bookmark_borderErich Wolfgang Skwara: Mare Nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen

Eine sehr poetische, aber auch sehr ungewöhnliche, sich suggestiv entfaltende und ebenso wieder entziehende Liebes- und mehr noch Sehnsuchtsgeschichte erzählt uns der österreichische Schriftsteller Erich Wolfgang Skwara in seinem neuen Buch; er erzählt in vielen kunstvoll miteinander verwobenen Erinnerungsschichten vom Leben seines Protagonisten, der „seltsam unberührt und doch zerschmettert vom Geschehenen“ (S. 205) aus der für den Roman zentralen Begegnung hervorgehen wird. Skwaras Erzählung ist eine Suche nach Liebe und Begegnung und eine Hymne auf die Schönheit, wenn auch im Grunde weniger der geliebten Frau denn all dessen, was sich im Sehnsuchtsbegriff des Südens verbirgt. Die blaue Mittelmeerregion mit ihrer Lebensart, das Fernweh und überhaupt das Reisen werden zur Metapher einer Sehnsucht, die die Unmöglichkeit ihrer dauerhaften Erfüllung, nämlich des tatsächlichen Ankommens, schon in sich zu tragen scheint.

Angelpunkt der Erzählung ist der mediterrane Ort Menton an der französischen Grenze zu Italien, für den Protagonisten ein Leben lang betörendes Sinnbild des Südens. Diesen Ort hat er zum Schauplatz eines bedeutsamen Wiedersehens nach 27 Jahren mit einer italienischen Jugendfreundin auserkoren. Doch einschneidender als die erste Begegnung mit der Italienerin scheint noch die erste Begegnung mit der Stadt Menton, mit dem Süden. Zwischen seiner ersten Reise dorthin und dem Treffen der längst erwachsenen Liebenden liegt ein halbes Leben, das in sich jeweils zur neuen Erzählgegenwart umformenden Rückblenden nach und nach Gestalt annimmt. Genauso gibt es aber auch Vorausblenden, in denen sich andeutet, wie der Protagonist mit 50 Jahren leben wird und wie es ihm als alterndem Mann ergeht. Dabei bleibt in der Schwebe, was Wirklichkeit, was Traum, Ahnung oder Projektion ist. Die Kategorie der Zeit ist hier dem subjektiven und ästhetischen Empfinden unterworfen, bestimmend ist der in ein Symbol verwandelte Ort, an dem sich die Zeit verdichten oder verflüchtigen kann.

Und der zum Auslöser von Erinnerungen wird: So wird sehr ausführlich die erste Reise geschildert, die der Protagonist als Junge auf eigene Faust nach Menton unternimmt. Hals über Kopf hat er sich in den ersten Zug gesetzt, reist ganz allein, ohne Wissen der Mutter, dafür mit dem ihm von ihr zu einem anderen Zweck anvertrauten Geld, wie ein Verbrecher und zugleich wie ein Kind, in dem eine Postkarte des französischen Brieffreunds eine unstillbare Sehnsucht geweckt hat, die sein Leben lang anhalten wird: die Sehnsucht nach dem Süden und nach dem Ausbruch aus der unwirtlichen österreichischen Heimat. Die zweite Schicht der Vergangenheit, die der Text hervorzaubert, ist eine Episode aus seinem jungen Erwachsenenleben, als der 19-Jährige bei der Salzburger Sommerakademie für junge Musiker als Tontechniker aushilft, dort die Nachwuchstalente bewundert und u.a. die erwähnte italienische Freundin kennenlernt, eine begabte Klavierspielerin. Hier ist die Richtung umgekehrt, mit ihr bricht der Süden in den kalten Salzburger Norden herein und mit ihm die Schönheit, die Musik und eine wohlklingende fremde Sprache.

Überhaupt stellt die Fremdsprache, sei es nun das Italienische oder das Französische, das er mit seinem Austauschpartner spricht, ein großes Faszinosum dar. Es geht um das Vermögen oder eben Unvermögen, eine Sprache, einen Ausdruck zu finden, der Protagonist will, so heißt es, „vordringen (…) zum Sagen an sich“ (S. 85), eine Sprache ohne Missverständnisse und ohne belangloses Geplauder, was letztlich auf eine gewisse sprachlose Verbundenheit hinausläuft, die er am ehesten bei den Toten auf dem ihn seltsam anziehenden Friedhof in Menton zu finden vermeint. Eine faszinierende Sprachlosigkeit, die ihn in kindlicher Leichtigkeit mit den Dingen, dem Gefühl, dem Wesentlichen zu verbinden vermag, begleitet ihn zu seinem Vergnügen bei seinem ersten Aufenthalt in Menton:

Es steckt eine herrliche Freiheit darin, fremd zu sein und Dinge nicht benennen zu können. (…) Wie nur kann er sich mit seiner Reisetasche an der Hand hier gewichtloser fühlen als unbeschwert und ohne alles Gepäck in der Stadt seiner Herkunft? Oleander, Mimosen, Jasmin, diese Worte fallen ihm ein, Namen von Blumen und Blüten, die er irgendwann gehört oder gelesen hat, ohne Ahnung, welcher Name zu welcher Pflanze gehört.

Skwara, Mare Nostrum, S. 64

Die Suche nach einer nicht einengenden, sondern entgrenzenden Sprache ist dabei eng verbunden mit der tiefen Sehnsucht nach Schönheit. Diese mag auch, so die psychologische Erklärung des Erzählers, von der sich unauslöschlich eingeprägten Erfahrung herrühren, ein unscheinbarer, von seinem Aknegesicht gequälter, wenig ansehnlicher Junge gewesen zu sein, der sich sein Leben lang umso mehr nach einer Schönheit sehnt, für die er selbst nie zu genügen scheint.

So entströmt der großen Poesie des Textes auch fast durchgehend ein Gefühl von Melancholie und Einsamkeit, die schier unvermeidlichen Gegenpole eines am Ideal der Schönheit ausgerichteten Strebens? Steht die Ästhetik der wahren, der erfüllten Liebe im Weg? Löscht die ideale Form den Inhalt aus? Kann ein Sehnsuchtsbild der Realität standhalten? Das Wiedersehen verläuft jedenfalls anders als gedacht.

Sie hat dort (in Menton) mit ihm gewohnt und geschlafen, er in Erinnerungen, sie im Augenblick, sie sind eins geworden und haben nichts geteilt.

Skwara, Mare Nostrum, S. 101

Beeindruckend ist die Sprache, die Skwara für seine Erzählung gefunden hat, eine mäandernde Sprache, die die rastlose, vergebliche (?) Suche nach Liebe, nach Schönheit und ihrem Ausdruck abbildet, die aber auch den Zweifel in sich aufnimmt, eine poetische Uneindeutigkeit, ein sensibles Tasten, etwas Traumartiges enthält. Eine Sprache, der man sehr gerne folgt, in die man sich fallen lassen kann, ähnlich, wie man im Anblick eines besonders ergreifenden Gemäldes versinkt. Woran der Protagonist scheitert, der Korrespondenz von Form und Inhalt, dem nähert sich der Autor auf faszinierende Weise an: Die Lektüre wird zum ästhetischen Erlebnis, dessen Tiefe sich im melancholischen Nachwirken eröffnet.

Erich Wolfgang Skwara: Mare Nostrum oder Ein Bahnhof für jene, die ankommen, Edition Korrespondenzen (2019)
ISBN: 9783902951465

bookmark_borderSafiye Can: Rose und Nachtigall

Wer Gedichte liebt — aber auch wer sich mit Gegenwartslyrik eher schwer tut, dem sei die intuitiv zugängliche und zugleich so intensiv nachwirkende Poesie von Safiye Can wärmstens an Herz gelegt!

Die Lyrikerin und Übersetzerin, die 2014 mit ihrem nun neu aufgelegten Gedichtband Rose und Nachtigall debütierte, verwebt in ihren Gedichten türkisch-orientalische Stoffe mit urbanen und alltagskulturellen Motiven, die sich immer wieder auf eine universelle Ebene hin öffnen und vertiefen — immerhin studierte die Autorin auch Philosophie.

Da die Form für die Lyrik und besonders für Cans teilweise konkrete Poesie eine wichtige Rolle spielt, darf man durchaus erwähnen, wie ästhetisch anziehend die Neuauflage im Wallstein Verlag gestaltet ist: eine stilisierte weiße Nachtigall auf durchdringendem Rot, Farbe der Rose, Symbol der Liebe und der Innigkeit, in der die Gedichte geschrieben sind und mit der sie ihre ebenso durchdringende Wirkung auf den Leser entfalten. Die Lektüre der Gedichte findet auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung statt: auf einer intellektuellen, einer emotionalen und eben auch einer visuellen Ebene. Besonders im ersten Teil „Kein Synonym für die Liebe“, befinden sich einige Beispiele für die sinnliche Kraft konkreter Poesie, wie etwa das von einem blitzartigen Riss im Schriftbild visuell zerklüftete Gedicht über den Schmerz des Verlassenen, der Fotos verbrennt, und seinen Freund, der in einer überraschenden Wendung in den letzten Zeilen über den noch größeren Schmerz klagt, nie solchen Schmerz empfunden zu haben.

Manche der Gedichte sind sehr kurz und verdichtet, und eigentlich sind auch die Kapitelüberschriften selbst schon poetische Einzeiler: „Weniger ist Nichts“, „Inkognito Minkognito“. Und alle kreisen sie um die auf die orientalische Dichtung verweisenden Titel-Motive der Rose und der Nachtigall, mit der Can eine an Variationen reiche Tradition der Liebeslyrik fortsetzt, die von der mystischen Liebe zu Gott bis zur sinnlichen Sehnsucht nach dem Geliebten reicht und die sie auf eine ganz persönliche Weise in der von ihr erlebten Gegenwart weiterspinnt.

So sind ihre Gedichte mit vielen Assoziationen und Anspielungen in der Gegenwart verankert, mit der urbanen Kultur und der Erfahrungswelt junger Menschen, in der sich Verzweiflung, Liebeskummer, Popmusik und Daseinsfragen vielschichtig überlagern. Mal sind die Texte modern, hip und flapsig, im nächsten Moment schon wieder tief metaphorisch und hochpoetisch verknappt. Auf diese Weise entsteht ein faszinierendes Ineinander von alltäglicher Erfahrung und tiefem, existenziellem Gefühl.

Am liebsten mochte ich die Gedichte des letzten, wiederum „Rose und Nachtigall“ betitelten Kapitels, da hier die poetisch verdichtete und gleichzeitig von einer sinnlichen Leichtigkeit geprägte Sprache der Autorin meiner Empfindung nach ihren Höhepunkt erreicht. Metaphern der Sehnsucht setzen sich über die einzelnen Texte hinweg fort, mit feinen, aber bedeutsamen Veränderungen, so dass ein loses Langgedicht entsteht, das eine unheimliche poetische Kraft entfaltet, der man sich nicht entziehen mag!

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
lese ich verblasste Träume auf
und pflanze sie in Blumentöpfe. (…)

An manchen Tagen
mag man sich in den eigenen
Schatten hineinlegen
sehnt sich nach der Furche
einer fremden Handfläche. (…)

Unterwegs lese ich verlorene Träume auf
stricke sie zum Strophen-Schal zusammen
damit er wärmt, irgendwen da draußen
wärmt, den, der friert,
wer nie gefroren hat, weiß nicht
um die, die Kälte erleben. (…)

Unterwegs lese ich durchnässte Träume auf
und hänge sie an die Wäscheleine
in meinem Herzen das Herz einer Nachtigall
weiß nicht, wohin die Lebensleiter anlegen
wohin mit Händen und Füßen
an welches Postfach
die Enttäuschung adressieren. (…)

Fern vom Land der Rosen und Nachtigallen
verwandelt sich zu Stein
was ich berühre
aus einem Stein wird keine Rose.

Safiye Can, Rose und Nachtigall

Safiye Can: Rose und Nachtigall, Wallstein (2020)
ISBN: 9783835336094

bookmark_borderPierre Raufast: Le cerbère blanc

Der neue Roman des französischen Schriftstellers Pierre Raufast, „Der weiße Zerberus“, ist eine mit der zumindest im Raum der Erzählung sinnstiftenden Kraft des Mythos aufgeladene Liebesgeschichte, die zugleich eine schreckliche Tragödie ist — es sein muss, denn erst in der schmerzhaften, schier unerträglichen Konfrontation mit dem Schicksal zeigt sich die Tragweite menschlicher Entscheidungen — und die zudem ganz in der heutigen Zeit verankert wird. Es geht um den Jugend- und Schönheitskult genauso wie um die Neigung unserer Gesellschaft, den Tod zu verdrängen, um die Macht und die Grenzen von Wissenschaft und Technik und die verzweifelten Versuche der Menschen, Verlust oder Schuld mit Narrativen zu kompensieren, die das Leben erträglich machen.

So tief die Wunden sind, denen die Menschen der Romanwelt ausgesetzt sind und die sie auch einander zufügen, so emotional Krankheit und Tod, tragische Unfälle, Trennung, Verlust, Verrat und Im-Stich-Lassen geschildert werden, ist die Geschichte doch mit einer faszinierenden Leichtigkeit erzählt, die einen sofort in Beschlag nimmt und atemlos bis zur letzten Seite gelangen lässt.

Orpheus und Eurydike, Agamemnon und Klytaimnestra, Aeneas und Dido, das sind Mathieu und Amandine, deren mythische Verbundenheit ihnen buchstäblich in die Wiege gelegt wurde. Kurz hintereinander in zwei eng befreundeten Familien geboren, sind die beiden von Geburt an untrennbar, verbringen ihre gesamte Kindheit miteinander, um sich schließlich wie selbstverständlich auf ganz behutsame, immer leidenschaftlichere Weise ineinander zu verlieben. Doch die kosmische Harmonie wird durch einen schweren Schicksalsschlag gestört, der in der Folge eine ganze Kette an tragischen Verwicklungen auslöst, aus denen es schließlich keinen versöhnlichen Ausweg mehr geben kann… Oder etwa doch? Kann der mythischen Fiktion gelingen, woran sich die Menschen seit jeher die Zähne ausgebissen haben: den Tod zu überwinden?

Mathieu jedenfalls ist seit dem plötzlichen Unfalltod seiner Eltern im Skiurlaub, an dem er sich zu Unrecht eine Mitschuld gibt, geradezu besessen vom Tod bzw. darauf, seine Macht zu brechen. Er will unbedingt Arzt werden, um mit Hilfe der Wissenschaft unheilbare Krankheiten auszumerzen. Doch dafür muss er nach Paris, weg von seiner großen Liebe Amandine, was ihm einerseits schier das Herz bricht, andererseits jedoch wie eine unbewusste Verlockung auf ihn wirkt, endlich mit dem Ort seiner Herkunft und den Zeugen seiner Kindheit auch die Erinnerung an das Unglück hinter sich zu lassen. Ohne es zu wollen, wird er genau im Moment der Entscheidung ein weiteres Mal in ein tragisches Unglück verwickelt — und ergreift die Flucht nach Paris.

Für Amandine, deren Perspektive mit derjenigen Mathieus kapitelweise alterniert, so dass man in beider wunder Seelen intensiven Einblick erhält, ändert sich mit einem Schlag alles in ihrem Leben: Sie verliert zwei innig geliebte Menschen, durchlebt ein emotionales Trauma von Verlust und Verrat — und macht eine weitere Entdeckung, die hier nicht verraten werden soll.

Von nun an führen beide junge Menschen getrennt voneinander ein eigenes Leben, doch immer wieder deutet sich an, dass ihre Schicksale auf mythische Weise miteinander verbunden sind. Symbol der Liebe und der Kraft des Mythos ist der titelgebende „weiße Zerberus“, den Mathieu bei einem Pariser Taxidermisten entdeckt, bei dem er während des Studiums aushilft. Mit seiner weißen Farbe ist er das Gegenbild zum schwarzen dreiköpfigen Höllenhund, den man unter diesem Namen aus der griechischen Mythologie kennt.

Der Roman ist eine gelungene Illustration des Fortwirkens magisch-mythischen Denkens: Um sich dem „Absolutismus der Wirklichkeit“, wie Hans Blumenberg die stets von Tod, Gewalt und Vergänglichkeit bedrohte conditio humana genannt hat, entgegenzustellen, schaffen sich die Menschen auch heute Bilder und Narrative, die Sinn stiften, und neue Götter, an deren Macht sie glauben können.

Die mythischen Anspielungen in Verbindung mit der vor allem gegen Ende auftretenden Fiktionsironie verhindern, dass die an eine antike Tragödie erinnernde Handlung zum Melodram gerät. Auf diese Weise vorbereitet, erscheint es nur folgerichtig, wenn die ansonsten in der wiedererkennbaren Gesellschaft des heutigen Frankreichs angesiedelte Geschichte am Schluss einen kleinen Schritt über die Realität hinaus ins Mythische tritt, das hier identisch mit dem Technisch-Utopischen wird.

Eine berührende Geschichte voller Metamorphosen, die das menschliche Dasein, und ebenso den Leser, erschüttern und verzaubern!

Pierre Raufast: Le cerbère blanc, Stock (2020)
ISBN: 9782234088498

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner