bookmark_borderSibilla Aleramo: Eine Frau

Der Titel ist Programm. Una donna, auf deutsch Eine Frau, erstmals 1906 im italienischen Original erschienen, ist Autobiographie, ist Roman, ist vor allem aber ein Exemplum, in dem eine Frau, eine schreibende Frau, von sich und im gleichen Atemzug für andere sprechen will, für die unzähligen anderen Frauen, deren Schicksale unerzählt geblieben sind. Im gesamten Text werden konsequent keine Namen genannt, weder der der Ich-Erzählerin noch die ihrer Familie, und auch nicht die der übrigen Figuren, was umso mehr ins Auge sticht, da das Handlungskonstrukt, das dem Nachwort von Elke Heidenreich zufolge stark autobiographisch beeinflusst ist, sehr romanhafte Züge aufweist. Auch die sehr flüssig lesbare deutsche Neuübersetzung von Ingrid Ickler kann glücklicherweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen Roman handelt, der, gleichwohl schon mit einem Fuß im neuen Jahrhundert, noch dem literarischen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspringt. Den Übergang, die Schwellenzeit kann man auch stilistisch in diesem zugleich so altmodischen und so modernen Text ausmachen, vielleicht, weil er sich auch so fluide zwischen Autobiographie und Fiktion bewegt, Bekenntnis, Analyse und eine emotionale Dramatik in sich vereint und eine Seelenerforschung betreibt, die man noch romantisch nennen mag und die auf jeden Fall einen anderen Charakter hat als die Ich-Analysen der gegenwärtig viel publizierten autofiktionalen Texte.

Zuweilen kommt man sich selbst ein wenig voyeuristisch vor, so atemlos lässt sich dem Spannungsbogen der Erzählung folgen, der ein emotional aufgeladenes Ereignis nach dem anderen bereithält; es geht um Schwangerschaft, um Mutterliebe, um heimliche, um ausgebeutete und um vernachlässigte Liebe, um Liebe, die in Verachtung umschlägt, um versuchte Selbstmorde, um Vergewaltigung. Und darum, wie verbreitet, wie alltäglich diese Dramen sind, wie alltäglich auch der Schmerz, der mitunter ein Leben lang weiterbrennt. Doch wird im Text bei weitem nicht alles auserzählt, vieles wird nur angedeutet, während die Gedankenwelt der Erzählerin einen umso größeren Raum einnimmt, und allmählich auch ihr langsam zu seiner Gestalt findendes literarisches und emanzipatorisches Vorhaben, die eigene Geschichte aufzuschreiben.

Wissbegierig, lernwillig, neugierig ist die Erzählerin schon als Kind, zum Vater, einem Naturwissenschaftler, der gerne mit seiner aufgeweckten Tochter philosophische Spaziergänge unternimmt, hat sie eine enge intellektuelle Beziehung, sie bewundert ihn, während sie ihrer Mutter gegenüber, die außer ihr noch drei weitere Kinder großzieht, Distanz und allmählich auch eine leise Verachtung verspürt. Erst später begreift die Erzählerin, wie unglücklich ihre Mutter in ihrer Ehe war, in der sie ihre Neigungen, etwa zur Literatur, zur Lyrik, nicht wertgeschätzt sah, ja unterdrücken musste, und in der ihre selbstverständliche Unterordnung und absolute Abhängigkeit mit einer zunehmenden Geringschätzung und schließlich dem völligen Gestaltverlust ihrer Person einherging. Nach dem Umzug der Familie von Mailand ins sehr traditionelle Süditalien, wo sich der Vater als Fabrikdirektor beruflich neu orientieren kann, wird die Depression der Mutter auch nach außen hin sichtbar. In der speziellen Schichtung der ländlich geprägten süditalienischen Gesellschaftsstrukturen bleibt die Familie ein Fremdkörper, die Macht des Vaters über die einheimischen Fabrikarbeiter trägt ihm nicht gerade Sympathien ein, die Erzählerin muss mangels lokaler Infrastruktur ihre Schulbildung abbrechen, der Mutter gelingt es immer weniger, sich um ihre Kinder zu kümmern und auch der Vater wendet sich stillschweigend mehr und mehr von der Familie ab, verbringt seine Zeit in der Fabrik und bei seiner Geliebten. Die Mutter erleidet einen Zusammenbruch und wird schließlich aus dem instabilen Familiengefüge herausgelöst und in klinische Verwahrung gegeben.

Die sich lange Zeit hinter einer Fassade von Alltäglichkeit abspielende Familiengeschichte ist auch deshalb so wichtig für die Erzählung, da die zentrale Erkenntnis des Textes darin besteht, dass weibliche Unfreiheit und patriarchale Denkmuster immer wieder von neuem vererbt werden. Gerade mit dem existentiell erlebten Eintritt ins Muttersein entstehen die Würde der Frau antastende emotionale Zwänge, die sich als Verantwortung tarnen beziehungsweise oft kaum von Verantwortung zu unterscheiden sind. Und so widerfährt der Erzählerin, die doch als Kind und als Jugendliche so selbstbewusst und dem Leben zugewandt ist, die beginnt, ihr Denken in großer Freiheit zu entfalten, ein ganz ähnliches Schicksal wie ihrer Mutter. Sie heiratet jung, mit gerade einmal 17 Jahren, einen Angestellten in der Fabrik ihres Vaters, den sie nicht liebt und der auch sie nicht wirklich liebt, sondern eher als Objekt des Begehrens und Besitzens betrachtet. Was im Ehebett, und schon zuvor, körperlich zwischen ihnen passiert, ist von sexuellem Einverständnis oder gar sexueller Erfüllung weit entfernt. Als die Erzählerin einen Sohn bekommt, fühlt sie sich durch die Mutterliebe verwandelt, jedoch verstärkt diese zugleich ihre Unfreiheit als Ehefrau. Die Eifersucht ihres Mannes und wohl auch seine Angst vor der intellektuellen Überlegenheit seiner Frau werden zum Gefängnis für die Erzählerin, die das Haus nicht mehr ohne ihren Mann verlassen darf, der schließlich sogar das Briefpapier abzählt, mit dem sie in Kontakt zur großstädtischen, fortschrittlicheren Außenwelt der Schriftsteller und Intellektuellen tritt. Aus beruflicher Not zieht die kleine Familie nach Rom, wo die Erzählerin journalistisch tätig werden und einen neuen Freundeskreis aufbauen kann. Die ersehnte Unabhängigkeit erfüllt sich ihr aber nicht, da ihr Ehegefängnis in Rom weiterbesteht; ihr Mann übt auch dort weiter Kontrolle aus und zwingt sie schließlich, zurück nach Süditalien zu gehen. Schließlich gelingt es ihr, zu einem eigentlich unbezahlbaren Preis, der rückständigen Welt den Rücken zu kehren; als sie Mann und Kind verlässt, ist sie 25 Jahre alt.

Die Autorin selbst hat ihren Mann und ihren Sohn 1902 verlassen, lange vergeblich um das Kind gekämpft und dann 1906 ihr Buch veröffentlicht, in dem sie den langen Weg ihrer Entscheidung für die Freiheit erzählt. Sie wurde über 80 Jahre alt und führte ein umtriebiges und engagiertes Leben als Journalistin, Sozialarbeiterin, Dichterin, Liebende, ihren Sohn aber konnte sie erst viele Jahre nach ihrem Fortgang wiedersehen.

Auch wenn ihr Buch Eine Frau ein eindrückliches literarisches Zeugnis der frühen Frauenbewegung ist und, wie Elke Heidenreich im Nachwort schreibt, auch in den 1970er Jahren schon einmal ins Deutsche übersetzt wurde, stieß es bisher in Deutschland auf erstaunlich wenig Resonanz. Das Leben und das Schreiben dieser Schriftstellerin, ihre innere und äußere Revolte gegen die (süd)italienischen patriarchalen, traditionellen Strukturen schienen nach außen hin wohl zu weit von der Lebenswelt der deutschen Frauenbewegung entfernt. Zugegeben, sprachlich mag uns der Text, wenn er auch sehr gut lesbar, ja verschlingbar ist, heute stellenweise fremd erscheinen, in seiner eigenwilligen Mischung aus Pathos und Klarheit, aus Nachdenklichkeit und schockierender Direktheit. Immer wieder tauchen auch Gedankengänge auf, die etwas abrupt wieder abgebrochen werden, um die Handlung weiterzutreiben; vor allem die mystischen Passagen und die andeutungsreiche Begegnung der Erzählerin in Rom mit dem von ihr so genannten „Propheten“ können einen irritieren. Das verhindert aber keinesfalls, dass man beim Lesen ihrer sonst sehr konzisen, überlegten Sprache immer wieder ins Stutzen gerät, so nahe kommt sie einem mit ihren Gedanken und Gefühlen; immer wieder blitzen Sätze auf, die eine Frau heute genauso hätte ausdrücken können, und die vielen wunden Punkte, die sie schreibend berührt und offenlegt, die Gewissenserforschung und emotionalen Zwickmühlen, die sie beschreibt, erscheinen alles andere als verstaubt. Wenn sie etwa die Frage stellt, warum Muttersein so selbstverständlich mit Aufopferung gleichgesetzt wird, wie man als Mutter auch eine Frau bleiben kann, ja muss, für sich selbst, aber auch im Sinne eines ganzheitlicheren Daseinsverständnisses, eines anders gedachten Verständnisses von Verantwortung, das die Verwirklichung der eigenen Stärken und Vorlieben als etwas betrachtet, das man dem Leben schuldig ist, gerade auch für die Kinder, denen die Mutter ja ein Vorbild, ein Beispiel sein will. Die Erzählerin lotet ihr Gewissen, aber auch die gesellschaftlichen Ursachen für geschlechtsbezogene und soziale Ungerechtigkeiten genauestens aus; ihr gesamter Text ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die eigene Verantwortung besteht, sich selbst und den anderen gegenüber. Ist eine Mutter, die bleibt, aber unterdrückt und unaufrichtig lebt, gegen die Werte, die sie eigentlich an ihr Kind weitergeben will, einer Mutter vorzuziehen, die geht, um ihre Würde zu bewahren und Erniedrigung, Einengung, vielleicht sogar der Gewalt zu entgehen? Dafür, dass künftige Generationen von Frauen nicht mehr vor ein solches Dilemma gestellt werden, schreibt Sibilla Aleramo ihre Geschichte auf, deshalb fasst sie selbst eine unkonventionelle, mutige und schmerzhafte Entscheidung, um für die Emanzipation zu kämpfen, nicht nur übrigens für die Emanzipation der Frauen, sondern auch der benachteiligten sozialen Bevölkerungsteile Italiens; ihre Sympathie für die Arbeiterbewegung, ihr Blick auf die Armut, die Enge, das Leid der unteren Schichten geht schon aus ihrem ersten Buch deutlich hervor. Allein, um sich diesen solidarischen Impetus der Emanzipation ins Gedächtnis zu rufen, lohnt es sich, in der Lektüre von Eine Frau den Bewusstwerdungsprozess dieser zu Unrecht kaum bekannten italienischen Schriftstellerin mit- und nachzuvollziehen.

Bibliographische Angaben
Sibilla Aleramo: Eine Frau, Eisele 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich.
ISBN: 9783961611850

Bildquelle
Sibilla Aleramo, Eine Frau
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderGaea Schoeters: Trophäe

Trophäe ist eine von der ersten bis zur letzten Seite so irritierende wie fesselnde Erzählung über Afrika, über die Natur, über Gerechtigkeit — und über das Sich-Entziehen dieser historisch und kulturell vielfach aufgeladenen Begriffe. In intertextueller Auseinandersetzung mit Ernest Hemingway und Joseph Conrad greift die niederländische Autorin Gaea Schoeters auch auf ein koloniales Genre zurück, der „colonial hunting literature“, in der sich männliche Abenteuergeschichten und anthropologische Erkundungen kreuzten, und erzählt von einer Jagd in Afrika, um sowohl dem Mythos Afrika als auch dem Mythos Männlichkeit und ihrer Verwobenheit mit Macht und Trieb und so manchen westlichen Moralvorstellungen auf den Grund zu gehen.

Der Jäger in dieser Geschichte ist ein Amerikaner, wie Hemingway, und erinnert in seinen ethischen Grundsätzen, mit denen er die Natur und die Jagd betrachtet, nicht wenig an den berühmten Schriftsteller, der selbst ein leidenschaftlicher Jäger war. Gaea Schoeters Jäger nennt sich auch „Hunter“, was den gleichnishaft-philosophischen Charakter der Erzählung noch unterstreicht. Er wurde schon als Kind von seinem Vater und Großvater ans Jagen herangeführt. Nun, als reicher Steuerberater und Investor mit einem Hang zur Bewahrung der letzten Reste von der Zivilisation noch nicht berührter Natur, geht er seiner Leidenschaft zur Großwildjagd in den scheinbar exotischen, aber vom Westen und der Moderne alles andere als unbeeinflussten Gefilden Afrikas nach. Er ist ein so genannter Trophäenjäger, von seinen „Big Five“ fehlt ihm nur noch ein Nashorn, das ihm nun zur Jagd angeboten wird. Doch diese Jagd nimmt ein unerwünschtes und vorzeitiges Ende, da Hunter Wilderer zuvorkommen, die das Nashorn bei ihrem Beutezug auf das Horn lebensgefährlich verwunden. Der enttäuschte Hunter bekommt jedoch ein ebenso verführerisches wie schockierendes alternatives Angebot, das man auch als Leser anfangs kaum zu begreifen wagt. Denn anstatt des Nashorns wird Hunter in Aussicht gestellt, einen jungen Afrikaner zu jagen, einen der Buschmänner, der von seiner Gruppe dafür ausgewählt und rituell vorbereitet werden soll. Das Geld, das Hunter für diese Jagd bezahlen wird, soll dem in ihrem Lebensraum arg bedrängten Naturvolk zugute kommen. Die Autorin spinnt mit dieser Menschenjagd einen in der konsequenten Fortführung bestehender „Handelsbeziehungen“ gar nicht so abwegigen Gedanken weiter und entlarvt damit die Grausamkeit, die der Natur und ihren tierischen und menschlichen Bewohnern in Afrika längst angetan wird, sowie das zerbrechliche moralische Gerüst, auf dem unser westliches Verhältnis zu dieser Region — und mehr noch: zur uns alle umfassenden Natur — gebaut ist. Mit der Trophäenjagd werden heutzutage tatsächlich Naturschutzprogramme und Bildungseinrichtungen für Ureinwohner finanziert. Und auch wenn der Kolonialismus Geschichte ist, sind seine Nachwirkungen für Natur und Menschen, ob in Gestalt fortbestehender Machtstrukturen oder der das soziale und biologische Gleichgewicht gefährdenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen, weiterhin vorhanden.

Hunter selbst, der Protagonist der Erzählung, entscheidet sich nach einigen moralischen Skrupeln für das Angebot, das ihm fair und zudem bestechend „authentisch“ erscheint. Die Vorstellung einer solch „urtümlichen“ Jagd, bei der er sein Geschick und seinen Mut unter Beweis stellen und in jungfräuliche Gefilde vordringen kann, beginnt ihn immer mehr zu faszinieren. Im Text scheint immer wieder die Erotisierung der Jagd und der mit ihr einhergehenden Macht auf. Für Hunter scheint der einzig denkbare Naturbezug die Unterwerfung zu sein, auch wenn er im gleichen Atemzug überzeugt ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch als er sich tatsächlich auf diese Menschenjagd einlässt, wird sein Glaubensgerüst nachhaltig erschüttert. Die moralische Rechtfertigung, mit der er sich als Jäger versteht, ja die Grundfesten seines Denkens und Fühlens, seines Weltbildes und all seiner Wertvorstellungen erweisen sich als unhaltbar. Er dringt mitten ins Herz der Finsternis vor, in der die Grenzen zwischen Jäger und Gejagtem, Mensch und Tier, gut und böse, Tod und Leben sich immer weiter aufzulösen drohen. Indem er, sich auf dieses Angebot einlassend, von seinem „gezähmten Denken“ in einem entscheidenden Punkt abgewichen ist, hat er, ohne sich dessen deutlicher als durch ein zunehmendes Gefühl der Bedrohung seines Ichs bewusst zu werden, die Schwelle zum „wilden Denken“ überschritten, in dem der Einzelne mit der Gruppe zu verschmelzen, sich in ihr aufzulösen beginnt. Er nimmt, ohne es ganz zu begreifen, an einem Opferritual teil, bei dem fundamental andere Regeln gelten. Das Opfer wird zugleich ausgestoßen und auserwählt, es verwandelt sich im Tod und wird heilbringend für die Gemeinschaft. Hunter ist deutlich überfordert von der von ihm erwarteten Rolle, im Grunde wird diese Jagd zu seiner eigenen Initiation in eine Welt, die fern von dem modernen Amerika ist, in dem er aufgewachsen ist.

Es ist beeindruckend, wie die Autorin auch sprachlich diese Grenzregionen für den Leser spürbar macht. Mit der Schilderung der rituellen Tänze, die diese besondere Jagd vorbereiten, beginnt für Hunter — und den Leser — der Eintritt in eine andere Erfahrungswelt, in der andere Spielregeln gelten, in eine andere Art der Wahrnehmung, die zunehmend etwas Alptraumhaftes bekommt. Je mehr die Jagd fortschreitet, desto mehr werden Hunters Gewissheiten erschüttert, desto mehr beginnt der Zweifel und das Misstrauen von ihm Besitz zu ergreifen, und schließlich gerät er in ein Delirium, in dem Kindheitserinnerungen, Rituale, Todesangst und Todessehnsucht miteinander verschmelzen. Trophäe ist ein so rasant und eindringlich erzähltes wie nachdenklich machendes Buch, in dem erzählerische Unmittelbarkeit und Einfühlung auf erweckende, aber niemals moralisierende Weise mit einer hellsichtigen Infragestellung vieler unserer Gewissheiten und Überzeugungen einhergehen, ein Buch, das uns dazu anhält, unser Verhältnis zu Afrika, zur Natur, zu unseren Gerechtigkeitsvorstellungen zu überdenken.

Bibliographische Angaben
Gaea Schoeters: Trophäe, Zsolnay 2024
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
ISBN: 9783552073883

Bildquelle
Gaea Schoeters, Trophäe
© 2024 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderLothar Müller: Adrien Proust und sein Sohn Marcel — Beobachter der erkrankten Welt

Mitten in der Coronapandemie erschien ein schmales, ungewöhnliches Büchlein über einen bisher nur in den Nebensätzen der (Literatur-)Geschichte erwähnten Mann, der gut 100 Jahre zuvor selbst einen engagierten Beitrag unter anderem auf dem Feld der Hygiene und Seuchenbekämpfung geleistet hat. Mit Adrien Proust rückt der Literaturwissenschaftler und Feuilletonist Lothar Müller eine weniger berücksichtigte Figur aus dem Umkreis um den großen französischen Schriftsteller Marcel Proust in den Vordergrund, stellt ihn, zusammen mit weiteren historischen Persönlichkeiten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an die Seite seines Sohnes, der mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit eine ganze Epoche — und weit mehr als das — literarisch verewigt hat. Krankheit in ihren vielerlei Ausprägungen und Facetten spielt im Romanwerk von Marcel Proust, das ist kein Geheimnis, eine große Rolle, die Verknüpfung von Krankheit und Literatur ist ein individuelles Merkmal seines Schreibens, das alle Bereiche des Lebens literarisch transformiert, und zugleich auch literarische Spur einer übergreifenden gesellschaftlichen Symptomatik, in einer Zeit, in der Freud die Tiefendimension der Psyche ergründete und die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte mit bahnbrechenden neuen Erkenntnissen aufwartete.

Adrien Proust, der Vater des Schriftstellers, erlebte als Arzt und Hygieniker diese medizinhistorische Umbruchszeit unmittelbar in seiner eigenen täglichen Forschungs- und Vermittlungsarbeit. Er bewegte sich als gesundheitspolitischer Gesandter des französischen Staates inmitten eines europaweiten medizinwissenschaftlichen und medizinpolitischen Netzwerks, beteiligte sich an internationalen Konferenzen zur Seuchenbekämpfung und stand mit Wissenschaftsgrößen wie Robert Koch, dem Hygieniker und Bakteriologen, im Austausch. Adrien Proust hatte auch Kontakte zur Salpêtrière in Paris, der wohl berühmtesten psychiatrischen Einrichtung der Welt, an der Charcot über Hysterie und Freud über Hypnose forschte. Und als er zusammen mit einem Kollegen Gilbert Ballet ein Standardwerk zur Neurasthenie verfasste, war sein eigener Sohn sein erstes Studienobjekt: Marcel Proust, der als Asthmatiker, an Schlaflosigkeit und nervöser Magenverstimmung Leidender einiges an Anschauungsmaterial zu bieten hatte. Dass die literarische Bedeutung der Beziehung von Vater und Sohn weit weniger interpretiert worden ist als die von Marcel Proust zu seiner Mutter, liegt sicher daran, dass die Mutter, zusammen mit der Großmutter, im Roman einen deutlich sichtbaren Platz einnimmt, während die Vaterfigur bis auf blitzlichtartige Ausnahmen schattenhaft bleibt. Doch je mehr man sich, wie Lothar Müller in seinem gut recherchierten und an Zusammenhängen reichen Buch, mit Adrien Proust beschäftigt, desto mehr drängt sich der Gedanke auf, dass der Einfluss des Vaters auf das Schreiben des Sohnes vielleicht, auf eine andere, indirekte Art, größer sein könnte als gedacht. Um es gleich klarzustellen, der Autor stellt hier keineswegs den Anspruch die Proust-Forschung zu revolutionieren, sein essayistischer Text möchte Denkanstöße bieten und stellt, dies aber äußerst anregend, eine interessante neue Verbindung zwischen Ästhetik und Wissenschaft her. Er zeigt, wie sich Arztvater und Schriftstellersohn gegenseitig beeinflussen, thematisch, stilistisch, diskursiv — auch Adrien Proust schreibt, vor allem über Medizinisches — und er zeigt auch ihre Reibungspunkte und Gegensätze, die sich etwa in ihren gegensätzlichen Positionen in der die französische Gesellschaft erschütternden Dreyfusaffäre, in ihrer Bewertung der Trennung von Kirche und Staat oder schlicht im Gebrauch von Medikamenten kundtun.

Für seinen Vergleich rückt Lothar Müller Vater und Sohn abwechselnd ins Zentrum, hält viele interessante Fakten über Adrien Proust bereit, und nähert sich auf einem anderen Weg auch der Poetik Marcel Prousts, dem übrigens, darüber ist sich der Autor bewusst, die Trennung von Biographie und Werk ein wichtiges Anliegen war. So wie in der Romanwelt des Sohnes die Salons, die Wissenschaft und die Literatur eng miteinander verknüpft sind, stellt Lothar Müller in seinem Text Verbindungen zwischen der Medizin-, Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte sowie dieser mit dem Feld der Kunst, Literatur und Ästhetik her. Man taucht in die Welt des Nervenarztes Charcot und der Salpêtrière ein und liest, wie das „gespaltene Ich“ ein literarisches Motiv wird. Die Pathologien, die Mediziner wie Charcot oder eben auch Adrien Proust in Einzelfallstudien untersuchen, werden bei Marcel Proust zum Nährboden der Erkenntnis und Ästhetik. Der Zustand des Leidens ist in Prousts A la Recherche du temps perdu immer wieder wenn nicht Bedingung, so doch eine wertvolle Voraussetzung für die Wahrnehmung des Schönen. Die den Erzähler quälende Schlaflosigkeit etwa wird zum Anstoß, eine poetische Erkenntnisreise in den Raum des Schlafes zu unternehmen, sich vorzutasten in seine verschiedenen Schwebezustände und diesen immer noch nicht in Gänze wissenschaftlich erklärbaren Zustand literarisch zu erkunden. Hypochondrie und Neurasthenie als Leiden ohne organische Ursachen spielen eine große Rolle in Prousts Roman, sie sind, wie das eingebildete Leiden der Tante Léonie, Gegenstand einer niemals eingleisigen Satire, und all die verschiedenen köstlich porträtierten Arztfiguren liegen mit ihren gegensätzlichen Diagnosen und Behandlungsmethoden nicht selten völlig daneben. Die Neurasthenie, das pathologische Erscheinungsbild der Moderne, ist für den Schriftsteller weit mehr als ein im 19. Jahrhundert neu entdecktes Forschungsgebiet, in ihr verbinden sich Kreativität und Nervosität, Genie und Melancholie, während sein Vater, der Arzt Adrien Proust vor allem ihre gesellschaftlich-sozialen Auslöser hervorhob, etwa die Überbelastung im Erwerbsleben oder den anders gearteten Stress in den elitären Salons. Doch es geht in Marcel Prousts Werk auch um ganz handfeste, organische und virale Krankheiten. Der Besuch der Salons hält nämlich auch bei ihm noch ganz andere Risiken bereit als enttäuschte soziale Ambitionen, man kann sich dort auch mit lästigen oder sogar gefährlichen Infekten anstecken. 1865/66 brach die Cholera tatsächlich in Paris aus, sie war infolge der beginnenden Globalisierung, nicht zuletzt in Gestalt des Kolonialismus, nach Europa gelangt. Adrien Proust war hier maßgeblich mitbeteiligt, die Seuchen- und Hygienepolitik Frankreichs in Kooperation mit anderen Ländern voranzutreiben.

Lothar Müllers Buch ist die sehr lesenswerte skizzenhafte Biographie einer Zeit und einer subjektiven, aber nicht willkürlichen Auswahl einiger ihrer Persönlichkeiten. Ausgehend von Porträts, übrigens auch im direkten fotographischen Sinn — das Buch ist toll illustriert — aus der Zeit des berühmten Schriftstellers und seines Vaters wird eine ganze Epoche mitsamt ihren Diskursen und Epistemen lebendig. Und sie ist eine Einladung, sich in die Romanwelt Marcel Prousts zu stürzen, die alles ist außer verjährt und gestrig.

Bibliographische Angaben
Lothar Müller: Adrien Proust und sein Sohn Marcel — Beobachter der erkrankten Welt, Wagenbach 2021
ISBN: 9783803137036

Bildquelle
Lothar Müller, Adrien Proust und sein Sohn Marcel
© 2024 Verlag Klaus Wagenbach GmbH, Berlin

bookmark_borderAlia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

Ja, sie hat einen Namen und sie kann sprechen, sie kann sogar erstaunlich gut formulieren, reflektiert und scharfsichtig, sich ihrer selbst bewusst und manchmal fast poetisch empfindsam, wovon man auf den folgenden 240 Seiten, von denen seit den ersten Zeilen eine so faszinierende wie erschütternde Spannung ausgeht, Zeuge wird. Erstaunlich gut? Ja, denn einem einfachen Hausmädchen, das selbst als Tochter einer Arbeiterin und Hausangestellten aufgewachsen ist und vor sieben Jahren von einer Insel aus dem Süden Chiles nach Santiago de Chile gekommen ist, traut niemand eine solche Sprache zu. Genauso wie niemand auf die Idee kommt, dass auch sie eine Person ist, mit einem Namen und einer Geschichte.

Die Erzähl- oder Sprechsituation der Ich-Erzählerin Estela, der die chilenische Schriftstellerin Alia Trabucco Zerán eine literarische Stimme verleiht, ist eine existentielle. Nicht zufällig ist dem Roman wohl ein Zitat von Albert Camus vorangestellt: „Die Frage ist nur, wer wen säubert.“ (Camus, Der Fall) Die existentielle Situation ist in Estelas chilenischer Wirklichkeit untrennbar von der sozialen Situation, in die man geboren wird und die mit der existentiellen Macht des Todes im Bunde zu stehen scheint. Estela erhebt ihre Stimme, doch sie tut das in einem merkwürdig echolosen Raum, einem Gefängnis, einem Verhörzimmer. Sie wendet sich an die, die hinter dem Spiegel stehen, und mit denen die Vertreter von Justiz und Polizei genauso gemeint sein können wie wir Leser. Man erfährt gleich zu Beginn, dass sich eine Tragödie ereignet hat, das siebenjährige Mädchen der wohlhabenden Familie, für die Estela als Hausangestellte und Kindermädchen arbeitet, ist zu Tode gekommen, wie, das enthält uns die Erzählerin noch einige Zeit vor. Ebenso wie den tatsächlichen Grund, warum sie in diesem verspiegelten Verhörzimmer sitzt. So wird natürlich die Neugier des Lesers erst recht geschürt und zugleich der Finger auf die Wunde seiner von sozialen Vorurteilen angetriebenen Sensationslust gelegt. Wie kam es zu dem Tod, wie ist Estela darin verwickelt, ist sie die Schuldige?

Die Frage nach Schuld und Verantwortung entwickelt sich, ebenso wie der Hintergrund der Tragödie, die sich jedoch mehr und mehr als Tragödie des ausgebeuteten Dienstmädchens erweist, in den zahlreichen „Abschweifungen“ der Erzählerin, die von ihr jedesmal so vehement bestritten wie hervorgehoben werden und in denen sie erzählt, wie sie die sieben Jahre bei dieser an Geld reichen und Mitmenschlichkeit armen Familie erlebt hat. Wenn sie dort auch keiner expliziten physischen Übergriffigkeit ausgesetzt ist, so leidet sie doch täglich mehr unter der gleichwohl auf Ausbeutung beruhenden sozialen Hierarchie, die von Beginn an von Verachtung, Desinteresse und Arroganz geprägt ist und in die sich eine Erniedrigung nach der anderen einschleichen konnte. Allein das völlige Fehlen von Intimität, eines Rückzugortes, der seinen Namen auch verdient, verwandelt Estela in einen allzeit benutzbaren Haushaltsgegenstand. Umgekehrt wird sie selbst ganz selbstverständlich und ungefragt mit der Intimsphäre der Familie konfrontiert, sie reinigt die Unterwäsche, wischt Erbrochenes auf, sieht den Eltern ungewollt beim Sex zu und wird gezwungen nächtlichen Geständnissen des Hausherrn zuzuhören. In den Augen ihrer Dienstherren ist Estela keine Person, sondern Untergebene, Nana (Kindermädchen), Sklavin, nicht mehr wert als die streunende Straßenhündin, die Estela heimlich zum Füttern hereinlässt, so wie sie, als einzige Möglichkeit der Empörung, immer wieder subtile Akte des Ungehorsams unternimmt, um sich ihrer selbst, ihres Daseins noch irgendwie zu vergewissern. Doch schließlich bricht der Tod, die existentielle Macht schlechthin, gleich dreifach über Estelas Welt herein. Auf die absolute Sprachlosigkeit folgt der längst überfällige Bruch, ein völliges Zurückgeworfensein auf sich selbst, der Ausbruch aus der Gefangenschaft und der Beginn einer neuen. Estela nimmt am Ende an einer Demonstration gegen die soziale Ungerechtigkeit teil. Das Private, das für ein Dienstmädchen nie privat war, hat begonnen, politisch zu werden.

Wie in ihrem ersten Roman, Die Differenz, über die Verschwundenen der Pinochet-Diktatur, arbeitet Alia Trabucco Zerán auch in ihrem neuen Roman die politische und soziale Wirklichkeit ihres Heimatlandes literarisch auf. Sie findet eine Sprache, die die soziale Ungerechtigkeit und existentielle Not der ungehörten oder unterdrückten Stimmen erfahrbar macht. Mein Name ist Estela ist die sich ins Herz bohrende Anklage einer Angeklagten, die in ihren so genannten Abschweifungen gerade das Essentielle auf den Punkt bringt, die ans Licht holt, was zu oft und lange vergessen wurde. Dass es unmenschlich ist, einem Menschen, egal, welcher Herkunft und welcher sozialen Stellung, die eigene Geschichte abzusprechen.

Bibliographische Angaben
Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela, Hanser Berlin 2024
Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy
ISBN: 9783446277274

Bildquelle
Alia Trabucco Zerán, Mein Name ist Estela
© 2024 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderMartin Suter: Allmen und Herr Weynfeldt

Der Kunstdetektiv Allmen trifft den Kunstsammler Weynfeldt — zwei von Martin Suters malerischsten Figuren in einer Geschichte, das verspricht allen Fans des gepflegt-humorvollen Stils des Schweizer Autors einen ganz besonderen Lesegenuss. Das Versprechen wird zum Teil auch eingelöst, zumindest was die Freude betrifft, mit der sich Martin Suter für seine beiden Figuren subtil anspielungsreiche Szenen ausdenkt, in denen er sie aneinander Gefallen finden lässt. Die beiden, wie könnte es auch anders sein, mögen sich und verstehen sich ziemlich schnell auch ohne große Worte. Es sind andere Dinge, die für sie sprechen, winzige Details in ihrem gegenseitig geschätzten stilsicheren und doch bescheidenen Auftreten, und natürlich die gemeinsame Liebe zu den Wohlgeschmäcken geistiger Getränke, der bevorzugt italienischen, aber wie in einem Understatement auch mal schweizerisch-gutbürgerlichen Küche, und natürlich zur Kunst.

Die Kunst stellt dann auch den Auftakt zum neuen Fall von Allmens Kunstdetektei dar, wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass das Verschwinden eines nicht mit hundertprozentiger Sicherheit Picasso zuzuschreibenden Kleinods aus Weynfeldts Wohnung weit mehr die Freundschaftsgeschichte von Allmen und Weynfeld als die eher belanglose Krimihandlung motiviert. Ich habe mich beim Lesen schon gefragt, warum Weynfeld so an diesem kleinen Bild liegt, dessen kunsthistorische Besonderheit, dessen Bedeutung für Weynfeldt ja auch bei fast jedem Gespräch mit seinen zwangsläufig verdächtigten Freunden andeutungsreich hervorgehoben wird. Eine Erklärung bekommt man aber nicht, nicht einmal andeutungsweise. Und auch die Rolle Lorenas, der dame fatale, die schon in Der letzte Weynfeldt entscheidend in die Kunstintrigen verwickelt war, bleibt hier ein wenig hinter der Erwartung zurück; ihr Auftritt liegt seit den ersten Seiten in der Luft, um dann ziemlich spät, aber erstaunlich unspektakulär und eher kursorisch abgewickelt zu werden.

Wenn auch der Fall eher nebensächlich wirkt, was ein bisschen schade ist, zumal ja sogar ein Mord in Weynfeldts direktem Umfeld passiert, und auch die Geschichte des Bildes Potential zu einer ungewöhnlichen Kunstkrimihandlung hätte, wird in dieser Hommage an die so viele Leser verführende Romanwelt des Autors das Nebensächliche zur eigentlichen Hauptrolle aufgewertet. So kann man sich auf viele kleine humorvolle, augenzwinkernde Szenen freuen, in denen vor allem Carlos und María, die Angestellten und Teilhaber von Allmen, Raum zur Entfaltung ihrer bezaubernden Charaktere bekommen. Carlos hat inzwischen übrigens so viel Geld beiseitegelegt, dass er, in einer Diskretion, die der seines Herrn in nichts nachsteht, der deutlich vermögendere und vor allem liquidere Partner bei Allmen International Inquiries ist. Überhaupt kostet Martin Suter die subtile Vertauschung der Rollen, das Wechselspiel von Schein und Sein, Wahrheit und Lüge wieder nach Herzenslust aus, so dass der Roman auch eine Satire über die Macht des Geldes ist, die allenfalls durch die des Stils gebrochen werden kann, wenn man sie mit der Geschicklichkeit eines Allmen zu kombinieren versteht. Der sich hier übrigens noch das ein odere andere Detail von Weynfeldt abschaut, wie die berühmte Olive im Martini, zu der hier weiter nichts gesagt werden muss.

Also: eine vergnügliche Lektüre für Suterfans, Neueinsteiger sollten aber vielleicht lieber direkt zu Der letzte Weynfeldt greifen, um Martin Suters Gespür nicht nur für Stilfragen, sondern auch für spannend konstruierte Intrigen in der Welt der Kunst und des Geldes kennenzulernen.

Bibliographische Angaben
Martin Suter: Allmen und Herr Weynfeldt, Diogenes 2024
ISBN: 9783257072792

Bildquelle
Martin Suter, Allmen und Herr Weynfeldt
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderKatie Milford: Greenglass House

Ein altes Schmugglerhaus mit Buntglasfenstern an der Küste, das nur mit der Standseilbahn oder über eine endlos lange und steile Treppe zu erreichen ist, und, wenn der Winter besonders viel Schnee mit sich bringt, erst einmal gar nicht wieder verlassen werden kann. Hier verbringt der 12jährige Milo, der chinesische Adoptivsohn der Pines, die das alte Haus als Gasthaus und Hotel betreiben, seine Weihnachtsferien, voll Vorfreude auf ein paar ruhige Tage nur mit seinen Eltern. Doch auf einmal taucht wie aus dem Nichts im Schneechaos eine Gestalt nach der anderen auf, eine schrulliger als die andere, eine bunte Schar an Gästen, die natürlich alle beherbergt werden müssen. Milo ist erst genervt und enttäuscht, und auch ziemlich nervös, wie immer, wenn die Dinge um ihn herum aus der Ordnung, aus dem Gleichgewicht geraten. Und diese seltsamen und auch recht zanklustigen unerwünschten Gäste, die die Ruhe stören, scheinen wirklich alle etwas im Schilde zu führen. Zum Glück ist da auch Meddy, die Tochter der Köchin, die Milo mitreißt in ein aufregendes Spiel, in das sie die unerwartete Situation verwandeln. Sie schlüpfen in neue Rollen, die es auch Milo leichter machen, sich auf das Ungewohnte einzulassen, und beginnen, in dem geheimnisumwobenen Haus mit seinen nicht weniger geheimnisumwobenen neuen Gästen ihre eigenen Nachforschungen anzustellen. Das alte Haus wird auf diese Weise selbst zum Protagonisten, hat es doch eine spannende Geschichte, der Milo und Meddy hinter Staub und geheimen Türen nach und nach auf die Spur kommen.

Greenglass Haus, das 2014 im englischen Original erschienen ist, als erster Band einer Reihe, deren Folgebände jedoch noch nicht ins Deutsche übersetzt sind, wurde 2015 mit dem renommierten Edgar Allan Poe Award in der Kategorie Jugendbuch ausgezeichnet. Das Buch sticht auch wirklich aus der Menge an Kinder- und Jugendbüchern heraus, es ist ein Füllhorn der Fantasie, eine Feier des Spielerischen, des Rätsels und des Erzählens an sich. Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto verschachtelter wird sie, ein Abbild des alten Schmugglerhotels mit seinen bunten Fenstern und geheimen Ecken. Während sich auch die freiwillig oder unfreiwillig heran- und eingeschneiten Gäste schließlich in bester literarischer Tradition im Wohnzimmer Geschichten erzählen, verschwinden Gegenstände und tauchen wieder auf, entflammen Misstrauen und Streit, werden Dinge vertuscht und enthüllt, kommen sich Erzählende und Zuhörende allmählich näher, öffnen sich ein Stück für die anderen. Dem heterogenen Erzählen entspricht die bunte Stilmischung der verschiedenen eingestreuten Geschichten, von denen nie ganz klar ist, inwieweit sie wahr oder erfunden sind. Auch insgesamt grenzt das Erzählte an Fantastik, mit dieser Grenze wird immerzu gespielt, ohne dass der Roman der bei Jugendbüchern inzwischen so verbreiteten Fantasy zuzuordnen ist. Denn es wird klar: Die Wirklichkeit ist spannend und unglaublich genug, Greenglass Haus ist eine Feier des Lebens, der Familie und der Freundschaft und zugleich eine überraschend konstruierte Abenteuer- und Detektivgeschichte mit außergewöhnlichen Charakteren.

Bibliographische Angaben
Katie Milford: Greenglass Haus, Freies Geistesleben 2021
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
ISBN: 9783772527807

Bildquelle
Katie Milford, Greenglass Haus
© 2024 Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH, Stuttgart

bookmark_borderMiguel Bonnefoy: Héritage

Das große Thema dieses so leichtfüßig erzählten Romans ist die Entwurzelung und der fortwährende Versuch einer mehrere Generationen umfassenden Familie, neue Wurzeln zu schlagen. Gleich auf den ersten Seiten wird geschildert, wie ein Franzose aus dem Jura Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile auswandert, eine Weinrebe im Gepäck, die er vor einem in Frankreich wütenden Schädling retten will. Es entfaltet sich eine Familiensaga, die über ein Jahrhundert und von Frankreich bis Südamerika reicht, von der Erde, aus der die Reben gerissen werden und in der sie sich neu verwurzeln sollen, bis hoch in die Lüfte, in das Reich der Flugzeugpionierinnen und der Vogelvolieren, um ein paar der wiederkehrenden Motive dieses so besonderen Romans zu nennen.

Natürlich hat man bei einer solchen Geschichte Gabriel García Marquez 100 Jahre Einsamkeit im Hinterkopf, und es findet sich auch der ein oder andere Anklang an dieses großartige Werk des Magischen Realismus. Stilistisch verbindet Miguel Bonnefoy, der 1986, als Sohn einer venezolanischen Diplomatin und eines chilenischen Aktivisten, der unter Pinochet gefoltert wurde, in Paris geboren wurde, Traditionen der lateinamerikanischen und der französischen Literatur auf eine ganz eigene Weise miteinander. Er schreibt auf Französisch und verwebt einen augenzwinkernden Magischen Realismus mit der französischen Tradition des Realismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Denken und Verhalten seiner Figuren etwa erklärt sich aus einer Kombination des Einflusses der sozialen Umstände und der genetischen Herkunft, sie sind ebenso geprägt von ihrer Umwelt wie von ihrem Elternhaus.

Trotz der teilweise sehr schweren Schicksalsschläge, die — von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis in die Folterkammern der chilenischen Diktatur — mit der Macht der historischen Willkür daherkommen, lässt sich Miguel Bonnefoy erzählerisch nicht von seinem Stoff überwältigen. Er verfällt weder dem Pathos noch einer ohnmächtigen Betroffenheit, genauso wenig wie übrigens auch seine mit großer Humanität gezeichneten Figuren, sondern führt mit einer mitunter absurd-komischen Symbolik und einer literarischen Schöpfungskraft, die sich gerade in den kleinen Details offenbart und immer wieder überraschende Wendungen bereithält, girlandenhaft durch die Geschichte der Migrationsbewegungen einer so außergewöhnlichen wie exemplarischen Familie.

Bibliographische Angaben
Miguel Bonnefoy: Héritage, Rivages 2020
ISBN: 9782743650940

Bildquelle
Miguel Bonnefoy, Héritage
© 2024, Les Editions Payot & Rivages (SAS), Paris

bookmark_borderEva Menasse: Dunkelblum

Eva Menasse erweckt in ihrem Roman eine ganze österreichische Kleinstadt zum Leben, mitsamt ihren vielen jungen und alten, neugierigen und verdrängenden, zugezogenen und geflüchteten, überlebenden und verschollenen, versehrten und toten Bewohnern, deren Biographien sie im Laufe des mit vielen verschlungenen Fäden gestrickten Romans auf eine geschickt mit Leerstellen spielende, andeutungsreiche Weise und mit viel erzählerischer Anschaulichkeit der Charaktere und Dialoge genauso puzzleartig zusammensetzt wie die verschiedenen historischen Schichten und zeitlichen Ebenen.

Dunkelblum ist der Name dieses fiktiven Städtchens an der ländlichen Grenze zu Ungarn, die sich, als die Handlung zunächst im Jahr 1989 einsetzt, für eine kurze Zeit öffnet. Der ländlich-idyllische, aber für Eindringlinge absolut nicht aufgeschlossene Ort wird auf einmal zum Schauplatz einer Konfrontation mit der mühevoll verdrängten Vergangenheit, als auch noch eine Gruppe Studenten aus der Großstadt und ein geheimnisvoller Fremder nicht nur die Friedhofserde aufzuwirbeln beginnen.

Die Herausforderung, die sich die Autorin mit ihrem Roman stellt, liegt darin, einem dunklen und erst spät aufgearbeiteten Kapitel der österreichischen Vergangenheit eine literarische Sprache zu verleihen, die entlarven will, ohne zu verurteilen, aber auch ohne zu bagatellisieren, um in tiefere Schichten menschlichen Verhaltens vorzudringen, die Beweg- oder Unterlassungsgründe der Täter zu verstehen, ohne die Opfer konturlos werden zu lassen. Das ist ein gewagtes Unterfangen, da mit der Sprache hier gerade das Schweigen eingefangen werden will; im dunkel-verschwiegenen Zentrum der Stadt und des Romans schwelt die Erinnerung an ein im Nationalsozialismus verübtes Massaker, um das herum sich, wildwuchernden Kletterblumen gleich, weitere Verbrechen, Untaten, Unterlassungen, Opportunismen, im Kleinen und Großen, gruppieren.

Dunkelblumig ist denn auch die Sprache, die Eva Menasse für die Bearbeitung dieses historischen Stoffes wählt, hintersinnig, satirisch, bissig, aber nicht ganz ohne Herz; sie bemüht sich, um nicht in die Falle einer moralischen Überlegenheitspose zu tappen, um ein literarisches Einfühlen auch in die unsympathischsten Charaktere, deren Taten gleichwohl durch nichts gerechtfertigt werden und zu denen eben durch die Sprache immer eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird.

Ein wachrüttelndes Stück historischer Aufarbeitung im Gewande einer eigenwilligen, aber ins Schwarze treffenden literarischen Form.

Bibliographische Angaben
Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer & Witsch 2021
ISBN: 9783462047905

Bildquelle
Eva Menasse, Dunkelblum
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderOyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins

Auf den ersten Blick scheint es irritierend, dass eine Geschichte, die als feministische Emanzipationserzählung gefeiert wird, durchgehend aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird, der es sich in den Privilegien, die einem attraktiven jungen Lebemann in der Gesellschaft zufallen, bequem eingerichtet hat — auf (die auch emotionalen) Kosten der jeweiligen Geliebten, die der männlichen Unverbindlichkeit und Verantwortungslosigkeit erwachsen.

Dieser keinesfalls unsympathische junge Mann und Ich-Erzähler strandet, von seiner aktuellen Freundin aus der komfortablen Wohnung geworfen, während der Corona-Ausgangssperren im Haus seiner Tante, deren Mann gerade an Corona gestorben ist und die vor kurzem ein Baby auf die Welt gebracht hat. In ihrem Haus trifft er zu seiner Bestürzung aber nicht nur auf Tante und Baby, sondern auch auf eine junge Frau, die nicht nur die Geliebte seines Onkels, sondern auch eine seiner eigenen zahlreichen Eroberungen gewesen ist. Während die zwei Frauen, die das Baby mit erbitterter Kampfbereitschaft jeweils für sich beanspruchen, aus dem Blick des Erzählers wie Furien erscheinen, macht der männliche Erzähler, ohne sich dessen selbst so richtig bewusst zu werden, eine Verwandlung durch, wechselt Windeln, verzichtet auf Schlaf und übernimmt auf einmal Verantwortung für das kleine schutzlose Baby.

Der sehr kurze, sehr locker und schwarzhumorig erzählte Text erinnert allerdings eher an eine Novelle, auf keinen Fall ist er ein Roman, wie es der Klappentext verkündet. Es wird keine Lebensgeschichte erzählt, sondern eine unerhörte Begebenheit, die sich während des Lockdowns im nigerianischen Lagos ereignet, die aber im Grunde überall auf der Welt so ähnlich verlaufen könnte und die nicht ganz zeitlosen, aber auf jeden Fall exemplarischen Charakter hat.

Vor allem darf man die Erzählung nicht wortwörtlich nehmen, sie ist überspitzt, von abgründigem Witz und, getarnt durch die Perspektive des männlichen Erzählers, nur sehr subtil entlarvend. Dass man den Ich-Erzähler so vernünftig findet, so väterlich verantwortungsvoll, und die beiden Frauen hysterisch, verbittert, verantwortungslos, dass all das, was die beiden Frauen schon durchgemacht haben, ein von Corona hinweggeraffter Ehemann, ein nach der Geburt gestorbenes Baby, ein Geliebter, der gerade in dem Moment stirbt, wenn das Baby unterwegs ist, ein anderer Geliebter, der sich von vornherein aus der Verantwortung stiehlt, an den Rand der Erzählung gerückt wird, während das Aussehen der Frauen, ihr etwas verwahrlostes Erscheinungsbild, ihre sinnlichen Reize, ihre einschüchternde Mütterlichkeit, intensiv kommentiert werden, so dass man kaum umhin kann, aus dem Optischen Rückschlüsse auf die moralische Integrität zu ziehen — all das gehört ja mit zu den geschlechterstereotypischen Bildern, die man sich von der männlichen und der weiblichen Rolle macht.

Die für den männlichen Blick, den man als Leser zu übernehmen verführt ist, völlig überraschende Solidarität zweier Frauen, die sich doch bis aufs Blut anzufeinden scheinen, bringt den feministischen Subtext der Erzählung ans Licht, in der keine salomonische Vaterfigur ein weises allgültiges Urteil spricht, aber in der ein Mann entgegen jeder gesellschaftlichen Erwartung mit immer größerer Selbstverständlichkeit einen Teil der Sorgearbeit übernimmt.

Bibliographische Angaben
Oyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins, Blumenbar 2021
Aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer
ISBN: 9783351050894

Bildquelle
Oyinkan Braithwaite, Das Baby ist meins
© 2024, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

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