bookmark_borderBirgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Arthur heißt die Hauptfigur dieses ein wenig skurrilen und sehr liebevollen Romans über einen, der auf die schiefe Bahn geraten ist und mit psychologischer Hilfe wieder auf den rechten Weg gebracht werden soll. Arthur ist das erzählerische Subjekt, aus dessen Perspektive wir den Großteil der Geschichte erfahren. Er ist aber zugleich auch das Studienobjekt von Börd und Betty, zweier Psychologen, die eine neue Methode der Wiedereingliederung ehemaliger Gefängnisinsassen in die Gesellschaft entwickelt haben. Diese Methode besteht, knapp umrissen, darin, dass der Patient sich in der Therapie sein „ureigenes Optimalbild“ von sich aufbaut, sich sozusagen zur strahlenden Hauptfigur seines Lebens macht, erzählerisch eine bessere Version seiner selbst konstruiert, in deren Rolle er dann im Notfall jederzeit hineinschlüpfen kann, um einen Rückfall zu verhindern.

Erzählen, um das Leben zu meistern, sich einüben in psychologisch wirksame Narrative — die österreichische Autorin entwirft in ihrem Roman ein so anschauliches wie ausgefallenes Szenario bibliotherapeutischer Praxis, also des Heilens, des Verarbeitens der eigenen Lebensgeschichte mit den Kräften der literarischen Fiktion, die wohl noch eher ein Randphänomen der Psychotherapie darstellt, aber längst nichts Exotisches mehr hat. Im Roman wird dieses therapeutische Verfahren, das das Erzählen in den Mittelpunkt rückt, „Schwarzsprechen“ genannt. Arthur erzählt von sich, wie das in einer Therapie üblich ist, doch tut er das nicht in Anwesenheit des Therapeuten, sondern er spricht gewissermaßen ins Schwarze hinein, nimmt die Texte auf und gibt die Tondokumente anschließend an Börd, seinen Psychiater, weiter, ohne mit Sicherheit zu wissen, ob der sie auch wirklich anhört. Das Wesentliche ist hier nicht das Zuhören, sondern das Sprechen.

Manchmal ist ihm, als erzählte der Mensch sich die eigene Geschichte deshalb wieder und wieder, damit er sich auch die unglaublichsten Dinge begreiflich macht. Und variiert die Geschichte von Erzählung zu Erzählung, immer ein Stück näher ans Erträgliche, bis er sie irgendwann als Teil seiner selbst versteht.

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Dramaturgisch kennzeichnet den Roman ein Wechsel zwischen der Erzählgegenwart, den Inhalten des Tonmaterials und Rückblicken, so dass sich den Lesern nach und nach der bewegte Lebensweg Arthurs erschließt und man nachvollziehen kann, wie er auf die schiefe Bahn geraten konnte und zum Internetbetrüger wurde. Man erfährt von seiner Kindheit in einem sozial schwachen Viertel, vom neuen Partner der Mutter, vom Umzug nach Spanien und dem Aufbau eines luxuriösen Hospizes durch seine Eltern, das Arthur von heute auf morgen in die Welt der Neureichen katapultiert. Nach dem Unfalltod der Freundin kehrt Arthur nach Österreich zurück, wo ihn die Geldprobleme nicht mehr loslassen.

Eine fast genauso interessante Figur wie Arthur ist Börd, mit vollem Namen Konstantin Vogl, den Birgit Birnbacher als Psychologen anlegt, der selbst psychische Probleme hat. Das mag keine ganz neue Idee sein, ist aber so plastisch und mit einem untergründigen Humor umgesetzt, dass einem dieser Charakter lange im Gedächtnis bleibt. Schon Börds Erscheinungsbild ist für einen Psychiater ungewöhnlich: Er trägt weder dezentes Zivil noch weiße Ärztekluft, sondern läuft in Latzhose und blauem Arbeitsmantel herum, um, wie es heißt, „leichter zu akzeptieren, dass er nicht mehr der ist, der er mal war“. Vieles erfährt man in diesem Roman nur in Andeutungen, so auch, dass er in prekären Verhältnissen in einer Autowerkstatt wohnt, von seiner Frau verlassen wurde und zu viel trinkt. Börd ist selbst kein wirklich sozial verträglicher Charakter, er verhält sich manchmal unmöglich, dann aber auch wieder wohltuend unvoreingenommen gegenüber seinen Patienten, und ist in jedem Fall ein sehr unorthodoxer Therapeut. Nachdem Börd mehrfach angeeckt und aus der institutionellen Wissenschaft, um ein wenig zu kalauern, heraus-geflogen ist, wird die Studie, an der Arthur teilnimmt, offiziell von Betty geleitet, einer ehemaligen Studentin von Börd. Es gibt also immer wieder verschwimmende Grenzen in dieser Geschichte, die Grenzen von normal und unnormal werden fließend, ebenso die von Psychiater und Patient, und nicht einmal die Hierarchien sind klar gesteckt. Das sorgt in Birgit Birnbachers Erzählstil für Humor und für einen erfrischend unkonventionellen, befreiten Blick.

Und so liegt die (erste) Pointe der Erzählung darin, dass sich bei Arthur ein Therapieerfolg gerade dadurch andeutet, dass ihn die Übungen und Sitzungen mit Börd dazu bringen, die Studie in Frage zu stellen und in durchaus selbstwirksamer Weise zu widerlegen:

„Es kommt mir so vor“, hatte Arthur zu Betty gesagt, „als habe gegen euer allzu großes Einwirken eine Verteidigung meines Selbst begonnen. Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier herausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite.“

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Doch dann funkt das Leben in all seinen Irrungen und Wirrungen und bürokratischen Finessen schon wieder dazwischen. Die Geschichte endet, so könnte man monieren, vielleicht etwas zu abrupt, andererseits wird der Hauptfigur so auch eine Offenheit gewährt, die nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine Chance für ihn sein kann, die Chance eines Lebens in Freiheit. Diese Freiheit erscheint in Birgit Birnbachers Roman zweischneidig, und man beginnt zu begreifen, welch herausfordernde Aufgabe eine Wiedereingliederung in die so genannte Gesellschaft ist. Einerseits bedeutet Freiheit für Arthur, das Gefängnis verlassen zu können, das, wie man nur in Andeutungen erfährt, ein Raum schlimmer Erfahrungen für ihn gewesen ist, ein gefährliches Milieu, dominiert von sozialem Druck und sich in schwer kontrollierbarer Eigendynamik entwickelnder Gruppengewalt. Davon unabhängig bedeutet die Entlassung aus dem Gefängnis, andererseits, nicht die Entlastung von seinen Gedanken, mit denen man in therapeutischer Arbeit vielleicht einen Umgang finden lernt. Und schließlich entpuppt sich das Zurechtfinden in der so genannten Freiheit als Lebensaufgabe für Arthur, der überall auf Zäune und Grenzen stößt, auf soziale und bürokratische und imaginäre Schranken, die unüberwindlich scheinen.

Ich an meiner Seite ist ein aus vielen Gründen lesenswerter Roman; was alles zusammenhält, sind aber in meinen Augen die Figuren, die in ihren Qualen und Nöten zugleich liebevoll und grotesk charakterisiert werden und trotz ihrer humorvollen Überzeichnung sehr lebensnah wirken: die jahrelang todkranke ehemalige Schauspieldiva, mit der Arthur eine ganz besondere Freundschaft verbindet, und der psychische Seelennöte ausstehende Psychiater, der sein Leben selbst kaum in den Griff bekommt, sind vielleicht die zwei berührendsten Charaktere. Man möchte den Figuren immer wieder zurufen, tu das nicht, und kann gleichzeitig doch verstehen, warum sie so irrational handeln, nur um dann von den eigentlich erwartbaren Konsequenzen überrollt zu werden. Ein sehr lebensechtes Stück literarischer Fiktion!

Bibliographische Angaben
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite, Zsolnay 2020
ISBN: 9783552059887

Bildquelle
Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite
© 2020 Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien, bei der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderClare Chambers: Scheue Wesen

Vögel sind scheue Wesen, Tiere, die Freiheit brauchen, wenn man sie zeichnen will, muss man sie vorher lange beobachten und ihre Bewegungen und Regungen studieren, aus der Ferne, mit gebührendem Abstand, um sie nicht zu erschrecken. Auch unter Menschen gibt es scheue Wesen, die britische Autorin Clare Chambers macht in ihrem neuen Roman (mindestens) eines davon zur Hauptfigur: William Tapping, ein zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart in den 1960er Jahren nicht mehr ganz junger Mann, der jahrelang ohne Wissen der Nachbarn und der Behörden im Haus seiner nach und nach verstorbenen Tanten lebte und dessen Lieblingsbeschäftigung, der er in diesem merkwürdigen, nicht hinterfragten Gefängnis nachging, das Zeichnen von Vögeln ist.

Clare Chambers, die schon einige Romane in England publiziert hatte, bevor sie mit Kleine Freuden auch in Deutschland einen Überraschungserfolg hatte, hat mit ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman Scheue Wesen einen einfühlsamen, spannend konstruierten und auch stilistisch überzeugenden Text geschrieben, den man geradezu verschlingen mag, hinter dessen Unterhaltungs- und Spannungspotential aber weitere Schichten zutage treten, die der scheinbaren Leichtigkeit Kontur und Tiefe geben und mehrere Lesarten zulassen. So ist Scheue Wesen erstens lesbar als Geschichte über die tröstende Kraft der Kunst. Die zweite (oder eigentlich erste) Hauptfigur des Textes ist denn auch die Kunsttherapeutin Helen Hansford, sie steht im Zentrum der Geschichte, die in den 1960er Jahren in England spielt. Eine zweite Ebene wird mit Helens Arbeitsplatz eingeführt, an dem sich die verschiedenen Fäden der Geschichte kreuzen: Es ist auch ein Roman über die Entwicklung der Psychiatrie und ihrer verschiedenen Leitbilder und Methoden von den 1930er bis in die 1960er Jahre. Und drittens kann man den Roman auch mit einem feministischen Blick als die Geschichte einer sich behauptenden und sich selbst-bewusst zur Gesellschaft und zum Leben ins Verhältnis setzenden Frau lesen: Helen ist eine selbständige, viel reflektierende Frau, die seit einiger Zeit eine leidenschaftliche, aber auch sehr eingeschränkte heimliche Liebesbeziehung mit einem Psychiater der Londoner Klinik hat, an der sie arbeitet. Während sie bisher ihr als unkonventionell und frei betrachtetes Leben genoss und es immer wieder auch gegen ihre Familie verteidigte, schleichen sich nun Zweifel ein, die auf entwicklungspsychologischer Ebene die Handlung vorantreiben.

Als Helen dem zunächst stummen, ein wenig verwahrlosten Mann, der als William Tapping identifiziert werden kann, im Rahmen ihrer Arbeit in der Klinik begegnet, in die er nach seinem überraschenden Auffinden gebracht wird, ist sie beeindruckt von seiner künstlerischen Begabung, die alles in den Schatten stellt, was sie sonst bei den von ihr betreuten Patienten erlebt. Die Begegnung mit ihm ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte, in der daraufhin in mehrfacher Hinsicht die Weichen neu gestellt werden. Helen setzt alles daran, Williams Geheimnis auf die Spur zu kommen, um ihn aus seiner Stummheit zu lösen und ihm aus der Psychiatrie heraus wieder ins Leben zurückzuhelfen. Je mehr sie sich William nähert, je mehr sie sich sein Vertrauen erarbeiten kann und durch zusätzliche private Recherchen seine Geschichte zu rekonstruieren beginnt, desto mehr stellt sie jedoch auch ihr eigenes Leben, ihre Beziehungen, ihre Gefühle und Werte, infrage. Als zweites Schlüsselmoment kommt hier die psychische Krise ihrer Teenager-Nichte Lorraine hinzu, für die Helen eine wichtige Bezugsperson ist und deren aufkeimende Liebe zum Zeichnen Helen zu fördern versucht. Auch Lorraine gehört, so merkt man bald, zur Gattung der scheuen Wesen. Als sie nach einem Zusammenbruch in die Klinik kommt, die sie zunächst gar nicht mehr verlassen mag, trifft auch sie auf William, dessen Zeichentalent sie bewundert, und auf Dr. Gil Rudden, den Psychiater und heimlichen Geliebten ihrer Tante.

Während die emotionalen Verwicklungen in der Erzählgegenwart ihren Lauf nehmen, entfaltet sich in eingeschobenen und immer weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Kapiteln auch die Geschichte Williams, der über 20 Jahre lang mehr oder weniger eingesperrt im Haus seiner Familie gelebt hat. Seine Lebensgeschichte wird nun in Rückblenden, die bis in die 1930er Jahre gehen, nach und nach aufgerollt, soll aber hier natürlich nicht verraten werden. Nur soviel sei verraten: Es lohnt sich sehr, es lesend herauszufinden.

Bibliographische Angaben
Clare Chambers: Scheue Wesen, Eisele 2024
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
ISBN: 9783961611966

Bildquelle
Clare Chambers, Scheue Wesen
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderNora Bossong: Reichskanzlerplatz

Nora Bossong nähert sich in ihrem Roman einer heute — vielleicht auf Kosten tieferer Einsichten — allgemein dämonisierten historischen Figur, der von ihr mit viel literarischem Gespür fiktionalisierten Magda Goebbels (1901-1945), die im Nationalsozialismus zur Vorzeigemutter des Regimes wurde, dem sie am Ende nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder opferte. Ihre monströse Tat kommt im Roman nicht bzw. nur im Nachwort zur Sprache, es geht der Autorin an keiner Stelle um ein wie auch immer geartetes Faszinosum des Bösen, sondern darum, den psychologischen und historischen Nährboden zu beleuchten, auf dem das Böse schließlich möglich wird.

Da das Erkenntnisinteresse in diesem Roman auf der psychologischen und historischen Entwicklung liegt, nimmt den weit größeren Raum daher die Zeit der 1920er Jahre ein, als Magda Goebbels noch gar nicht Magda Goebbels hieß, sondern unter anderem mit dem Industriellen Günther Quandt verheiratet war. Und sie ist im Übrigen auch nicht einmal die Hauptfigur des zwar historischen, aber eben nicht einschlägig biographischen Romans, sondern eine im Hintergrund freilich omnipräsente Nebenfigur, die manchmal kurz ins Licht der Erzählung tritt, um jedesmal wieder im Schatten des Nicht-Weiter-Erzählten zu verschwinden. Nora Bossong gerät somit nicht in die Gefahr, ihre Figur zu romantisieren, sie löst das ethische Dilemma von literarischer Einfühlung und Distanznahme, indem sie eine andere, fiktive Figur zum Ich-Erzähler macht, dessen Lebensgeschichte mal intensiver, mal flüchtiger mit derjenigen der späteren Magda Goebbels in Berührung tritt: Hans Kesselbach begegnet ihr zum ersten Mal bei den Quandts, als der sehr gebildeten, sehr schönen und sehr jungen Stiefmutter seines Mitschülers Hellmut Quandt. Verliebt ist er jedoch, wie er bald begreift, nicht in die faszinierende junge Frau, sondern in Hellmut, in einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur allseits geächtet und daher verheimlicht wurde, sondern noch als Verbrechen galt. Nach Hellmuts frühem Tod 1927 setzt Hans dessen Affäre mit seiner Stiefmutter Magda gewissermaßen fort, für einige Zeit wird er Magdas Liebhaber, bis sie dann in den Bann des damaligen NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels gerät. Über die inneren Konflikte und unverwirklichten Sehnsüchte hinaus, die den jugendlichen Ich-Erzähler quälen, ist Hans Kesselbach eine wirklich sehr gut erzählte Figur, komplex, ambivalent, man fühlt mit ihm, ohne all seine Entscheidungen gutzuheißen, die er unter wahrlich herausfordernden historischen Umständen fällt. Nora Bossong arbeitet an ihm die Grauzone, in der sich die Figur bewegt, sehr nuanciert heraus, was dank der Möglichkeit ihrer romanhaften Individualisierung überhaupt erst möglich wird. Seine inneren Widersprüche treten im Laufe der Handlung immer wieder nach außen, dem nationalsozialistischen Gedankengut steht er mit großer Skepsis und Abneigung gegenüber, macht sich aber trotzdem des Mitläufertums schuldig, und ist gleichzeitig wegen seiner Homosexualität selbst ein potentielles Opfer des neuen Regimes.

Der Roman wäre nicht so gut, wenn er sich nicht über diese individuelle Geschichte hinaus auf vielschichtige Weise auf eine höhere, historische Ebene öffnen würde. Mit der Verwebung der historisch belegten Geschichte der Familiendynastie Quandt in die fiktive Geschichte des Ich-Erzählers etwa gewinnt der Opportunismus, den man der Liebschaft eines Schwulen mit einer angesehenen Frau unterstellen mag, eine ganz andere Dimension, die die folgenreiche Verstrickung deutscher Unternehmer in den Nationalsozialismus problematisiert.

Indem Nora Bossong den jungen Ich-Erzähler in diese ihm sehr fremde Welt der Industriellenfamilie eintauchen lässt, nähert sie sich erzählerisch auch der jungen Magda, die mit ihrer Heirat des Firmenchefs ihrerseits von außen und unten in diese Welt der Reichen und Mächtigen Eingang gefunden hat, sich in ihr jedoch wie selbstverständlich bewegt. Die Gabe der Anpassung scheint ihr im Unterschied zu Hans, der sich im Laufe seines Lebens immer wieder wie ein Fremdkörper fühlt, in die Wiege gelegt. Während der heimlichen Liebschaft von Magda mit ihrem Stiefsohn Hellmut, für die Ausflüge zu dritt mit dem Schulfreund Hans ein willkommenes Alibi sind, kommt man ihr sehr nahe, dringt in der konsequent äußerlich bleibenden Perspektive aber nie bis in ihr Innerstes vor, das sich die Autorin wohlweislich vorenthält.

Der Roman möchte keine eindeutigen Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen: Wie konnte jemand, der so gebildet war, der den Feinsinn der Kunst und der Literatur schätzte, eine solche Entwicklung durchlaufen wie Magda Goebbels? Was war charakterlich in ihr angelegt, wo begann die moralische, politische Verirrung? War ihr Weg vorgezeichnet oder hätte sie sich auch ganz anders entscheiden können? Im Roman erscheint sie als eine Frau voller Ambivalenzen: zwischen Idealismus und Anpassung, Intelligenz und Verbohrtheit, Abgrund und Prominenz. Ihre Schönheit, ihre Kühle, ihre Bildung, ihr Wille etwas zu bedeuten, das Leben auszuschöpfen, bewegten sich auf einem dünnen Grat, von dem aus sie in übersteigerten sozialen Ehrgeiz, in Narzissmus und Fanatismus zu kippen drohten. Auch das unmerkliche Hinübergleiten eines gesunden Selbsterhaltungstriebs in einen rücksichtslosen Aufstiegswillen, die nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, lässt Nora Bossong in ihrem Roman anklingen, etwa wenn Magda ihren reichen Exmann mit kompromittierenden Briefen erpresst, um nach der Scheidung nicht nur das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Harald, sondern auch eine stattliche Abfindung zu bekommen, zu der ihre repräsentative Wohnung am Titel gebenden Reichskanzlerplatz gehört.

Welche Rolle spielte die Geschichte, spielten die politischen Verwerfungen? War ihre Radikalisierung vorgezeichnet? War es auch ihr Scheitern, ihr Absturz am Ende, der sich unter der Oberfläche schon länger anzudeuten schien? Konnten ihre Anstrengungen, als überhöhte Mutterfigur und Ehefrau einen Schein zu wahren, der der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach, irgendwann nur noch mit Alkohol und Selbstbetrug aufrechterhalten werden? Das Verstörende daran ist vor allem, wie wir in Nora Bossongs Roman erfahren, dass Magda Goebbels, die später so sehr die „arische“ Ideologie propagierte, selbst als junges Mädchen Fluchterfahrungen machte, dass sie einen jüdischen Stiefvater hatte und einen jüdischen Jugendfreund; auch das ist Teil ihrer Biographie. Und so schreibt Nora Bossong bzw. ihr Ich-Erzähler Hans Kesselbach, sehr philosophisch, an einer Stelle: „man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ Diese Wahrheit, die dem Roman zugrundeliegt, oder vielleicht: die sich aus ihm entwickelt, gilt im Übrigen für beide Figuren, für den fiktiven Ich-Erzähler ebenso wie für die fiktionalisierte Magda Goebbels. Man kann der Geschichte nicht ausweichen, aber man kann sich vielleicht doch auf verschiedene Weise zu ihr verhalten.

Reichskanzlerplatz ist ein nachdenklicher, fein erzählter Roman mit vielen Zwischentönen und das Porträt einer Zeit und der sich in ihr Verhaltenden. Im Raum der Literatur verfügt Nora Bossong über andere Mittel als die historische Dokumentation, und diese schöpft sie aus, mit einer auch stilistisch überzeugenden Zurückhaltung, die sich der Grenzen und der Möglichkeiten der literarischen Fiktionalisierung gleichermaßen bewusst ist.

Bibliographische Angaben
Nora Bossong: Reichskanzlerplatz, Suhrkamp 2024
ISBN: 9783518431900

Bildquelle
Nora Bossong, Reichskanzlerplatz
© 2024 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderDana von Suffrin: Nochmal von vorne

Dass der Tod eines Elternteils die familiäre Vergangenheit reflektieren und ehemals Unbegriffenes, nicht in Begriffe Gefasstes, an die Textoberfläche holt, ist kein neues, aber ein immer noch stark wirkendes literarisches Motiv. In Dana von Suffrins so schmerzhaftem wie schwarzhumorigem Roman Nochmal von vorne löst der Tod des Vaters von Rosa in der Erzählerin und Tochter einen wahrhaften Erinnerungsstrom aus, der in langen Satzkaskaden ein interessantes Textgebilde entstehen lässt.

Der Roman gleicht einer Familienaufstellung. In überraschend lockerem Ton, der wie ein transparentes Tuch über eine nicht wirklich unterdrückte Emotionalität geworfen wird, taucht er ein in die vielschichtige Psychologie eines familiären Beziehungsgeflechts. Die Haltung der Erzählerin bewegt sich dabei auf einem feinen, nie ganz ausgependelten Grat zwischen Nähe und Distanz, zwischen Lachen und Weinen, Spott und Getroffensein. Hinter den wechselnden Tonlagen von grotesk, traurig, berührend, hoffnungsvoll, bedauernd verbirgt sich, so merkt man es beim Lesen, ein kaum eingestandenes Bedürfnis nach Liebe und Verbundenheit. Die Geschichte der israelisch-deutsch-jüdischen Familie, in der Rosa aufgewachsen ist, ist eine Geschichte der sich immer wieder in Streitereien Luft machenden Lebensenttäuschungen. Ihre Mutter hatte für ihre Familie einst ihre geisteswissenschaftliche Laufbahn abgebrochen, ihr Vater ging einer seiner wissenschaftlichen Ausbildung in Israel nicht gerecht werdenden Tätigkeit als Laborchemiker nach, Geldsorgen nagten an ihm. Es ist auch eine Geschichte des Verlassens, des Kontaktabbruchs, des Verschwindens, die Mutter verlässt gleich zweimal die Familie, erst ihre Herkunftsfamilie, später die, die sie mit ihrem Mann Mordechai gegründet hat. Und ihr gleich tut es ihre Tochter Nadja, Rosas Schwester, die als Teenagerin rebelliert, weil sie es zuhause nicht mehr aushalten mag. Rosa, die Erzählerin, scheint in ihrer selbstkritisch eingestandenen Harmoniesucht die einzige in der Familie zu sein, die nicht von ihr loskommt, die es nicht übers Herz bringt, den Vater im Stich zu lassen, die trotz allen Spotts und aller (Selbst-)Ironie von einer tiefen Sehnsucht nach Zusammenhalt in der Familie getragen wird, darunter leidet und alle Schattierungen von Hoffnung, Frust, Wut, Trauer durchlebt.

In Dana von Suffrins jüdisch-deutscher Familiengeschichte ist die mit dem Klischee brechende Meta-Ebene in die Geschichte selbst mit eingebaut. Gerade der offene Einblick in den freilich literarisch überformten individuellen Alltag einer deutsch-jüdischen Familie zeigt jedoch, dass man um das Thema Geschichte kaum herumkommt. Bei Rosas Eltern wird sie sogar nacheinander zentraler Anziehungs- und Konfliktpunkt. Denn wenngleich die Verarbeitung der Vergangenheit für beide eine wichtige Rolle spielt, sind Art und Gegenstand der Verarbeitung doch ziemlich unterschiedlich. Rosas aus katholischem Hause stammende Mutter hat Soziologie und Geschichte studiert, sich in Reibung mit ihrer Herkunftsfamilie intensiv, fast obsessiv mit der nazideutschen Geschichte beschäftigt, mit deren Aufarbeitung sie sich derart identifiziert, dass ihre eigene Eheschließung mit einem israelischen Juden den Anklang eines politischen Projekts bekommt — das in der Praxis des Lebens zum Scheitern verurteilt ist, denn Familie ist alles andere als ein theoretisches Projekt. Rosas Vater hingegen, der selbst in Israel geboren und sozialisiert wurde, hat zwar den von den Eltern geerbten auffälligen Akzent eines Ostjuden, möchte aber nichts lieber, als die aufgewühlte Vergangenheit hinter sich zu lassen, und sehnt sich nach Normalität, nach Anpassung, nach einem geordneten, unaufgeregten Familienleben in München, das ihm nicht wirklich gegönnt ist.

Schließlich wirft der gleichermaßen psychologisch wie geschichtsbewusst angelegte Roman auch noch die Frage auf, inwieweit Familie, und zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt, psychologisch erklärt werden kann. Und wie einflussreich bzw. wie begrenzt die Rolle der Geschichte und des gesellschaftlichen Umfelds ist. Struktur konkurriert hier, letztlich unentschieden, mit Psychologie, beiderseits erweisen sie sich als unzureichende Erklärungsmodelle. Welche Ängste, welche Gefühle, welche Traumata sind tradiert, werden intergenerationell weitergegeben? Was sind neue gesellschaftliche Herausforderungen, mit denen individuell umgegangen werden muss? Dass diese Fragen angestoßen werden, aber letztlich offen bleiben, ist die Stärke dieses Familienromans, der vielleicht nur eine Wahrheit über Familie postuliert: dass es extrem schwer ist, von ihr loszukommen.

Bibliographische Angaben
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne, Kiepenheuer&Witsch 2024
ISBN: 9783462002973

Bildquelle
Dana von Suffrin, Nochmal von vorne
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderHan Kang: Die Vegetarierin

Auch wenn der Nobelpreis in der Regel für ein ganzes literarisches Werk verliehen wird, ist es doch oft ein einzelnes Buch aus diesem Werk, das den Ausschlag gibt. Da ich von der südkoreanischen Schriftstellerin, seit diesem Jahr Nobelpreisträgerin, bisher nur den Roman Deine kalten Hände (2020) kannte, und ihn als eindrücklichen Kunst- und Körperroman in Erinnerung habe, war ich nun besonders neugierig auf den Roman, der sie 2016 ins Licht internationaler Bekanntheit rückte: Die Vegetarierin. Und ja, der Text ist faszinierend, kunstvoll, schlicht, mit nicht einmal 200 Seiten eher kurz, und doch werden in ihm ganz verschiedenartige Konfliktfelder miteinander verwoben, oder: ineinander verschlungen. Es geht um Gesellschaftsstrukturen, um Familienbeziehungen, um Kunst, Körper, Essen und Sexualität, um Scham und Begierde, um Zwänge und Angst, um Freiheit und Ausbruch. Die Vegetarierin ist ein Roman, der aus der Sphäre äußerster Intimität heraus ganz unmerklich eine politische Dimension gewinnt.

Was mich aber von Anfang an gefesselt hat, ist der ungewöhnliche Umgang mit Perspektiven. Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt, die fast für sich stehen könnten, und jedesmal wechselt die Erzählperspektive. Spannenderweise ist der einzige Ich-Erzähler derjenige, der letztlich der unsympathischste und farbloseste Charakter bleibt: der sich mechanisch in die Konventionen fügende, ambitions- und leidenschaftslose Ehemann von Yong-Hie, der „Vegetarierin“, die selbst die Protagonistin und das allseits verstörende Zentrum des Romans ist. Die Erzähler aller drei Teile kreisen um sie, die übrigens kaum etwas sagt, da das, was sie sagt, ihre Träume, ja doch nicht ernst genommen wird; alle werfen einen neuen Blick auf sie, versuchen sie mit ihrem Blick einzufangen, was aber nie gelingt, da sie sich, in fließender Veränderung begriffen, jeder äußeren, jeder menschlichen Vereinnahmung entzieht.

Im ersten Teil erfährt man aus der Perspektive des Ehemanns, wie seine unauffällige, fügsame Frau von heute auf morgen aus dem Rahmen fällt, indem sie jegliches Fleisch aus ihrem Haushalt verbannt und zur Vegetarierin wird. Von ihrer Familie wird das ebenso wie von den Arbeitskollegen ihres Mannes als Provokation empfunden. Was sie dazu bewogen hat, ihre Alpträume, die womöglich in Erlebnisse der Kindheit zurückreichen, aber auch archetypischen Charakter haben und die in kursiv gesetzten tagebuchartigen Einschüben von Yong-Hie in der Ich-Form erzählt werden, werden von niemandem ernst genommen. Ihre stille Weigerung führt schließlich auf einem Familientreffen zur Eskalation.

Im zweiten Teil wird Yong-Hies unkonventionelles Verhalten zur Ebene der Kunst in Beziehung gesetzt, welche ja der gesellschaftliche Ort ist, an dem der Bruch von Konventionen geduldet oder sogar erwartet wird. Erzählt wird diesmal aus der personalen Perspektive ihres Schwagers, des Mannes ihrer Schwester, der Maler und Videokünstler ist, jedoch seit Jahren nicht wirklich vorankommt in seinen künstlerischen Bemühungen. In der Vegetarierin erkennt er nun plötzlich unentdeckte Leidenschaft, Triebe, Wünsche, die ihm zu ungeahnter künstlerischer Inspiration verhelfen. Auf einmal tut sich ein neuer schöpferischer Raum für ihn auf, in dem Lust und Kreativität miteinander verschmelzen. Hier zeigt sich Han Kangs Kunstfertigkeit, Ambivalenzen in unauflösbare Ambiguitäten zu verwandeln. Der Blick des Schwagers ist auf eine Weise ebenso vereinnahmend wie der der anderen Familienmitglieder, doch zugleich ist er der einzige, der wirklich versucht, Yong-Hie zu verstehen. Während die Vegetarierin von den anderen als krank oder wahnsinnig betrachtet wird, als mitleiderregend oder abstoßend, sieht er sie als einzigartiges und begehrenswertes Geschöpf. Natürlich macht sie sein Künstlerblick, der zugleich ein Männerblick ist, wiederum zum Objekt. Doch löst er sie heraus aus den Erwartungen der Gesellschaft, schafft gemeinsam mit ihr einen Raum, in dem sie ihr Menschsein, in dem sie sich nicht mehr zuhause fühlt, momenteweise ablegen, überwinden kann. Er bemalt ihren Körper mit Pflanzen, im Kunstwerk vollzieht sich ihre Pflanzwerdung, nach der sie sich mehr und mehr sehnt, als sie miteinander schlafen, ist es kein fleischlicher, sondern ein pflanzlicher Akt. Es ist eine abgründige, ungewöhnliche Liebesgeschichte, die Han Kang hier erzählt, die mit dem Ende des Kapitels freilich auch selbst ein jähes Ende findet. Und doch bleibt eine gewisse Sympathie für diesen getriebenen, unglücklichen Mann und seine so perverse wie aufrichtige Begierde und Zuneigung für eine Frau, über deren körperliche und seelische Bedürfnisse jeder hinweggehen zu dürfen meint.

Anstoß erregt die Vegetarierin ja vor allem dadurch, dass sie sich freigemacht hat von jeglicher Scham, dass sie ganz selbstverständlich und in größter Natürlichkeit und Unaufgeregtheit die Konventionen bricht. Sie schämt sich nicht, aber sie ist auch nicht schamlos, was andere von ihr denken, spielt schlicht für sie keine Rolle mehr, sie hat aufgehört sich anzupassen, und gerade in ihrem Sie-selbst-Sein eckt sie an, empört und erschreckt die anderen, die sich, unbewusst, durch sie beschämt fühlen, da sie den Finger auf die wunden Stellen der Gesellschaft legt. Diese stille und radikale Form des Protests bewirkt bei manchen der Figuren eine Wandlung im Denken, oder erst einmal im Fühlen und Wahrnehmen, wenn sie bereit sind, sich ein Stück weit zu öffnen und über Tradition und Konvention hinwegzusetzen. Das ist nicht nur bei dem Künstler-Schwager so, sondern auch bei seiner Frau, der Schwester Yong-Hies, aus deren Perspektive der dritte und letzte Teil des Romans erzählt wird. Ihre Wandlung vollzieht sich unterschwellig über einen längeren Zeitraum, und wird ihr erst klar, als ihr die psychisch Kranken, die sie bei den Psychiatriebesuchen bei ihrer Schwester sieht, die inzwischen komplett die Nahrungsaufnahme verweigert, vertrauter erscheinen als die scheinbar normalen Menschen auf der Straße. In diesem dritten Teil regt der Text noch einmal dazu an, über Begriffe wie normal und asozial, gesund und krank zu reflektieren. Was ist asozial, dass man kein Fleisch ist, keinen BH trägt, sich mit Blumen bemalt und im Einverständnis Sex hat — oder dass man seine Tochter schlägt, ihr mit List oder gewaltsam Essen aufzwingt, sie in einer Anstalt verwahrt? Kann und darf man einen Menschen vor sich selbst beschützen? Und hier wird der Roman eben doch politisch, wirft er Fragen über die Verfügbarkeit über den eigenen Körper auf, über einengende patriarchale Strukturen, über Freiheit und Mündigkeit und Selbstbestimmung.

Die Vegetarierin ist in ihrer widerspenstigen Sanftheit auf jeden Fall eine im Gedächtnis bleibende literarische Figur, eine Frau, die sich nicht beirren lässt und radikal den Weg weitergeht, den andere sich nicht trauen, in letzter Konsequenz zu gehen. So wenig sie sich den Erwartungen der anderen fügt, die sich ihr Verhalten nicht erklären können, so widerständig ist auch der Text gegenüber einer eindeutigen Lesart. Der Interpretationsspielraum reicht von der Geschichte einer Essstörung über das Psychogramm einer Gesellschaft bis hin zur Utopie einer posthumanen Welt. Den Text psychologisch zu lesen scheint genauso schlüssig oder unschlüssig, wie seine gesellschaftskritische, philosophische oder existentielle Ebene in den Vordergrund zu heben. Mal fühlt man sich an Foucaults Gedanken zur modernen Psychiatrie, zu Macht und Wahnsinn erinnert, mal meint man eher in die religiösen Naturvorstellungen des Buddhismus versetzt zu werden. Sprachlich entspricht diesem unaufdringlichen Assoziationsreichtum ein klares und schnörkelloses und doch nicht unpoetisches Erzählen. Der Text lebt auch von seinem behutsam eingesetzten Gebrauch der Metapher, es sind einprägsame, auch gewaltsame (Körper-)Bilder, wie etwa aus den Augen tretendes Blut. Und natürlich spielt die Allegorie der Pflanzen eine zentrale Rolle. Letztlich ist es die Sprache, die im Raum der Fiktion den Körper als Kunstwerk hervorbringen und ihn auch wieder zerstören kann. Han Kang ist eine Künstlerin, die aus dem Material der Sprache einen vieldeutigen Raum schafft, der fasziniert und verstört.

Bibliographische Angaben
Han Kang: Die Vegetarierin, Aufbau 2017
ISBN: 9783746633336

Bildquelle
Han Kang, Die Vegetarierin
© 2024 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderFranz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal

Wie man locker und leicht und doch alles andere als achtlos das als Teil gegenwärtiger Identitäts- und Gesellschaftsdebatten oft moralisch überfrachtete Thema Transgender in Literatur verwandelt, können wir ausgerechnet, jawohl, und eigentlich sollte das auch nicht überraschen, in einem Kinderbuch lesen. Die Wiener Autorin und Übersetzerin Franz Orghandl hat für ihr wunderbares Buch Der Katze ist es ganz egal, in dem der kleine Leo eines Morgens beschließt, sich von nun an Jennifer zu nennen, was in seinem Umfeld einiges an Verwirrung und Aufregung auslöst, 2021 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis bekommen. Das Hörbuch dazu erschien ebenfalls 2021, gesprochen von Verena Noll in einem herzerfrischenden und zugleich erwärmend komischen Wienerisch und in einem natürlichen Erzählton, der Humor und Mitgefühl auf feine, unaufdringliche Weise transportiert und der aus dem Text hervorgehenden erzählerischen Haltung eins zu eins entspricht.

Denn die Geschichte regt immer wieder zum Schmunzeln an. So ist die erste Reaktion auf Leos Ankündigung, von nun an Jennifer zu heißen, nicht etwa: ,so heißen doch nur Mädchen‘, sondern: ,Jennifer, so heißt doch niemand mehr‘. Und so subtil in der Erzählung der Wechsel in der Bezeichnung zwischen „er“ (Leo) und „sie“ (Jennifer) stattfindet, so unauffällig kommt auch manche Überraschung daher, zum Beispiel die, dass plötzlich ausgerechnet der Opa die Eltern im Gebrauch des Personalpronomens für sein Enkelkind korrigiert („Sie!“).

Schön ist auch, wie vielfältig und lebensnah die Reaktionen auf den Namens- und Geschlechtswechsel erzählt werden, es ist weder eine super „woke“ heile Welt noch ein schrecklich intolerantes böses Umfeld, in dem sich Leo bzw. Jennifer bewegt. Mama, Papa, Opa, Oma, Lehrerin, Freunde und Freundinnen, alle müssen sie auf eine Art und Weise feste, klischeehafte Vorstellungen überwinden, das ist oft sehr komisch, manchmal aber auch schmerzhaft. Letztlich ist die Botschaft dieses zum Glück gerade nicht das Vermitteln einer Botschaft ins Zentrum stellenden Buches, dass es jeder Mensch (und bestimmt auch die Katze) wert ist, dass man hinter die Oberfläche schaut, dass Freundschaft und Zusammenhalt wichtiger sind als das äußerliche Erscheinungsbild. Ohne zu politisieren oder zu moralisieren macht der Text nicht nur den ohnehin vielleicht unvoreingenommeneren Kindern, sondern auch ihren vor- oder mitlesenden Eltern klar, wie wichtig es ist, dass man die Gefühle, den Charakter und auch die manchmal vielleicht nicht sofort nachvollziehbaren Eigenheiten des anderen als zu ihm gehörig anerkennt. Und er tut dies auf sehr unterhaltsame Weise, mit viel Witz und Humanismus.

Bibliogaphische Angaben
Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal, Klett Kinderbuch 2020
Illustriert von Theresa Strozyk
ISBN: 9783954702312

Hörbuch: Hörbuchverlag BUCHFUNK 2021
Gesprochen von Verena Noll
ISBN: 9783868476002

Ab 9 Jahren

Bildquelle
Franz Orghandl, Der Katze ist es ganz egal
© 2024 Klett Kinderbuch Verlag GmbH, Leipzig

bookmark_borderJackie Thomae: Glück

Wie in ihrem letzten Roman Brüder (vgl. Rezension vom 29.7.2020) verpackt Jackie Thomae auch in ihrem neuen Roman ein gesellschaftliches Thema in eine eher szenenhaft sich entwickelnde Geschichte, die einen sehr nah an ihre Figuren heranführt, deren anschauliche Ausgestaltung eindeutig im Vordergrund steht. Ging es im Vorgängerroman, ausgehend von den Biographien zweier Halbbrüder, um den Themenkomplex Herkunft, Ostdeutschland, Migrationshintergrund, Auswanderung, kreist in Glück alles ums Frausein, das gesellschaftlich noch immer zahllose alte und neue Konfliktfelder bereithält. Es geht um Frauenkörper, Mutterschaft, Rollenbilder, um all die mit dem Frausein im 21. Jahrhundert verbundenen, individuellen wie systemischen Erwartungen, Ansprüche, Ängste und Sehnsüchte.

Zum Glück bleibt dieses sicher ambitionierte erzählerische Unterfangen nicht im Schablonenhaften stecken, was bei einem solchen Stoff und den vielen im Roman aufgeworfenen Thesen und Gegenthesen ja leicht passieren könnte. Differenziertheit erlangt die Autorin hier vor allem durch ihr Erzählen mittels Perspektivwechseln. Stück für Stück setzt sich so eine keineswegs Vollständigkeit beanspruchende gesellschaftliche Wirklichkeit zusammen, die über die für sich jeweils berechtigte, nachvollziehbare, aber einseitige Wahrnehmung jeder ihrer einzelnen Figuren hinausreicht. Ausgehend von den beiden, man muss es hervorheben, beruflich erfolgreichen und gut aussehenden Protagonistinnen, der Radiomoderatorin Marie-Claire und der frisch gewählten Bildungssenatorin Anahita, beide Ende 30 (im ersten Teil) und Anfang 40 (im zweiten) und beide mit unerfülltem Kinderwunsch, rückt die Geschichte nach und nach die Leben weiterer Frauen aus dem familiären und sozialen Umfeld der beiden ins Licht der Handlung, und gibt damit auch sehr unterschiedlichen weiblichen Biographien Raum. Denn Marie-Claire und Anahita, die sich zu Beginn der Erzählung bei der Aufzeichnung eines Podcastinterviews treffen — die bekannte Radiofrau führt ein Gespräch mit der aufstrebenden Politikerin und stellt ihr, entgegen der eigenen Gesprächsetikette, die pikante Frage nach ihrer bisher ausgebliebenen Mutterschaft –, bewegen sich ansonsten in eher entfernten sozialen Milieus: Marie-Claire ist aus der fränkischen Provinz in die Großstadt gezogen und hat dort Karriere gemacht, Anahita muss mit ihrer migrantischen Herkunft, ungeachtet des Bildungsniveaus ihrer Eltern, immer wieder als Vorzeigefrau für einen hierzulande machbaren sozialen Aufstieg herhalten. Indem auch Freundinnen, Familienmitglieder und sogar die gemeinsame Frauenärztin selbst zu personalen Erzählerstimmen werden, verschiebt sich der Blick auf die Figuren mit jeder weiteren Stimme, wird korrigiert, verändert sich. Der personale Erzählreigen hat zur Folge, dass alle Figuren mit Voranschreiten der Erzählung an Vielschichtigkeit und auch an Sympathie gewinnen, man kommt ihren Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelten sehr nahe. Wenn aus der einen Perspektive etwa ein eher abschätziger erster Blick von außen auf eine andere Figur geworfen wurde, so zeichnet der nachgereichte Blick von innen ein anderes, ergänztes Bild. Und auch das Verhalten der Protagonistinnen erscheint im Spiegel der Außenperspektiven der anderen Figuren auf sehr erfrischende Art noch einmal in einem anderen Licht.

Was den zentralen inneren Konflikt der Hauptfiguren betrifft, ihren Kinderwunsch, so nimmt im Laufe der Geschichte auch hier die Nuanciertheit zu. Einerseits zeichnet sich auf der Handlungsebene eine überindividuelle Lösung ab, nämlich die (noch in den Bereich der Fiktion gehörende) Entwicklung einer neuen Pille für Frauen vor der Menopause, mit der Eizellen im Körper für einen späteren Zeitpunkt konserviert werden können. Andererseits deutet sich an, dass eine solche Pille in der Geschichte zwar eine Art poetische Geschlechtergerechtigkeit herzustellen verspricht, aber als Allheilmittel für die individuellen Biographien der Figuren kaum infrage kommt. Anahita und Marie-Claire werden sich bewusst, dass zwischen einem persönlichen und einem sozial erwarteten Kinderwunsch, so eng der Zusammenhang ist, ein Unterschied besteht. Und jenseits einer Pille, die man nicht losgelöst von der Logik des Marktes, des Profits und der sozialen Ungleichheit betrachten kann, ist, so die vielleicht nicht gerade originelle, aber in ihrer Einfachheit auch angenehm erdende Grundaussage von Glück, die Antwort auf die Frage, welcher Lebensweg mit Glück verbunden ist, letztlich die nicht planbare, immer wieder Überraschungen bereit haltende (Lebens-) Aufgabe eines jeden Einzelnen.

Bibliographische Angaben
Jackie Thomae: Glück, Claassen 2024
ISBN: 9783546100465

Bildquelle
Jackie Thomae, Glück
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderJens Steiner: Die Ränder der Welt

Jens Steiner, der in Ameisen unterm Brennglas (vgl. Rezension vom 15.10.2020) die Schweizer Gesellschaft detail- und spielfreudig mit einer Fülle an eigenwilligen Charakteren seziert hat, bewegt sich in seinem neuen, ähnlich verrückten, aber eine Spur melancholischeren Roman weit über die Ränder der Schweiz hinaus, bis nach Patagonien im Süden und bis nach Grönland im Norden. Und er führt seine Hauptfigur, Kristian, einen Schweizer mit estnischen Wurzeln, durch ein wildbewegtes Leben, das ihn auch in symbolischerem Sinne die Ränder des Daseins streifen lässt und an Grenzen führt, die schmerzhaft sind, aber doch immer wieder Neuanfänge aufscheinen lassen.

Zu Beginn der Erzählung befindet sich der mittelalte Ich-Erzähler Kristian auf dem Weg nach Christiansø, eine kleine dänische Insel inmitten der Ostsee. Es ist eine Reise, die er mit vielen Vorbehalten angetreten hat, nachdem er einen etwas merkwürdigen Brief seines Lebensfreundes und -feindes Mikkel erhalten hatte, der ihn nach Jahren des Schweigens und der Trennung wiedersehen will. Tatsächlich wird die Reise zum Auslöser für ausufernde Erinnerungen, die den Ich-Erzähler sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal neu erleben und rekapitulieren lassen. Dieser Rückblick auf ein halbes Leben, das die Geschichte des Buches wird, ist, so überschäumend-lebendig viele der vergangenen Erlebnisse geschildert werden, zugleich von einer großen Melancholie getragen, die nicht allein der psychischen Verfasstheit des Erzählers entspringt, sondern eine Art Grundton dieses Buches ist, das nicht nur die Geschichte einzelner Figuren erzählt, sondern auch das Porträt einer ganzen Zeit malt, von den 1950ern bis heute.

Die erste Erinnerung führt zurück ins Basel der 1950er Jahre, wo Kristian als Sohn estnischer Einwanderer eher zurückgezogen und im dunklen Bewusstsein eines Fremdseins in der Welt aufwächst. Sein überzähliger Finger an der einen Hand macht ihn in den Blicken der anderen zu einem Außenseiter. Kein Wunder, dass es etwas in ihm auslöst, als Mikkel, dessen dänische Familie ebenfalls eingewandert ist, Interesse an ihm bekundet. Die beiden werden Freunde und werden es viele Jahre, ja vielleicht ein Leben lang sein, doch ist es eine bewegte, eine unstete Freundschaft, die Kristian immer wieder aus der Bahn zu werfen droht, ihn mit Enttäuschung und sogar Verrat konfrontiert. Mikkel erscheint als ein höchst unzuverlässiger Charakter, mit dem eine große Nähe möglich ist, der aber immer wieder ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und von heute auf morgen, verschwindet, den Kontakt abbricht, um Monate später, als wäre nichts gewesen, wieder aufzutauchen. In der Schilderung dieser Freundschaft entsteht der Eindruck, als wäre die eigentliche Liebesgeschichte des Romans nicht die, die sich um die so extravagante wie zerbrechliche Grönländerin Selma dreht, die große Liebe Kristians, die er heiratet und wieder verliert (die er an Mikkel, seinen besten Freund, verliert!), sondern die nicht erotisch, aber hoch emotional erlebte Geschichte des sich Anziehens und Abstoßens der beiden Freunde Kristian und Mikkel.

Auf subtile Weise lässt die Erzählung ahnen, dass der untreue Freund vielleicht nicht die ganze Verantwortung für die Instabilität ihrer Freundschaft trägt, dass die unbestimmte Verlorenheit in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Ich-Erzähler verspürt, von anderswo kommt, vielleicht sogar weiter zurückreicht als sein eigenes Leben, dass sie, wie der überzählige Finger, auch Teil eines familiären, ja eines gesellschaftlichen Erbes sind. Symptomatisch sind das irgendwo in seinem Innern entstehende Summen, das den Ich-Erzähler schon als kleines Kind umgibt, auch ein Schwanken und Fallen, das ihn in Momenten der Verlorenheit immer wieder ganz physisch überwältigt — und das er übrigens mit einer anderen Figur, nämlich mit Selma, teilt, bei der uneindeutig bleibt, ob das Fallen als Manifestation einer Psychose oder als Sich-Aufbäumen der Freiheit gelesen werden muss.

In diesen Momenten des Fallens jedenfalls verschmelzen für die Figuren Außen- und Innenwelt, sie gelangen an die Ränder ihrer Wahrnehmung, und diese Grenzerfahrung erlebt man an manchen Stellen auch beim Lesen. Im Erzählen werden die Ränder der Welt der Fiktion aufgespürt, es wird uneindeutig, im Grunde auch unwichtig, was wirklich passiert und was imaginiert ist. Der sich erinnernde Erzähler nähert sich diesen Rändern in Form von Umrissen, von Konturen, die er seiner Erzählung gibt. Nicht zufällig ist der Roman auch ein Künstlerroman: Kristian begegnet der Skizzenhaftigkeit seines Daseins, der Welt, wie er sie erlebt, indem er impulsiv, fast zwanghaft, alles zeichnet, was ihn umgibt, ja, seine sechsfingrige künstlerisch so begabte Hand scheint hier immer wieder ein Eigenleben zu führen. In dieser Hinsicht erinnert er dann doch sehr an seinen Vater, einen Übersetzer aus dem Estnischen und großer Fabulierer, ein Spazierredner, wie es im Roman so schön heißt, der mit seinem Sohn lange Spaziergänge macht, die jedesmal zu ausufernden Rundgängen durch die Landschaften der Sprache und der (Familien-)Geschichte werden. Dieses Stromern übernimmt der Sohn auf seine Weise. Von Mikkel verlassen, verlässt auch er die Schweiz, geht nach Paris, später nach Kopenhagen, nach Italien, Argentinien. Doch dieses abenteuerliche, umherschweifende Leben entspringt weniger einer bewussten Entscheidung als der Kontingenz des menschlichen Daseins, ja es widerspricht auf den ersten Blick der großen Sehnsucht des Erzählers dazuzugehören, eine innere Heimat für sich zu finden. Jeder geographische Wechsel wird von einem Umbruch in seinem Leben ausgelöst, der ihn zum Spielball der Zeit und der Zeitgeschichte macht. Jens Steiner zeigt in diesem Roman, wie ein Einzelner in die gesellschaftlichen Wirren seiner Zeit gerät, die ihn bisweilen hinwegzufegen drohen und ihm, ohne dass er das beabsichtigt hätte, eine politische, soziale, künstlerische Haltung abverlangen, oder zumindest die fortwährende kritische Suche danach.

Um auf den Künstlerroman zurückzukommen: Kunst und Leben prallen in Die Ränder der Welt immer wieder aufeinander, sie sind nicht voneinander zu trennen und doch so schwer zu vereinbaren. Gesellschaftliche und kunstpolitische Entwicklungen seit der Nachkriegszeit spielen vielfach in die Geschichte hinein, prägen die turbulente Biographie des Erzählers, der verschiedenste Lebensentwürfe ausprobiert oder sie bei Freunden und Weggefährten veranschaulicht sieht. Es geht um das Leben als Kunstwerk, um Kunst als Sozialprojekt, um Anti-Kunst, um Nicht-Kunst, um den Verzicht auf Kunst zugunsten des sogenannten Lebens. Kristian selbst lässt sich zum Steinbildhauer ausbilden, lernt in Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Zeichner und später als Busfahrer in Patagonien. Und er begreift allmählich, dass die Kunst so wandelbar ist wie die Liebe, ein Lebensbegleiter, der sich nicht abschütteln lässt, die große Unbekannte, die einem so vertraut ist:

Ist Kunst ein Berühren der Welt, oder ist sie eine Flucht vor der Welt?
Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine große Lüge.

Jens Steiner, Die Ränder der Welt

Was den Roman über die nachdenklich stimmende Lebens- und Künstlergeschichte hinaus so lesenswert macht, ist die besondere Sprache, in der er verfasst ist. Jens Steiner schreibt eine poetische Prosa, die gleichzeitig sanft und überbordend ist. Er belebt die zahlreichen Orte, die im Roman, der ja auch ein Reiseroman ist, eine tragende Rolle spielen, indem er ein Panorama an Figuren schafft, an grotesken, schrägen, widerspenstigen Figuren, gleich ob sie sich innerhalb oder an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Der Text ist, um hier erneut ins Ausdrucksmedium der bildenden Kunst hinüberzuschweifen, wie eine mit den Farben des Expressionismus gemalte Meditation, über Liebe, Freundschaft, Familie, Kunst, wild skizziert und mit viel Liebe zum kuriosen Detail, in dem doch so viel Wahrheit steckt.

Bibliographische Angaben
Jens Steiner: Die Ränder der Welt, Hoffmann und Campe 2024
ISBN: 9783455017106

Bildquelle
Jens Steiner, Die Ränder der Welt
© 2024 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderChris Whitaker: In den Farben des Dunkels

In den Farben des Dunkels ist Krimi und Gesellschaftsroman in einem, ein sehr amerikanisches Romanepos, das nicht ganz ohne Pathos sehr viel Liebe in die Ausgestaltung der handelnden Figuren legt. Im Laufe der spannend konstruierten und die Neugier der Leser immer wieder geschickt schürenden Handlung entfaltet sich eine an Komplexität gewinnende Geschichte, die hinter den offensichtlicheren moralischen und individualpsychologischen auch gesellschaftspolitischen Fragen einen literarischen Diskussionsraum gibt.

Die Geschichte, die sich anfangs viele Seiten Zeit nimmt, anrührend die entstehende Freundschaft zweier Außenseiter, Saint und Patch, in einer Kleinstadt in den USA zu schildern, schlägt dann, schicksalsgleich, jäh um, als ein schlimmes Verbrechen geschieht. Patch beobachtet, wie ein Mädchen aus seiner Schule von einem Unbekannten angegriffen wird und geht dazwischen. Das Mädchen kann fliehen, Patch aber wird entführt und ist monatelang von der Bildfläche verschwunden. Später erfährt man, dass er die ganze Zeit in völliger Dunkelheit eingesperrt war. Seiner Freundin Saint gelingt es, ihn aus seiner Gefangenschaft zu befreien, der unbekannte Täter jedoch ergreift die Flucht. Danach ist alles anders, für den traumatisierten Jungen Patch ebenso wie für Saint, die verzweifelt an ihrer alten Freundschaft festzuhalten versucht, und auch für die gesamte Kleinstadt, die von weiteren Entführungen erschüttert wird. Patchs Version seiner Geschichte, und dies ist das zentrale psychologische Moment des Romans, glaubt niemand, alle halten seine Behauptung, nicht der einzige Gefangene gewesen zu sein, sondern den dunklen Raum mit einem Mädchen namens Grace geteilt zu haben, die ihn mit ihrer Stimme letztlich am Leben gehalten habe, für die Halluzinationen eines schwer traumatisierten Opfers. Patch wird sein Leben lang nach dieser geheimnisvollen Grace suchen und sein eigenes Leben ganz dieser Suche unterordnen, und Saint wird ihm dabei, aus Freundschaft, aus Liebe, zur Seite stehen, wird es in Kauf nehmen, dass ihre Gefühle nicht erwidert werden und dass auch ihr Leben einen ganz anderen Lauf nehmen wird.

Die private Mission wird dabei mehr und mehr eine gesellschaftliche, es geht um die Aufdeckung einer schrecklichen Serie von Mädchenmorden, die Patch und Saint auf ganz unterschiedlichen Wegen, die sich nur punktuell kreuzen, quer durch die USA führen. Gewalt an Frauen ist das zentrale Thema, das im Lauf der Handlung, im privaten und öffentlichen Raum, immer weiter ausdifferenziert wird. Ganz aus der Handlung heraus, und das ist wirklich die Stärke dieses fast ein wenig zu fesselnd geschriebenen Buches, entfalten sich weitere gesellschaftliche Dimensionen dieses Themas, Themen, die im Amerika der 1970er bis 1990er Jahre größtenteils tabuisiert wurden, es geht um ungewollte Schwangerschaften, um Abtreibungen, um Gewalt in der Ehe, um Scheidung, es geht auch um Homosexualität, um allein erziehende Väter und Mütter, und um die Abgründe der Todesstrafe.

Die meisten dieser wunden Punkte einer nach außen hin liberal auftretenden Gesellschaft werden im Roman eher skizziert, schraffiert, mehr angedeutet als auserzählt. Im Vordergrund steht das individuelle Erleben der Figuren, ihre Schicksale und ihr individueller Umgang damit. Und hier bleibt der Roman doch sehr im amerikanischen, westlichen Wunschbild des Individuums als selbstwirksamer, Schicksale schulternder und sich selbst ermächtigender aufrichtiger Charakter. Richtig handelt, wer unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen weiß, wer sich von der inneren Überzeugung tragen lässt, Courage zeigt. Und wer die Last des Schicksals ohne zu jammern trägt, dabei aber nicht resigniert, sondern sein Opferdasein in Handlungskraft verwandelt. An einigen Stellen scheint dahinter die Frage auf, wie weit ein solch resilientes und engagiertes Handeln in einem krisenhaften gesellschaftlichen Umfeld möglich ist, und welcher Preis, Einsamkeit, Isolation, Ächtung, dafür zu zahlen ist. Solidarität, Freundschaft, Liebe scheinen immer wieder auf, als Gegengift, als Leuchttürme, die dem strauchelnden Individuum im Dunkeln zurück auf den rechten Weg verhelfen können oder einfach nur zeigen, dass es auch in seinem Wahn, seiner Trauer, seiner Verzweiflung, nicht alleine ist. Das mag eine idealisierende Tendenz haben, dass es ins Kitschige gerät, wird aber durch eingebaute Unschärfen an den Rändern verhindert; Saints Liebe zu Patch etwa ist von ihrer Freundschaft nicht klar abzugrenzen, und auch bei vielen weiteren Figurenkonstellationen baut der Autor kleine Ambivalenzen ein. Patch übrigens arbeitet als Maler mit einer immer weiter reifenden Begabung daran, mit den Farben des Dunkels zu experimentieren und so die Unschärfe der Erinnerung zu überwinden, seiner eigenen an das Mädchen Grace und an alles, was sie über sich verriet, und in einem zweiten Schritt auch die ihm ganz fremder Leute, er nimmt Kontakt zu den Familien anderer Opfer auf und verwandelt in einer Art geteilter Trauerarbeit den schmerzhaften Verlust in Kunstwerke, die wiederum in die Realität übergreifen und eine wichtige Spur zur Aufklärung der Verbrechen werden.

Unschärfe und Andeutungsreichtum bekommen an manchen Stellen jedoch auch etwas Fragwürdiges, die zahlreichen historischen Katastrophen und Verbrechen, die quasi als Unterfütterung der fiktiven Handlungselemente immer wieder in die Erzählung gestreut werden, erinnern an vorbeirauschende Infoleisten im Fernsehen oder aufploppende Sensationsnachrichten im Netz. Auf fiktionaler Ebene werden etwa die Alkoholsucht von Patchs Mutter oder das Kriegstrauma seines Vaters ähnlich knapp abgehandelt. Da der Plot und das Erzeugen von Spannung letztlich klar Vorrang haben, drohen die gesellschaftspolitischen Themen an manchen Stellen in eine reißerische Katastrophenkulisse für die unbestritten aufwühlende und berührende Geschichte der Hauptfiguren zu erstarren.

Bibliographische Angaben
Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Piper, 2024
Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch
ISBN: 9783492071536

Bildquelle
Chris Whitaker, In den Farben des Dunkels
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderHelmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann

Trudi und Jacek sind ein Paar, sie sind es schon seit hundert Jahren und sie führen ganz schön scharfzüngige Wortwechsel, die zeigen, dass sie einander in ihren Stärken und Schwächen gut zu kennen scheinen. Und doch, so zeigt der Roman, scheint die Liebe auch nach Jahrhunderten ein Rätsel zu bleiben, und eine fortwährende Provokation. Was soll diese plötzliche Obsession Jaceks mit der historischen Jungfrau Jeanne d’Arc? Und wieso ist Trudi ernsthaft eifersüchtig auf eine ein halbes Jahrhundert ältere Frau? Doch während Jacek nicht von seinen Recherchen lässt und in seinen Träumen auf die Gefahr eines inneren Kontrollverlustes hin Kontakt zu Jeanne aufzunehmen versucht, geraten auch in der äußeren Welt die Dinge mehr und mehr außer Kontrolle. Ist ihnen jemand auf der Spur? Drohen sie, die Zeitreisenden, die Hüter über das Wissen, die Manipulateure des natürlichen Alterungsprozesses, enttarnt zu werden? Oder ist nun doch die Zeit gekommen, an der ihre Zeit ablaufen wird?

Helmut Kraussers Roman ist ein so ungewöhnlich wie spannend geschriebenes Experiment einer auf dem vieldimensionalen Feld der Literatur ausgetragenen Grenzüberschreitung. Das beginnt schon mit der Frage nach dem Genre. Wann das mit Jeanne begann ist ein historischer Roman, einerseits, er taucht tief in die Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts ein, entfaltet, auch im Rückgriff auf viele zeithistorische Dokumente und Stimmen, den Kosmos der Jeanne oder Jehanne d’Arc, die im Hundertjährigen Krieg für den französischen König gegen die Engländer kämpfte und später verraten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Stellenweise gewinnt der Text so geradezu dokumentarischen Charakter. Dabei belässt es der Autor jedoch nicht, vielmehr streut er von Anbeginn mit der Geschichte der fiktiven Figuren Trudi und Jacek fantastische Elemente ein, die dem scheinbar verbürgten Lauf der Geschichte ein Moment der Unsicherheit einhauchen und einem beim Lesen mehr und mehr zweifeln lassen, welche Gesetze denn noch ihre Gültigkeit haben. Kann Magie die Naturgesetze aushebeln? Birgt die vierte Dimension der Zeit geheime Kräfte, mit denen sich gar das Gesetz der menschlichen Sterblichkeit aushebeln lässt? Der Roman hat etwas Faustisches an sich, auch inhaltlich wird mit der Überschreitung von Grenzen gespielt: Im Zentrum steht das Wissen, verkörpert durch die Bibliothek, die in verschiedenen Zeiten erscheint, diesseits Moral und Ethik als eingeübter zivilisatorischer Umgang mit diesem Wissen, jenseits, eben transgressiv, das Begehren, mit diesem Wissen Macht und Unsterblichkeit zu erlangen. Oder einfach nur das Dasein in all seiner Fülle, in seiner Lust wie in seinem Schmerz, so allumfassend wie möglich zu spüren?

Ist die Zeit der Schlüssel zu diesem ersehnten Daseinsgefühl? In jedem Fall ist der Roman ein Zeitroman, der vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, der, wie die Figuren Trudi und Jacek, die Manifestationen von Wissen und Glauben und Aberglauben durch die Jahrhunderte sammelt, miteinander konfrontiert, prüft und verwirft, der, ebenfalls wie seine Figuren, die Zeit manipuliert, sie überlistet und ihr doch mit Haut und Haaren ausgeliefert ist. Doch durch das Vermischen der verschiedenen erzählerischen Ebenen, durch die Vielstimmigkeit des Textes, gelingt es ihm, die Zeit zumindest für die Dauer des Erzählens aus ihren Angeln zu heben und, dies auch über die Lesezeit hinaus, einen anderen Blick auf die Geschichte zu werfen. Denn von der berühmten Figur der Jehanne d’Arc schürft der Text weiter, bohrt er sich tiefer hinein in eine weniger erforschte Geschichte, und gelangt über den Klang des Namens und eine kleine Derrida’sche différance von Jehanne zu Jeanne, zur gleichfalls Legende gewordenen Piratin Jeanne de Belleville, die bereits ein Jahrhundert früher gelebt hat und in deren Herkunft die lautmalerische Frage des Romantitels eine Antwort zu finden beginnt. Historische Randfiguren, wie Jeannes Geschwister, ihre Mutter, deren Geliebter, werden in diesem Roman an die Oberfläche geholt, wandern durch die Geschichte und treiben ihr Unwesen. Allen voran eine Hexe, eine Schwarzmagierin, die alle Fäden der immer rasanter voranstürzenden Handlung in der Hand zu halten scheint. Und immer geht es dabei auch um die Liebe, um Begehren, und um Macht und Ohnmacht. So ist es nur stringent, wenn am Ende der Ursprung in einer aus dem Ruder gelaufenen Liebesgeschichte gefunden wird, wenn entlarvt wird, wie das Böse entsteht und sich nährt in einem frauenverachtenden, hierarchiestarren Kontext, der auf der Angst und dem Hass gegenüber Außenseitern beruht und in dem der Fremde, der Dunkelhäutige, der Behinderte und die unangepasste oder allzu selbständige Frau auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt werden.

Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann, Piper 2022
ISBN: 9783827014627

Bildquelle
Helmut Krausser, Wann das mit Jeanne begann
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner