bookmark_borderAmélie Nothomb: Das Buch der Schwestern

Während sich die Literaturkritik nicht immer einig ist über die Qualität der Texte von Amélie Nothomb, stürmt die belgische Schriftstellerin mit ihren Büchern regelmäßig nicht nur die französischsprachigen Bestsellerlisten. Und das, obwohl sie ihren Lesern immer wieder einiges zumutet, mit vielen ihrer Figuren möchte man sich nicht gerne identifizieren, und ihre oft bitterböse psychologische Dramaturgie könnte einen verstört zurücklassen, wenn man den Humor dahinter nicht erkennen würde.

Ihr neues Buch, Das Buch der Schwestern, hat, und das mag einem nicht unbekannt vorkommen, spielt die Schriftstellerin doch gerne mit Märchen und Mythen und christlichen Motiven, die Anmutung eines Märchens aus modernen Zeiten. Die eigentliche Protagonistin des Textes trägt den im Französischen sprechenden Namen Tristane (triste: „traurig“), der vielleicht auch auf den mittelalterlichen Sagenstoff des berühmten Liebespaares Tristan und Isolde verweist. Um die Liebe geht es auch im Buch der Schwestern, um ihre Macht, die egoistisch sein kann, wie die der Eltern von Tristane, Nora und Florent, die seit ihrer ersten Begegnung ein dauerverliebtes Pärchen sind, das ihre Umwelt zu ungläubigem Staunen und bösen Kommentaren verleitet. Dem sozialen Druck doch ein wenig nachgebend bekommen die beiden ein Kind, mit dem sie nicht wirklich etwas anfangen können. Bevor das Baby jedoch ein Störfaktor ihrer Zweisamkeit werden kann, wird es zurechtgewiesen und setzt von nun an alles daran, eben nicht zu stören. Es zieht sich, emotional radikal vernachlässigt, in sein Inneres zurück, wird, ohne dass die Eltern davon Notiz nehmen, hochintelligent, verhält sich stets vorbildlich und bescheiden und übernimmt immer mehr die Rolle der Fürsorgenden, die ihm selbst vorenthalten bleibt. Als mit Laetitia ein zweites Mädchen auf die Welt kommt, scheint Tristane ihre Bestimmung gefunden zu haben. Sie kümmert sich wie eine Mutter um die kleine Schwester und schenkt ihr all die Liebe und Sicherheit, die sie selbst in diesen entscheidenden Kleinkindjahren nie erfahren hat. Die beiden werden größer, andere Formen der Liebe tauchen auf, auch die zur Musik, zur Literatur, doch die zwischen den Schwestern scheint unverbrüchlich, gleichwohl auch sie zwangsläufig in Reibung mit der Welt gerät. Und mit der Tatsache, dass jeder Mensch eben doch mit individuellen Voraussetzungen ins Dasein startet, deren Nachwirkungen ein Leben lang zu spüren sein können.

Man empfindet beim Lesen große Sympathie für Tristane, auch wenn sie zweifelsohne ein sehr spezieller Charakter ist. Und auch wenn Amélie Nothomb ihre Erzählung absichtlich immer ein klein wenig über das Wahrscheinliche hinausdehnt, mit Überspitzung, Umkehrung, schwarzem Humor arbeitet. Die Psyche des Kindes, das von seinen Eltern zwar nicht gezüchtigt, doch emotional verwahrlost und, wie es in der Entwicklungspsychologie heißt, „parentifiziert“ wird, dass es also seine kindlichen Bedürfnisse nie ausleben und erfüllt sehen kann, da es die Rolle und die Verantwortung der Eltern übernommen hat, wird, wie ich finde, erzählerisch pointiert und einfach genial entfaltet. Es stimmt, Amélie Nothomb schreibt leicht, dialogreich, locker, unterhaltsam, doch darin liegt gerade auch die Kunst, im gleichen Atemzug und ohne ein überflüssiges Wort ein rührendes Märchen in eine so bitterböse wie komisch überdrehte Sozialsatire einzubetten, in der viele Grundannahmen, Klischees und auch nicht zu unterschätzende Herausforderungen im Biotop Familie und Erziehung in absurder Überspitzung vorgeführt werden. In ihrem neuen Buch kann ich jedenfalls keinen Kitsch sehen, auch wenn es so viel um Liebe geht — und um ihr Gegenteil, und auch wenn es, zumindest für die Protagonistin Tristane wie für das Waisenkind aus dem Märchen, ein, na ja, halbwegs versöhnliches Ende gibt.

Bibliographische Angaben
Amélie Nothomb: Das Buch der Schwestern
Aus dem Französischen von Brigitte Große
ISBN: 9783257072860

Bildquelle
Amélie Nothomb, Das Buch der Schwestern
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderEva Menasse: Dunkelblum

Eva Menasse erweckt in ihrem Roman eine ganze österreichische Kleinstadt zum Leben, mitsamt ihren vielen jungen und alten, neugierigen und verdrängenden, zugezogenen und geflüchteten, überlebenden und verschollenen, versehrten und toten Bewohnern, deren Biographien sie im Laufe des mit vielen verschlungenen Fäden gestrickten Romans auf eine geschickt mit Leerstellen spielende, andeutungsreiche Weise und mit viel erzählerischer Anschaulichkeit der Charaktere und Dialoge genauso puzzleartig zusammensetzt wie die verschiedenen historischen Schichten und zeitlichen Ebenen.

Dunkelblum ist der Name dieses fiktiven Städtchens an der ländlichen Grenze zu Ungarn, die sich, als die Handlung zunächst im Jahr 1989 einsetzt, für eine kurze Zeit öffnet. Der ländlich-idyllische, aber für Eindringlinge absolut nicht aufgeschlossene Ort wird auf einmal zum Schauplatz einer Konfrontation mit der mühevoll verdrängten Vergangenheit, als auch noch eine Gruppe Studenten aus der Großstadt und ein geheimnisvoller Fremder nicht nur die Friedhofserde aufzuwirbeln beginnen.

Die Herausforderung, die sich die Autorin mit ihrem Roman stellt, liegt darin, einem dunklen und erst spät aufgearbeiteten Kapitel der österreichischen Vergangenheit eine literarische Sprache zu verleihen, die entlarven will, ohne zu verurteilen, aber auch ohne zu bagatellisieren, um in tiefere Schichten menschlichen Verhaltens vorzudringen, die Beweg- oder Unterlassungsgründe der Täter zu verstehen, ohne die Opfer konturlos werden zu lassen. Das ist ein gewagtes Unterfangen, da mit der Sprache hier gerade das Schweigen eingefangen werden will; im dunkel-verschwiegenen Zentrum der Stadt und des Romans schwelt die Erinnerung an ein im Nationalsozialismus verübtes Massaker, um das herum sich, wildwuchernden Kletterblumen gleich, weitere Verbrechen, Untaten, Unterlassungen, Opportunismen, im Kleinen und Großen, gruppieren.

Dunkelblumig ist denn auch die Sprache, die Eva Menasse für die Bearbeitung dieses historischen Stoffes wählt, hintersinnig, satirisch, bissig, aber nicht ganz ohne Herz; sie bemüht sich, um nicht in die Falle einer moralischen Überlegenheitspose zu tappen, um ein literarisches Einfühlen auch in die unsympathischsten Charaktere, deren Taten gleichwohl durch nichts gerechtfertigt werden und zu denen eben durch die Sprache immer eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird.

Ein wachrüttelndes Stück historischer Aufarbeitung im Gewande einer eigenwilligen, aber ins Schwarze treffenden literarischen Form.

Bibliographische Angaben
Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer & Witsch 2021
ISBN: 9783462047905

Bildquelle
Eva Menasse, Dunkelblum
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderFrançoise Sagan: Die dunklen Winkel des Herzens

Wie aufregend! Da entdeckt der Sohn im Nachlass ein bisher unbekanntes Romanmanuskript seiner berühmten Mutter, der französischen Schriftstellerin Françoise Sagan (1935-2004), die sich 1954 als 18-Jährige mit Bonjour tristesse auf einen Schlag einen Namen machte und von da an mit einer Vielzahl an Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern zur skandalumwitterten Bestsellerautorin wurde. Und er veröffentlicht es, zur Freude aller neugierigen Sagan-Leser, denen damit ein neuer Stoff zugänglich gemacht wird: jedoch nicht als kritische Textausgabe, sondern durchaus auch mit kleinen Eingriffen und Ergänzungen, wie er im Nachwort schreibt, im Stile und im Sinne seiner Mutter.

Doch ist diese — trotz aller Bemühungen, den Lesern einen möglichst unverfälschten und dennoch flüssig lesbaren Text zu präsentieren — zwangsläufig bruchstückhaft bleibende Veröffentlichung wirklich im Sinne der Autorin? Und der Leser?

Einiges Amüsement beschert einem der Roman auf jeden Fall, und wer Sagan kennt, wird auch einiges von ihrem unvergleichlich freimütigen, humorvollen und zugleich gefühlsbetonten Stil wiedererkennen. Um die im Zentrum der Geschichte stehende reiche Industriellenfamilie Cresson zu porträtieren, ihre zur Schau gestellte Bürgerlichkeit, die nach innen so einige „dunkle Winkel“ vergeblich zu verbergen sucht, nimmt die Schriftstellerin kein Blatt vor den Mund. Die Figuren und ihre Handlungsmotive werden mit großer Lust an böser Satire und provozierender Übertretung von Anstand und Konventionen geschildert, die immer wieder auch Raum lässt für unterschwelligere melancholische, gefühlvolle Töne.

Trotzdem wirkt alles, wenn man denn den Maßstab ihrer vollendeten Romane, etwa Aimez-vous Brahms oder das bereits erwähnte Bonjour tristesse, anlegt, hier doch noch ziemlich plakativ und nicht ganz so rund. Der Eindruck, dass man es mit einer unvollendeten Erzählung nicht nur in Bezug auf die Handlung zu tun hat, die, ehe sie sich so richtig entfalten kann, auch schon wieder unvermittelt abbricht, sondern auch in Bezug auf den stellenweise recht holprigen Stil, verlässt einen kaum während der Lektüre und macht sie entsprechend beschwerlicher, als es einzelne äußerst fesselnd und vergnüglich geschriebene Passagen darin verheißen, die dann allerdings etwas unverbunden nebeneinander zu stehen scheinen.

Dabei hat Sagan einen durchaus vielversprechenden Stoff gewählt und eine konfliktreiche Ausgangslage geschaffen, die einen gespannt in die Handlung eintauchen lässt: Ludovic Cresson, der einzige überlebende Sohn kehrt nach langwierigen, kräftezehrenden Krankenhaus- und Rehabilitierungsaufenthalten heim aufs väterliche Anwesen, wo er jedoch nicht von allen so begeistert erwartet wird, wie anzunehmen wäre. Befürchten doch alle, einen debilen und so gar nicht vorzeigbaren Invaliden zu ihrem eigenen Schaden wieder in ihre bürgerliche Mitte aufnehmen zu müssen. Doch Ludovic ist in besserer Form als vermutet, was allerdings erst als Wirklichkeit anerkannt werden kann, wenn er sich in der guten Gesellschaft von dem ihm vorauseilenden Ruf des Invaliden befreit hat.

Im Hause der Cressons hatte man sich angewöhnt, Ludovic nicht direkt anzusprechen, da der wahre Ludovic für sie gestorben war. Also redeten alle in seinem Beisein so ungeniert über ihn, als wäre er gar nicht da. Ludovics Blick schweifte dabei ohnehin stets über die Landschaft draußen vor den Fenstern.

Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens

Besonders missgestimmt ob seiner unerwarteten Rückkehr ist seine junge Frau, die übrigens jenen fatalen Autounfall überhaupt verursacht hat, der Ludovic zuerst zum Totgeglaubten, dann zum Schwerverletzten und schließlich zum scheinbar unheilbar Versehrten gemacht hat. Sie ist alles andere als erfreut, ihren Mann, den der unattraktive Ruf des Invaliden umweht, wieder in ihre verwöhnten Arme zu schließen. Sein Vater hingegen ist mehr um die Männlichkeit des Sohnes besorgt und leitet ein großes Fest in die Wege, auf dem dieser zur vollständigen Reintegration in die Gesellschaft der gesunden Bürgerlichkeit beweisen soll, dass er keine dauerhafte Beeinträchtigung davongetragen hat.

Diesen Beweis erbringt Ludovic allerdings auf ganz andere, unvorhergesehene, in sich bereits wieder skandalöse Weise. Denn während die Tochter ihn, der nach Liebe und Romantik hungert, verschmäht, findet er umso leidenschaftlichere Erfüllung bei ihrer Mutter, deren Witwentrauer sie mit einer Melancholie umweht, die sich von der Oberflächlichkeit der übrigen Gesellschaft abhebt und ein Versprechen der Innigkeit enthält, das die Grenzen der Konvention zu sprengen scheint…

Es herrschte ein umgekehrter Puritanismus, der sich Freiheit nannte und sie (Fanny, Quentins Witwe und Mutter von Ludovics Frau) sehr erstaunte, als sie ihn entdeckte, denn Quentin und auch ihr eigener Horizont hatten sie bisher davor bewahrt. Heute erschreckte sie der Gedanke einer solchen inneren Leere: die Unfähigkeit zu lieben, verbunden mit der Besessenheit, seine Liebschaften öffentlich zur Schau zu stellen.

Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens

Wer Sagan kennt und mag, für den ist das Buch ein interessanter und an vielen Stellen genüsslicher Einblick in ein weiteres Element ihres Schaffens. Wer jedoch noch nichts von ihr gelesen hat, sollte doch besser zu einem von ihr autorisierten, zu ihren Lebzeiten erschienenen Roman greifen, um ein Bild ihres köstlichen Schreibens zu bekommen, das ihr tatsächlich gerecht wird.

Bibliographische Angaben
Françoise Sagan: Die dunklen Winkel des Herzens, Ullstein (2019)
Aus dem Französischen — Les Quatre Coins du Coeur, Plon (2019) — von Waltraud Schwarze und Amelie Thoma
ISBN: 9783550200915

Bildquelle
Françoise Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens
© 2019 Ullstein Buchverlage GmbH

bookmark_borderOlivier Guez: Koskas und die Wirren der Liebe

Wenn man den französischen Journalisten und Schriftsteller Olivier Guez über seinen ersten ins Deutsche übersetzten Roman Das Verschwinden des Josef Mengele kennengelernt hat, erwartet einen mit seinem eigentlichen Debütroman, der unter dem Titel Les révolutions de Jacques Koskas schon 2014 in Frankreich erschienen ist und nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, eine stilistische und auch inhaltliche Überraschung.

War sein Buch über den KZ-Arzt und Massenmörder Josef Mengele, seine Flucht nach Lateinamerika und sein langes, aber elendiges Überleben in wechselnden Verstecken eine auf intensiver historischer Recherche basierende psychologische Studie in literarisierter Form, so sprudelt sein Roman über den so gar nicht dämonischen Möchtegern-Schwerenöter Jacques Koskas geradezu vor satirisch-anarchischem Witz und fantasiereichem Überschwang, der auch dem Protagonisten eigen ist und diesem im Verlauf einer wahrlich turbulenten Handlung nicht selten zum Verhängnis wird.

Olivier Guez wurde wie sein Protagonist Jacques Koskas in Straßburg geboren, das im Roman allerdings unter der ironischen Verschleierung einer Stadt namens S. erwähnt wird, die durch ihre explizite Verortung im Elsass natürlich gar nichts mehr verschleiert, er ist ebenfalls jüdisch und schrieb einige Jahre für die französische Wirtschaftszeitung „La Tribune“, deren Buchstaben im Roman augenzwinkernd zu „La Turbine“ verdreht werden. Doch ist er trotz dieses autobiographischen Spiels natürlich keinesfalls mit seiner Romanfigur gleichzusetzen, wie der Autor im Interview mit dem Deutschlandfunk auf irgendwie schelmische Art betonte, auch wenn der deutsche Klappentext das nahelegen möchte.

Das Schelmische ist denn auch das zentrale Stilmerkmal des Romans und sein Protagonist ein moderner Pícaro, durch dessen Blick sich die ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus satirisch offenbaren, wenngleich Koskas‘ Geldsorgen stets von seiner Familie aufgefangen werden, ehe sie ihn tatsächlich in eine den spanischen Pícaros wohlbekannte prekäre Situation stürzen könnten. Prekär ist sein Leben eher in dem Sinne, dass er sowohl in beruflicher als auch romantischer Hinsicht weder seinem eigenen hedonistischen Ideal noch den Erwartungen seiner Eltern und seiner jüdischen Familie entsprechen kann, sich im Pariser Großstadtleben von spontanem Einfall zu spontaner Eroberung treiben lässt und trotz imaginärer Höhenflüge doch immer wieder zwar nicht allzu hart, aber etwas enttäuscht auf dem Boden der Tatsachen landet.

Fast unablässig dreht sich der Roman eher noch als um das Thema der Liebe, das erst im zweiten Teil an romantischer Spannungskraft gewinnt, als Koskas sich in Berlin zum ersten Mal unsterblich, erst glücklich und dann umso unglücklicher, verliebt, um die Frage der Männlichkeit, die den extrem spät pubertierenden Protagonisten lange — für seine besorgte Familie eine bedenklich lange — Zeit gar nicht, aber nach einem Schlüsselerlebnis, das den zarten, schmächtigen, in unschuldigen Fabeltierfantasien schwebenden Jüngling schließlich doch ereilt, umso heftiger umtreibt. Fast scheint es, als müsste er nun, wie um alles Verpasste nachzuholen, als junger Mann nun alle Frauen auf einmal begehren und verschleißen — oder von ihnen verschlissen werden.

Sein Königreich war das Mögliche, und beim geringsten Hindernis suchte er das Weite, als wäre das Leben nur eine unversiegbare Quelle von Vergnügungen, als lebte er noch immer und für alle Zeiten in der mütterlichen Gebärmutter, er, das Chamäleon, der Wetterhahn in seinem Saab Turbo, auf dessen spätes Auschlüpfen die Menschheit vergeblich wartete.

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Pikaresk ist nicht nur die Unstetigkeit des Protagonisten, sondern auch die entlarvende Schilderung der modernen Gesellschaft in üppig-barocken, schmutzig-direkten und satirisch-überspitzten Bildern. Die Finanzkrise lässt ebenso grüßen wie die Wohnungsnot, die Fluktuation oberflächlicher Beziehungen und das Streben nach Konsum, Genuss und schnellem Geld. Doch auch die Banalität des geordneten Lebens eines erfolgreichen, aber doch immer vom Gespenst der Arbeitslosigkeit bedrohten Angestellten hält Jacques nicht lange aus:

Trotz seiner Essensmarken, der Ferienschecks und eines Schwimmbad-Abos zum halben Preis war Jacques missgelaunt. Er katzbuckelte und klammerte sich an seinen wurmstichigen Ast, weil er in jenen für die Pariser Presse mageren Zeiten Angst vor der Arbeitslosigkeit hatte. Wie praktisch alle nahm er Beruhigungsmittel und wartete auf den gesellschaftlichen Bing Bang.

Olivier Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, wozu Jacques seinerseits einiges beisteuert, und er sieht seinen einzigen Ausweg — und vielleicht eine Chance — in einer Flucht nach Berlin, wo die hübsche blonde Barbara ihm den Kopf verdreht…

Guez‘ Roman ist auch eine — allerdings in sich schon wieder ironisch gebrochene — Dekadenz-Erzählung, in der das jüdische Herkunftsmilieu des Protagonisten, die jüdischen Feste und Traditionen immer wieder in einen bunten Kontrast zum hedonistischen Kapitalismus unserer modernen Gesellschaft gesetzt werden.

Europa und das Abendland waren verrottet. Die Geschichte würde sich für ihre Untaten rächen. Der Zorn schwelte, gewaltige Massen strömten heran, um endlich mit dem großen Vergnügen aufzuräumen, ein Fest, das fünf Jahrhunderte gewährt hatte, ging seinem Ende entgegen…

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Denn uns Lesern wird diese dekadente Welt aus der Perspektive eines moralisch doch einigermaßen unzuverlässigen Erzählers präsentiert, der durchaus gebildet ist und an philosophisch-kritischen Einschätzungen und Kommentaren nicht geizt, die in Folge seiner überquellenden Fantasie jedoch die Vernunft allzu oft provozierend-amüsierend ad absurdum führen und den Erfindungsreichtum der literarischen Fiktion ausreizen.

Meine südamerikanischen Missgeschicke haben mich nicht sonderlich geknickt. Im Gegenteil, sie haben meinen Charakter geformt und mich in meiner Risikoliebe bestärkt. Ich bin ein Abenteurer, so viel steht fest, ein Spieler muss eben auch mal verlieren können. Aber bald gewinne ich, auf zu neuen Horizonten. (…) Übrigens höre ich jetzt mit diesem Tagebuch auf. Das ist mir abends doch zu viel Arbeit, ich hab weiß Gott Besseres zu tun, ich bin lebendig.

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Der überraschende Wechsel zum Ich-Erzähler des eingeschobenen Tagebuchs, das über einen begrenzten Zeitraum den personalen Erzähler ablöst, ist eher Ausdruck der Launenhaftigkeit des Protagonisten, als dass er von einer stilistischen Notwendigkeit motiviert wäre, und wird ebenso plötzlich und fiktionsironisch wieder abgebrochen.

Dass am Ende der solcherart ausgiebig charakterisierte Antiheld eine religiöse Läuterung durchmacht, scheint eine fast unmögliche Vorstellung. Kann das gut gehen, oder rennt er schon wieder in sein Verderben…?

Das herauszufinden lohnt sich auf alle Fälle, denn Olivier Guez schreibt voll Verve und Witz und lässt seine Leser mit seinem hoffnungslosen Abenteurer bis zum Schluss atemlos mitjammern, mitschmunzeln, mitleiden und mitfiebern.

Bibliographische Angaben
Olivier Guez: Koskas und die Wirren der Liebe, Aufbau (2020)
Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis
ISBN: 9783351034801

Bildquelle

Olivier Guez, Koskas und die Wirren der Liebe
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

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