bookmark_borderMichael Lentz: Heimwärts

Autofiktionale Verarbeitung von deutschen Familiengeschichten aus der Perspektive der Generation, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat, aber seine erdrückenden oder beengenden Folgen über die Eltern oder Großeltern noch zu spüren bekommt, scheint momentan wieder ein Trend auf dem Buchmarkt zu sein. Diese Texte, die sich, meist schmerzhaft, mal mit der ostdeutschen, mal mit der bundesdeutschen Gesellschaft, mit weiterwirkenden patriarchalen Machtstrukturen, mit versteckten Traumata, mit fragwürdigen Erziehungsmethoden, auseinandersetzen, sind stilistisch sehr unterschiedlich: die Spannbreite reicht von akribisch recherchierten Büchern mit vorwiegend dokumentarischem Charakter bis hin zu stark fiktionalisierten Romanen, in denen sich das erzählende Ich deutlich vom Autor abgrenzen lässt. Michael Lentz geht in Heimwärts noch einen anderen Weg, der deutlich selbstreferentielle, bisweilen poetologische Züge aufweist, das Erinnern und ihre Versprachlichung in vielen mäandernden Bildern selbst zum zentralen Gegenstand des Textes macht. Diese zugleich radikal subjektive und stark reflektierende, literarische Herangehensweise an die eigene Familiengeschichte ist einerseits bemerkenswert, andererseits führt die Gleichzeitigkeit von Innerlichkeit und poetologisch-philosophischem Anspruch in diesem Fall zu einer wohl auch bewusst herbeigeführten stilistischen Heterogenität, die intersubjektiv schwer greifbar ist, es also dem Leser nicht gerade einfach macht, der sich immer wieder entziehenden, richtungslos dahinfließenden Erzählung zu folgen, die auf einen dramaturgischen Spannungsbogen verzichtet und einen mitunter ein wenig die Orientierung verlieren lässt.

Gleichwohl ist der Text nicht ohne Struktur, die man vielleicht als diejenige des Schachtelteufels bezeichnen könnte. So wie der Erzähler schon als Kind von den Schachteln und Truhen und Regalen mit Einmachgläsern fasziniert ist, deren Inneres er im Haus der Eltern meist heimlich untersucht, erhebt er die Verschachtelung zum Prinzip seines Textes. Es ist ein Ineinander von mehreren Perspektiven, der kindlichen und der erwachsenen des Erzähler-Ichs, in die er, fast unmerklich, auch noch das Ich seines eigenen Kindes hineinschreibt; es ist auch ein Ineinander von Vorstellung und Wirklichkeit, von Halluzination und Traum, die in der Erinnerung oft kaum voneinander zu unterscheiden sind und dem Leser einen auch oft bedrückenden Einblick in die Psyche des kindlichen Erzähler-Ichs geben, die im sich erinnernden, schreibend nach Ordnung suchenden Erwachsenen weiterhin ihr „Unwesen“ treibt und der er mit den Mitteln der Sprache, der Literatur entgegenzugehen versucht — sowie in seiner, so scheint es immer wieder durch, als große Verantwortung empfundenen Rolle als Vater, als der er so ziemlich alles anders machen will als sein eigener Vater. Dass das Aufwachsen in den 60er und 70er Jahren in seiner Familie, bei seiner depressiven Mutter und seinem sich noch unmissverständlich als Patriarch verstehenden Vater von ihm zugleich als beklemmende Enge und fehlende emotionale Nähe erlebt wurde, davon sprechen die Erinnerungsbilder, die der Erzähler in vielen Variationen heraufbeschwört, eindrücklich. „Die jammernde Mutter. Der strafende Vater. Das nicht ausweichen könnende Kind.“, so heißt es im Text einmal. Der Mangel an Geborgenheit entspricht einem wiederkehrenden Missverstehen in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, und darüber hinaus in der Beziehung des Kindes mit der Welt, die sich — auch noch dem sich erinnernden Erzähler — als große Unordnung präsentiert, in der sich innen und außen nur selten miteinander in Einklang bringen lassen. Wenn die Zeit als „zunehmende Unordnung“ erlebt wird, leitet der Erzähler, schon als Kind, daraus ein Verständnis der Gegenwart ab, in der es seine Aufgabe ist, Ordnung herzustellen. Daher rührt die Bedeutung, ja die große Faszination, die Worte und Wörter, seit seiner sprachlichen Initiation des als ambivalent erlebten Lesenlernens, für den Erzähler haben. Während er in der mit der Sprache verbundenen Imaginations- und Assoziationskraft, ihrer Affinität zum Experiment, zur Gestaltung und ja, zur Anarchie, eine Form von Freiheit erfährt, die ihn aus der Enge des Elternhauses heraushebt, werden um ihn herum die Worte auch anders benutzt, als in sprachliche Klischees gehüllte Glaubenssätze und Machtinstrumente.

Indem der Erzähler kreativ mit der Sprache als Material umgeht, führt er das, was er als Kind, noch gefangen im magischen Denken, als immer auch von Furcht begleitetes emanzipatorisches Projekt begonnen hat, schreibend fort: eine ganz auf der Ebene der Sprache praktizierte Selbstsuche, eine Annäherung an die Wirklichkeit, die nicht mehr ausschließlich über eine Ordnung der Gegenwart erschließbar wird, sondern gleichfalls eine Annäherung an die Vergangenheit zur Bedingung hat. Diese Annäherung, als welche der Erzähler, und sicher auch der Autor Michael Lentz, die Erinnerung versteht, ist ein letztlich unabschließbarer, bruchstückhaft bleibender Prozess, der für ihn nur über die Sinnlichkeit der Gegenstände — als welche auch die Worte erscheinen — vorangetrieben werden kann. Der Erzähler hangelt sich an der Sprache entlang, an Ausdrücken, die er in Metaphern verwandelt und die ihm zu Erkenntnis- oder vielleicht eher Annäherungsinstrumenten werden, um die als so flüchtig wie manipulierbar wahrgenommene Erinnerung irgendwie greifen zu können. Der Text, der so sehr um Sprache kreist, übt auf einer weiteren Ebene fast permanent Sprachkritik als Erkenntniskritik, und er legt ein Misstrauen gegenüber der Erinnerung an den Tag, das nur scheinbar im Widerspruch dazu steht, dass das ganze Buch als mäandernder Erinnerungsfluss konstruiert ist. Vielmehr tritt auf diese Weise das Kippbare als das Eigentümliche der Erinnerung hervor, die sich vielleicht besser über die Sinne und Gefühle erfassen lässt als über das rationale Bewusstsein. So sind auch die Worte, gleich den Gegenständen aus der Kindheit, die wie der bunt zusammengewürfelte Inhalt einer alten Spielzeugtruhe nacheinander zum Inhalt der einzelnen Kapitel werden, mit ambivalenten Gefühlen, mit Begehren wie mit Angst, verknüpft; auch die zunehmend bedrohlich wirkende Zerstörungswut des Kindes führt den schmalen Pfad vor, auf dem der Erzähler in seiner fragil erlebten Erinnerung wandelt. Das Anarchische hat eine konstruktive und ebenso eine destruktive Seite, es schafft Freiräume und vernichtet; genauso hat die Wut eine Kehrseite, verwandelt sich in manchen Momenten in ein Empfinden von Angst und Verlorenheit.

Durch eine Art mikroskopisches Erzählen, einem Erzählen mit vielen Details und Verästelungen, wird der begrenzte Raum des Kindes, die Bedrückung und Enge, die es verspürt, sprachlich vermittelt; die Beschreibungen sind teilweise minutiös, wie mit der Lupe werden hier einzelne kleinste Szenen und Stillleben aus dem Alltag einer Familie in den 1960er Jahren vergrößert und auf fast ein bisschen unheimliche Weise verlangsamt. Diesem sezierenden Schauen wohnt immer etwas Heimliches, etwas Verbotenes inne, ein Gefühl, das den Jungen von damals im Haus seiner Eltern niemals loslassen mag. Gleichzeitig ist sein Erkundungsdrang übermächtig, akribisch wird der Inhalt einer alten Truhe mit Erinnerungsstücken der Mutter ebenso auseinandergenommen wie ein Regal mit Quittengelee im Keller oder ein Insektengefängnis; und immer wird von da aus sprachlich eine Welt aufgemacht, eine Welt der Erinnerung, der Gefühle, der Beobachtungen und der minimalen Grenzüberschreitungen. Jede dieser mikroskopischen Untersuchungen, für die der Erzähler intensiv das Stilmittel der Metapher einsetzt, zeigt, wie nahe Konstruktion und Destruktion beieinander liegen, wie sie sich in der Psyche des Kindes vermischen, das sich — gewissermaßen noch im exzessiven Lernprozess der symbolischen Formen — aus den Lexika der Erwachsenen komplizierte Wörter „stiehlt“ und das seine eigenen Rachepüppchen herstellt, um die Spannungen in der Familie zu kanalisieren und zu transformieren. Mit der Materialität der untersuchten Gegenstände, mit der Körperlichkeit seiner Metaphern führt Michael Lentz einem die schmerzhafte Körperlichkeit der Einsamkeit vor Augen, mit der sein Erzähler einen Umgang sucht, offenbart er ohne pathetische Affirmationen, einfach mit dem Mittel der Sprache, ein tief verletztes, ein angegriffenes Ich. Ein Ich, das zwischen Enge und Verlorenheit, zwischen Last und Verflüchtigung, zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit hin und herpendelt, das einerseits das Gewicht des Vererbten, des transgenerationell weitergegebenen Traumatischen, der überholten Erziehungsstile wie der alten Gegenstände als erdrückende Last verspürt, und andererseits das Verblassen der noch nicht ausreichend verstandenen oder verarbeiteten Vergangenheit wie der Gegenwart, das Unzuverlässige einer sich kontinuierlich entziehenden Erinnerung. Michael Lentz verwandelt in seinem jedoch nicht leicht zugänglichen Buch diese so subjektive wie generationelle Erfahrung in Literatur und schreibt ein mikroskopisches Kapitel der bundesdeutschen Geschichte, indem er anstelle von historischen Fakten die tieferen Schichten der Psyche erforscht und einen Einblick gibt in das Unterbewusstsein einer Generation.

Bibliographische Angaben
Michael Lentz: Heimwärts, S. Fischer Verlag 2024
ISBN: 9783103975185

Bildquelle
Michael Lentz, Heimwärts
© 2024 S. FISCHER Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderDaniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Während Sylvie Schenk ihren autofiktionalen Roman Maman (vgl. Rezension vom 12.3.2023) erst schreiben konnte oder wollte, nachdem ihre Mutter gestorben war, geht Daniela Dröschers Erzählerin in dem gleichfalls autofiktionalen Roman Lügen über meine Mutter immer wieder ins Gespräch mit ihrer Mutter. Die Themen, die mit dem Nachdenken über das Leben der eigenen Mutter verbunden werden, auf das die erwachsenen Töchter einen neuen Blick zu werfen versuchen, fragend, suchend, korrigierend, sind in beiden Texten sehr ähnliche. Es geht um Frauen- und Rollenbilder und um Machtverhältnisse, um Dynamiken innerhalb von Familien und, insbesondere bei Daniela Dröscher, den Einfluss des Blicks von außen, der Familienmitglieder, der Gesellschaft, auf die eigenen Werturteile und Verhaltensweisen. Freilich gehört Daniela Dröscher einer anderen Generation an als Sylvie Schenk, deren Mutter zwei Weltkriege erlebte. Die historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen sind in den 1980er Jahren, in denen Lügen über meine Mutter spielt, andere, auch für Frauen, die Mütter sind; von Gleichheit in der Rollenverteilung ist man aber immer noch weit entfernt, die Kategorie Geschlecht wird auch in der Zeit, in der die Erzählerin aufwächst, von einer hierarchischen Struktur bestimmt, deren Auswirkungen auf Körper und Psyche Daniela Dröscher in ihrem Roman auf zugleich schonungslose und einfühlende Weise nachspürt.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die die vier Jahre von 1983 bis 1986 umfassen, während denen die Erzählerin im Grundschulalter ist. Die erzählte Zeit beschränkt sich also auf einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben von Mutter und Tochter, doch auch wenn nicht ab ovo erzählt wird, hat der Text in seinen fiktionalen Passagen durchaus die Anmutung eines den Leser mit sich ziehenden Romans. Die Autorin nimmt hier die Perspektive der Tochter als kleines Mädchen ein, das mit einem frischen, noch weitgehend vorurteilsfreien Blick auf das schaut, was in ihrer Familie passiert, auf ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, auf das ganze kleine Dorf im Hunsrück, in dem sie ihre Kinderjahre verbringt. Dieser Kinderblick hebt, gerade weil er die Hintergründe nicht erfasst, sondern in kindlicher Ehrlichkeit das kundtut, was sichtbar ist, die Willkür des väterlichen Umgangs mit der Mutter umso klarer hervor, die absurde Logik, mit der der Vater das Körpergewicht der Mutter für das Stocken seiner eigenen beruflichen Karriere verantwortlich macht, das Ausmaß des psychischen Drucks, den er ausübt, wenn er seine Ehefrau immer wieder zu Diäten und zur peinlichen Kontrolle mit der Waage zwingt. Aus dem Subtext der Erzählung geht hervor, dass sich hinter der Fixierung auf den als zu dick verurteilten weiblichen Körper vielschichtige andere Konflikte zwischen den Eheleuten verbergen, etwa die unterschiedliche Herkunft; der Vater ist in einer kleinbürgerlich-ländlichen Familie im Westen aufgewachsen, die Mutter stammt aus Schlesien, ihre Eltern sind in der Nachkriegszeit zu Geld gekommen. So verschmelzen verschiedene Brennpunkte der Ungleichheit, Geschlechterrollen, Herkunft, Finanzen zu einem konfliktreichen Herd, in dessen schwelender Glut, nicht zuletzt, da auch die Mutter wieder eine Arbeit aufnimmt, mit der sie zeitweise besser verdient als ihr Mann, unterbewusst permanent in einem verletzungsreichen Kampf um Machtstrukturen und Würde gerungen wird.

In diese fiktionale Erzählung aus Sicht der Tochter schiebt sich in kürzeren, kursiv gesetzten Passagen zwischen den Kapiteln immer wieder die reflektierende, einordnende Stimme der erwachsenen Tochter, die Schriftstellerin geworden ist und in ihrer eigenen Biographie und in der ihrer Mutter nach Spuren sucht, mit denen sich das Erlebte des Kindes nachträglich neu sortieren und bewerten lässt. Diese kritische Wahrnehmung der erwachsenen Tochter greift im Übrigen auch in den aus der Perspektive des Kindes erzählten Text ein, in dem nämlich immer wieder bestimmte Redewendungen und klischeehafte Ausdrücke kursiv gesetzt werden, die das Kind unbewusst und unhinterfragt aus dem Wortschatz der Erwachsenen übernommen hat und die bereits wertend verwendet werden. Durch den Kursivdruck wird deutlich, wie viele Stereotype die Sprache durchziehen und in welchem Maße man von den Ansichten der Familie und der Gesellschaft geprägt wird. So sieht die kleine Tochter ihre Mutter beim gemeinsamen Schwimmbadbesucht mit dem unbewusst übernommenen Blick des Vaters und empfindet eine eigentlich ganz unangebrachte Scham; ihr Vater wiederum betrachtet seine Frau mit dem Blick der Gesellschaft der 1970er und 80er Jahre, deren Ideal eines schlanken, sportlichen Körpers er verinnerlicht hat.

Lügen über meine Mutter ist ein scharfsichtiger und trotz der analytischen Tiefenschärfe auch mit Wärme erzählter Text, nicht zuletzt auch eine Hommage, oder, um mir hier eine Wortneuschöpfung zu erlauben, eine Femmage an die Mutter, die, so geht es indirekt aus dem Text, der das Gegenteil einer Idealisierung ist, hervor, eine starke, bewundernswerte Frau war, die ihre Kinder und die eigene an Alzheimer erkrankte Mutter versorgte, Geld verdiente, nach der fixen Idee ihres Mannes maßgeblich den Hausbau unterstützte und schließlich auch noch ein Pflegekind aufnahm.

Bibliographische Angaben
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter, Kiepenheuer & Witsch 2022
ISBN: 9783462001990

Bildquelle
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderAnne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

Anne Rabe hat eine Familiengeschichte geschrieben, die, so aufwühlend wie ein Roman, doch eigentlich mehr dokumentarisch-essayistischen Charakter hat. Es geht um die moralischen und emotionalen Abgründe, die sich in der Generation der vor und während dem Krieg aufgewachsenen Generationen auftun und die, heimlich, still und leise, an die folgenden Generationen weiter gegeben werden; um Lebenslügen und Ausflüchte, um den sehnsüchtigen Wunsch und die eitle Einbildung, es besser zu machen, besser zu sein, nur um dann doch wieder ohnmächtig angesichts neuer Verwerfungen dazustehen.

Die Erzählerin, kurz vor der Wende geboren, geht diesen in der eigenen Familie erlebten Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten aus der Perspektive der Nachgeborenen auf den Grund, genauer gesagt aus der Perspektive der ostdeutschen Nachgeborenen. Das Buch gibt somit auch einen tiefen und sozusagen volksnahen Einblick in die Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. Und dieser auch sehr persönliche Blick ist ein mutiger, da er sich, nach Erkenntnis verlangend, der Verletzlichkeit aussetzt.

In diesem Text, der ein eigenartiges Zwitterwesen zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen Geschichtsphilosophie und szenischer Handlung darstellt, zwischen Gesellschaftsanalyse und mit Bedacht biographisch gestaltetem Einblick in den intimen Raum des Privaten, waren für mich die Stellen am schrecklichsten und eindrücklichsten zu lesen, an denen die Erzählerin schildert, wie lieblos, wie brutal über mehrere Generationen hinweg die Kinder erzogen wurden. Schwärzeste Pädagogik in der naiven, selbstgerechten, verzweifelten und auf jeden Fall, so zeigt Anne Rabe, auch ideologischen Verblendung, dabei das Beste für die Familie und die Gesellschaft zu tun. Hier, im intimsten Kern der Gesellschaft, zeigt sich, dass politische Ideologien und Machtstrukturen ins Privateste hineinreichen. Anne Rabes nicht nur ostdeutsche Familiengeschichte lässt keine Ausflüchte mehr zu, wie die Erzählerin, die ihrer Empörung folgt, sind wir alle, ob versehrt oder verschont, in der per se politischen Verantwortung hinzuschauen und zu fragen.

Bibliographische Angaben
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück, Klett-Cotta 2023
ISBN: 9783608984637

Bildquelle
Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück
© 2023 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderSylvie Schenk: Maman

Die berühmteste Maman der Literaturgeschichte findet sich wohl bei Marcel Proust, der den jeden Abend so sehnsüchtig erwarteten und ob seiner Vergänglichkeit gefürchteten mütterlichen Gutenachtkuss zum emotionalen Zentrum der verlorenen Kindheit seines Erzählers macht. Die Beziehung zur Mutter, die bei Proust, zwischen Liebesbedürfnis und Sich-Entziehen, auch ein Grundmuster des gesamten Romanwerks darstellt, scheint überhaupt ein wiederkehrendes Thema der Literatur zu sein, auch Simone de Beauvoir oder Annie Ernaux haben zum Beispiel inspirierende literarische Texte aus diesem ursprünglich ja zutiefst biographischen Stoff gemacht. Auffällig ist dabei der Zusammenhang zwischen dem Tod der Mutter und der Motivation zum Schreiben — Gleiches gilt auch für Sylvie Schenk und ihren neuen Roman Maman.

Das Verhältnis der schon lange in Deutschland lebenden französischen Autorin zu ihrer Mutter war ein vielleicht noch ambivalenteres; im Gegensatz zu Prousts Erzähler schildert sie keine Erinnerungen an vergleichbare intime Momente mit ihrer in Romangestalt verwandelten Maman. Dieses Fehlen von Warmherzigkeit und Innigkeit in der Beziehung zu ihrer Mutter, die immerhin fünf Kinder großgezogen hat, wird, so lese ich den Text, zum Antrieb der Autorin für ihr Schreiben. Sylvie Schenks Erzählerin schreibt erkundend, erkundet schreibend die Vergangenheit ihrer Familie und ihr Nachwirken auf die Gegenwart. Sie streift das Leben, die gescheiterten Beziehungen und die Mutterschaft ihrer Schwestern, vor allem aber rekonstruiert sie das Leben ihrer Mutter, Renée, und ihrer Großmutter, Cécile. Dabei stößt sie auf viele Leerstellen, zum einen, weil sie, wie es das nur zum Teil selbstverantwortete Schicksal der meisten Kinder ist, nicht rechtzeitig danach gefragt hat, zum anderen war ihre Mutter aber auch alles andere als gesprächig in Bezug auf die Vergangenheit und sich selbst. Noch weniger Worte hatte die Mutter ihrer Mutter, die unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war. So ist es fast folgerichtig, dass Sylvie Schenk nicht in ihrer Muttersprache schreibt, in ihrer französischen „langue maternelle“, als ob es für diese Geschichte gar keine solche gibt.

Genauso folgerichtig ist es, dass dieses Buch, dass die Geschichte ihrer Familie erzählt, nur bedingt dem Genre der Autofiktion angehört, nämlich nur mit besonderem Fokus auf das Element der Fiktion. Die Erzählerin lässt mehrfach verschiedene Versionen oder Interpretationen zu, am deutlichsten im Falle der vermuteten kurzen Liebesaffäre ihrer Mutter während der Kriegsjahre, infolge derer sie ihren Verlobungsring verpfändet hatte und vorübergehend vor ihrer Ehe und Familie geflüchtet war. Verschiedene kursierende Gerüchte werden skizziert oder angedeutet, von denen sich die Autorin zwar bewusst für eine Version, die ihr für ihre Fiktion am geeignetsten erscheint, entscheidet, ihr Vorgehen aber zugleich offenlegt. Ihre Rekonstruktion der Vergangenheit ist letztlich eine fiktive, und es entsteht ein sehr lebendiger Text, romanesk, mitreißend, und zugleich einordnend und reflektierend, so dass trotz der schicksalsreichen Lebensgeschichte(n) an keiner Stelle Rührseligkeit aufkommt, sehr wohl aber Mitgefühl.

Ihre Mutter Renée, auf französisch die „Wiedergeborene“, wurde in Lyon als Tochter einer einfachen Arbeiterin geboren, die als Zubrot wohl auch ihren Körper verkaufte und infolge ihrer dritten Geburt noch im Krankenhaus starb. Die kleine Waise wuchs die ersten sechs Jahre ihres Lebens unter wie man heute sagen würde traumatischen Bedingungen auf. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, ein Paar auf dem Land, das seinen Sohn im Krieg verloren hatte, nahm Renée gegen Geld bei sich auf. Allem Anschein nach, das heißt, der spärlichen Aktenlage zufolge, wurde sie dort vernachlässigt, ausgebeutet und wohl auch misshandelt und missbraucht, ehe sie zurück nach Lyon kam, zu Pflegeeltern, die sie, als das gesetzlich möglich war, auch adoptierten. Die plötzliche, bis dahin unbekannte Zuwendung und Liebe, die sie von ihren neuen Eltern bekommt, kann das kleine Mädchen, emotional überfordert, gar nicht richtig einordnen; auch in der Schule und mit ihren Mitschülern tut sie sich schwer. Sie heiratet jung, bekommt insgesamt fünf Kinder, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, und scheint erst ein wenig Erleichterung in ihrem Leben zu verspüren, als die ehelichen Pflichten nach der Geburt des letzten Kindes an Bedeutung verlieren.

Sylvie Schenk zeichnet das Leben ihrer Mutter als das einer Frau, einer Gattin, einer Mutter nach, und dabei öffnet sich die traurige individuelle Geschichte Renées auf einen größeren Horizont von weiblichen Daseinsformen, deren Vielfalt auch die Frage nach dem Grad der Schicksalshaftigkeit, der historischen und gesellschaftlichen Gebundenheit, und der Freiheit, des individuellen Spielraums, aufkommen lässt. So wie sich auch Schenks Roman nur als eine Lesart, eine Annäherung an das Leben der Mutter versteht. Vor allem soll die Geschichte der Mutter keine Opfergeschichte werden, als Protagonistin von Schenks Roman wird sie weder verurteilt noch freigesprochen.

Einnehmend sind besonders Sprache und Stil, in dem die Autorin ihren Text verfasst hat; dass sie nicht in ihrer französischen Muttersprache schreibt, verleiht ihr ein anderes Gespür für die Sprache und ihre Wendungen, wie man das im Übrigen immer wieder bei Schriftstellern beobachten kann — die Dramatiker des absurden Theaters, Beckett, Ionesco, und ihre sprachlichen Dekonstruktionen fallen einem hier sofort ein. So weit geht Sylvie Schenk freilich nicht, aber ihr offener, direkter, unverklemmter, jugendlich sprudelnder Stil, der trotzdem sensibel und feinsinnig ist, machen Maman zu einem mehr als lesenswerten Text.

Bibliographische Angaben
Sylvie Schenk: Maman, Hanser 2023
ISBN: 9783446276239

Bildquelle
Schenk, Maman
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderAyad Akhtar: Homeland Elegien

Auch literarische Gattungsbezeichnungen dienen natürlich dazu, dem Leser Orientierung zu geben und ihm eine Wiederkehr an einen vertrauten Ort zu versprechen. Ganz besonders ist das bei der gegenwärtig wohl beliebtesten Gattung „Roman“ der Fall, zu welcher auch Ayad Akhtars neues Buch gehören soll. Doch die Literatur als Kunstform entzieht sich nicht selten einer solch eindeutigen Zuordnung, ja kann vielmehr gerade durch einen stilistisch gewandten individuellen, ästhetisch freien Umgang mit Sprache und Struktur an literarischer Bedeutung gewinnen.

Der Autor der Homeland Elegien erweist sich nun gerade in diesem Buch als ein Schriftsteller, der sich Einordnungen aller Art immer wieder entzieht, ein natürliches Misstrauen gegenüber einfachen Zuschreibungen hegt und mit Genuss die Widersprüche und die mal staunenswerte, mal irritierende Vielfalt, die sich dahinter verbergen, zu Tage treten lässt. So wäre, obwohl Akhtar seinem Ich-Erzähler seinen eigenen Namen gegeben hat, auch die Bezeichnung „Autobiographie“ zu kurz gegriffen, da eine Herzensangelegenheit des Autors gerade darin besteht, Fiktion und Realität, Autor und Werk, nicht vorschnell in eins zu setzen, wie das bei seinen Theaterstücken in der Vergangenheit bereits passiert ist. Nicht zuletzt ist der Text auch eine künstlerisch freie Stellungnahme zu all den in der geschwätzigen (sozialen) Medienwelt kursierenden Spekulationen über den Autor preisgekrönter und zugleich umstrittener Dramen (v.a. Disgraced aus dem Jahr 2012 über muslimische Einwanderer in Amerika). Man könnte nun eine ganze Weile weitersuchen und Begriffe wie Autofiktion, literarischer Essay, anekdotenhafte Memoiren, humoristisch-philosophisches Tagebuch gegeneinander abwägen, um sich der Besonderheit seines Textes zu nähern. Vielleicht aber kommt man diesem intellektuell erfrischenden Buch, das einen immer wieder zum Lachen bringt und charmant provokant und hellsichtig auch den empörendsten Verhaltensweisen auf den Grund geht, eher mit den folgenden Zeilen aus dem Text selbst auf die Spur. Das autofiktionale Ich beschreibt hier, welcher Art die Notizen sind, die es sich — vielleicht ähnlich wie der Autor — immer wieder über die Erlebnisse und Eindrücke des Tages macht:

Die Technik, die ich für diese Aufzeichnungen anwendete, verdankte viel dem Traumtagebuch, das ich jahrelang geführt hatte. Ich kümmerte mich nicht um die Chronologie und legte großen Wert auf Details. Je lebendiger ein Fragment, ein Geräusch, ein Bild war — und je gründlicher ich es sprachlich verarbeitete –, desto ergiebiger war das Assoziationsfeld, das es erzeugte. Der Prozess war nicht intuitiv; es war, als würde ich die ursprünglichen Sedimentschichten auf einem zutage geförderten Erzklumpen identifizieren. Der Geist erinnerte sich an das Wesentliche und vergaß die Schlacke, doch gerade die enthielt so viel Leben.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Eben diese chronologische Freiheit und diese tief unter der scheinbar glatten Oberfläche grabende Detailversessenheit sind charakteristisch für den Stil des ganzen Buches, das in großen thematischen Kapiteln einzelne Episoden aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers, seiner Freunde und insbesondere seiner eigenen Familie enthält, in denen das Dialogische stark in den Vordergrund tritt und den intelligenten, alles hinterfragenden und sehr oft (selbst)ironischen Reflexionen des Erzählers eine bestechende Anschaulichkeit verleiht. In dieser komplexen und unorthodoxen Form gelingt dem Autor ein tiefer, subtiler und einfach hochinteressanter Einblick in die latenten psychologischen und gesellschaftlichen Antriebe und Widersprüche, Bedürfnisse und Ängste der amerikanischen Bevölkerung der Gegenwart. Ob es um Verwerfungen im Bereich des Gesundheitssystems, des Finanzsektors oder um die himmelschreiende Ungleichheit zwischen ländlichen und städtischen Regionen geht, immer wieder dringt er am ganz individuellen menschlichen Beispiel auch zu ökonomischen Strukturen vor, die das Denken, die (Vor-)Urteile und Verhaltensweisen der Menschen nachhaltig beeinflussen.

Bei all seinen Beobachtungen, die in einem Ton verfasst sind, in dem frech und ernsthaft, Anteil nehmend und kritisch entlarvend, involviert und analysierend, schmerzhaft und ironisch-witzig keinen Widerspruch bilden, stehen die einzelnen Menschen und ihre individuellen Geschichten im Vordergrund. Letztlich werden auch die abstrahierenden Schlüsse, die der sich gleichfalls immer wieder selbst in seinen Motiven und Urteilen erforschende Ich-Erzähler daraus zieht, nicht als endgültige Wahrheiten präsentiert. Allen porträtierten Verhaltensweisen liegen Biographien zugrunde, die zwar einiges erklären, doch sowohl in sich Brüche und Widersprüche aufweisen, so dass ein gebildeter muslimischer Kardiologe wie sein Vater eine Zeitlang Donald Trump verfallen ist, als auch untereinander kaum pauschal miteinander verglichen werden können. Es steht dem Autor fern, sich von einer bestimmten Gruppe oder einem Kollektiv vereinnahmen zu lassen. Gleichwohl er durchaus intensiv ergründet, inwiefern auch seine eigene Herkunft ihn in seinem Denken und Fühlen beeinflusst und gleichwohl er zahlreiche scheinbar alltägliche Situationen eines schmerzhaft am eigenen Leibe erfahrenen Rassismus schildert, erhebt er das Thema „race“ nicht zur identitätsstiftenden Maxime. Der Blick bleibt konsequent auf den einzelnen Menschen gerichtet und erreicht doch gerade dadurch eine umso ausgeprägtere Differenziertheit und Diversität, die der Autor schon in den so divergierenden Ansichten in seiner eigenen Familie erlebt.

Wenn ich überhaupt etwas in der albernen Schwärmerei meines Vaters für Trump sah, dann ein menschliches Element — schwach und irrational –, und das passte nicht in das klare Bild, das Mike vom Geist Amerikas zeichnete. Als Künstler vertraute ich eher dem Durcheinander.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Gerade diese widerspenstige Detailversessenheit aber macht das Buch so sympathisch und so bereichernd! Und vor allem auch zu einem großen literarischen Kunstwerk, das — so die selbstverständlich auch keineswegs unhinterfragte These der Literaturprofessorin des Ich-Erzählers — die Welt vielleicht nicht gleich besser macht, aber doch bestimmt ein wenig die Augen zu öffnen vermag und so die beste Illustration dieser in die Kunst vertrauenden These darstellt.

Bibliographische Angaben
Ayad Akhtar: Homeland Elegien, Claassen (2020)
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
ISBN: 9783546100144

Bildquelle
Ayad Akhtar, Homeland Elegien
© 2020 Claassen in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderPhilippe Lançon: Der Fetzen

Philippe Lançon hat das Attentat auf Charlie Hebdo mit einer schweren Verletzung überlebt. Dieses Überleben macht er zum Thema seiner Aufzeichnungen, deren bisweilen schockierende Offenheit dem Leser sehr nahe geht. Er schildert auf nachdenkliche und sehr feinsinnige Weise die zahlreichen Herausforderungen, vor die ihn die Wiedereingliederung in das „normale“ Leben stellt. Hilfe findet er bei Kafka und Proust, aber auch durch die vielen neuen Bande, die er mit Chirurgen und Personenschützern knüpft. Innen und außen spiegeln sich dabei, sein Gesicht besteht aus ebensolchen Fetzen wie sein neues Leben, das gewaltsam vom alten getrennt wurde. 

Bibliographische Angaben
Philippe Lançon: Der Fetzen, Tropen (2019)
Aus dem Französischen von Nicola Denis, Originaltitel: Le lambeau (Gallimard)
ISBN 9783608504231

Bildquelle
Philippe Lançon, Der Fetzen
© 2019 Tropen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner