bookmark_borderDiego Valverde Villena: Feuerzungen

Feuerzungen… der Titel ruft viele Assoziationen hervor, das Sinnliche, Körperliche, Elementare, Verzehrende einer Liebesleidenschaft ebenso wie das Mystische, Spirituelle, Geistige des biblischen Pfingstwunders, das ja auch als großes Sprachereignis geschildert wird. In Diego Valverde Villenas Gedichtband spielt all das mit hinein, er ist eine Feier der Liebe wie der Worte, und aus jeder Zeile geht hervor, dass eine Sprache ohne Sinnlichkeit für den Dichter nicht vorstellbar ist.

Diego Valverde Villena, 1967 als Sohn einer Bolivianerin und eines Spaniers in Peru geboren, hat schon zahlreiche Gedichtbände in seiner spanischen Mutter- und Vatersprache veröffentlicht. Feuerzungen ist eine Zusammenstellung von insgesamt 75 Gedichten, die hier nun zum ersten Mal auf deutsch erscheinen, in einer nah am Original entlanggeführten Übersetzung von Harry Oberländer, die eine schöne Brücke von der linksseitig abgedruckten spanischen Fassung zur deutschen Fassung auf der rechten Seite schlägt. Auch wenn man des Spanischen nicht oder nur wenig mächtig ist, lässt sich so der Originalklang erahnen und der ursprüngliche Ton Vers für Vers nachvollziehen.

Valverde Villena reiht sich mit seinen Gedichten in die große Tradition der Liebeslyrik ein, und er macht aus dieser Intertextualität keinen Hehl. Im Vorwort, das er diesem Band gewidmet hat, liest man von der Bedeutung der mittelalterlichen Gattung des Minnesangs für sein Werk, Walther von der Vogelweides Lieder „ebener“, also erfüllter Liebe von gleich zu gleich werden in ihrer Heiterkeit geradezu zum Programm erhoben, sein „tandaradei“ zum mystischen Zauberspruch einer dem Leben und der Liebe zugewandten Haltung. Auch in Valverde Villenas Gedichten selbst findet sich immer wieder eine spielerische Hervorkehrung der Traditionslinien, die vom Mittelalter über Renaissance und Barock bis in die Gegenwart reichen. Die Feuerzungen versammeln vor allem kurze und auch einige Kürzestgedichte, die alle in luftig-leichtem Gewand daherkommen und zugleich assoziations- und bedeutungsreich sind; in wenigen Zeilen durchquert das lyrische Ich Zeiten und Länder, schweift vom All zum Körper, und umgekehrt, lässt den Makrokosmos der Sterne aufblitzen, um zum Mikrokosmos winziger Insekten zu gelangen.

Eine Handvoll Einzeiler sind darunter, die den verdichteten, mit Traditionen spielenden Stil besonders eindrücklich veranschaulichen. In „Ungehorsam des Schlafs“ scheint mit der Antithese das Petrarchistische der Liebesqualen des lyrischen Ich auf, der seine Liebste nicht vergessen kann, nur um es im selben Atemzug zu unterlaufen: Hier erscheint das hartnäckige Traumbild der Einen, die es dem lyrischen Ich verwehrt, sich Anderen (im Plural!) zuzuwenden:

Ungehorsam des Schlafs
Quiero soñar con otras, y apareces tú
Träumen möchte ich von Anderen, und Du erscheinst

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Ein weiteres Kürzestgedicht, „Mund“, vermilzt die Ebenen der Sinnlichkeit und der Transzendenz zu einem unauflösbaren, den Widerspruch in sich tragenden, christlich-barbarischen Bild:

Mund
Tu boca es una planta carnívora que se ha hecho carne
Dein Mund ist eine fleischfressende Fleisch gewordene Pflanze

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

In den Gedichten dieses Bandes, auch in den etwas längeren, werden immer wieder die seit Petrarcas Canzoniere in den Lyrikkanon eingegangenen Metaphern der Schmerzliebe aufgerufen, nicht ohne sie zugleich aus den ja inzwischen nicht mehr allzu festen Angeln einer in sich schon vielgestaltigen Tradition zu lösen und in Bewegung zu versetzen. So etwa, wenn einem topischen Gegensatz wie dem von Feuer und Schnee eine Vergänglichkeit eingeschrieben wird, in der sich die lyrischen Traditionen kreuzen: wenn die Glut der romantischen Begegnungen zum Schnee vom letzten Jahr wird, leuchtet neben der barocken vanitas mit der Metro und dem Nahverkehrszug auch die Flüchtigkeit der Großstadt auf, wie sie bei Charles Baudelaire, dem Dichter der Moderne, zum ersten Mal poetisch erfahrbar wurde. Auch aus dem sinnlichen Bildmaterial der Mythologie und der Märchen schöpft Valverde Villena in seinen Gedichten, um es — zu neuer Form zerfließend wie das Wachs in Odysseus‘ Ohren, das in den Feuerzungen dem zersetzenden Gesang der Sirenen nicht standzuhalten vermag, nicht standhalten will? — zu variieren, zu verfremden, in andere Kontexte zu setzen. Auch sprachlich-stilistisch scheint die Tradition der Liebeslyrik vielerorts in Valverde Villenas Gedichten auf, die bereits erwähnten zum Topos gewordenen Antithesen spielen eine Rolle, und auch an die barocke Erscheinungsform des Conceptismo, der mit einfachem Vokabular und Wortspielen nach Witz und Doppelsinnigkeit strebt, erinnern viele seiner luftig-sinnliche Pointen schlagenden Verse.

Mystik, Religion, heilige Liebe

Soy un cirio encendido por tus ojos
¿A quién miraré si no?
Ich bin eine Kerze entzündet durch deinen Blick
Wen schaue ich an wenn nicht?


Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Das Schauen ist in fast allen Gedichten zentral, die Augen werden, wie in den hier aufgeführten Anfangsversen eines Gedichts mit dem Titel „Liturgie“, zu Akteuren der Liebe. Dabei vermischen sich die Sphären des Heiligen und des Erotischen, werden ununterscheidbar. Was in früheren Zeiten Blasphemie genannt worden wäre, lässt sich in Valverde Villenas zeitgenössischen Gedichten eher als eine moderne Transzendenzerfahrung beschreiben. Seine liebsten Vorbilder scheinen jedenfalls gerade die Dichter zu sein, die das Lebendige feiern und die auf diese Weise mitunter auch provoziert haben, von der sinnenfreudigen griechischen Mythologie über die schon erwähnte „ebene“ Minne Vogelweides, den katalanischen Dichter Ausías March (14. Jh.), der die Idealisierung des Weiblichen in seiner erneuerten Troubadourlyrik über Bord warf, über John Donne (17. Jh.) bis hin zu Dylan Thomas (20. Jh.). Für eine Sakralisierung des Erotischen nach dem Vorbild John Donnes etwa gibt es in den Feuerzungen viele Beispiele: „Deine Augen sind die Schrift Gottes“ und „Nackt betrete ich deinen nackten Altar“, um nur ein paar Verse aus dem dreifaltigen Minizyklus mit dem Titel „Ikonen (I), (II) und (III)“ zu zitieren. Mit dem immer wieder in den Gedichten der Feuerzungen aufleuchtenden Motivkreis der Religion und auch des Mystischen verbindet sich, und das ist das Aufregende, ein sich von der Tradition wieder freimachender neuer, unerwarteter Blick, der auch ein Aufblitzen der Offenbarung, des Geheimnisses, der Liebe sein kann, drei Begriffe, die bei Valverde Villena miteinander verschmelzen, um, wie das flüssig gewordene Wachs des Odysseus, immer neue Gestalt anzunehmen. Wie die Erotik eine sakrale Ebene erhält, wird auch das Mystische vom schreibenden Ich als eine zutiefst körperliche Erfahrung erlebt. Und so gibt es noch Wunder in den zugleich sehr in der Gegenwart verankerten Gedichten, wenn diese Wunder auch andere, neue Erscheinungsformen wählen. In „Beim Verlassen der Messe“ etwa findet die Epiphanie ganz unerwartet außerhalb des sakralen Raumes, mitten im Leben, statt.

Das wandernde Muttermal — die Feuerzungen des Körpers

Deshalb spielt auch Körperliches eine große Rolle in den Feuerzungen: Haut und Hände, Lippen, Wimpern, all die Körper-Topoi, die man aus der Tradition der Liebeslyrik kennt, und auch Körperteile, die seltener darin vorkommen, wie Fingernägel und Muttermale, verselbständigen sich, schlagen irgendwann im Wechsel der meist kurzen Verse einen unerwarteten Weg ein. Am schönsten zeigt sich das vielleicht in dem Gedicht „Muttermale“, in dem sich das liebende Ich darüber empört, dass die Muttermale auf dem Körper der Geliebten nicht an derselben Stelle bleiben. Sie scheinen zu wandern, jeden Tag an einer anderen Stelle aufzutauchen — wandernde Muttermale, Quell der Faszination und der Verunsicherung. Mit dieser in Bewegung gesetzten Körpermetapher wendet Valverde Villena eine tradierte Motivik um, gewinnt ihr eine neue Bedeutung ab, lenkt den Blick auf die Instabilität, das Wankelmütige, Spielerische einer Liebesbeziehung, während das Muttermal, ähnlich wie eine Narbe, ehedem als in die Haut eingeschriebenes und damit zuverlässiges, unverrückbares Zeichen des Schicksals gelesen wurde.

Dass die Annäherung zweier Liebender ein Wagnis ist, das es sich jedoch einzugehen lohnt, geht aus den Gedichten immer wieder hervor, der Körper der Liebenden ist Territorium ebenso für Schmerz und für Hingabe, für Verachtung und für Verschmelzung, Empfindlichkeit wird zur Voraussetzung der Empfindsamkeit oder vielleicht besser des Empfindens als solchem. Eine erotische Berührung wird etwa mit der Invasion eines Heeres von Insekten verglichen, das traditionelle Kipp-Motiv von Eroberung und Überwältigung experimentierfreudig variiert. Trotz der Feuerzungen, die in den Körpern wühlen, ist hier keine dominante Männlichkeit zu spüren, diese erscheint oft eher in jungenhafter Hilflosigkeit und Offenheit, jedoch ohne die Geliebte deshalb zur Domina zu stilisieren. Auch sie ist ein Körper, der sich spürt, ein Sparringspartner, ein Gegenüber, das sich im Anderen erfährt. In dem in wenigen Versen neu erzählten Märchen „Der Prinz auf der Erbse“ werden die Geschlechterrollen sogar ganz umgekehrt.

Der Dichter als Übersetzer — die Feuerzungen der Sprache

Die für den Titel gewählte Metapher der Feuerzungen lässt sich, wie schon angedeutet, nicht bloß als Körpermetapher lesen, ist nicht bloß Ausdruck der sinnlich erfahrenen Liebesleidenschaft, sondern verweist hier ganz klar auch auf das Pfingstwunder der Apostelgeschichte. So wie auf einmal jeder die Offenbarung durch die geistgeflügelten Zungen der Apostel in seiner eigenen Muttersprache hören und verstehen kann, wird auch der Dichter der Feuerzungen zum Übersetzer und Zeichendeuter für seine Leser. Das ist im Text immer wieder spürbar, fast programmatisch im Gedicht „Der Regen in Cherrapunji“, in dem der Regen als göttliches Zeichen gedeutet wird („Als hätte der scharfe Finger Gottes / das Herz der Wolken aufgerissen“), sich dann zur Tinte der Schreibkraft (des Dichters) wandelt, mit der dieser wiederum dem Schicksal Gestalt verleihen kann. Auch im Gedicht „Betende Polinnen“, in dem in wenigen Versen ein anspielungsreiches Netz aus Körperlichkeit, Mythologie, Mysterium und Liebe gewoben wird, zeigt Valverde Villena, wie man allein mit Sprache auf den ersten Blick ganz einfache Bilder evozieren kann, die im Kontext des Gedichts und des ganzen Gedichtbandes mehrsinnig zu leuchten beginnen.

Sus ojos lenguas de fuego

Entregadas al misterio
Su cuerpo se vuelve hostie

Existe la comunión
por una tercera especie

Ihre Augen Feuerzungen

Dem Mysterium hingegeben
wandelt sich ihr Leib zur Hostie

Es gibt die Kommunion
auf eine dritte Weise.


Diego Valverde Villena: „Betende Polinnen“, aus den Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Valverde Villena sieht seine Aufgabe als Dichter darin, ein Bild von einem Kontext in einen anderen zu übersetzen, als Vermittler zwischen Lateinamerikanischem und Europäischem ebenso wie zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen mystischer und weltlicher Liebeslyrik. Er geht dabei vor wie ein Kerzengießer, verschmilzt das Wachs, das Odysseus sich in die Ohren stopft, um der gefährlichen Erotik der Sirenen nicht zu erliegen, mit dem heiligen Wachs der Kerzen, die die polnischen Kirchgängerinnen entzünden und mit dem profanen Wachs der Ohrstöpsel seines lyrischen Ichs. Mit der sinnlichen Beredsamkeit der Zungen des Heiligen Geists offenbaren die Sprachbilder seiner Gedichte einem ein universales Gefühl des existentiellen Wagnisses der Liebe, die mystische Vollendung in der Wunde, der Verletzung, der Sinnlichkeit.

Bibliographische Angaben
Diego Valverde Villena: Feuerzungen, Edition Faust 2024
Aus dem Spanischen übertragen von
ISBN: 9783949774263

Bildquelle
Diego Valverde Villena, Feuerzungen
© 2024 Edition Faust in der Faust Kultur GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderPilar Quintana: Hündin

Was der Falke bei Boccaccio, ist die Hündin in der grandios geschriebenen Erzählung der kolumbianischen Schriftstellerin Pilar Quintana. Der kurze, sehr dicht und ohne jeden Schnörkel erzählte Roman, der von der italienischen Renaissance weit entfernt im Lateinamerika der Gegenwart spielt, hat in der Tat einige Ähnlichkeit mit jener stilbildend gewordenen Novelle der Weltliteratur, der „Falkennovelle“ aus Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone. Auch bei Pilar Quintana kristallisiert sich der zentrale Konflikt in dem titelgebenden Tier, das dadurch symbolische Bedeutung erlangt; auch bei ihr steuert der Konflikt, am Leib des Tieres ausgetragen, zielstrebig auf eine Katastrophe zu, welche die Hündin wie der Falke am Ende nicht überlebt.

Die Hauptfigur von Quintanas Erzählung heißt Damaris und ist eine schwarze kolumbianische Frau, die unter ihrer ungewollten Kinderlosigkeit leidet. Neben dem persönlichen Schmerz, den ein unerfüllter Kinderwunsch bedeutet, stellt Damaris‘ Kinderlosigkeit in der Gesellschaft, in der sie beheimatet ist und in der Frauen früh verheiratet werden, um dann möglichst schnell für eine breite Schar Nachkommen zu sorgen, ein regelrechtes Stigma dar. Nachdem sie und ihr Mann alles Mögliche und Unmögliche versucht haben, um schließlich müde und aufgerieben wie von einem vergeblichen Kampf zu resignieren, nimmt Damaris eines Tages einen Hundewelpen bei sich auf, der natürlich zu einem Substitut für ihre enttäuschte Mutterliebe wird. Sie umsorgt ihn mit all der Liebe und Aufmerksamkeit einer Mutter für ihr neugeborenes Baby. Ängstlich und eifersüchtig darauf bedacht, den Welpen ganz für sich zu haben, und wohl auch in der uneingestandenen Furcht, ihrer psychologischen Ersatzhandlung überführt zu werden, hält sie auch ihren Ehemann auf Abstand, gegen den sie den Welpen schützen zu müssen glaubt. Das Ehepaar hat nämlich bereits zwei Hunde, um die sich allerdings Damaris‘ Ehemann kümmert, der diese jedoch eher ruppig behandelt; es sind Wachhunde, die im Haus nichts verloren haben, während Damaris mit dem Welpen nun enger zusammenlebt als mit ihrem Mann. Doch die Natur bestimmt den Lauf der Dinge; der süße, anhängliche Welpe wächst zur erwachsenen Hündin heran und benimmt sich in Damaris‘ Augen wie ein ungezogener Teenager: Das Tier läuft mehrfach einfach davon, verschwindet für einige Zeit im Urwald, um dann zerrupft wieder aufzutauchen. Damaris ist zunächst zutiefst besorgt, doch wandelt sich ihre Sorge bald in Empörung, um sich schließlich in einen geradezu irrationalen Hass zu steigern. Damaris kann nicht damit umgehen, dass die Hündin, die sie mit all ihrer Liebe aufgezogen hat, sie nun auf einmal im Stich lässt, sie betrügt, sie verrät. Denn die Hündin hat nicht nur ihre kindliche Anhänglichkeit verloren und scheint Damaris auf einmal nicht mehr zu brauchen, sondern vor allem kommt sie von einem ihrer Streifzüge trächtig zurück! Damaris, von ihren komplexen Gefühlen überrumpelt, empfindet das als unerträglichen Affront…

Dass die Erzählung so unter die Haut geht und auch so schockierend ist, liegt vor allem daran, dass wir das alles ganz nah und ungeschminkt aus der personalen Perspektive von Damaris erleben. Diese Perspektive gestaltet die Autorin stilistisch so gewandt, dass unter der unaufgeregten Oberfläche einer klaren, fast lakonischen Sprache stets weitere Schichten zum Vorschein kommen, die subtil über die oft nicht so eindeutigen Motive Aufschluss geben, die dem Verhalten und der Rede der Figuren zugrunde liegen. So begreift man, wie sehr Damaris die gesellschaftlichen Erwartungen und Werturteile verinnerlicht hat und wie heftig der innere Konflikt deshalb ausfallen muss, wenn ihre eigenen Sehnsüchte und Ansichten sich diesen als entgegengesetzt erweisen. Ebenso unterschwellig gestaltet sich im Laufe dieses sich an der Hündin materialisierenden Konflikts die schleichende Veränderung der Beziehung von Damaris zu ihren Mitmenschen und auch zu sich selbst. Während ihr Mann am Anfang wegen seines rauen Umgangs mit den Hunden unsympathisch erscheint, wandelt sich der Blick auf ihn unmerklich, bis am Ende nicht seine nüchterne Indifferenz gegenüber den Tieren, sondern die aus einer tiefen seelischen Verletzung entsprungene Grausamkeit seiner Frau das größere zerstörerische Potential entfaltet.

Hinter den aus dem Zusammenstoß von gesellschaftlicher Konvention und persönlichen Bedürfnissen resultierenden Schuldgefühlen, die in Damaris‘ Fall eine geradezu tragische Dynamik auslösen, verbirgt sich jedoch noch eine weitere, tiefenpsychologische Ebene, die bis in Damaris‘ Kindheit zurückführt, in der sie mit dem Tod der Mutter und dem tödlichen Unfall ihres besten Freundes im Meer mindestens zwei traumatische Verluste erlitten hat. Auf diffuse Weise vermengte sich damals ein unbestimmtes Gefühl von Schuld mit einer tiefen Angst davor, verlassen zu werden. So verwundert es nicht, dass der Tod in der Geschichte omnipräsent ist, von der ersten Szene, in der ein vergifteter Hund am Strand gefunden wird, bis zur letzten, in der die schwarzen Schatten der Aasgeier über dem Urwald kreisen.

Die Prekarität des Daseins bestimmt Damaris‘ Schicksal von Kindheit an, und diese Prekarität ist durchaus auch im materiellen Sinne zu verstehen und wird von ihr in jeder Hinsicht als existenziell erfahren:

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Leben der kleinen Bucht glich und dass sie sie zu Fuß durchqueren musste, die Füße im Schlamm versunken, das Wasser bis zur Taille, allein, vollkommen allein in einem Körper, der ihr keine Kinder schenkte und nur dazu diente, Dinge kaputtzumachen.

Quintana, Hündin

Pilar Quintanas Erzählung hat neben der psychologischen eine nicht minder wichtige gesellschaftliche Dimension. Damaris‘ Abwertung des eigenen Körpers entspricht im gesellschaftlichen Kontext eine soziale Abwertung ihrer Person als Teil der armen, schwarzen Bevölkerung Kolumbiens. Ihr Mann ist Fischer, sie selbst putzt in fremden Häusern, und beide wohnen sie in ärmlichsten Verhältnissen in einer Hütte auf dem riesigen Anwesen, um das sie sich in Abwesenheit der reichen Eigentümer kümmern. Am eindrücklichsten wird diese soziale Kluft in einer Szene, als das Paar Besuch von der Familie bekommt, die sich ein Vergnügen daraus macht, im Pool des Anwesens zu baden. Damaris kann dieses Vergnügen nicht mitempfinden, vielmehr wird ihr in diesem Augenblick die eigene Deklassierung nur umso schmerzhafter bewusst:

Damaris sagte sich, dass man sie niemals mit den Eigentümern verwechseln könnte. Sie waren eine Bande armer, schlechtgekleideter Schwarzer, die die Sachen der Reichen benutzten. Was für eine Anmaßung, würden die Leute denken, und Damaris schämte sich in Grund und Boden, denn anmaßend zu sein war ebenso schlimm und schändlich wie Inzest, wie ein Verbrechen.

Quintana, Hündin

Schließlich bietet nicht einmal die Natur, die sich an der urbewaldeten Küste Kolumbiens in üppiger Pracht offenbart, Damaris einen Zufluchtsort, geschweige denn eine Form von Trost. Der Dschungel ist voller gefährlicher wilder Tiere und auch das Meer, das ihr einst den Freund geraubt hat, ist eher ein metaphernreicher Spiegel von Damaris‘ versehrtem Innenleben als ein ursprüngliches, Freiheit verkündendes Naturidyll, als welches wir europäische Leser vielleicht geneigt sind, diesen für uns exotisch anmutenden Landstrich zu verklären:

(…) während draußen das Meer anschwoll und abflaute, der Regen sich bedrohlich über die Welt und den Urwald ergoss, sie umgab, ohne für sie da zu sein, so wie ihr Mann, der im Zimmer nebenan schlief und sich nicht erkundigte, was mit ihr los war, (…) so wie ihre Mutter, die nach Buenaventura gegangen war und danach gestorben war, so wie die Hündin, die sie nur großgezogen hatte, um von ihr verlassen zu werden.

Quintana, Hündin

In der harten Welt, in der Damaris aufwächst, ist kein Platz für Verklärung. Die Desillusion trägt sie schon in sich, seit sie ein Kind ist, wie folgender halb-komischer, halb-tragischer Kinderdialog über das Dschungelbuch illustriert:

„Die Tiere haben ihn gerettet?“, hatte Damaris verwirrt gefragt, und als Nicolasito geantwortet hatte: „Ja, ein Panther und eine Wolfsfamilie“, war Damaris in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil das unmöglich war.

Quintana, Hündin

So entfaltet das an Seiten so schmale Buch einen ganzen Fächer von mit feinem stilistischen Gespür gestalteten Bedeutungsebenen, die das Buch dann doch von der Novelle zum Roman erweitern und einen wirklich in Bann zu schlagen verstehen. Eine verstörende und faszinierende Lektüre!

Bibliographische Angaben
Pilar Quintana: Hündin, Aufbau Verlag (2020)
Aus dem Spanischen übersetzt von Mayela Gerhardt
ISBN: 9783351038236

Bildquelle
Pilar Quintana, Die Hündin
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

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