeregten Oberfläche einer klaren, fast lakonischen Sprache stets weitere Schichten zum Vorschein kommen, die subtil über die oft nicht so eindeutigen Motive Aufschluss geben, die dem Verhalten und der Rede der Figuren zugrunde liegen. So begreift man, wie sehr Damaris die gesellschaftlichen Erwartungen und Werturteile verinnerlicht hat und wie heftig der innere Konflikt deshalb ausfallen muss, wenn ihre eigenen Sehnsüchte und Ansichten sich diesen als entgegengesetzt erweisen. Ebenso unterschwellig gestaltet sich im Laufe dieses sich an der Hündin materialisierenden Konflikts die schleichende Veränderung der Beziehung von Damaris zu ihren Mitmenschen und auch zu sich selbst. Während ihr Mann am Anfang wegen seines rauen Umgangs mit den Hunden unsympathisch erscheint, wandelt sich der Blick auf ihn unmerklich, bis am Ende nicht seine nüchterne Indifferenz gegenüber den Tieren, sondern die aus einer tiefen seelischen Verletzung entsprungene Grausamkeit seiner Frau das größere zerstörerische Potential entfaltet.

Hinter den aus dem Zusammenstoß von gesellschaftlicher Konvention und persönlichen Bedürfnissen resultierenden Schuldgefühlen, die in Damaris‘ Fall eine geradezu tragische Dynamik auslösen, verbirgt sich jedoch noch eine weitere, tiefenpsychologische Ebene, die bis in Damaris‘ Kindheit zurückführt, in der sie mit dem Tod der Mutter und dem tödlichen Unfall ihres besten Freundes im Meer mindestens zwei traumatische Verluste erlitten hat. Auf diffuse Weise vermengte sich damals ein unbestimmtes Gefühl von Schuld mit einer tiefen Angst davor, verlassen zu werden. So verwundert es nicht, dass der Tod in der Geschichte omnipräsent ist, von der ersten Szene, in der ein vergifteter Hund am Strand gefunden wird, bis zur letzten, in der die schwarzen Schatten der Aasgeier über dem Urwald kreisen.

Die Prekarität des Daseins bestimmt Damaris‘ Schicksal von Kindheit an, und diese Prekarität ist durchaus auch im materiellen Sinne zu verstehen und wird von ihr in jeder Hinsicht als existenziell erfahren:

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Leben der kleinen Bucht glich und dass sie sie zu Fuß durchqueren musste, die Füße im Schlamm versunken, das Wasser bis zur Taille, allein, vollkommen allein in einem Körper, der ihr keine Kinder schenkte und nur dazu diente, Dinge kaputtzumachen.

Quintana, Hündin

Pilar Quintanas Erzählung hat neben der psychologischen eine nicht minder wichtige gesellschaftliche Dimension. Damaris‘ Abwertung des eigenen Körpers entspricht im gesellschaftlichen Kontext eine soziale Abwertung ihrer Person als Teil der armen, schwarzen Bevölkerung Kolumbiens. Ihr Mann ist Fischer, sie selbst putzt in fremden Häusern, und beide wohnen sie in ärmlichsten Verhältnissen in einer Hütte auf dem riesigen Anwesen, um das sie sich in Abwesenheit der reichen Eigentümer kümmern. Am eindrücklichsten wird diese soziale Kluft in einer Szene, als das Paar Besuch von der Familie bekommt, die sich ein Vergnügen daraus macht, im Pool des Anwesens zu baden. Damaris kann dieses Vergnügen nicht mitempfinden, vielmehr wird ihr in diesem Augenblick die eigene Deklassierung nur umso schmerzhafter bewusst:

Damaris sagte sich, dass man sie niemals mit den Eigentümern verwechseln könnte. Sie waren eine Bande armer, schlechtgekleideter Schwarzer, die die Sachen der Reichen benutzten. Was für eine Anmaßung, würden die Leute denken, und Damaris schämte sich in Grund und Boden, denn anmaßend zu sein war ebenso schlimm und schändlich wie Inzest, wie ein Verbrechen.

Quintana, Hündin

Schließlich bietet nicht einmal die Natur, die sich an der urbewaldeten Küste Kolumbiens in üppiger Pracht offenbart, Damaris einen Zufluchtsort, geschweige denn eine Form von Trost. Der Dschungel ist voller gefährlicher wilder Tiere und auch das Meer, das ihr einst den Freund geraubt hat, ist eher ein metaphernreicher Spiegel von Damaris‘ versehrtem Innenleben als ein ursprüngliches, Freiheit verkündendes Naturidyll, als welches wir europäische Leser vielleicht geneigt sind, diesen für uns exotisch anmutenden Landstrich zu verklären:

(…) während draußen das Meer anschwoll und abflaute, der Regen sich bedrohlich über die Welt und den Urwald ergoss, sie umgab, ohne für sie da zu sein, so wie ihr Mann, der im Zimmer nebenan schlief und sich nicht erkundigte, was mit ihr los war, (…) so wie ihre Mutter, die nach Buenaventura gegangen war und danach gestorben war, so wie die Hündin, die sie nur großgezogen hatte, um von ihr verlassen zu werden.

Quintana, Hündin

In der harten Welt, in der Damaris aufwächst, ist kein Platz für Verklärung. Die Desillusion trägt sie schon in sich, seit sie ein Kind ist, wie folgender halb-komischer, halb-tragischer Kinderdialog über das Dschungelbuch illustriert:

„Die Tiere haben ihn gerettet?“, hatte Damaris verwirrt gefragt, und als Nicolasito geantwortet hatte: „Ja, ein Panther und eine Wolfsfamilie“, war Damaris in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil das unmöglich war.

Quintana, Hündin

So entfaltet das an Seiten so schmale Buch einen ganzen Fächer von mit feinem stilistischen Gespür gestalteten Bedeutungsebenen, die das Buch dann doch von der Novelle zum Roman erweitern und einen wirklich in Bann zu schlagen verstehen. Eine verstörende und faszinierende Lektüre!

Bibliographische Angaben
Pilar Quintana: Hündin, Aufbau Verlag (2020)
Aus dem Spanischen übersetzt von Mayela Gerhardt
ISBN: 9783351038236

Bildquelle
Pilar Quintana, Die Hündin
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderAyad Akhtar: Homeland Elegien

Auch literarische Gattungsbezeichnungen dienen natürlich dazu, dem Leser Orientierung zu geben und ihm eine Wiederkehr an einen vertrauten Ort zu versprechen. Ganz besonders ist das bei der gegenwärtig wohl beliebtesten Gattung „Roman“ der Fall, zu welcher auch Ayad Akhtars neues Buch gehören soll. Doch die Literatur als Kunstform entzieht sich nicht selten einer solch eindeutigen Zuordnung, ja kann vielmehr gerade durch einen stilistisch gewandten individuellen, ästhetisch freien Umgang mit Sprache und Struktur an literarischer Bedeutung gewinnen.

Der Autor der Homeland Elegien erweist sich nun gerade in diesem Buch als ein Schriftsteller, der sich Einordnungen aller Art immer wieder entzieht, ein natürliches Misstrauen gegenüber einfachen Zuschreibungen hegt und mit Genuss die Widersprüche und die mal staunenswerte, mal irritierende Vielfalt, die sich dahinter verbergen, zu Tage treten lässt. So wäre, obwohl Akhtar seinem Ich-Erzähler seinen eigenen Namen gegeben hat, auch die Bezeichnung „Autobiographie“ zu kurz gegriffen, da eine Herzensangelegenheit des Autors gerade darin besteht, Fiktion und Realität, Autor und Werk, nicht vorschnell in eins zu setzen, wie das bei seinen Theaterstücken in der Vergangenheit bereits passiert ist. Nicht zuletzt ist der Text auch eine künstlerisch freie Stellungnahme zu all den in der geschwätzigen (sozialen) Medienwelt kursierenden Spekulationen über den Autor preisgekrönter und zugleich umstrittener Dramen (v.a. Disgraced aus dem Jahr 2012 über muslimische Einwanderer in Amerika). Man könnte nun eine ganze Weile weitersuchen und Begriffe wie Autofiktion, literarischer Essay, anekdotenhafte Memoiren, humoristisch-philosophisches Tagebuch gegeneinander abwägen, um sich der Besonderheit seines Textes zu nähern. Vielleicht aber kommt man diesem intellektuell erfrischenden Buch, das einen immer wieder zum Lachen bringt und charmant provokant und hellsichtig auch den empörendsten Verhaltensweisen auf den Grund geht, eher mit den folgenden Zeilen aus dem Text selbst auf die Spur. Das autofiktionale Ich beschreibt hier, welcher Art die Notizen sind, die es sich — vielleicht ähnlich wie der Autor — immer wieder über die Erlebnisse und Eindrücke des Tages macht:

Die Technik, die ich für diese Aufzeichnungen anwendete, verdankte viel dem Traumtagebuch, das ich jahrelang geführt hatte. Ich kümmerte mich nicht um die Chronologie und legte großen Wert auf Details. Je lebendiger ein Fragment, ein Geräusch, ein Bild war — und je gründlicher ich es sprachlich verarbeitete –, desto ergiebiger war das Assoziationsfeld, das es erzeugte. Der Prozess war nicht intuitiv; es war, als würde ich die ursprünglichen Sedimentschichten auf einem zutage geförderten Erzklumpen identifizieren. Der Geist erinnerte sich an das Wesentliche und vergaß die Schlacke, doch gerade die enthielt so viel Leben.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Eben diese chronologische Freiheit und diese tief unter der scheinbar glatten Oberfläche grabende Detailversessenheit sind charakteristisch für den Stil des ganzen Buches, das in großen thematischen Kapiteln einzelne Episoden aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers, seiner Freunde und insbesondere seiner eigenen Familie enthält, in denen das Dialogische stark in den Vordergrund tritt und den intelligenten, alles hinterfragenden und sehr oft (selbst)ironischen Reflexionen des Erzählers eine bestechende Anschaulichkeit verleiht. In dieser komplexen und unorthodoxen Form gelingt dem Autor ein tiefer, subtiler und einfach hochinteressanter Einblick in die latenten psychologischen und gesellschaftlichen Antriebe und Widersprüche, Bedürfnisse und Ängste der amerikanischen Bevölkerung der Gegenwart. Ob es um Verwerfungen im Bereich des Gesundheitssystems, des Finanzsektors oder um die himmelschreiende Ungleichheit zwischen ländlichen und städtischen Regionen geht, immer wieder dringt er am ganz individuellen menschlichen Beispiel auch zu ökonomischen Strukturen vor, die das Denken, die (Vor-)Urteile und Verhaltensweisen der Menschen nachhaltig beeinflussen.

Bei all seinen Beobachtungen, die in einem Ton verfasst sind, in dem frech und ernsthaft, Anteil nehmend und kritisch entlarvend, involviert und analysierend, schmerzhaft und ironisch-witzig keinen Widerspruch bilden, stehen die einzelnen Menschen und ihre individuellen Geschichten im Vordergrund. Letztlich werden auch die abstrahierenden Schlüsse, die der sich gleichfalls immer wieder selbst in seinen Motiven und Urteilen erforschende Ich-Erzähler daraus zieht, nicht als endgültige Wahrheiten präsentiert. Allen porträtierten Verhaltensweisen liegen Biographien zugrunde, die zwar einiges erklären, doch sowohl in sich Brüche und Widersprüche aufweisen, so dass ein gebildeter muslimischer Kardiologe wie sein Vater eine Zeitlang Donald Trump verfallen ist, als auch untereinander kaum pauschal miteinander verglichen werden können. Es steht dem Autor fern, sich von einer bestimmten Gruppe oder einem Kollektiv vereinnahmen zu lassen. Gleichwohl er durchaus intensiv ergründet, inwiefern auch seine eigene Herkunft ihn in seinem Denken und Fühlen beeinflusst und gleichwohl er zahlreiche scheinbar alltägliche Situationen eines schmerzhaft am eigenen Leibe erfahrenen Rassismus schildert, erhebt er das Thema „race“ nicht zur identitätsstiftenden Maxime. Der Blick bleibt konsequent auf den einzelnen Menschen gerichtet und erreicht doch gerade dadurch eine umso ausgeprägtere Differenziertheit und Diversität, die der Autor schon in den so divergierenden Ansichten in seiner eigenen Familie erlebt.

Wenn ich überhaupt etwas in der albernen Schwärmerei meines Vaters für Trump sah, dann ein menschliches Element — schwach und irrational –, und das passte nicht in das klare Bild, das Mike vom Geist Amerikas zeichnete. Als Künstler vertraute ich eher dem Durcheinander.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Gerade diese widerspenstige Detailversessenheit aber macht das Buch so sympathisch und so bereichernd! Und vor allem auch zu einem großen literarischen Kunstwerk, das — so die selbstverständlich auch keineswegs unhinterfragte These der Literaturprofessorin des Ich-Erzählers — die Welt vielleicht nicht gleich besser macht, aber doch bestimmt ein wenig die Augen zu öffnen vermag und so die beste Illustration dieser in die Kunst vertrauenden These darstellt.

Bibliographische Angaben
Ayad Akhtar: Homeland Elegien, Claassen (2020)
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
ISBN: 9783546100144

Bildquelle
Ayad Akhtar, Homeland Elegien
© 2020 Claassen in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

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