bookmark_borderErich Wolfgang Skwara: Mare Nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen

Eine sehr poetische, aber auch sehr ungewöhnliche, sich suggestiv entfaltende und ebenso wieder entziehende Liebes- und mehr noch Sehnsuchtsgeschichte erzählt uns der österreichische Schriftsteller Erich Wolfgang Skwara in seinem neuen Buch; er erzählt in vielen kunstvoll miteinander verwobenen Erinnerungsschichten vom Leben seines Protagonisten, der „seltsam unberührt und doch zerschmettert vom Geschehenen“ (S. 205) aus der für den Roman zentralen Begegnung hervorgehen wird. Skwaras Erzählung ist eine Suche nach Liebe und Begegnung und eine Hymne auf die Schönheit, wenn auch im Grunde weniger der geliebten Frau denn all dessen, was sich im Sehnsuchtsbegriff des Südens verbirgt. Die blaue Mittelmeerregion mit ihrer Lebensart, das Fernweh und überhaupt das Reisen werden zur Metapher einer Sehnsucht, die die Unmöglichkeit ihrer dauerhaften Erfüllung, nämlich des tatsächlichen Ankommens, schon in sich zu tragen scheint.

Angelpunkt der Erzählung ist der mediterrane Ort Menton an der französischen Grenze zu Italien, für den Protagonisten ein Leben lang betörendes Sinnbild des Südens. Diesen Ort hat er zum Schauplatz eines bedeutsamen Wiedersehens nach 27 Jahren mit einer italienischen Jugendfreundin auserkoren. Doch einschneidender als die erste Begegnung mit der Italienerin scheint noch die erste Begegnung mit der Stadt Menton, mit dem Süden. Zwischen seiner ersten Reise dorthin und dem Treffen der längst erwachsenen Liebenden liegt ein halbes Leben, das in sich jeweils zur neuen Erzählgegenwart umformenden Rückblenden nach und nach Gestalt annimmt. Genauso gibt es aber auch Vorausblenden, in denen sich andeutet, wie der Protagonist mit 50 Jahren leben wird und wie es ihm als alterndem Mann ergeht. Dabei bleibt in der Schwebe, was Wirklichkeit, was Traum, Ahnung oder Projektion ist. Die Kategorie der Zeit ist hier dem subjektiven und ästhetischen Empfinden unterworfen, bestimmend ist der in ein Symbol verwandelte Ort, an dem sich die Zeit verdichten oder verflüchtigen kann.

Und der zum Auslöser von Erinnerungen wird: So wird sehr ausführlich die erste Reise geschildert, die der Protagonist als Junge auf eigene Faust nach Menton unternimmt. Hals über Kopf hat er sich in den ersten Zug gesetzt, reist ganz allein, ohne Wissen der Mutter, dafür mit dem ihm von ihr zu einem anderen Zweck anvertrauten Geld, wie ein Verbrecher und zugleich wie ein Kind, in dem eine Postkarte des französischen Brieffreunds eine unstillbare Sehnsucht geweckt hat, die sein Leben lang anhalten wird: die Sehnsucht nach dem Süden und nach dem Ausbruch aus der unwirtlichen österreichischen Heimat. Die zweite Schicht der Vergangenheit, die der Text hervorzaubert, ist eine Episode aus seinem jungen Erwachsenenleben, als der 19-Jährige bei der Salzburger Sommerakademie für junge Musiker als Tontechniker aushilft, dort die Nachwuchstalente bewundert und u.a. die erwähnte italienische Freundin kennenlernt, eine begabte Klavierspielerin. Hier ist die Richtung umgekehrt, mit ihr bricht der Süden in den kalten Salzburger Norden herein und mit ihm die Schönheit, die Musik und eine wohlklingende fremde Sprache.

Überhaupt stellt die Fremdsprache, sei es nun das Italienische oder das Französische, das er mit seinem Austauschpartner spricht, ein großes Faszinosum dar. Es geht um das Vermögen oder eben Unvermögen, eine Sprache, einen Ausdruck zu finden, der Protagonist will, so heißt es, „vordringen (…) zum Sagen an sich“ (S. 85), eine Sprache ohne Missverständnisse und ohne belangloses Geplauder, was letztlich auf eine gewisse sprachlose Verbundenheit hinausläuft, die er am ehesten bei den Toten auf dem ihn seltsam anziehenden Friedhof in Menton zu finden vermeint. Eine faszinierende Sprachlosigkeit, die ihn in kindlicher Leichtigkeit mit den Dingen, dem Gefühl, dem Wesentlichen zu verbinden vermag, begleitet ihn zu seinem Vergnügen bei seinem ersten Aufenthalt in Menton:

Es steckt eine herrliche Freiheit darin, fremd zu sein und Dinge nicht benennen zu können. (…) Wie nur kann er sich mit seiner Reisetasche an der Hand hier gewichtloser fühlen als unbeschwert und ohne alles Gepäck in der Stadt seiner Herkunft? Oleander, Mimosen, Jasmin, diese Worte fallen ihm ein, Namen von Blumen und Blüten, die er irgendwann gehört oder gelesen hat, ohne Ahnung, welcher Name zu welcher Pflanze gehört.

Skwara, Mare Nostrum, S. 64

Die Suche nach einer nicht einengenden, sondern entgrenzenden Sprache ist dabei eng verbunden mit der tiefen Sehnsucht nach Schönheit. Diese mag auch, so die psychologische Erklärung des Erzählers, von der sich unauslöschlich eingeprägten Erfahrung herrühren, ein unscheinbarer, von seinem Aknegesicht gequälter, wenig ansehnlicher Junge gewesen zu sein, der sich sein Leben lang umso mehr nach einer Schönheit sehnt, für die er selbst nie zu genügen scheint.

So entströmt der großen Poesie des Textes auch fast durchgehend ein Gefühl von Melancholie und Einsamkeit, die schier unvermeidlichen Gegenpole eines am Ideal der Schönheit ausgerichteten Strebens? Steht die Ästhetik der wahren, der erfüllten Liebe im Weg? Löscht die ideale Form den Inhalt aus? Kann ein Sehnsuchtsbild der Realität standhalten? Das Wiedersehen verläuft jedenfalls anders als gedacht.

Sie hat dort (in Menton) mit ihm gewohnt und geschlafen, er in Erinnerungen, sie im Augenblick, sie sind eins geworden und haben nichts geteilt.

Skwara, Mare Nostrum, S. 101

Beeindruckend ist die Sprache, die Skwara für seine Erzählung gefunden hat, eine mäandernde Sprache, die die rastlose, vergebliche (?) Suche nach Liebe, nach Schönheit und ihrem Ausdruck abbildet, die aber auch den Zweifel in sich aufnimmt, eine poetische Uneindeutigkeit, ein sensibles Tasten, etwas Traumartiges enthält. Eine Sprache, der man sehr gerne folgt, in die man sich fallen lassen kann, ähnlich, wie man im Anblick eines besonders ergreifenden Gemäldes versinkt. Woran der Protagonist scheitert, der Korrespondenz von Form und Inhalt, dem nähert sich der Autor auf faszinierende Weise an: Die Lektüre wird zum ästhetischen Erlebnis, dessen Tiefe sich im melancholischen Nachwirken eröffnet.

Erich Wolfgang Skwara: Mare Nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen, Edition Korrespondenzen (2019)
ISBN: 9783902951465

bookmark_borderSafiye Can: Rose und Nachtigall

Wer Gedichte liebt — aber auch wer sich mit Gegenwartslyrik eher schwer tut, dem sei die intuitiv zugängliche und zugleich so intensiv nachwirkende Poesie von Safiye Can wärmstens an Herz gelegt!

Die Lyrikerin und Übersetzerin, die 2014 mit ihrem nun neu aufgelegten Gedichtband Rose und Nachtigall debütierte, verwebt in ihren Gedichten türkisch-orientalische Stoffe mit urbanen und alltagskulturellen Motiven, die sich immer wieder auf eine universelle Ebene hin öffnen und vertiefen — immerhin studierte die Autorin auch Philosophie.

Da die Form für die Lyrik und besonders für Cans teilweise konkrete Poesie eine wichtige Rolle spielt, darf man durchaus erwähnen, wie ästhetisch anziehend die Neuauflage im Wallstein Verlag gestaltet ist: eine stilisierte weiße Nachtigall auf durchdringendem Rot, Farbe der Rose, Symbol der Liebe und der Innigkeit, in der die Gedichte geschrieben sind und mit der sie ihre ebenso durchdringende Wirkung auf den Leser entfalten. Die Lektüre der Gedichte findet auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung statt: auf einer intellektuellen, einer emotionalen und eben auch einer visuellen Ebene. Besonders im ersten Teil „Kein Synonym für die Liebe“, befinden sich einige Beispiele für die sinnliche Kraft konkreter Poesie, wie etwa das von einem blitzartigen Riss im Schriftbild visuell zerklüftete Gedicht über den Schmerz des Verlassenen, der Fotos verbrennt, und seinen Freund, der in einer überraschenden Wendung in den letzten Zeilen über den noch größeren Schmerz klagt, nie solchen Schmerz empfunden zu haben.

Manche der Gedichte sind sehr kurz und verdichtet, und eigentlich sind auch die Kapitelüberschriften selbst schon poetische Einzeiler: „Weniger ist Nichts“, „Inkognito Minkognito“. Und alle kreisen sie um die auf die orientalische Dichtung verweisenden Titel-Motive der Rose und der Nachtigall, mit der Can eine an Variationen reiche Tradition der Liebeslyrik fortsetzt, die von der mystischen Liebe zu Gott bis zur sinnlichen Sehnsucht nach dem Geliebten reicht und die sie auf eine ganz persönliche Weise in der von ihr erlebten Gegenwart weiterspinnt.

So sind ihre Gedichte mit vielen Assoziationen und Anspielungen in der Gegenwart verankert, mit der urbanen Kultur und der Erfahrungswelt junger Menschen, in der sich Verzweiflung, Liebeskummer, Popmusik und Daseinsfragen vielschichtig überlagern. Mal sind die Texte modern, hip und flapsig, im nächsten Moment schon wieder tief metaphorisch und hochpoetisch verknappt. Auf diese Weise entsteht ein faszinierendes Ineinander von alltäglicher Erfahrung und tiefem, existenziellem Gefühl.

Am liebsten mochte ich die Gedichte des letzten, wiederum „Rose und Nachtigall“ betitelten Kapitels, da hier die poetisch verdichtete und gleichzeitig von einer sinnlichen Leichtigkeit geprägte Sprache der Autorin meiner Empfindung nach ihren Höhepunkt erreicht. Metaphern der Sehnsucht setzen sich über die einzelnen Texte hinweg fort, mit feinen, aber bedeutsamen Veränderungen, so dass ein loses Langgedicht entsteht, das eine unheimliche poetische Kraft entfaltet, der man sich nicht entziehen mag!

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
lese ich verblasste Träume auf
und pflanze sie in Blumentöpfe. (…)

An manchen Tagen
mag man sich in den eigenen
Schatten hineinlegen
sehnt sich nach der Furche
einer fremden Handfläche. (…)

Unterwegs lese ich verlorene Träume auf
stricke sie zum Strophen-Schal zusammen
damit er wärmt, irgendwen da draußen
wärmt, den, der friert,
wer nie gefroren hat, weiß nicht
um die, die Kälte erleben. (…)

Unterwegs lese ich durchnässte Träume auf
und hänge sie an die Wäscheleine
in meinem Herzen das Herz einer Nachtigall
weiß nicht, wohin die Lebensleiter anlegen
wohin mit Händen und Füßen
an welches Postfach
die Enttäuschung adressieren. (…)

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
verwandelt sich zu Stein
was ich berühre
aus einem Stein wird keine Rose.

Safiye Can, Rose und Nachtigall

Safiye Can: Rose und Nachtigall, Wallstein (2020)
ISBN: 9783835336094

bookmark_borderLilja Sigurðardóttir: Das Netz

Das Netz, das die isländische Autorin mit dem Auftakt ihrer Krimi-Trilogie nicht nur für ihre Figuren, sondern auch für ihre Leser auslegt, verfängt: Gepackt von der spannenden Geschichte und den lebensnah entwickelten Charakteren, deren mit psychologischer Sensibilität geschilderte Ängste und Nöte einem sehr nahe gehen, habe ich Das Netz ohne Pause bis zum Morgengrauen durchgelesen.

Tatsächlich liegt meines Erachtens das Erfolgsgeheimnis dieses Krimis, der auch verfilmt werden soll, vor allem in der Figurenzeichnung und -konstellation. Die Autorin konzentriert sich für ihren gut konstruierten Plot, der auf gesellschaftskritische Weise ins Drogen- und Finanzgeschäft führt — die enger verflochten sind, als man vermuten wollte –, auf eine Handvoll Figuren, die sie jedoch umso runder und schattierter herausarbeitet. Niemand ist nur gut oder nur böse, auch wenn es durchaus moralische Abstufungen gibt. Vielmehr stellt sich im Verlauf der Geschichte heraus, dass — mit Ausnahme des kleinen Scheidungskindes Tomas — so gut wie alle Charaktere in illegale Unternehmungen verstrickt sind oder sich in sie verstricken lassen, aus den verschiedensten Motiven, die teils egoistischer, teils altruistischer Natur sind.

Ausgangspunkt ist die zu Beginn der Handlung zwei Jahre zurückreichende traurige, aber keineswegs außergewöhnliche Auflösung einer Familie. Sonja hat Adam mit einer Bankerkollegin ihres Mannes betrogen, mit der nach außen hin taffen, innerlich aber — auch sexuell — verunsicherten und ihre Ängste in Alkohol ertränkenden Agla. Sonja verlässt eine Ehe, die für sie schon länger erdrückend war, wie sie erst jetzt erkennt. Doch ohne Job und Geld scheint sie keine Chance auf das Sorgerecht ihres geliebten Sohnes zu haben, weshalb sie sich, von ihrem Anwalt gedrängt, auf einen Deal einlässt, durch den sie die Legalität verlässt und in eine bedrohliche Abhängigkeit gerät, die ihr erst bewusst wird, als es vielleicht schon zu spät ist…

Fasziniert verfolgt man, wie die geschiedene Mutter sich ein Doppelleben aufbaut und geradezu virtuose Methoden entwickelt, um für ihre Auftraggeber kiloweise Kokain aus dem Ausland nach Island einzuschmuggeln. Nur ein alter Zollbeamter lässt sich von der akribisch konstruierten und ein bisschen zu perfekten Fassade der attraktiven, selbstbewussten, routinierten Businessfrau nicht täuschen. Doch auch er hat einen schwachen Punkt, leidet er doch sehr darunter, dass er sich die häusliche Pflege seiner an Alzheimer erkrankten Frau nicht leisten kann und sie stattdessen im Pflegeheim verkümmern sieht. Er erwischt Sonja in dem Moment, als sie endlich aussteigen will; als ihre Auftraggeber sie jedoch mit der Sorge um ihren kleinen Sohn erpressen, zieht sich das Netz für alle immer enger zu…

Die Autorin spürt sehr intensiv dem Menschlichen in ihren Figuren nach, um auf durchaus auch unterhaltsame Weise der Frage auf den Grund zu gehen, aus welchen verschiedenen Motiven und bis zu welchem Ausmaß sich der Einzelne korrumpieren und in unmoralische Situationen hineinziehen lässt, und wie er reagiert, wenn die Dinge ein Eigenleben entwickeln, die er nicht mehr unter Kontrolle hat.

Ein gut geschriebener Krimi, der ohne gesteigerte Brutalität auskommt und einen dennoch in Atem hält! Ich bin gespannt auf die Fortsetzung…

Bibliographische Angaben
Lilja Sigurðardóttir: Das Netz, DuMont (2020)
Aus dem Isländischen von Anika Wolff
ISBN: 9783832165192

Bildquelle
Lilja Sigurðardóttir, Das Netz
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderStefan Frey: Franz Lehár — Der letzte Operettenkönig

Franz Lehár war ein „Mann, der weiß, was er will“! Der nämlich gegen alle Bedenken und Widerstände seinem Herzen, seinem Talent und seinem untrüglichen musikalischen Instinkt folgte, um die Musik zu schreiben, die seinem ästhetischen Empfinden entsprach und mit der er schließlich auf der ganzen Welt berühmt wurde. 2020 jährt sich nun sein Geburtstag zum 150. Mal.

Stefan Frey, Theaterwissenschaftler und ausgewiesener Kenner der Operette, begibt sich in seiner nun im Böhlau Verlag in einer umfassenden Überarbeitung erschienenen Biographie auf die Spuren dieser so talentierten wie hartnäckig ihren künstlerischen Weg verfolgenden Persönlichkeit, die die Musik- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts so nachhaltig prägte und uns bis heute mit einem überraschend vielgestaltigen Werk beglückt, das weit über die Highlights der Lustigen Witwe und des Lands des Lächelns hinausreicht — davon ist man nach der Lektüre dieses tief und facettenreich in Leben und Werk Lehárs eintauchenden Textes mehr als überzeugt.

Wie Stefan Frey im Vorwort schreibt, hat er für die Neufassung seiner Lehár-Biographie von 1999 nicht nur einiges an inzwischen zugänglichem Quellenmaterial und neuer Forschungsliteratur mit einbezogen, sondern auch den Schwerpunkt seines Textes noch mehr auf die Person des Komponisten gelenkt. Gleichwohl bleibt als roter Faden die Chronologie von Lehárs Werken erhalten, spielen Gattungs- und Aufführungsgeschichte ebenso wie ästhetische und kulturgeschichtliche Debatten eine untrennbar und überdies sehr gewinnbringend mit der Biographie des Komponisten verbundene Rolle. Denn…

…verstehen lässt sich die Operette nur aus ihrer Zeit heraus. Als ehemals aktuelle Theatergattung bedarf sie mehr als jede andere der Kontextualisierung. Schließlich galten gerade Lehárs Werke einmal als modern. In ihrer wilden Mischung von Stilgebärden spiegeln sie die Widersprüchlichkeiten einer turbulenten Umbruchsepoche, in der Neues und Altes unvermittelt aufeinanderstieß.

Frey, Franz Lehár, S. 12

Zur Freude aller auf spannende Zusammenhänge und Hintergründe neugierigen Leser ist das Buch Biographie und Geschichtsbuch in einem, wird das Geheimnis von Lehárs persönlichem Erfolg als Operettenkomponist eng verknüpft mit dem ästhetischen und kommerziellen Wandel, der zwischen 1870 und 1948, Lehárs Lebensdaten, stattfand. So traf er, oft unbewusst, immer wieder den Nerv der Zeit, indem er sich irgendwie geschmeidig zwischen den so radikal gegensätzlichen Polen von Tradition und Moderne bewegte. Freys Annäherung an Lehárs Persönlichkeit gibt daher auch reichlich Aufschluss über den historischen Kontext, in dem sie sich formte. So entsteht ein entsprechend detailreiches Bild der kulturellen und gesellschaftlichen Einflüsse, das die mit Lehár zusammenarbeitenden Librettisten, Theaterdirektoren und Sänger ebenso umfasst wie die Reaktionen des Publikums und der Presse. Auch kritische Stimmen — etwa die bissigen und der Operette nicht gerade wohlwollend gesinnten Kommentare von Karl Kraus oder Zitate von Adorno — werden mit eingebunden, so dass sich ein komplexes Gesamtbild ergibt.

Dass die Fülle des recherchierten Materials die Leser zwar in ihrer Konzentration fordert, aber nie erschlägt, dafür sorgen die strukturierte Gliederung und der lebendige Stil des Biographen, der die zahlreichen Zitate sehr anschaulich in seinen Text einzubauen versteht und zum Amüsement des Lesers auch mal süffisant-ironisch kommentiert; so liest sich die Episode der zweimaligen Ablehnung des Zarewitsch-Librettos, dessen Protagonist homoerotische Neigungen hat und aus dem Lehár später eine wunderschöne, ganz in seinem Sinne lyrisch-melancholische Operette zaubern würde, folgendermaßen:

Lehár hatte damals Jenbachs Angebot abgelehnt, genügte doch die keusche Titelfigur den elementarsten Anforderungen, die man gemeinhin an einen Operettenhelden zu stellen pflegte, in keinster Weise. Weder hatte er gern, noch jemals ‚die Frau’n geküsst‘, von anderen Dummheiten ganz zu schweigen, die mit denselben in Verbindung mit Alkohol und tänzelnder Bewegung anzustellen wären und nicht umsonst als eigentliches Geschäft der Operette galten.

Frey, Franz Lehár, S. 254

Frey nähert sich der wie es den Anschein hat fast ganz für seine Musik lebenden Person Lehárs, indem er Tagebucheinträge und Korrespondenzen auswertet, die Entstehungsprozesse seiner Werke untersucht und seine Arbeitsweise ergründet. Man erfährt von Lehárs seit je gehegtem Traum von der Oper, seiner innigen Freundschaft mit Puccini und seinem ungebremsten Schaffensdrang, der ihn ganze Nächte durcharbeiten ließ, wenn er für ein Projekt Feuer gefangen hatte. „Wie empfunden, so geschrieben“, ist ein frühes Stück übertitelt, das, so Frey, als Motto für sein Gesamtwerk stehen könnte, in dem das Emotionale stets dem Intellektuellen übergeordnet war.

1870 in Komorn, in der heutigen Slowakei, geboren, ist er ganz ein Kind des multiethnischen Habsburgerreiches. Als „Tornisterkind“ — der Vater, in dessen Fußstapfen er bald treten würde, war Militärkapellmeister und wechselte mit seiner Familie entsprechend häufig den Wohnort — wuchs er an verschiedenen Orten auf und sprach drei Sprachen — Deutsch, Ungarisch und Tschechisch — wie seine Muttersprache. Die verschiedenen kulturellen Einflüsse färbten wie selbstverständlich auch auf die so besondere musikalische Gestaltung seiner Werke ab, wie er es selbst hervorhebt:

daß ich die ungarische, die slawische und die Wiener Musik so intensiv in mir aufgenommen habe, daß ich unbewußt in meiner Musik eine Mischung all dieser Nationen wiedergebe

Lehar über sich selbst, zit. nach Frey, Franz Lehár, S. 23

Auch später saß das einstige Tornisterkind nie durchgehend still in seinem Kämmerlein in der Bad Ischler Sommerresidenz, sondern blieb sein Leben lang umtriebig. So dirigierte Lehár fast alle seine Premieren selbst und wirkte auch an den ausländischen Adaptionen seiner Operetten, die er ungern völlig aus der Hand gab, meist sehr aktiv mit.

Bevor es allerdings so weit war, machte Lehár durchaus zähe und beschwerliche Anfänge durch. Er wurde von seiner Familie, die sein musikalisches Talent erkannte, zwar so gut es ging unterstützt und erhielt eine Konservatoriumsausbildung als Violonist. Mehr noch allerdings reizte ihn die Komposition, in der er aber bis auf ein paar heimlich abgetrotzte Unterrichtsstunden Autodidakt bleiben musste: ein Autodidakt freilich mit unbestreitbarem Talent, das ihm frühes Lob von Größen wie Dvořák und Brahms eintrug. Und so ließ er sich nicht beirren, verkaufte als junger Mann sogar seine Geige und brach mit finanziellem Risiko Verträge, um jede Chance zu nutzen, als Komponist hervorzutreten. Es war ein langer Weg, bis er sich in der anspruchsvollen Wiener Gesellschaft, anfangs mit seinen bezaubernden Walzern, einen Namen machte, und ein noch längerer zur tatsächlichen künstlerischen Autonomie. Viele kleine Schritte, Rückschläge und vor allem Begegnungen kennzeichneten diesen Weg.

Eine dieser wegweisenden Begegnungen war die mit dem jüdischen Librettisten und Regisseur Victor Léon, mit dem er seinen ersten Operettenerfolg feiern sollte. Léon teilte mit Lehár die Sehnsucht nach einer neuen, modernen Art der Operette, in der sie „eigentlich eine Form der Oper, ein Stück mit Musik (…), mit Menschen in menschlichen Konflikten“ (Léon, zit. nach Frey, Franz Lehár, S. 51) sahen. Als sie 1902 gemeinsam den Rastelbinder aufführten, stand der bereits für etwas Neues, in dem sich Tagesaktuelles, Humorvolles und Melancholisches ebenso verbanden wie Jüdisches, Slawisches und Wienerisches. Lehár feierte den Erfolg mit seinem ersten Sommeraufenthalt in Bad Ischl, wo er Sophie Meth kennenlernte, mit der er lange Jahre in wilder Ehe zusammenlebte, ehe sie irgendwann doch noch heirateten, und wo er sich 1912, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, eine Villa kaufte, in der er Gäste empfing und viele Sommertage und vor allem -nächte an seinen Werken arbeitete.

Seinen internationalen Durchbruch verdankte Lehár der noch heute unvergessenen Lustigen Witwe, ihren ergreifenden Melodien und Liedern, aber auch ihrem modernen, auf der Operettenbühne geradezu revolutionären Thema: Im Zentrum steht mit der reichen Witwe Hanna Glawari nämlich eine selbstbestimmte Frau, die die Initiative ergreift und den „erotisch aufgeladenen Geschlechterkrieg“ (S. 78) auch souverän gewinnt. Auch musikdramaturgisch stellte die Operette ein gewagtes, aber erfolgreich vollzogenes Experiment dar, indem sie nämlich große Oper und eingängige Schlager, Gefühl und Parodie, kombinierte und mit einem subtil kommentierenden musikalischen Subtext arbeitete, der etwa die im Liedtext verkündete Selbstaussage der „anständigen Frau“ ironisch hinterfragte. Neu war auch das getanzte Duett der schweigenden Lippen, durch das der Sprache des Unbewussten Ausdruck verliehen wurde, die in Lehárs späterem Werk noch öfter von tragender Bedeutung sein sollte. 1905 war die Uraufführung in Wien, der bald Premieren in anderen Ländern nachfolgen sollten: 1907 wurde sie vom Theatermanager George Edwardes, der auf der Suche nach einem neuen Erfolgsmodell war, in England aufgeführt und von dort in alle Welt, insbesondere auch in die USA, exportiert.

Der Welterfolg der Lustigen Witwe markierte in mehrfacher Hinsicht einen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel: Mit ihr brach die Operette in den urbanen Alltag der Menschen ein. Am Beispiel des „battle of hats“, der bei einer Vorstellung in Amerika ausgelöst wurde, auf der der zum modischen Accessoire avancierte wagenradgroße „Merry Widow-Hut“ — in zu kleiner Anzahl und entsprechend großem Gerangel — verschenkt wurde, zeigt Stefan Frey das neu entstandene Wechselspiel von Kommerz, Mode und Musiktheater.

Entzauberte Offenbachs Operette ihre Götter und Helden, indem sie sie in Zeitgenossen verwandelte, verwandelt Lehárs Operette Zeitgenossen in Götter einer säkularisierten Lebenswelt.

Frey, Franz Lehár, S. 126

Der unbändige Erfolg des Unterhaltungstheaters, zu dem die Operette gezählt wurde, machte außerdem deutlich, dass die moderne ernste Musik mit ihren immer radikaleren Formexperimenten, die nur noch einer kleinen Elite zugänglich waren, sich immer weiter von der unterhaltsamen Musik entfernte, die ihrerseits ein Massenpublikum anlockte.

Nachdem Lehárs Status als Operettenkomponist nun unangefochten war, konnte er noch freier von äußeren Zwängen in der Auswahl der Libretti seinem persönlichen Geschmack folgen und noch entschiedener den künstlerischen Weg einschlagen, von dem er überzeugt war. Mit dem Fürstenkind tat er einen weiteren Schritt in Richtung einer auch musikalisch vermittelten Psychologisierung und Verinnerlichung. Gleichwohl Lehár sie lange für seine beste Operette hielt, war ihr jedoch nicht ein derart einschneidender Erfolg beschieden wie der Lustigen Witwe. Die Zeit schien noch nicht reif für dieses musikalische Projekt… Anlass zur Klage bestand freilich keineswegs: Als 1909 der Graf von Luxemburg uraufgeführt wurde, seine erste Salonoperette, in der, wie Frey schreibt, „von schmissigen Tanznummern bis zu großen lyrischen Szenen alle Aspekte seiner Musik enthalten sind“ (S. 143), stand auf allen drei Wiener Operettenbühnen gleichzeitig Lehár auf dem Programm!

Modern waren Lehárs Operetten auch in der Hinsicht, dass sich in ihnen das Aufkommen neuer Medien wie Kino und Rundfunk spiegelte. So wurde die Berliner Premiere von Frasquita etwa als erste vollständige Operette live im Radio übertragen; und in Endlich allein wollte er schon vor dem Ersten Weltkrieg den Aufstieg des Liebespaares auf den Gipfel kinematographisch darstellen, scheiterte dann aber — wiederum seiner Zeit voraus — an der technischen Umsetzung.

Nach dem Ersten Weltkrieg wandte er sich dann immer zielstrebiger der lyrischen Operette zu, mit der er endgültig die Gattungsgrenzen überschritt und einen neuen Operettentypus schuf. Paganini bildete hier 1925 den Auftakt. Und diese Operette war es auch, die die inspirierende Zusammenarbeit mit dem eigentlich aus dem Opernfach kommenden Tenor Richard Tauber einläutete. In Lehárs Ischler Villa erarbeiteten der Komponist und der Sänger für Paganini mit „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ gemeinsam das erste „Tauberlied“:

Es war der Beginn einer für das 20. Jahrhundert ungewöhnlich intensiven Kooperation von Komponist und Sänger. Lehár hatte den Interpreten gefunden, der ihm immer als Ideal vorgeschwebt haben mochte, Tauber den Komponisten, der seine besonderen Qualitäten zum Klingen brachte — vor allem im so genannten ‚Tauberlied‘, jenem Tenorschlager in Rondoform, der fortan im zweiten Akt jeder Lehár-Operette zu finden war.

Frey, Franz Lehár, S. 244

Es war auch der Beginn der letzten hochproduktiven Phase im Leben des Komponisten: Es folgten Der Zarewitsch, die Spieloper Friederike, mit der Lehár an der strikten Grenze zwischen Hoch- und Trivialkultur rüttelte, Das Land des Lächelns, die beeindruckende Neufassung der einst wenig erfolgreichen Gelben Jacke durch die Friederike-Librettisten Herzer und Löhner-Beda, und schließlich 1934 Giuditta, mit deren Uraufführung an der Wiener Staatsoper Lehár das erreichte, was er so sehnsüchtig angestrebt hatte: die Auflösung der Grenzen von Oper und Operette.

Als wäre damit sein Lebenswerk vollendet, entstand in den noch folgenden vierzehn Jahren kein neues Werk mehr, nur noch Umarbeitungen oder Adaptionen seiner bereits existierenden Werke. Dies steht sicher auch im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte, mit dem Aufstieg des der freien Kunst abträglichen Nationalsozialismus und Hitlers, so sehr dieser auch ein Bewunderer von Lehárs Operetten war. Frey sieht hier auch das „Ende der Operette als privates Geschäftstheater und (…) (den) Anfang der Operette als staatlich gesteuerte Unterhaltung“ (S. 293) und widmet dieser unter einem düsteren Stern stehenden letzten Phase im Leben Lehárs, in der befreundete jüdische Künstler vertrieben oder ermordet wurden, wie der Librettist Löhner-Beda, der im KZ brutal zu Tode geprügelt wurde oder Richard Tauber, der ins Exil in Großbritannien floh, ein ausführliches Kapitel:

Die Folgen der nationalsozialistischen Kulturpolitik waren daher in kaum einem Bereich so einschneidend wie bei der Operette. Weit mehr als die Hälfte des Repertoires fiel dem Rassenwahn zum Opfer.

Frey, Franz Lehár, S. 297

Franz Lehárs abwehrendes Verhältnis zur Politik, aus der er sich wohl am liebsten ganz herausgehalten hätte, um sich ungestört seiner Musik zu widmen, konnte nicht verhindern, dass er gegen seinen Willen mehr oder weniger indirekt dennoch in sie verstrickt wurde. Stefan Frey wirft die letztlich nicht eindeutig zu beantwortende Frage auf, inwiefern die Anpassung des Komponisten an das politische System Anbiederung oder Taktik war.

Dass Lehár der nationalsozialistischen Ideologie ferne stand, ist vielfach belegt. Dass er sich für sie vereinnahmen ließ, ist aber genauso offensichtlich.

Frey, Franz Lehár, S. 343

So hatte Lehár selbst eine jüdische Frau, die trotz aller Vorsicht, die sie walten ließen, und trotz seiner privilegierten Stellung als gefeierter Künstler, einmal fast von der Gestapo abgeholt wurde; und er erlebte hautnah mit, wie etliche Freunde und Kollegen bedroht wurden, für die er sich zwar bemühte, aber die er nicht immer retten konnte.

Freys Lehár-Biographie ist in jeder Hinsicht eine ausgesprochen differenzierte und lesenswerte Biographie, die dem Leser Leben und Werk des Komponisten und überhaupt die ganze an Umbrüchen reiche Entstehungszeit seiner Operetten wunderbar lebendig vor Augen führt. Dazu tragen im Übrigen auch die vielen schönen Illustrationen bei, die Fotografien von Lehár und seinen Weggefährten und zeitgenössische Titelbilder seiner Operetten enthalten.

Stefan Frey: Franz Lehár — Der letzte Operettenkönig, Böhlau (2020)
ISBN: 9783205210054

bookmark_borderGereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen

Gereon Krantz‘ in Berlin spielender schwarzhumoriger Kriminalroman ist das Gegenteil etwa eines „Allmen“-Krimis von Martin Suter. Schamlos, derb, dick aufgetragen steht Krantz‘ Stil ganz im Zeichen umgangssprachlicher Überfülle, die ziemlich ätzend und immer wieder auch ziemlich witzig ist. Schockierende Gewaltverbrechen eines Serienmörders werden so durch Übersteigerung und absichtlich unpassende Kontraste — allen voran die Ausfälligkeiten und Krisen des männlichen Ermittlerparts, Thomas Harder — weggelacht, ohne verharmlost zu werden.

Harder steht auch im Zentrum der Geschichte und läuft mit seiner mehr als verhaltensauffälligen, ins psychologische Extrem gesteigerten Persönlichkeit dem eigentlichen Kriminalfall fast den Rang ab. Er ist selbst ein Grenzgänger des Todes, der bezeichnenderweise bei einer um Haaresbreite tödlich endenden Partie russischen Roulettes in die Geschichte eingeführt wird. Nicht nur zwielichtige Gangster aus der mafiösen Halbwelt verfolgen Harder, sondern auch fast noch bedrohlichere seelische Dämonen, deren Vorgeschichte in diesem ersten Harder-Krimi jedoch nur angedeutet wird. In der Folge einer wohl aus dem Ruder gelaufenen früheren Ermittlung steht er mit dem Staatsanwalt auf Kriegsfuß und überhaupt im Polizeidienst auf Abruf, was ihn aber keinesfalls dazu verleitet, irgendwelchen Autoritäten unterwürfig zu begegnen, im Gegenteil. Nur sein Wille zur Verbrechensaufklärung, seine Wut auf den mädchenmordenden Psychopathen leiten ihn und sorgen dafür, dass sein Überlebenstrieb die Oberhand gegenüber seinen Todessehnsüchten behalten kann.

Seine Methoden sind dabei natürlich durch und durch unkonventionell, womit er seine junge neue Kollegin und Vorgesetzte, Vogt, eine sehr korrekte, kontrollierte und zudem kampfsporterprobte Veganerin, die den neuesten Profilingansätzen der Kriminalpsychologie gegenüber aufgeschlossen ist, immer wieder vor den Kopf stößt. Aus dem konfliktreichen Antagonismus der beiden Ermittler ergibt sich auch wesentlich die Dynamik der Erzählung, die zwar nicht völlig überraschend ist, aber auf ihre Weise doch ziemlich spannend und witzig: nicht für jeden Geschmack, aber auf jeden Fall ein gefundenes Fressen für alle, die der Krimisucht anheimgefallen sind!

Bibliographische Angaben
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen, Pro Talk (2017)
ISBN: 9783939990444

Bildquelle
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen
© 2017 ProTalk Verlags GmbH

bookmark_borderKate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben

Eine in ihrem Detailreichtum und ihrem differenzierten, genauen Blick zugleich ungemein fesselnde und bereichernde Biographie!

Ich war überrascht, auf welche Vorurteile und Klischees diese intelligente und empathische, aber — zum Glück — eben auch eigenwillige Frau selbst am Ende ihres Lebens noch stieß, nach all den überzeugenden Beweisen ihres philosophischen und literarischen Talents, wenn sie in der Presse als „eifersüchtige Geliebte“ oder bloße „Jüngerin von…“ geschmäht wurde.

Natürlich war sie, waren ihr Denken und Werk, aufs engste mit Sartre verbunden, die beiden unterstützten und beflügelten sich gegenseitig in ihrer so ungewöhnlichen, so viel Erstaunen und auch Häme erntenden intellektuellen Freundschaft, die ein Leben lang hielt. Doch Kate Kirkpatrick, selbst Philosophin, macht eindrucksvoll deutlich, dass die junge Simone ihre Philosophie schon vor ihrer Begegnung mit Sartre zu entwerfen begonnen hatte und auch später ihre eigenen Wege ging, sowohl gedanklich als auch was ihre Beziehungen betraf, unter denen Sartre zwar einen besonderen, aber längst nicht den einzigen Platz einnahm.

Die Autorin wertet mit großem Erkenntniswert die erst in den Jahren nach Beauvoirs Tod veröffentlichten und vorerst nur in französischer Sprache vorliegenden Korrespondenzen aus, die einiges in einem neuen Licht erscheinen lassen und manches auf erhellende Weise zum Vorschein bringen, was Beauvoir selbst in ihren literarisierten Memoiren unter den Tisch hat fallen lassen. Vor allem zeigt sich, dass Beauvoir, die sich eher als Literatin sah, als Philosophin einen absolut eigenständigen Platz neben dem von seiner wohlhabenden Herkunft und seinem Geschlecht begünstigteren und in der Nachwirkung berühmteren Freund Sartre einnimmt. So beschränkt sich ihr Verdienst nicht nur auf ihr freilich einschneidendes, den Feminismus prägendes Werk Das andere Geschlecht, das v.a. in den angelsächsischen Ländern bis vor kurzem nur in einer stark gekürzten Fassung vorlag und lange Zeit — da in die Alltagsforschung hineinreichend — nicht als den wissenschaftlichen Kriterien entsprechend anerkannt war, sondern besteht auch in der wichtigen Leistung, den Existenzialismus und seinen Freiheitsgedanken in der sozialen Erfahrungswelt der Menschen verankert zu haben. In dieser Hinsicht war wohl auch sie es, die auf Sartres Philosophie einwirkte, der seine Texte im Übrigen nie ohne Beauvoirs Gegenlesen veröffentlichte. Und eben da rührte wohl auch Beauvoirs Vorliebe zum Literarischen her: in bester Kierkegaard’scher Tradition die Philosophie in die Lebenswelt der Menschen zu tragen.

Man ist ganz fasziniert und voll Bewunderung, wenn man Kirkpatricks Schilderungen von Beauvoirs Leben folgt, obwohl oder gerade weil sie die Philosophin nicht als unfehlbar und entrückt, sondern in ihren mal mehr, mal weniger sympathischen Eigenheiten beschreibt.

Ein absolut lesenswertes, sehr lebendiges (Zeit-)Zeugnis des Lebens einer ganz besonderen Frau im 20. Jahrhundert!

Bibliographische Angaben
Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben, Piper (2020)
Übersetzt von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
ISBN: 9783492070331

Bildquelle
Kate Kirkpatrick, Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben
© 2020 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderAnita Brookner: Hotel du Lac

Eine schöne literarische Wiederentdeckung, ein Text in elegantem, humorvoll-entlarvendem Stil, der heute ein bisschen aus der Zeit gefallen scheint und einem gerade dadurch die besondere, abgeschiedene Atmosphäre des Schweizer Hotels, in das sich die Hauptfigur flüchtet, umso eindringlicher vermittelt.

1984 bekam die Autorin für Hotel du Lac den Booker Prize, nun wird es im Eisele Verlag neu aufgelegt. Anita Brookner (1928-2016), deren Eltern aus Polen nach London flüchteten und ihren deutschen Namen „Bruckner“ der englischen Schreibung anglichen, war zuerst Kunsthistorikerin, ehe sie in den 1980er Jahren ihre schriftstellerische Karriere begann und zahlreiche Romane veröffentlichte, von denen bisher nur ein Bruchteil ins Deutsche übersetzt wurden. Hotel du Lac ist der erste, den ich von ihr lese, und er hat mich durch seine im positivsten Sinne klassische Erzählweise, die melancholische Nachdenklichkeit mit scharfer, durchaus witziger Beobachtungsgabe verbindet, sofort für sich eingenommen. Hinzu kommt, dass die Geschichte, die schon durch den Schauplatz, ein abgeschiedenes Kurhotel in der Nachsaison, in trügerisch ruhiger und damit spannungsreicher Atmosphäre schwebt, den Leser in ständiger Erwartung eines neuen Skandälchens oder gar Skandals hält, der diese Ruhe durchbricht.

Erst im letzten Drittel des Buches erfährt man, warum die 39jährige Schriftstellerin ihr geliebtes Häuschen in England zurückgelassen und sich — wohl nicht ganz freiwillig — eine Auszeit in dem gediegenen, auf seine Traditionen stolzen Schweizer Hôtel du Lac genommen hat. Als Edith dort ankommt, ist die Hauptsaison vorbei, nur noch wenige, vor allem weibliche Gäste, verbringen aus ganz unterschiedlichen Motiven den Übergang vom Sommer in den Herbst an diesem Ort, an dem sich gleichende Tage durch Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendessen strukturiert sind. Die stille, feinsinnige und gerade etwas traurige Edith, die mit Oberflächlichkeit nichts anfangen kann, ihr weniges Geld mit ihrer Arbeit als Autorin selbst verdient und in der Tiefe ihres Herzens sehr romantisch ist, passt so gar nicht in diese seltsam träge, selbstbezogene, affektheischerische und zugleich trostlose Gesellschaft hinein, auch wenn sie von dieser recht schnell in Beschlag genommen wird. Sie verbringt ihre Tage damit, ihren Roman weiterzuschreiben, die einsame und stille Natur rund um den meist grauen See in langen Spaziergängen einzuatmen und die anderen Gäste zu beobachten und ihren jeweiligen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Außerdem schreibt sie lange Briefe an einen gewissen David, dessen Rolle in ihrem Leben erst nach und nach aufgedeckt wird.

Die Autorin erforscht mit ihrer selbstkritischen, zwischen Vernunft und Hoffnung zweifelnder, aber nicht verzweifelnder Protagonistin die Rolle der Frau in einer Zeit, als man noch Briefe schrieb, statt Handynachrichten, in der zwischen Frau, Dame und Lady unterschieden wurde und ein Skandal aus anderen Gründen entstand als heutzutage. Trotzdem ist einem die Hauptfigur ganz nah, was auch daran liegt, dass Edith ein „tiefes Wasser“ ist, hinter ihren unscheinbaren Strickjacken verbirgt sich eine Frau mit klarem Verstand, mit Witz und Gefühl, die sich ihres eigenen Werts trotz Kränkungen und Rückschlägen bewusst ist.

Anita Brookner: Hotel du Lac, Eisele (2020)
Aus dem Englischen von Dora Winkler
ISBN: 9783961610792

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