Die, die unscheinbar sind, die von den anderen nicht gesehen werden, verwandelt der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer in seinen Romanen in literarische Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Von stilistischer Zauberhand erschafft er eine Geschichte, in der diese Unscheinbaren einmal im Leben für einen flüchtigen Augenblick eben doch sichtbar werden, wie der Schweizer Postangestellte Walter, der im Hotel Waldhaus in Sils Maria seinem großen Schwarm, dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer begegnet, wohin dieser sich zurückgezogen hat, um eine neue Filmrolle zu erarbeiten. Es ist das Jahr 1933, das auch den jüdischen Filmstar jäh in den Schatten der Unsichtbarkeit zwingt. Von den Filmproduzenten ebenso fallengelassen wie von seinem Liebhaber, dem intriganten Kunsthändler Eduard, sieht sich Kupfer zur Emigration gezwungen. Erst Jahrzehnte später, so verrät es der Epilog, wird dem von seinem einst jubelnden Publikum opportunistisch Vergessenen noch einmal ein Alterserfolg im Exil in den USA beschieden sein.
Postskriptum ist ein Künstlerroman, der mit Lionel Kupfer eine Figur enwirft, die zwar fiktiv ist, sich jedoch aus vielen Künstlerbiographien zusammensetzt, die mit dem Erstarken des Nationalsozialismus zerstört oder zumindest nachhaltig erschüttert wurden. Sulzer erzählt in seinem schmalen Buch folgerichtig auch nicht den Aufstieg des von ihm erdachten Künstlers, sondern konzentriert sich auf die inneren Schlüsselmomente seines Lebens, bei denen die umgekehrte Richtung des Fallens entscheidend ist. Der zentrale Fall Kupfers im Jahr 1933 wird von einem Prolog und einem Epilog gerahmt. Im Prolog erfährt man von der ganz privaten Familientragödie, die den kleinen Jungen Lionel, der ein begabter Zeichner war, den Weg der Schauspielerei hat einschlagen lassen; im Epilog zeigt Kupfer den gealterten Schauspieler noch einmal in seiner Einsamkeit im Exil.
In diesem mit so leichten Strichen skizzierten Roman verdichten sich verschiedene Motive zu einem Porträt, das nicht nur das kurz aufflackernde und wieder erlöschende Leuchten ganz verschiedener Gestalten einfängt, sondern auch einen Epochenbruch. Es ist auch die Zeit, die die Menschen voneinander trennt. Sie bringt das Gute oder Schlechte in den Menschen hervor, führt, im Falle der Beziehung Kupfers und Eduards, zu Verrat und Illoyalität, im Falle der von Kupfer und Walter zu unsichtbar bleibender Treue. Am Motiv der Homosexualität, die 1933 nicht weniger verdammt war als die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, zeigt Alain Claude Sulzer, wie gesellschaftliche Unsichtbarkeit gleitend in gesellschaftliche Unansehnlichkeit übergeht. Auch die traurige Geschichte von Walters Mutter, der Analphabetin Theres, fügt sich in dieses motivische Textgewebe ein, geht sie einem doch gerade deshalb so tief ins Herz, weil der Autor ebensowenig große Worte darum macht wie seine Figur. Gerade weil die Figuren auf eine Revolte verzichten, bewegen einen die keineswegs nüchtern, aber mit poetischer Selbstverständlichkeit gezeichneten Schicksale umso mehr.
Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Postskriptum [2015], Kiepenheuer & Witsch 2017
ISBN: 9783462050394
Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Postskriptum
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln