Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Jane Eyre sind absolute Klassiker, deren Titelheldinnen mit ihren unvergesslichen Namen wie Leuchtsterne am Himmel der Literaturgeschichte prangen. Terézia Moras Titelfigur Muna hätte vielleicht das Zeug dazu, diese Tradition über den Text hinaus funkelnder Romannamen fortzusetzen, von denen es genügt, sie auszusprechen, um sofort das Bild einer ganzen Welt entstehen zu lassen, in der sich diese Figuren bewegen, in der sie leiden und lieben, scheitern und jubilieren. Die eigenwillige und tragische Strahlkraft dazu hätte Muna allemal. Muna, diese Figur, die ganz unserer Gegenwart entspringt, ein blühender Charakter dieser Zeit, die gerade im Vergehen ist, dem Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert; noch in der DDR geboren und aufgewachsen, nähert sie sich erwachsen werdend unserer Gegenwart. Die Autorin hat angekündigt, Muna eine Triologie zu widmen, diesmal mit einer weiblichen Hauptfigur, nachdem sie mit Darius Kopp zuvor eine männliche Figur ins Zentrum dreier zusammenhängender Romane gestellt hatte; die Schwelle zum 21. Jahrhundert wird also gewiss in den versprochenen folgenden Romanen überschritten werden.
Muna oder Die Hälfte des Lebens ist, gleichwohl der Text sich auf die Biogaphie nur einer Figur, eben derjenigen Munas, konzentriert, ein Gesellschaftsroman, der sich zu einem großen Teil im Prekariat des Medien- und Wissenschaftsbereichs ereignet, in dem die keineswegs unbegabte junge Frau bald nach ihrem Abitur gestrandet ist. Terézia Mora erzählt auch die Vorgeschichte, Munas Kindheit und Jugend, die sie bereits in prekär zu nennenden Verhältnissen verbracht hat und denen sie mit dem Elan und der Chuzpe einer willensstarken Jugendlichen zu entkommen versucht. Als Heranwachsende muss sie mit dem frühen Krebstod des Vaters und mit einer emotional unzuverlässigen Mutter klarkommen, einer Theaterschauspielerin, deren Stern längst erloschen ist und die das Entrinnen von beruflichem Glanz und Schönheit in einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Tabletten ertränkt. Als Muna für eine Zeitung und dann für einen Verlag arbeiten darf, wenn auch nur als schlecht bezahlte, aber umso engagiertere Praktikantin, sieht sie hier, im Schreiben, eine Tür nach draußen offenstehen. Gleichzeitig nimmt sie ein Studium auf, lernt neben dem Kulturbereich auch das Wissenschaftsmilieu kennen und bekommt bald am eigenen Leib zu spüren, dass trotz ihrer unterschiedlichen Klientele beide Milieus auf ähnliche Weise so hoffnungmachend wie desillusionierend sind. Während Muna zwischen der Verlagsarbeit und der Universität pendelt, wird sie in einem weiterhin hierarchisch dominierten Umfeld immer wieder ausgenutzt; ob freiwillig oder unfreiwillig, da verschwimmen die Grenzen. Und es sind zwar oft, aber bei weitem nicht nur Männer, die sich ihre unterlegene Position im beruflichen Kontext zunutze machen. Das Gerangel um Erfolg, um Gesehenwerden, Anerkennung und der Belohnung mit einer soliden, gut bezahlten Stelle macht die darin Mitspielenden zu Tieren, die mit dem ständigen Druck mehr oder weniger gut zurechtkommen.
Am Beispiel der Hauptfigur Muna, die einem in all ihrer Widersprüchlichkeit ganz nahe gebracht wird — sie ist schön und sie ist unsicher, sie ist intelligent und sie ist unerfahren –, wird spürbar, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein, in der Öffentlichkeit und im Privaten. Munas Verletzlichkeit springt einem immer wieder ins Auge, ja, geht aus der Sprache des Textes selbst hervor, der ganz aus ihrer Perspektive erzählt wird. Gleichzeitig verwandelt sie ihre Verletzlichkeit, die nicht nur, aber eben doch sehr viel mit ihrer Weiblichkeit zu tun hat, immer wieder in Stärke. Ihre Wirkung auf andere ist schillernd: mal aufreizend, mal provokativ, mal naiv, mal manipulativ. All dies sind Zuschreibungen, die Munas inneres Fühlen und Denken verfehlen, aber doch in gewissem Grade beeinflussen und formen. Unscheinbar ist sie jedenfalls nicht, doch der Grund, weshalb sie auffällt, unterscheidet sich oft himmelweit von dem, was sie sich eigentlich vorgestellt oder erhofft hat, und ruft zudem Gefühle auf den Plan, die einem Miteinander auf Augenhöhe im Weg stehen.
Vor diesem Hintergrund kann die „romantische“ Beziehung von Muna und Magnus, die im Mittelpunkt der Handlung steht und ihr Dreh- und Angelpunkt wird, ihre fatale Dynamik entwickeln. Muna lernt den deutlich älteren Magnus, einen Fotografen und Französischlehrer, bei einem Praktikum kennen. Von Anfang an ist sie fasziniert von ihm, und von Anfang an tritt er als ein kurzangebundener, misanthropischer Mensch auf. Er ist ein unverbindlicher, sich entziehender Charakter, ein Mann, der nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet und jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt, der sich, wie Muna bei ihren hartnäckigen und doch erfolglosen Nachforschungen erfährt, in den Westen abgesetzt hat, um dort seine akademische Laufbahn in Gang zu bringen. Nach sieben langen Jahren, in denen Muna ihn nicht vergessen kann, taucht er plötzlich wieder auf, und die ungleiche Beziehung zwischen ihnen nimmt ihren zerstörerischen Lauf.
Das Besondere und besonders Fesselnde ist die Art, wie dieser amour fou sich stilistisch und kompositorisch im Text entfaltet. Alles wird aus Munas Perspektive wiedergegeben, deren Blick ein so radikal subjektiver wie um Aufrichtigkeit bemühter ist. Ihre manischen Phasen, ihr selbstzerstörerisches Verhalten werden ausschließlich aus der Sicht der davon Betroffenen selbst erzählt. Das Neben- und Ineinander ihrer im Schreiben gesuchten Wahrhaftigkeit und ihrer emotionalen Verblendung ist hochspannend zu lesen, und es ist beeindruckend, wie diese erzählerische Unmittelbarkeit doch wieder erzählerisch vermittelt wird. Terézia Mora, deren experimentellen Umgang mit Sprache, mit Text man zum Beispiel auch aus dem Roman Das Ungeheuer kennt, in dem ein Paralleltext im Fußnotenbereich der Seiten die eigentliche Erzählung begleitet und in neuem Licht erscheinen lässt, arbeitet hierfür diesmal auch mit Klammern und Einschüben. So entsteht ein Text, der sich immer wieder selbst korrigiert, mit der Diskrepanz und Bedingtheit von Innen und Außen spielt und das Zweifeln und Sehnen, Denken und unaufhörliche Hinterfragen einer zugleich starken und schwachen, rebellischen und unterwürfigen, berechnenden und naiven, zielstrebigen und schwankenden, eben nicht auf eine einfache Formel zu bringenden Hauptfigur abzubilden vermag.
Nicht nur Muna selbst übrigens, sondern auch die zahlreichen anderen Figuren, denen sie begegnet, sind zum Großteil gebrochene, geschädigte Charaktere, zumindest aber Menschen, deren Hoffnungen und Pläne Kompromisse mit der Wirklichkeit eingehen mussten. Manchmal verbergen sie sich hinter einer strahlenden Fassade, manchmal sind die Risse schon deutlich nach außen hin sichtbar. Doch die Gewalttätigkeit, die nicht selten dahinter lauert, überrascht die junge Muna mehr als einmal. Für den Leser ist sie schockierend, gerade weil sie sich so scheinbar logisch aus den Handlungen heraus entfaltet.
Bibliographische Angaben
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens, Luchterhand 2023
ISBN: 9783630874968
Bildquelle
Terézia Mora, Muna oder Die Hälfte des Lebens
© 2024 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München