bookmark_borderEva Menasse: Dunkelblum

Eva Menasse erweckt in ihrem Roman eine ganze österreichische Kleinstadt zum Leben, mitsamt ihren vielen jungen und alten, neugierigen und verdrängenden, zugezogenen und geflüchteten, überlebenden und verschollenen, versehrten und toten Bewohnern, deren Biographien sie im Laufe des mit vielen verschlungenen Fäden gestrickten Romans auf eine geschickt mit Leerstellen spielende, andeutungsreiche Weise und mit viel erzählerischer Anschaulichkeit der Charaktere und Dialoge genauso puzzleartig zusammensetzt wie die verschiedenen historischen Schichten und zeitlichen Ebenen.

Dunkelblum ist der Name dieses fiktiven Städtchens an der ländlichen Grenze zu Ungarn, die sich, als die Handlung zunächst im Jahr 1989 einsetzt, für eine kurze Zeit öffnet. Der ländlich-idyllische, aber für Eindringlinge absolut nicht aufgeschlossene Ort wird auf einmal zum Schauplatz einer Konfrontation mit der mühevoll verdrängten Vergangenheit, als auch noch eine Gruppe Studenten aus der Großstadt und ein geheimnisvoller Fremder nicht nur die Friedhofserde aufzuwirbeln beginnen.

Die Herausforderung, die sich die Autorin mit ihrem Roman stellt, liegt darin, einem dunklen und erst spät aufgearbeiteten Kapitel der österreichischen Vergangenheit eine literarische Sprache zu verleihen, die entlarven will, ohne zu verurteilen, aber auch ohne zu bagatellisieren, um in tiefere Schichten menschlichen Verhaltens vorzudringen, die Beweg- oder Unterlassungsgründe der Täter zu verstehen, ohne die Opfer konturlos werden zu lassen. Das ist ein gewagtes Unterfangen, da mit der Sprache hier gerade das Schweigen eingefangen werden will; im dunkel-verschwiegenen Zentrum der Stadt und des Romans schwelt die Erinnerung an ein im Nationalsozialismus verübtes Massaker, um das herum sich, wildwuchernden Kletterblumen gleich, weitere Verbrechen, Untaten, Unterlassungen, Opportunismen, im Kleinen und Großen, gruppieren.

Dunkelblumig ist denn auch die Sprache, die Eva Menasse für die Bearbeitung dieses historischen Stoffes wählt, hintersinnig, satirisch, bissig, aber nicht ganz ohne Herz; sie bemüht sich, um nicht in die Falle einer moralischen Überlegenheitspose zu tappen, um ein literarisches Einfühlen auch in die unsympathischsten Charaktere, deren Taten gleichwohl durch nichts gerechtfertigt werden und zu denen eben durch die Sprache immer eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird.

Ein wachrüttelndes Stück historischer Aufarbeitung im Gewande einer eigenwilligen, aber ins Schwarze treffenden literarischen Form.

Bibliographische Angaben
Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer & Witsch 2021
ISBN: 9783462047905

Bildquelle
Eva Menasse, Dunkelblum
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderAlain Claude Sulzer: Postskriptum

Die, die unscheinbar sind, die von den anderen nicht gesehen werden, verwandelt der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer in seinen Romanen in literarische Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Von stilistischer Zauberhand erschafft er eine Geschichte, in der diese Unscheinbaren einmal im Leben für einen flüchtigen Augenblick eben doch sichtbar werden, wie der Schweizer Postangestellte Walter, der im Hotel Waldhaus in Sils Maria seinem großen Schwarm, dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer begegnet, wohin dieser sich zurückgezogen hat, um eine neue Filmrolle zu erarbeiten. Es ist das Jahr 1933, das auch den jüdischen Filmstar jäh in den Schatten der Unsichtbarkeit zwingt. Von den Filmproduzenten ebenso fallengelassen wie von seinem Liebhaber, dem intriganten Kunsthändler Eduard, sieht sich Kupfer zur Emigration gezwungen. Erst Jahrzehnte später, so verrät es der Epilog, wird dem von seinem einst jubelnden Publikum opportunistisch Vergessenen noch einmal ein Alterserfolg im Exil in den USA beschieden sein.

Postskriptum ist ein Künstlerroman, der mit Lionel Kupfer eine Figur enwirft, die zwar fiktiv ist, sich jedoch aus vielen Künstlerbiographien zusammensetzt, die mit dem Erstarken des Nationalsozialismus zerstört oder zumindest nachhaltig erschüttert wurden. Sulzer erzählt in seinem schmalen Buch folgerichtig auch nicht den Aufstieg des von ihm erdachten Künstlers, sondern konzentriert sich auf die inneren Schlüsselmomente seines Lebens, bei denen die umgekehrte Richtung des Fallens entscheidend ist. Der zentrale Fall Kupfers im Jahr 1933 wird von einem Prolog und einem Epilog gerahmt. Im Prolog erfährt man von der ganz privaten Familientragödie, die den kleinen Jungen Lionel, der ein begabter Zeichner war, den Weg der Schauspielerei hat einschlagen lassen; im Epilog zeigt Kupfer den gealterten Schauspieler noch einmal in seiner Einsamkeit im Exil.

In diesem mit so leichten Strichen skizzierten Roman verdichten sich verschiedene Motive zu einem Porträt, das nicht nur das kurz aufflackernde und wieder erlöschende Leuchten ganz verschiedener Gestalten einfängt, sondern auch einen Epochenbruch. Es ist auch die Zeit, die die Menschen voneinander trennt. Sie bringt das Gute oder Schlechte in den Menschen hervor, führt, im Falle der Beziehung Kupfers und Eduards, zu Verrat und Illoyalität, im Falle der von Kupfer und Walter zu unsichtbar bleibender Treue. Am Motiv der Homosexualität, die 1933 nicht weniger verdammt war als die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, zeigt Alain Claude Sulzer, wie gesellschaftliche Unsichtbarkeit gleitend in gesellschaftliche Unansehnlichkeit übergeht. Auch die traurige Geschichte von Walters Mutter, der Analphabetin Theres, fügt sich in dieses motivische Textgewebe ein, geht sie einem doch gerade deshalb so tief ins Herz, weil der Autor ebensowenig große Worte darum macht wie seine Figur. Gerade weil die Figuren auf eine Revolte verzichten, bewegen einen die keineswegs nüchtern, aber mit poetischer Selbstverständlichkeit gezeichneten Schicksale umso mehr.

Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Postskriptum [2015], Kiepenheuer & Witsch 2017
ISBN: 9783462050394

Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Postskriptum
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderDagmar Fohl: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt

„Wer ein Leben rettet, rettet die Welt.“ Diese Worte, die auch als Inspiration für den Titel des neuen Romans der Schriftstellerin und Historikerin Dagmar Fohl dienten, sind heute als Epitaph auf dem Grabstein des Portugiesen Aristides de Sousa Mendes zu lesen und erinnern an sein mutiges Engagement während eines der düstersten Kapitel der europäischen Geschichte. Der portugiesische Generalkonsul, der zur Zeit des Nationalsozialismus in Bordeaux in Frankreich tätig war, rettete wohl etwa 30.000 Menschen das Leben, indem er denen, die sich auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime befanden, unterschiedslos und bald auch gegen die ausdrücklichen Anordnungen des faschistischen Herrschers im eigenen Lande, António de Oliveira Salazar, Visa ausstellte und Berufsethos und Menschenwürde über den eigenen Vorteil und die eigene Sicherheit erhob. Doch obwohl Sousa Mendes das Ende des Zweiten Weltkrieges um einige Jahre überlebte, starb er einsam, verarmt und ohne von dem Regime, dessen autoritäre Herrschaft in Portugal noch bis zur Nelkenrevolution 1974 fortdauerte, rehabilitiert worden zu sein. Dies geschah auch unter demokratischen Vorzeichen erst in den späten 1980er und 1990er Jahren.

Die Autorin lässt in ihrer gut recherchierten Romanbiographie Sousa Mendes selbst in der Ich-Form sprechen und macht seine letzte Lebensphase zur Erzählsituation, aus der heraus ihr Protagonist auf sein Leben und seine Taten zurückblickt. Die chronologisch strukturierten Erinnerungen dieses zu diesem Zeitpunkt schwer kranken und gebrochenen Mannes sind zugleich Lebensbeichte und Testament. Und sie sind, neben (auto)biographischen Schilderungen und historischen Einordnungen von vielen Zweifeln und Reflexionen durchzogen, mit denen er bzw. in Wahrheit natürlich die Autorin sein Handeln von mehreren Seiten beleuchtet, seinen Beweggründen nachgeht und seine auch von Sorgen und Ängsten begleiteten Entscheidungsfindungen einer selbstkritischen Prüfung unterzieht. In dieser Form kann Dagmar Fohl einerseits die keineswegs selbstverständliche Menschlichkeit dieses Mannes würdigen und andererseits der Gefahr einer allzu unkritischen Heldengeschichte entgehen.

Indem die Autorin die Selbstanalyse in die subjektive Ich-Perspektive ihres Protagonisten verlagert, kann sie dessen Geschichte auch ohne äußere moralisch-ethische Bewertungen seines Verhaltens erzählen, das keineswegs zu jeder Zeit tadellos und vorbildlich war. Es gibt durchaus auch dunklere Seiten und einen inneren Zwiespalt in ihm. Das zeigt sich vor allem an Sousa Mendes‘ streng christlicher Lebensweise, die bei ihm einerseits mit einem bestimmten Menschenbild einhergeht, das ihn in seinem Handeln für die Verfolgten bestärkt, andererseits jedoch eine gewisse Bigotterie nicht ausschließt, wenn er trotz seiner kinderreichen Ehe mit einer liebenden, treuen und loyalen Frau an seiner Seite eine geheime Beziehung mit einer viel jüngeren französischen Geliebten führt. Sousa Mendes, der aus einem alten portugiesischen Adelsgeschlecht stammt und weitläufige Ländereien besitzt und noch einige Zeit monarchistische Ansichten vertritt, steht außerdem nicht von vornherein auf der Seite der Armen und Deklassierten. Umso eindrücklicher wirkt aber vielleicht auch sein Eintreten für die Flüchtlinge, die durch politische Willkür als Staaten- und Rechtslose ganz nach unten gedrängt wurden.

Ich will aufrichtig sein und nichts verschweigen. Auch ich besaß Ländereien. (…) Es gab immerhin eine Schule, und ich wies den Verwalter an, die Bauern gut zu behandeln. Aber was bedeutet das? Auch ein Teil meiner Einkünfte speiste sich aus der Arbeit der Bauern. Ich war niemals ein Landreformer, auch ich beließ alles, wie es war. Daran hatte selbst meine Tolstoi-Lektüre nichts geändert. Ich gab Almosen an die Armen, von denen ich lebte, und fühlte mich dabei als guter Mensch. (…)

Wie widersprüchlich kann ein Mensch sein? Der Mann, der ich hätte sein mögen, lehnte den Mann ab, der ich war, und doch lebten die beiden unzertrennlich zusammen.

Dagmar Fohl, Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt

Nachdem Sousa Mendes von den Vertretern des trotz vorgeblicher Neutralität mit den Nazis kollaborierenden Regimes nach Lissabon zurückbeordert worden war, dauerte es nicht lange, bis er seines Dienstes enthoben und angeklagt wurde. Es folgten viele verzweifelte und zunehmend bittere Jahre eines vergeblichen Kampfes gegen die Verarmung und für seine Rehabilitierung. Die Verstrickung des Regimes in den Krieg, ein persönliches Ressentiment Salazars gegen den befehlsverweigernden Aristokraten, das Fortdauern des Polizeistaates in Portugal — dagegen hatten Sousa Mendes, seine Familie und seine Freunde, keine Chance, dagegen prallte jedes seiner in vielen Briefen niedergeschriebenen ethischen Argumente gnadenlos ab. Trotzdem, so entnimmt man dem Zweifeln und Ringen des hadernden, leidenden Mannes, der fast am Ende seines Lebens und seiner Hoffnung angekommen ist, blieb ihm doch eine unerschütterliche Gewissheit. Sein sozialer Abstieg und seine politische Desillusionierung waren ein zweifellos hoher Preis, den zu zahlen er — auch auf Kosten seiner Familie — jedoch in seiner seelenforschenden Rückschau für sich als alternativlos (an)erkennt: Er musste so handeln, wenn er sich selbst und seine Menschlichkeit nicht verraten wollte.

Zwar zwingt die Ich-Form die Autorin bisweilen in ein selbst gewähltes Korsett, in dem manche Selbstbeschreibung etwas aufgesetzt und ungewollt eitel wirkt, etwa wenn sie Sousa Mendes selbst sein gutes Aussehen schildern lässt. Doch außer dieser kleinen Einschränkung wird hier ein menschliches Schicksal in seiner Zeit insgesamt glaubwürdig erzählt. Und vor allem auch mit viel historischem Hintergrundwissen, das einen sehr differenzierten Blick ermöglicht, der sich hinter den meist ganz einfachen und scheinbar locker herunterzulesenden Sätzen verbirgt. Man muss sich bewusst sein, dass diese Romanbiographie weniger handlungsreiche, schillernde Szenen bereithält als nachdenkliche Reflexionen, und sich darauf einlassen, dass das Romaneske an vielen Stellen von einem verständlich geschriebenen Geschichtsbuch verdrängt wird, das sich in die komplexeren Bereiche dieser historischen Epoche vorwagt und zeigt, wie sich auch andere Länder durch Kollaboration, Wegschauen oder Profitgier an den Verbrechen des Faschismus mitschuldig gemacht haben. Doch daran wird man, genauso wie auch an das vor diesem Hintergrund umso eindringlicher wirkende Beispiel von Sousa Mendes, noch lange, nachdem man das eher schmale Buch zuende gelesen hat, mit Erschütterung denken.

Bibliographische Angaben
Dagmar Fohl: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt – Der portugiesische Oskar Schindler, Gmeiner (2020)
ISBN: 9783839227718

Bildquelle
Dagmar Fohl, Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt
© 2020 Gmeiner-Verlag GmbH, Meßkirch

bookmark_borderRaphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Mit ihrem grotesk-pointierten Stil und den (aber)witzigen Dialogen, die den Roman Das flüssige Land zu einer überaus sinnlichen und sehr intelligenten Lektüre machen, hat mich die junge Wiener Autorin Raphaela Edelbauer sofort für sich eingenommen. Und das Beste: Sie hält diesen stets zwischen bissig, resigniert und belustigt changierenden Ton, der ihrer durchaus im Düsteren grabenden Geschichte einen äußerst erfrischenden Charakter gibt, das ganze Buch über durch! Man amüsiert sich königlich und ist im gleichen Moment zutiefst entsetzt über das, was in dem kleinen, von den offiziellen österreichischen Landkarten getilgten Örtchen mit dem stolzen Namen Groß-Einland in der Vergangenheit alles so vor sich gegangen ist — und munter weiter vor sich geht.

Zu Beginn der Geschichte, die aus der Perspektive von Ruth Schwarz, einer jungen, in Wien lebenden Physikerin erzählt wird, ist Groß-Einland jedoch noch weit entfernt, nichts weiter als eine schwer greifbare Erinnerung aus zweiter Hand, vererbt in Form loser Anekdoten von den Eltern, die schon vor Ruths Geburt in die Großstadt weggezogen waren. Ruth, deren Habilitation sich wegen wiederkehrender Schreibblockaden in die Länge zieht, wird durch den überraschenden Unfalltod ihrer Eltern aus ihrem mit Medikamenten bekämpften depressiven Zustand herausgerissen und trifft kurzerhand den Entschluss, ins sagenumwobene Groß-Einland aufzubrechen, wo ihre Eltern geboren und aufgewachsen sind und ihrer Ansicht nach nun auch bestattet werden sollen.

Die Autofahrt nach Groß-Einland ist bereits eine kleine Odyssee, ist der Ort doch auf keiner aktuellen Karte unter diesem Namen verzeichnet, und so landet sie schließlich mehr durch Zufall an ihrem Zielort, der sich in mehrfacher Hinsicht als äußerst bizarr entpuppt…

Was mich hingegen gefangen nahm, war etwas anderes: Dass neben all diesen Geschäften, neben diesem scheinbar florierenden Einzelhandel, in einer kaum sichtbaren Straßeneinfahrt der Asphalt fehlte. Zu dieser Stelle, die sich unsichtbar im Schwarz verlor, führte der Gehsteig hinab, als hätte ein riesenhafter Mund aus dem Untergrund an der Befestigung der ganzen Straße gesaugt.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Das auf den ersten Blick hübsch rausgeputzte Städtchen weist so einige nur auf den ersten Blick gut getarnte Abgründe auf. Doch Ruth lässt sich durch den auf sehr bedenkliche Weise baufälligen Zustand des Ortes nicht verunsichern, ebenso wenig durch das merkwürdige Verhalten der Dorfbewohner, die anfangs abweisende, sie dann aber recht bald in ihren Kreis aufnehmende verschworene Stammkneipenkundschaft, die seltsamen Gerüchte und alten Mythen oder durch die undurchsichtige historische Vorgeschichte des Ortes, die ebenso porös zu sein scheint wie sein geologisches Fundament. Der Gipfel der Kuriosität ist aber die sich ihr nach ihrer Ankunft recht bald aufdrängende und sehr dominant auftretende Gräfin, die parallel bzw. in Konkurrenz zur bürgerlichen Gemeindestruktur auf prädemokratische, feudalistische Weise zu herrschen scheint; so hat sie, wie Ruth irgendwann begreift, nach und nach fast alle Grundstücke aufgekauft und ihre Bürger bzw. Untertanen durch Darlehen in ihre Abhängigkeit gebracht und veranstaltet nun exklusive Soiréen, auf denen sie Lokalpolitik in ihrem Sinne betreibt und mit der Zustimmung der versammelten Dorfbewohner ihre eigene Wahrheit kreiert, so dass ihren Worten ebenso wie ihrem Adelstitel nicht so recht zu trauen ist:

„Sehen Sie, in dieser Gemeinde gibt es, ebenso wie in unserem Staat als Ganzem, zwei Körperschaften, die voneinander getrennt agieren. Da ist die alte Ordnung, wie wir sie hier praktizieren, und dann die neue, die an einem gewissen Stichpunkt einfach über die erste gebreitet wurde, ohne auf die gewachsenen, organischen Strukturen Rücksicht zu nehmen. Diese beiden schmirgeln nun aneinander, was eine ganze Reihe an Problemen erzeugt.“

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Dauerhaft auf der Tagesordnung der Gräfin befinden sich die vielen Maßnahmen, die quasi permanent unternommen werden müssen, um von der baulichen Hinfälligkeit des Ortes abzulenken; immer wieder muss repariert und saniert werden, um die unaufhaltsam unterirdisch sich ausbreitenden Risse zu kitten und den Abgrund, auf dem der ganze Ort zu schweben scheint, zu vertuschen und überhaupt den Bewohnern ein Weiterleben in ihrem äußerst fragilen Dorf zu ermöglichen.

Aufgrund dieses ganz klar metaphorisch eingesetzten Bildes, das die ganze Erzählung strukturiert, wurde der Roman bereits als Parabel bezeichnet; ich würde vielleicht eher von einer Allegorie im Sinne einer fortgesetzten Metapher sprechen, die das von Stollen unterhöhlte, immer weiter absackende Dorf und die oberflächlichen, fast schon absurden Versuche, die Löcher zu stopfen, um zumindest die Fassade des Ortes aufrechtzuerhalten, in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs setzt. Die Verschönerungs- und Beruhigungsmaßnahmen, die unter der Leitung der Gräfin im Dorf angestrengt werden und eher oberflächlicher Natur sind als echte Tiefenarbeit, werden in diesem Sinne vergleichbar mit einem auf Verdrängung oder Vertuschung beruhenden Umgang mit den unaufgearbeiteten Stellen der geschichtlichen Vergangenheit. Hinzugefügt werden muss aber auch, dass die nationalsozialistische Vergangenheit im Text durchaus thematisiert wird, so dass ein geschickt gesponnenes Ineinander von Fiktionalem, Realhistorischem und Metaphorischem entsteht, weshalb ich auch den Begriff der Parabel für nicht ganz zutreffend halte.

Das alles [nämlich die Vorgeschichte der Schächte unter Groß-Einland bis hin zu ihrer Funktion im Dritten Reich als an ein KZ angebundene Produktionsstätte für Munition] war aufgearbeitet, eingerahmt und zu Infotafeln zusammengefasst in den Boden gestemmt worden — es gab eine Gedenkstätte, die dem Erinnern einen exakt bezirkelten Radius zuwies, in dessen Orbit man etwa zwei Dutzend Gladiolen pflanzen konnte. Das Loch hatte also eine klar umrissene Biographie, an die zu rühren sich niemand scheute, nur dass das gesamte poröse, wabenartige Land unter dieser Berührung zu zerfallen drohte.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Die Ich-Erzählerin wird von der Gräfin eigentlich gegen ihren Willen engagiert: Sie soll die Expertise, über die sie als Physikerin verfügt, für die Belange der Gräfin einsetzen, im Gegenzug wird ihr genug Zeit eingeräumt, um ihre Habilitation zu Ende zu schreiben, sowie ein eigenes Häuschen übereignet — das sich als das frühere Haus ihrer Großeltern und Eltern erweist –, so dass sich Ruth nun endgültig in Groß-Einland niederlässt. Mit durchaus ambivalenten Gefühlen: Einerseits genießt sie das Dorfleben, in das sie sich mehr und mehr eingebunden fühlt, den beständigen Rhythmus, eine gewisse Bequemlichkeit, die mit ihrem neuen Leben einhergeht, doch andererseits ist sie auch immer wieder irritiert über die vielen Ungereimtheiten, auf die sie stößt und die ihren von Skepsis und Neugier genährten Forschergeist wecken.

Es gab hundertfache winzige Unstimmigkeiten. (…) Es waren kleine Verschiebungen, doch je tiefer man bohrte, desto flüssiger wurde das, woran man sich noch festhalten konnte.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Während Ruth mit der höchst wichtigen Aufgabe betraut wird, eine Formel für ein Füllmittel zu finden, mit dem der durchlöcherte Untergrund ein für alle Mal zugeschüttet werden soll, stellt sie heimlich ihre eigenen Nachforschungen an, um die schwarzen Löcher in der Geschichte des Ortes ans Tageslicht zu bringen.

Über meinem Schreibtisch hing eine Tafel, die drei Schlagworte auflistete, an denen sich meine Arbeit zu orientieren hatte: Schönung, Streckung, Auffüllung.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Bei der inoffiziellen Aufdeckungsarbeit, die Ruth parallel zu ihrer offiziellen Auffüllungsarbeit betreibt, stößt sie immer wieder auf seltsame Leerstellen, Inkongruenzen und Hindernisse. Das gilt sowohl für das Rätsel ihrer Eltern, deren Unfalltod sie mehr und mehr in Zweifel zieht, als auch für die kollektive Vergangenheit der Groß-Einländer, in deren Chroniken angesichts des spurlosen Verschwindens von etwa 750 Zwangsarbeitern eine auffällige Leerstelle klafft.

Das große Ziel der Gräfin und ihrer Experten, Groß-Einland mit Ruths Füllmittel zu konservieren, wird von langer Hand geplant und soll schließlich in einem Festakt gebührend zelebriert werden. Für die langwierige Vorbereitung dieser pompösen Veranstaltung, die mit vielerlei absurden Attraktionen auch ein großes Publikum von außerhalb anziehen und der Zuschüttung der Löcher mit dem von Ruth nur widerstrebend entwickelten — sich in seiner physikalischen Zusammensetzung nämlich als biologisch verheerend für Flora und Fauna erweisenden — Füllmaterial einen denkwürdigen, sensationellen Rahmen geben soll, verwendet die Erzählerin den Begriff der „Parallelaktion“. Die Reminiszenz an Musils ähnlich sich ins Absurde versteigende kakanische Parallelaktion, die aufgrund des Ersten Weltkriegs ins Wasser fällt, ist sicher kein Zufall.

Ich dachte bei der Arbeit an dieser Parallelaktion stets, die anderen müssten ihre Lächerlichkeit ebenso bemerken wie ich und würden mich verlachen dafür, an welchen Hirngespinsten ich mitwirkte. Zu meiner Überraschung tat das aber niemand.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Edelbauers entlarvender und humoristischer Tonfall klingt tatsächlich ein wenig ähnlich wie der des großen Schriftstellers, der im Mann ohne Eigenschaften den Untergang des alten Habsburgerreiches thematisierte, und auch mit der Verflechtung von Wissenschaft und fiktiver Handlung — die Protagonistin erforscht für ihre Habilitation die physikalisch-philosophische Dimension der Zeit — greift sie eine charakteristische Vorgehensweise Musils auf. Ruths Zeitgefühl gerät in Groß-Einland, diesem österreichischen Nicht-Ort, der alle Symptome eines schwarzen Lochs aufzuweisen scheint, ziemlich durcheinander. Obwohl sie ursprünglich nur einen kurzen Aufenthalt geplant hatte, um die Beerdigung ihrer Eltern vor Ort zu organisieren, bleibt sie letztlich sechs Jahre dort hängen, während die Beerdigung ohne ihr Wissen und ihre Beteiligung längst in Wien stattgefunden hat.

So erfährt Ruth am eigenen Leib — und wir Leser vermittelt über ihre Eindrücke und Reflexionen –, welches Ausmaß der Erfindungsreichtum der Menschen annehmen kann, wenn es darum geht, an angenehmen Überlieferungen oder Erklärungen festzuhalten, auch wenn diese sich nachweislich als falsch herausstellen. In immer wieder zum Lachen anregenden, natürlich überspitzten Bildern werden auch der Drang zu Anpassung, Euphemismus und Opportunismus, sowie hartnäckige Strategien des Verdrängens und Verschweigens entlarvt.

Wenn vom einen Tag auf den anderen ein Gehsteig fehlte (…), fand man am nächsten Tag ein dazu parallel laufendes Seil an zwei Laternenmasten geknüpft, das alle auf ihren täglichen Wegen ergriffen, als wäre es vollkommen normal, ein Leben zu führen wie im Basiscamp des Mount Everest.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

So wie das monumentale Projekt der Parallelaktion nichts weiter als groteske Dimensionen annehmende Makulatur ist, scheint es ein menschliches Wesensmerkmal zu sein, mit großem Aufwand und Inkaufnahme fataler Risiken Probleme aufzuschieben. Man könnte hier etwa auch ganz aktuell an den Klimawandel denken, wenn man sich folgendes Zitat durch den Kopf gehen lässt:

Was sie alle gemeinsam hatten, war das: Sie weigerten sich zu begreifen, dass wir es mit einem organischen, wenngleich durch den ehemaligen Bergbau beschleunigten, Naturgeschehen zu tun hatten.

Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land

Ein absolut überzeugender und in all seiner Desillusionierung erfrischend humorvoll erzählter Roman mit einer irgendwie ungemein sympathischen, wenn auch ziemlich verplanten Anti-Heldin, deren Entdeckungen, Erkenntnisse und Rückschläge man sich mit großem Gewinn erzählen lässt!

Bibliographische Angaben
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land, Klett-Cotta (2019)
ISBN: 9783608964363

Bildquelle
Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land
© 2019 Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

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