Dass Kanada dieses Jahr Gastland der Buchmesse war, hat hierzulande einige tolle literarische Entdeckungen mit sich gebracht, und der Québecer Thrillerautor Martin Michaud mit seiner in jeder Hinsicht packenden Krimireihe um den Ermittler Victor Lessard ist eine davon!
Mich hat es richtig hineingezogen in die bis zur letzten Seite geschickt und vertrackt und überraschend gesponnene Krimihandlung, die vom Selbstmord eines Obdachlosen im Montréal unserer Gegenwart bis zurück in die 1960er Jahre und zum Attentat an John F. Kennedy führt, in der eine geheimnisvolle alte juristische Akte, fragwürdige psychologische Experimente und sogar der Geheimdienst eine Rolle spielen und in die zahlreiche namhafte Personen verwickelt sind, von denen eine nach der anderen auf brutale Weise ermordet aufgefunden wird. Will hier jemand etwas vertuschen oder im Gegenteil eine haarsträubende Geschichte ans Tageslicht bringen? Geht es um Erpressung oder um Rache, oder beruht doch alles nur auf den schizophrenen Wahnvorstellungen eines alten verwahrlosten Mannes, der sich aus Verzweiflung in den Tod gestürzt hat?
Zugegeben, am Anfang war ich etwas skeptisch, der Wechsel zwischen den Perspektiven und Zeiten wirkt erst einmal verwirrend. Doch mit jeder Seite nimmt das komplexe Konstrukt mehr Gestalt an, einzelne Puzzleteile fügen sich zueinander und bald jagt man gemeinsam mit dem Sergent Détective Victor Lessard und seinem Team atemlos neuen Spuren und Erkenntnissen hinterher. Auch die brutalen Szenen, die zu Beginn abschreckend wirken können, werden im weiteren Verlauf nicht grundlos weiter ausgeschlachtet. Der Fokus liegt vielmehr auf den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Figurenpsychologie, nicht nur der Täter, sondern auch, und das macht meiner Ansicht nach das Buch so lesenswert, die des Ermittlerteams und selbst der nur kurz auftretenden Randfiguren. Der Autor nimmt seine Figuren ernst, gibt jeder eine eigene Geschichte, so dass auch die Polizisten nicht auf ihre Ermittlerfunktion beschränkt dargestellt werden, sondern — vor allem durch die vielen lebendigen Dialoge — genauso der familiäre Kontext und ihre Rolle im Team sichtbar gemacht werden. Man hat daher beim Lesen wirklich Menschen vor Augen, die mit all ihren Schrullen und Eigenheiten, Ängsten und Dämonen, mal amüsiert, mal kritisch, und immer einfühlsam gezeigt werden.
Da ist etwa die aufbrausende Jacinthe, die mit einer Frau verheiratet ist, einen rasanten Fahrstil und schier unstillbaren Appetit hat und Victor mit ihrer impulsiven Art und ihren Sticheleien immer wieder auf die Palme bringt, die sich aber insgeheim rührend um ihn sorgt und eine treue und mutige Kollegin ist, auf die er sich jederzeit verlassen kann. Victor Lessard selbst hat der Autor als ganz besonders vielschichtige Persönlichkeit angelegt, in der Summe vielleicht sogar ein bisschen zu vielschichtig, wovon die in einer Reihe erscheinenden Krimis stofflich aber natürlich noch weiter zehren können: Er ist eine sympathische und gepeinigte Figur, ein brillanter Ermittler, ein feinfühliger, aber keineswegs von Fehlern und Charakterschwächen freier Mensch, der schon einige Schicksalsschläge hinter sich hat, die ihre Spuren hinterlassen haben, übrigens im negativen wie im positiven Sinn. So wird auf ein schlimmes Verbrechen in seiner Kindheit angespielt, das ihn
zum Waisenkind gemacht hat, aber ebenso auf die liebevolle und ihn sehr prägende Ersatzfamilie, die er bei einem schwulen Polizisten und dessen Lebensgefährten fand. Außerdem ist er trockener Alkoholiker, geschieden und Vater zweier inzwischen erwachsener Kinder, von denen der Junge Martin ihm immer wieder Sorgen macht. Und auch die Beziehung zu seiner neuen großen Liebe Nadja, wie er im Polizeidienst, aber um einiges jünger, wird im Verlauf der Geschichte auf eine schwere Probe gestellt.
Besonders gefallen hat mir auch, dass in die große und wendungsreich erzählte Kriminalgeschichte so viele kleine Szenen eingebaut sind, in denen nicht nur die Hauptfiguren nochmal von einer anderen Seite gezeigt werden, sondern auch die Randfiguren so an Anschaulichkeit gewinnen, dass insgesamt ein dichtes und lebendiges Bild der kanadischen bzw. nordamerikanischen Gesellschaft entsteht. In einer solchen Szene tritt ein schwarzer Taxifahrer, der mit Witz und Courage ganz selbstverständlich eingreift, als Victor in Dallas verprügelt wird, für einen Moment in den Vordergrund der Handlung. Auch die Scharmützel mit Jacinthe und die erzählerischen Miniaturen, in denen auf tragikomische Weise Victors Duelle mit dem Alkohol geschildert werden, dem er in seiner Verzweiflung mehrfach beinahe wieder verfällt, bleiben einem noch lang in Erinnerung.
„Je me souviens“, „Ich erinnere mich“, heißt das Buch im französischen Original. Das Motiv der Erinnerung und des Fortwirkens der Vergangenheit durchzieht eindrücklich den ganzen Roman. Michaud erzählt eine Geschichte von Unrecht und Gewalt, die nicht selten eine schreckliche Eigendynamik entwickelt, und er stellt auf mehreren Ebenen die Frage, wie Kinder mit dem Erbe ihrer Väter umgehen, wo die Schuld ihren Ursprung hat und wo die eigene Verantwortung einsetzt.
Wer die Kriminalromane von Fred Vargas, Jean-Christophe Grangé oder Olivier Norek mag, der wird bestimmt auch an Martin Michaud seine Freude haben — ich habe ihn jedenfalls schon in die Runde meiner französischsprachigen Lieblingskrimischriftsteller eingereiht.
Bibliographische Angaben
Martin Michaud: Aus dem Schatten des Vergessens, Hoffmann und Campe (2020)
Aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer und Anabelle Assaf
ISBN: 9783455010077
Bildquelle
Martin Michaud, Aus dem Schatten des Vergessens
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg