bookmark_borderSylvie Schenk: Maman

Die berühmteste Maman der Literaturgeschichte findet sich wohl bei Marcel Proust, der den jeden Abend so sehnsüchtig erwarteten und ob seiner Vergänglichkeit gefürchteten mütterlichen Gutenachtkuss zum emotionalen Zentrum der verlorenen Kindheit seines Erzählers macht. Die Beziehung zur Mutter, die bei Proust, zwischen Liebesbedürfnis und Sich-Entziehen, auch ein Grundmuster des gesamten Romanwerks darstellt, scheint überhaupt ein wiederkehrendes Thema der Literatur zu sein, auch Simone de Beauvoir oder Annie Ernaux haben zum Beispiel inspirierende literarische Texte aus diesem ursprünglich ja zutiefst biographischen Stoff gemacht. Auffällig ist dabei der Zusammenhang zwischen dem Tod der Mutter und der Motivation zum Schreiben — Gleiches gilt auch für Sylvie Schenk und ihren neuen Roman Maman.

Das Verhältnis der schon lange in Deutschland lebenden französischen Autorin zu ihrer Mutter war ein vielleicht noch ambivalenteres; im Gegensatz zu Prousts Erzähler schildert sie keine Erinnerungen an vergleichbare intime Momente mit ihrer in Romangestalt verwandelten Maman. Dieses Fehlen von Warmherzigkeit und Innigkeit in der Beziehung zu ihrer Mutter, die immerhin fünf Kinder großgezogen hat, wird, so lese ich den Text, zum Antrieb der Autorin für ihr Schreiben. Sylvie Schenks Erzählerin schreibt erkundend, erkundet schreibend die Vergangenheit ihrer Familie und ihr Nachwirken auf die Gegenwart. Sie streift das Leben, die gescheiterten Beziehungen und die Mutterschaft ihrer Schwestern, vor allem aber rekonstruiert sie das Leben ihrer Mutter, Renée, und ihrer Großmutter, Cécile. Dabei stößt sie auf viele Leerstellen, zum einen, weil sie, wie es das nur zum Teil selbstverantwortete Schicksal der meisten Kinder ist, nicht rechtzeitig danach gefragt hat, zum anderen war ihre Mutter aber auch alles andere als gesprächig in Bezug auf die Vergangenheit und sich selbst. Noch weniger Worte hatte die Mutter ihrer Mutter, die unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war. So ist es fast folgerichtig, dass Sylvie Schenk nicht in ihrer Muttersprache schreibt, in ihrer französischen „langue maternelle“, als ob es für diese Geschichte gar keine solche gibt.

Genauso folgerichtig ist es, dass dieses Buch, dass die Geschichte ihrer Familie erzählt, nur bedingt dem Genre der Autofiktion angehört, nämlich nur mit besonderem Fokus auf das Element der Fiktion. Die Erzählerin lässt mehrfach verschiedene Versionen oder Interpretationen zu, am deutlichsten im Falle der vermuteten kurzen Liebesaffäre ihrer Mutter während der Kriegsjahre, infolge derer sie ihren Verlobungsring verpfändet hatte und vorübergehend vor ihrer Ehe und Familie geflüchtet war. Verschiedene kursierende Gerüchte werden skizziert oder angedeutet, von denen sich die Autorin zwar bewusst für eine Version, die ihr für ihre Fiktion am geeignetsten erscheint, entscheidet, ihr Vorgehen aber zugleich offenlegt. Ihre Rekonstruktion der Vergangenheit ist letztlich eine fiktive, und es entsteht ein sehr lebendiger Text, romanesk, mitreißend, und zugleich einordnend und reflektierend, so dass trotz der schicksalsreichen Lebensgeschichte(n) an keiner Stelle Rührseligkeit aufkommt, sehr wohl aber Mitgefühl.

Ihre Mutter Renée, auf französisch die „Wiedergeborene“, wurde in Lyon als Tochter einer einfachen Arbeiterin geboren, die als Zubrot wohl auch ihren Körper verkaufte und infolge ihrer dritten Geburt noch im Krankenhaus starb. Die kleine Waise wuchs die ersten sechs Jahre ihres Lebens unter wie man heute sagen würde traumatischen Bedingungen auf. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, ein Paar auf dem Land, das seinen Sohn im Krieg verloren hatte, nahm Renée gegen Geld bei sich auf. Allem Anschein nach, das heißt, der spärlichen Aktenlage zufolge, wurde sie dort vernachlässigt, ausgebeutet und wohl auch misshandelt und missbraucht, ehe sie zurück nach Lyon kam, zu Pflegeeltern, die sie, als das gesetzlich möglich war, auch adoptierten. Die plötzliche, bis dahin unbekannte Zuwendung und Liebe, die sie von ihren neuen Eltern bekommt, kann das kleine Mädchen, emotional überfordert, gar nicht richtig einordnen; auch in der Schule und mit ihren Mitschülern tut sie sich schwer. Sie heiratet jung, bekommt insgesamt fünf Kinder, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, und scheint erst ein wenig Erleichterung in ihrem Leben zu verspüren, als die ehelichen Pflichten nach der Geburt des letzten Kindes an Bedeutung verlieren.

Sylvie Schenk zeichnet das Leben ihrer Mutter als das einer Frau, einer Gattin, einer Mutter nach, und dabei öffnet sich die traurige individuelle Geschichte Renées auf einen größeren Horizont von weiblichen Daseinsformen, deren Vielfalt auch die Frage nach dem Grad der Schicksalshaftigkeit, der historischen und gesellschaftlichen Gebundenheit, und der Freiheit, des individuellen Spielraums, aufkommen lässt. So wie sich auch Schenks Roman nur als eine Lesart, eine Annäherung an das Leben der Mutter versteht. Vor allem soll die Geschichte der Mutter keine Opfergeschichte werden, als Protagonistin von Schenks Roman wird sie weder verurteilt noch freigesprochen.

Einnehmend sind besonders Sprache und Stil, in dem die Autorin ihren Text verfasst hat; dass sie nicht in ihrer französischen Muttersprache schreibt, verleiht ihr ein anderes Gespür für die Sprache und ihre Wendungen, wie man das im Übrigen immer wieder bei Schriftstellern beobachten kann — die Dramatiker des absurden Theaters, Beckett, Ionesco, und ihre sprachlichen Dekonstruktionen fallen einem hier sofort ein. So weit geht Sylvie Schenk freilich nicht, aber ihr offener, direkter, unverklemmter, jugendlich sprudelnder Stil, der trotzdem sensibel und feinsinnig ist, machen Maman zu einem mehr als lesenswerten Text.

Bibliographische Angaben
Sylvie Schenk: Maman, Hanser 2023
ISBN: 9783446276239

Bildquelle
Schenk, Maman
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderAyad Akhtar: Homeland Elegien

Auch literarische Gattungsbezeichnungen dienen natürlich dazu, dem Leser Orientierung zu geben und ihm eine Wiederkehr an einen vertrauten Ort zu versprechen. Ganz besonders ist das bei der gegenwärtig wohl beliebtesten Gattung „Roman“ der Fall, zu welcher auch Ayad Akhtars neues Buch gehören soll. Doch die Literatur als Kunstform entzieht sich nicht selten einer solch eindeutigen Zuordnung, ja kann vielmehr gerade durch einen stilistisch gewandten individuellen, ästhetisch freien Umgang mit Sprache und Struktur an literarischer Bedeutung gewinnen.

Der Autor der Homeland Elegien erweist sich nun gerade in diesem Buch als ein Schriftsteller, der sich Einordnungen aller Art immer wieder entzieht, ein natürliches Misstrauen gegenüber einfachen Zuschreibungen hegt und mit Genuss die Widersprüche und die mal staunenswerte, mal irritierende Vielfalt, die sich dahinter verbergen, zu Tage treten lässt. So wäre, obwohl Akhtar seinem Ich-Erzähler seinen eigenen Namen gegeben hat, auch die Bezeichnung „Autobiographie“ zu kurz gegriffen, da eine Herzensangelegenheit des Autors gerade darin besteht, Fiktion und Realität, Autor und Werk, nicht vorschnell in eins zu setzen, wie das bei seinen Theaterstücken in der Vergangenheit bereits passiert ist. Nicht zuletzt ist der Text auch eine künstlerisch freie Stellungnahme zu all den in der geschwätzigen (sozialen) Medienwelt kursierenden Spekulationen über den Autor preisgekrönter und zugleich umstrittener Dramen (v.a. Disgraced aus dem Jahr 2012 über muslimische Einwanderer in Amerika). Man könnte nun eine ganze Weile weitersuchen und Begriffe wie Autofiktion, literarischer Essay, anekdotenhafte Memoiren, humoristisch-philosophisches Tagebuch gegeneinander abwägen, um sich der Besonderheit seines Textes zu nähern. Vielleicht aber kommt man diesem intellektuell erfrischenden Buch, das einen immer wieder zum Lachen bringt und charmant provokant und hellsichtig auch den empörendsten Verhaltensweisen auf den Grund geht, eher mit den folgenden Zeilen aus dem Text selbst auf die Spur. Das autofiktionale Ich beschreibt hier, welcher Art die Notizen sind, die es sich — vielleicht ähnlich wie der Autor — immer wieder über die Erlebnisse und Eindrücke des Tages macht:

Die Technik, die ich für diese Aufzeichnungen anwendete, verdankte viel dem Traumtagebuch, das ich jahrelang geführt hatte. Ich kümmerte mich nicht um die Chronologie und legte großen Wert auf Details. Je lebendiger ein Fragment, ein Geräusch, ein Bild war — und je gründlicher ich es sprachlich verarbeitete –, desto ergiebiger war das Assoziationsfeld, das es erzeugte. Der Prozess war nicht intuitiv; es war, als würde ich die ursprünglichen Sedimentschichten auf einem zutage geförderten Erzklumpen identifizieren. Der Geist erinnerte sich an das Wesentliche und vergaß die Schlacke, doch gerade die enthielt so viel Leben.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Eben diese chronologische Freiheit und diese tief unter der scheinbar glatten Oberfläche grabende Detailversessenheit sind charakteristisch für den Stil des ganzen Buches, das in großen thematischen Kapiteln einzelne Episoden aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers, seiner Freunde und insbesondere seiner eigenen Familie enthält, in denen das Dialogische stark in den Vordergrund tritt und den intelligenten, alles hinterfragenden und sehr oft (selbst)ironischen Reflexionen des Erzählers eine bestechende Anschaulichkeit verleiht. In dieser komplexen und unorthodoxen Form gelingt dem Autor ein tiefer, subtiler und einfach hochinteressanter Einblick in die latenten psychologischen und gesellschaftlichen Antriebe und Widersprüche, Bedürfnisse und Ängste der amerikanischen Bevölkerung der Gegenwart. Ob es um Verwerfungen im Bereich des Gesundheitssystems, des Finanzsektors oder um die himmelschreiende Ungleichheit zwischen ländlichen und städtischen Regionen geht, immer wieder dringt er am ganz individuellen menschlichen Beispiel auch zu ökonomischen Strukturen vor, die das Denken, die (Vor-)Urteile und Verhaltensweisen der Menschen nachhaltig beeinflussen.

Bei all seinen Beobachtungen, die in einem Ton verfasst sind, in dem frech und ernsthaft, Anteil nehmend und kritisch entlarvend, involviert und analysierend, schmerzhaft und ironisch-witzig keinen Widerspruch bilden, stehen die einzelnen Menschen und ihre individuellen Geschichten im Vordergrund. Letztlich werden auch die abstrahierenden Schlüsse, die der sich gleichfalls immer wieder selbst in seinen Motiven und Urteilen erforschende Ich-Erzähler daraus zieht, nicht als endgültige Wahrheiten präsentiert. Allen porträtierten Verhaltensweisen liegen Biographien zugrunde, die zwar einiges erklären, doch sowohl in sich Brüche und Widersprüche aufweisen, so dass ein gebildeter muslimischer Kardiologe wie sein Vater eine Zeitlang Donald Trump verfallen ist, als auch untereinander kaum pauschal miteinander verglichen werden können. Es steht dem Autor fern, sich von einer bestimmten Gruppe oder einem Kollektiv vereinnahmen zu lassen. Gleichwohl er durchaus intensiv ergründet, inwiefern auch seine eigene Herkunft ihn in seinem Denken und Fühlen beeinflusst und gleichwohl er zahlreiche scheinbar alltägliche Situationen eines schmerzhaft am eigenen Leibe erfahrenen Rassismus schildert, erhebt er das Thema „race“ nicht zur identitätsstiftenden Maxime. Der Blick bleibt konsequent auf den einzelnen Menschen gerichtet und erreicht doch gerade dadurch eine umso ausgeprägtere Differenziertheit und Diversität, die der Autor schon in den so divergierenden Ansichten in seiner eigenen Familie erlebt.

Wenn ich überhaupt etwas in der albernen Schwärmerei meines Vaters für Trump sah, dann ein menschliches Element — schwach und irrational –, und das passte nicht in das klare Bild, das Mike vom Geist Amerikas zeichnete. Als Künstler vertraute ich eher dem Durcheinander.

Ayad Akhtar, Homeland Elegien

Gerade diese widerspenstige Detailversessenheit aber macht das Buch so sympathisch und so bereichernd! Und vor allem auch zu einem großen literarischen Kunstwerk, das — so die selbstverständlich auch keineswegs unhinterfragte These der Literaturprofessorin des Ich-Erzählers — die Welt vielleicht nicht gleich besser macht, aber doch bestimmt ein wenig die Augen zu öffnen vermag und so die beste Illustration dieser in die Kunst vertrauenden These darstellt.

Bibliographische Angaben
Ayad Akhtar: Homeland Elegien, Claassen (2020)
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
ISBN: 9783546100144

Bildquelle
Ayad Akhtar, Homeland Elegien
© 2020 Claassen in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderPhilippe Lançon: Der Fetzen

Philippe Lançon hat das Attentat auf Charlie Hebdo mit einer schweren Verletzung überlebt. Dieses Überleben macht er zum Thema seiner Aufzeichnungen, deren bisweilen schockierende Offenheit dem Leser sehr nahe geht. Er schildert auf nachdenkliche und sehr feinsinnige Weise die zahlreichen Herausforderungen, vor die ihn die Wiedereingliederung in das „normale“ Leben stellt. Hilfe findet er bei Kafka und Proust, aber auch durch die vielen neuen Bande, die er mit Chirurgen und Personenschützern knüpft. Innen und außen spiegeln sich dabei, sein Gesicht besteht aus ebensolchen Fetzen wie sein neues Leben, das gewaltsam vom alten getrennt wurde. 

Bibliographische Angaben
Philippe Lançon: Der Fetzen, Tropen (2019)
Aus dem Französischen von Nicola Denis, Originaltitel: Le lambeau (Gallimard)
ISBN 9783608504231

Bildquelle
Philippe Lançon, Der Fetzen
© 2019 Tropen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

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