bookmark_borderMiguel Bonnefoy: Héritage

Das große Thema dieses so leichtfüßig erzählten Romans ist die Entwurzelung und der fortwährende Versuch einer mehrere Generationen umfassenden Familie, neue Wurzeln zu schlagen. Gleich auf den ersten Seiten wird geschildert, wie ein Franzose aus dem Jura Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile auswandert, eine Weinrebe im Gepäck, die er vor einem in Frankreich wütenden Schädling retten will. Es entfaltet sich eine Familiensaga, die über ein Jahrhundert und von Frankreich bis Südamerika reicht, von der Erde, aus der die Reben gerissen werden und in der sie sich neu verwurzeln sollen, bis hoch in die Lüfte, in das Reich der Flugzeugpionierinnen und der Vogelvolieren, um ein paar der wiederkehrenden Motive dieses so besonderen Romans zu nennen.

Natürlich hat man bei einer solchen Geschichte Gabriel García Marquez 100 Jahre Einsamkeit im Hinterkopf, und es findet sich auch der ein oder andere Anklang an dieses großartige Werk des Magischen Realismus. Stilistisch verbindet Miguel Bonnefoy, der 1986, als Sohn einer venezolanischen Diplomatin und eines chilenischen Aktivisten, der unter Pinochet gefoltert wurde, in Paris geboren wurde, Traditionen der lateinamerikanischen und der französischen Literatur auf eine ganz eigene Weise miteinander. Er schreibt auf Französisch und verwebt einen augenzwinkernden Magischen Realismus mit der französischen Tradition des Realismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Denken und Verhalten seiner Figuren etwa erklärt sich aus einer Kombination des Einflusses der sozialen Umstände und der genetischen Herkunft, sie sind ebenso geprägt von ihrer Umwelt wie von ihrem Elternhaus.

Trotz der teilweise sehr schweren Schicksalsschläge, die — von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis in die Folterkammern der chilenischen Diktatur — mit der Macht der historischen Willkür daherkommen, lässt sich Miguel Bonnefoy erzählerisch nicht von seinem Stoff überwältigen. Er verfällt weder dem Pathos noch einer ohnmächtigen Betroffenheit, genauso wenig wie übrigens auch seine mit großer Humanität gezeichneten Figuren, sondern führt mit einer mitunter absurd-komischen Symbolik und einer literarischen Schöpfungskraft, die sich gerade in den kleinen Details offenbart und immer wieder überraschende Wendungen bereithält, girlandenhaft durch die Geschichte der Migrationsbewegungen einer so außergewöhnlichen wie exemplarischen Familie.

Bibliographische Angaben
Miguel Bonnefoy: Héritage, Rivages 2020
ISBN: 9782743650940

Bildquelle
Miguel Bonnefoy, Héritage
© 2024, Les Editions Payot & Rivages (SAS), Paris

bookmark_borderAlain Claude Sulzer: Postskriptum

Die, die unscheinbar sind, die von den anderen nicht gesehen werden, verwandelt der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer in seinen Romanen in literarische Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Von stilistischer Zauberhand erschafft er eine Geschichte, in der diese Unscheinbaren einmal im Leben für einen flüchtigen Augenblick eben doch sichtbar werden, wie der Schweizer Postangestellte Walter, der im Hotel Waldhaus in Sils Maria seinem großen Schwarm, dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer begegnet, wohin dieser sich zurückgezogen hat, um eine neue Filmrolle zu erarbeiten. Es ist das Jahr 1933, das auch den jüdischen Filmstar jäh in den Schatten der Unsichtbarkeit zwingt. Von den Filmproduzenten ebenso fallengelassen wie von seinem Liebhaber, dem intriganten Kunsthändler Eduard, sieht sich Kupfer zur Emigration gezwungen. Erst Jahrzehnte später, so verrät es der Epilog, wird dem von seinem einst jubelnden Publikum opportunistisch Vergessenen noch einmal ein Alterserfolg im Exil in den USA beschieden sein.

Postskriptum ist ein Künstlerroman, der mit Lionel Kupfer eine Figur enwirft, die zwar fiktiv ist, sich jedoch aus vielen Künstlerbiographien zusammensetzt, die mit dem Erstarken des Nationalsozialismus zerstört oder zumindest nachhaltig erschüttert wurden. Sulzer erzählt in seinem schmalen Buch folgerichtig auch nicht den Aufstieg des von ihm erdachten Künstlers, sondern konzentriert sich auf die inneren Schlüsselmomente seines Lebens, bei denen die umgekehrte Richtung des Fallens entscheidend ist. Der zentrale Fall Kupfers im Jahr 1933 wird von einem Prolog und einem Epilog gerahmt. Im Prolog erfährt man von der ganz privaten Familientragödie, die den kleinen Jungen Lionel, der ein begabter Zeichner war, den Weg der Schauspielerei hat einschlagen lassen; im Epilog zeigt Kupfer den gealterten Schauspieler noch einmal in seiner Einsamkeit im Exil.

In diesem mit so leichten Strichen skizzierten Roman verdichten sich verschiedene Motive zu einem Porträt, das nicht nur das kurz aufflackernde und wieder erlöschende Leuchten ganz verschiedener Gestalten einfängt, sondern auch einen Epochenbruch. Es ist auch die Zeit, die die Menschen voneinander trennt. Sie bringt das Gute oder Schlechte in den Menschen hervor, führt, im Falle der Beziehung Kupfers und Eduards, zu Verrat und Illoyalität, im Falle der von Kupfer und Walter zu unsichtbar bleibender Treue. Am Motiv der Homosexualität, die 1933 nicht weniger verdammt war als die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, zeigt Alain Claude Sulzer, wie gesellschaftliche Unsichtbarkeit gleitend in gesellschaftliche Unansehnlichkeit übergeht. Auch die traurige Geschichte von Walters Mutter, der Analphabetin Theres, fügt sich in dieses motivische Textgewebe ein, geht sie einem doch gerade deshalb so tief ins Herz, weil der Autor ebensowenig große Worte darum macht wie seine Figur. Gerade weil die Figuren auf eine Revolte verzichten, bewegen einen die keineswegs nüchtern, aber mit poetischer Selbstverständlichkeit gezeichneten Schicksale umso mehr.

Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Postskriptum [2015], Kiepenheuer & Witsch 2017
ISBN: 9783462050394

Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Postskriptum
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderAyelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Die größte Unbekannte in unserem Leben sind unsere Kinder“, so eine Romanfigur in Ayelet Gundar-Goshens aufwühlendem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“. Elternschaft ist, wenn auch nicht das einzige, so doch das in meinen Augen zentrale Thema dieses vielschichtigen Textes, der Familien- und Gesellschaftsroman ist und stark mit Spannungselementen arbeitet. Die israelische Autorin, die auch als Psychologin tätig ist, erforscht hier auf literarische Weise das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in vielen Variationen.

Erzählt wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive der israelischen Jüdin Lilach Schuster, Mutter des Teenagers Adam und Ehefrau von Michael, mit dem sie als junge Frau aus Israel in die USA ausgewandert ist. Man erhält einen intimen Einblick in ihr Leben als Familie sowie in Lilachs Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Wertvorstellungen — als Frau, als Mutter, als Ausgewanderte. So erfährt man, dass sie damals mit ihrem Mann die gemeinsame Heimat verließ, weil dieser ein überzeugendes Jobangebot in Amerika bekommen hatte; Lilach hingegen gab ihren eigenen Beruf auf und arbeitet nun mehr oder weniger ehrenamtlich als Kulturbeauftragte in einem Altenheim – das Thema der sozialen Rollen scheint im ganzen Roman immer wieder durch. Mit dem Ortswechsel war für sie aber auch die Hoffnung auf ein friedlicheres Leben verbunden, darauf, das eigene Kind fern der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten aufwachsen zu sehen. Umso größer ist der Schock, als — und hier setzt die Romanhandlung ein — ihr scheinbar so beschauliches und weltoffenes Palo Alto im Silicon Valley von einem Anschlag auf eine Synagoge erschüttert wird. Und der Täter ist ausgerechnet ein Schwarzer. Kurz darauf stirbt ein schwarzer Junge auf einer Party, auf der auch Lilachs Sohn Adam zugegen war. Als wenn das nicht ohnehin schon das Leben der jüdischen Familie in Aufruhr versetzen würde, drängt sich der Ich-Erzählerin mehr und mehr ein schrecklicher Verdacht auf: Hat ihr Junge, ihr geliebtes Kind, ihr Sohn, der heftige Prügel von tierquälenden Altersgenossen eingesteckt hat, um einem kleinen unansehlichen Straßenhund das Leben zu retten, etwas mit dem Tod seines schwarzen Mitschülers zu tun?

Der Roman ist ein hörbares Echo auf Antisemitismus und Black Live Matters, doch er enthält sich jeder vereinfachenden Eindeutigkeit, dringt vielmehr tief und mit psychologischem Feinsinn in die widersprüchlichen und nicht weniger gewaltsamen Grauzonen der in unserer Zeit fortwährend schwelenden gesellschaftlichen Konflikte ein. Wer ist Opfer, wer ist Täter — ohne etwas zu verharmlosen, zeigt die Autorin mit ihrer Geschichte, dass beide Begriffe fließend und ungenau sind, ohne klare Linien. Dass das nicht leicht zu akzeptieren ist, wird an ihren Romanfiguren deutlich; Adams Vater Michael, der wie seine Frau durchaus sympathisch gezeichnet ist, sein Vatersein auf seine Weise ebenso ernst nimmt wie Lilach ihr Muttersein, vertritt die Meinung, jeder sei entweder Täter oder Opfer und bleibe dies ein Leben lang, weshalb er seinen Sohn, der im Kindergarten von anderen Kindern malträtiert wird, dazu erziehen will, sich zu behaupten und lieber selbst zu schlagen als sich schlagen zu lassen. Diese Weltsicht ist ihrerseits das Ergebnis von Michaels eigener Biographie, seiner Herkunft und sicher auch der Prägung durch das kollektive Trauma seiner jüdischen Vergangenheit. Doch Adam lässt sich nicht so einfach verbiegen, er ist ein zurückgezogener Junge, der lieber Schach spielt und in seinem eigenem Chemielabor experimentiert als Sport zu machen oder Partys zu feiern, und der auch in der High School gemobbt wird. Bis der Anschlag auf die Synagoge passiert, bis er auf Drängen seines Vaters an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt, der von dem fast rattenfängerhaft charismatischen Israeli Uri geleitet wird, und bis kurz darauf sein schwarzer Mitschüler stirbt…

Die Erzählperspektive der Mutter Lilach ist sehr überzeugend gestaltet. Sie ist diejenige, die nach der Wahrheit sucht, die, auch wenn es weh tut, Fragen stellt, Indizien nachgeht und auf ihr Bauchgefühl hört, die Gedanken und Spuren zu folgen wagt, denen man als Mutter eigentlich nicht folgen möchte. Vor allem versucht sie, in all den aufwühlenden Ereignissen ein Mensch zu bleiben, mitfühlend und im Wissen darum, dass auch sie nicht frei von Irrtümern ist. Auch die anderen Charaktere sind lebendig und plastisch dargestellt, wobei das Interesse der Autorin vor allem auf dem sozialem Gefüge liegt, das sie gekonnt aus den individuellen Geschichten der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander aufscheinen lässt.

Gruppenzugehörigkeiten sind im Amerika von heute, in dem der Roman spielt, als gesellschaftliche Diskurse natürlich omnipräsent und prägen auch das Selbstverständnis und das zwischenmenschliche Verhalten der Figuren, werden zugleich aber in ihrer Neigung zur Reduktion und zur Pauschalisierung hinterfragt. Auch der damit eng zusammenhängende Täter-/Opferdiskurs wird auf vielschichtige Weise und, genauso wie das Thema der Elternschaft, in verschiedenen Konstellationen aufgegriffen und durchgespielt. So sind die beiden Opfergruppen, „die Juden“ und „die Schwarzen“ in den beiden kurz aufeinander folgenden Gewalthandlungen nacheinander und wechselweise „Opfer“ und „Täter“. Die Anführungszeichen verraten es — auch diese Zusammenfassung wäre zu kurz gegriffen.

Der Roman, der in der Hörbuchfassung von Milena Karas (synchron)filmreif gesprochen wird, löst vieles bei seinem Leser aus, Mitgefühl, Empörung, Bestürzung, Erkenntnis, aber auf keinen Fall die Anmaßung eines endgültigen oder einziggültigen Urteils. Ein fesselndes Porträt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und eine einfühlsame und intelligente Analyse der komplexen Zusammenhänge von Biographien, Diskursen und eigenem Handeln.

Bibliographische Angaben
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert, Kein & Aber 2021
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 9783036958491 [Taschenbuch: Kein & Aber 2022, ISBN: 9783036961477]

Hörbuch: Argon Verlag AVE GmbH 2021
Gesprochen von Milena Karas
ISBN: 9783839819364

Bildquelle

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert
© 2022 Kein & Aber AG, Zürich, Berlin

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