bookmark_borderMatthias Jügler: Die Verlassenen

Während ich dem Hörbuch zu Matthias Jüglers Roman Die Verlassenen gelauscht habe, fühlte ich mich mehr und mehr an den Kinofilm Das Leben der Anderen in der Regie von Florian Henckel von Donnersmarck erinnert, ähnlich eindringlich, ähnlich schockierend ist die Aufarbeitung eines ähnlich düsteren Kapitels der Geschichte der DDR mit der dramaturgischen und ästhetischen Überzeugungskraft der Fiktion.

Gesprochen wird das Hörbuch von Florian Lukas, dessen ganz leichter Akzent zur ostdeutschen Herkunft des Erzählers passt und der vor allem den Ton der Geschichte, die gefasste, zurückhaltende Emotionalität, sehr gut trifft. Der Erzähler, aus dessen teils kindlicher, teils schon erwachsener Perspektive die Ereignisse durchgehend geschildert werden, nennt sich Johannes Wagner und ist, wie der Autor selbst, Anfang der 1980er Jahre in der DDR geboren. Er erzählt rückblickend, aber sehr präsentisch von der Vergangenheit seiner Familie, die von mehrfachen, dem Jungen von damals unverständlichen Verlusten geprägt ist. In der Rückschau ruft sich der Erzähler verschiedene Szenen aus seiner Kindheit und seiner Teenagerzeit ins Gedächtnis und schlüpft dafür wieder in die Haut des verunsicherten kleinen Jungen, der eher an sich selbst als an den anderen zweifelt. Später wird sich auch der Student inmitten seiner Kommilitonen nie so ganz wohl, so ganz am rechten Platz fühlen, noch später der junge Vater in seinem Eheleben scheitern.

Johannes verliert früh seine Mutter, angeblich ein tragischer Unfall, das Aufwachsen bei seinem nun alleinerziehenden Vater, dessen Traurigkeit er spürt, ohne sie zu verstehen, ist für den Heranwachsenden nicht einfach. Und dann verschwindet auch sein Vater eines Tages, in der Mitte der 1990er Jahre, ganz plötzlich; von einer Geschäftsreise kehrt er nie zurück. Der Junge bleibt von da an bei seiner Oma, bis auch diese stirbt und den jungen Erwachsenen mit einer unaufgearbeiteten Geschichte alleine zurücklässt.

Verlassen, wie es der Titel ankündigt, ist in dieser Geschichte, die, um es nebenbei zu erwähnen, auf der tatsächlichen Lebensgeschichte des Autors beruht, zunächst der kleine Johannes, der seine Verlorenheit und Hilflosigkeit in Tapferkeit zu verwandeln sucht, der immer wieder Hoffnung schöpft, aber sich nie richtig auf andere einzulassen, sich zu binden wagt. Verlassen ist auch sein Vater, wie Johannes viel später klar wird; in einem ihm hinterlassenen Umzugskarton der Eltern findet der bereits erwachsene Johannes einen seltsamen Brief aus Norwegen. Ahnend, dass er hier auf eine bedeutsame Spur gestoßen ist, bricht Johannes in dieses ferne Land im Norden auf. Tatsächlich deckt er dort einen Teil der Vergangenheit seiner Familie und ihres Bekanntenkreises auf, die auf traurige, ja erschütternde Weise kurz vor und nach der Wende noch von der DDR-Geschichte eingeholt wurden.

Ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, sei hier erwähnt, dass es in Jüglers mitreißendem und mitnehmendem Buch um Freundschaft und Verrat geht, aber auch um Politik und Privatheit, um eine fiktionalisierte, aber von der Realität inspirierte Stasi-Operation, die einen vermeintlich staatsgefährdenden Menschen vernichten sollte und seine Familie über mehrere Generationen ins Unglück stürzte. Es geht um die Überforderung der Erwachsenen, um das Schweigen auch gegenüber den Kindern, um Hoffnung, Trauer, Erinnerung, Loyalität und Vertrauen, und nicht zuletzt darum, wie die politischen und menschlichen Verwerfungen in einem Unrechtsregime auch die Generation der danach Geborenen noch aus der Bahn zu werfen vermag. All dies bringt Matthias Jügler in einem eindringlichen und zugleich unaufgeregten Text auf weniger als 200 Seiten bzw. in weniger als vier gelesenen Hörbuchstunden zur Sprache. Berührend, aufrüttelnd und absolut hörenswert!

Bibliographische Angaben
Matthias Jügler: Die Verlassenen, Penguin 2021
ISBN: 9783328601616

Hörbuch: MDR Media GmbH und BUCHFUNK 2021
Gelesen von Florian Lukas
ISBN: 9783868475968

Bildquelle
Matthias Jügler, Die Verlassenen
© 2021 Penguin Hardcover Verlag, München

bookmark_borderAnne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

Anne Rabe hat eine Familiengeschichte geschrieben, die, so aufwühlend wie ein Roman, doch eigentlich mehr dokumentarisch-essayistischen Charakter hat. Es geht um die moralischen und emotionalen Abgründe, die sich in der Generation der vor und während dem Krieg aufgewachsenen Generationen auftun und die, heimlich, still und leise, an die folgenden Generationen weiter gegeben werden; um Lebenslügen und Ausflüchte, um den sehnsüchtigen Wunsch und die eitle Einbildung, es besser zu machen, besser zu sein, nur um dann doch wieder ohnmächtig angesichts neuer Verwerfungen dazustehen.

Die Erzählerin, kurz vor der Wende geboren, geht diesen in der eigenen Familie erlebten Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten aus der Perspektive der Nachgeborenen auf den Grund, genauer gesagt aus der Perspektive der ostdeutschen Nachgeborenen. Das Buch gibt somit auch einen tiefen und sozusagen volksnahen Einblick in die Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. Und dieser auch sehr persönliche Blick ist ein mutiger, da er sich, nach Erkenntnis verlangend, der Verletzlichkeit aussetzt.

In diesem Text, der ein eigenartiges Zwitterwesen zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen Geschichtsphilosophie und szenischer Handlung darstellt, zwischen Gesellschaftsanalyse und mit Bedacht biographisch gestaltetem Einblick in den intimen Raum des Privaten, waren für mich die Stellen am schrecklichsten und eindrücklichsten zu lesen, an denen die Erzählerin schildert, wie lieblos, wie brutal über mehrere Generationen hinweg die Kinder erzogen wurden. Schwärzeste Pädagogik in der naiven, selbstgerechten, verzweifelten und auf jeden Fall, so zeigt Anne Rabe, auch ideologischen Verblendung, dabei das Beste für die Familie und die Gesellschaft zu tun. Hier, im intimsten Kern der Gesellschaft, zeigt sich, dass politische Ideologien und Machtstrukturen ins Privateste hineinreichen. Anne Rabes nicht nur ostdeutsche Familiengeschichte lässt keine Ausflüchte mehr zu, wie die Erzählerin, die ihrer Empörung folgt, sind wir alle, ob versehrt oder verschont, in der per se politischen Verantwortung hinzuschauen und zu fragen.

Bibliographische Angaben
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück, Klett-Cotta 2023
ISBN: 9783608984637

Bildquelle
Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück
© 2023 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderAnja Jonuleit: Das letzte Bild

1970 wird eine Frau im norwegischen Isdal unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden, vieles deutet darauf hin, dass sie ermordet wurde, doch der Fall wird nie geklärt, geschweige denn die Identität der Frau gelüftet. Spekuliert wurde viel: War sie eine sowjetische Agentin oder bewegte sie sich als bindungslose Prostituierte am Rande der Gesellschaft? Erst vor ein paar Jahren haben neuere technische Untersuchungen ergeben, dass die noch recht junge Frau wohl aus dem Raum Nürnberg stammte und einige Zeit in Frankreich gelebt haben musste. Doch was sie nach Norwegen und in den Tod geführt hat, bleibt weiterhin ein großes Rätsel.

In diese mysteriöse und spekulative Leerstelle hinein stößt die Autorin mit ihrem neuen Roman, in dem sie auf der Grundlage einer intensiven Recherche zu dem realen Fall eine emotional bewegende und intelligent gestaltete Geschichte entspinnt, wie sie sich damals ereignet haben könnte. Dabei schlägt sie einen erzählerisch überzeugenden Bogen von Deutschland, Belgien und Frankreich über Italien bis nach Norwegen sowie von der (Nach-)Kriegszeit bis heute. Und so wie die Autorin mit detektivischem Spürsinn den Fall der Isdalfrau rekonstruiert und neu konstruiert, arbeitet sich auch ihre Hauptfigur aus der Gegenwart, die Biographin Eva, die sich in Jonuleits Fiktion als Nichte der Isdalfrau herausstellt, mit Staunen, Schmerz und Hartnäckigkeit in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie hinein, von der sie so einiges nichts ahnte. Und als Leser wird man auch mit so mancher Wunde der deutschen und europäischen Geschichte konfrontiert, es geht um Kollaboration, um Vereine wie den Lebensborn, der sich während des Krieges die Not der Mütter zunutze machte und „arischen“ Kriterien entsprechende Kinder in nationalsozialistische Obhut nahm, und es geht auch um Verdrängung, um die Bedeutung, den Schmerz und auch um die Verfälschung von Erinnerung.

Auch wenn die Fiktion natürlich nicht wenig aus dem Melodram schöpft, mit getrennten Zwillingen, Waisenkindern und einem von Männern ausgenutzten jungen Mädchen, so ist sie doch von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd und stimmig erzählt und hält mit den beiden weiblichen Protagonistinnen von damals und heute auch zwei engagierte und findige Frauenfiguren bereit, deren Spuren durch Europa man fasziniert und mit Neugier folgen mag.

Bibliographische Angaben
Anja Jonuleit: Das letzte Bild, dtv (2021)
ISBN: 9783423282819

Bildquelle
Anja Jonuleit, Das letzte Bild
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderAlena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Der poetische Titel verweist auf ein fiktives Gemälde von Jan Vermeer, das in Alena Schröders Debütroman, in dem Kunst- und Familiengeschichte aufeinander treffen, eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich kann man sich vor seinem inneren Auge gut ausmalen, wie ein solches Gemälde des holländischen Künstlers aussehen könnte, der im 17. Jahrhundert lebte und vor allem für seine Genreszenen bekannt ist. Nicht selten sind darauf Frauenfiguren zu sehen, die in der Nähe eines Fensters stehen und blaue Kleidungsstücke tragen. Das berühmteste ist wahrscheinlich das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, dessen in kräftigem Blau gemaltes Stirnband vielleicht noch mehr im visuellen Gedächtnis präsent ist als der kleine Perlenohrring. Vermeers heute authentifizierter Werkumfang ist mit knapp 40 Bildern eher beschaulich, es sind jedoch in der Vergangenheit immer wieder Werke auf dem Kunstmarkt aufgetaucht, die ihm — meist fälschlicherweise — zugeschrieben wurden.

Ebenso wie der suggestive Titel ist auch die ziemlich fesselnde Geschichte, die die Autorin um dieses Bild herum aufbaut, also Fiktion mit einem plausiblen (kunst)historischen Möglichkeitshintergrund. Ausgangspunkt der Handlung ist unsere Gegenwart, in der wir der Perspektive der jungen und etwas verlorenen Doktorandin Hannah folgen, die am frühen Tod ihrer Hippie-Mutter, zu der sie keine einfache Beziehung hatte, wohl schwerer zu tragen hat, als sie sich das eingesteht. Eine zwar auch nicht reibungslose, aber doch sehr enge Beziehung hat Hannah zu ihrer Großmutter Evelyn, einer selbstbewussten Frau, die mit ihrem Umzug ins Pflegeheim nicht wirklich im Reinen ist. Als ein Brief auftaucht, über den Evelyn sich zunächst weigert, zu sprechen, ist Hannahs Neugier geweckt. Denn der Brief weist ihre Großmutter als einzige Erbin eines verschollenen jüdischen Kunstvermögens aus, das den rechtmäßigen Besitzern im Zweiten Weltkrieg entwendet wurde. Hannah, die davon ebenso wie von einem jüdischen Familienzweig nichts wusste, holt diese aufwühlende und zunächst mysteriös erscheinende Nachricht aus ihrer halb verzweifelten, halb lethargischen Haltlosigkeit heraus und motiviert sie zu einer historischen Spurensuche, die sie auch mit ihrer eigenen bisher verschwiegenen komplizierten Familiengeschichte konfrontiert.

Alena Schröder verbindet in ihrem Roman am Beispiel einer individuellen Familiengeschichte Kunst- und Provenienzgeschichte mit der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, insbesondere mit der düsteren Zeit des Nationalsozialismus und den Verbrechen an den Juden, hier in Gestalt des Schicksals des Berliner Kunstsammlers Itzig Goldmann und seiner Familie. Und sie schlägt den Bogen bis heute, in unsere Gegenwartsgesellschaft und unsere Erinnerungskultur mit ihrer teils aufrichtigen, teils aber auch heuchlerischen oder kontraproduktiven Art der Aufarbeitung.

Die fiktive weibliche Titelfigur des fingierten Vermeer-Porträts steht aber auch für ein Motiv, das der Roman am Beispiel mehrerer Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart durchspielt, nämlich für das Motiv des Frauseins oder der Weiblichkeit, wie sie sich im reibungsvollen Kontext von Geschichte und Gesellschaft herausbildet. Der Konflikt zwischen Beruf(ung) und Bindung, Selbstverwirklichung und Familie, Freiheit und Sinnsuche in oder jenseits von Mutterschaft besteht in unterschiedlicher Ausformung bis heute, das machen die so verschiedenen Persönlichkeiten in Schröders Roman deutlich. Besondere Empathie verspürt man im Laufe der Erzählung mit Senta, der leiblichen Urgroßmutter Hannahs, die sich jung in einen Piloten aus dem Ersten Weltkrieg verliebt, sich in ihrer Rolle als Ehe- und Hausfrau jedoch bald eingeengt fühlt und in Berlin als Journalistin ein neues Leben beginnt, das mit dem alten schwer zu vereinbaren ist. Und deren Konflikte mit der Exschwägerin nicht nur in der Rivalität um das Kind, sondern auch in unterschiedlichen Werten und einer konträren Einstellung zur nationalsozialistischen Politik gründen, ehe die geschichtlichen Ereignisse sie schließlich beide überrollen. Hervorzuheben ist dabei, dass die Hitler anhängende Schwägerin ihrerseits in vielen moralischen Schattierungen gezeigt wird, ebenso wie auch Senta, die ihrerseits keinesfalls nur ethisch einwandfreie Entscheidungen trifft.

Mit hat das leicht und mitreißend geschriebene Buch einiges an Leseglücksmomenten beschert, das Pendeln zwischen einer Hauptfigur unserer Gegenwart, mit der man sich gerade aufgrund ihrer manchmal geradezu verbohrten, lethargischen und dann doch auch wieder engagierten Anwandlungen identifizieren kann, und den Rückblicken in die für uns weit entfernte und doch noch immer schmerzhaft nachwirkende Vergangenheit wird glaubhaft und sehr menschlich erzählt; die Autorin führt uns sehr einfühlsam an die von ihren verschiedenen, bisweilen gegensätzlichen Beweggründen getriebenen Charaktere heran. Was mich trotzdem an manchen Stellen gestört hat, ist der unpassend flapsige Stil vor allem im Gegenwartsteil; der missglückte Versuch, mit der Formulierung, dass ihre Mutter an Krebs „verreckt“ sei, Hannahs Empörung gegen das Schicksal sprachlich einzufangen, ist hier nur ein Beispiel von mehreren. Seinen durchaus immer wieder durchscheinenden kritischen Humor gewinnt der Roman viel überzeugender auf andere Weise, nämlich durch die Entlarvung der Widersprüche im Verhalten der Figuren, das ihre Krisen, ihre charakterlichen Eigenarten oder Verdrängungsstrategien aus dem erzählerischen Kontext heraus viel subtiler offenbart. Besonders laut knirscht es da zwischen Hannah und dem ihr erst gegen ihren Willen an die Seite gestellten jungen Historiker, was immer wieder zu absurd-witzigen Situationen führt und nicht nur über beide Figuren psychologisch Aufschluss gibt, sondern darüber hinaus auch auf satirische Weise auf die gesellschaftliche Herausforderung aufmerksam macht, die der Aufarbeitung der (nationalsozialistischen) Vergangenheit noch immer innewohnt. So engagiert und idealistisch sich Hannahs aufdringlicher Kommilitone mit dem Spezialgebiet Holocaust etwa gegen die Geschichtsvergessenheit seiner Umwelt einzusetzen scheint, so besteht der von ihm begründete Club zum Gedenken an den Holocaust aus einem doch etwas wunderlichen Sammelsurium von allesamt nicht-jüdischen Charakteren mit teils etwas fragwürdigen Motiven und Ansichten, die unter dem Deckmantel eines antisemitischen Aktionismus einer gefährlichen Fremdenfeindlichkeit anderer Art Vorschub leisten.

In der erzählerisch unterhaltsam gestalteten differenzierten Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der Vergangenheit liegt für mich die große Stärke des Buches, das literarisch zwar einem Vergleich etwa mit Rebecca Makkais jüngst erschienenem Roman Die Optimisten, in dem es gleichfalls im Kontext von Kunst und Provenienzforschung um die Aufarbeitung eines anderen Kapitels der Geschichte geht (vgl. Rezension vom 13.8.2020), nicht standhalten kann, aber dennoch eine berührende und spannende Reise in die Vergangenheit unseres Landes darstellt.

Bibliographische Angaben
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlich, blaues Kleid, dtv (2021)
ISBN: 9783423282734

Bildquelle
Alena Schröder, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderJana Revedin: Margherita

Jana Revedin erzählt in ihrem auf der eigenen Familiengeschichte basierenden Roman die Geschichte einer modernen Frau und verknüpft sie geschickt und unterhaltsam mit einer Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des europäischen 20. Jahrhunderts.

Zunächst mutet die Geschichte der intelligenten und einfühlsamen Margherita, die mit ihren Schwestern einen Zeitungskiosk betreibt, um die Familie zu ernähren, wie ein Märchen an. Einer ihrer Zeitungsabonnenten ist Nino, der Erbe der alteingesessenen, reichen Familie Revedin in Treviso. Marghuerita mag ihn gern und genießt es, ab und an ein Wort mit ihm über das in den Zeitungen berichtete Zeitgeschehen zu wechseln, doch als Nino sie eines Tages zu sich einlädt und ihr einen Heiratsantrag macht, fällt sie aus allen Wolken und bleibt zunächst skeptisch, ob eine solche unstandesgemäße Liebe eine Zukunft haben kann. Doch ihr familiäres Umfeld ist dem jungen Paar gewogen — im Unterschied zu den venezianischen Patrizierfamilien, die Margherita auch nach Jahrzehnten nicht als eine der Ihren akzeptieren werden — und so findet 1920 die Hochzeit statt und die beiden ziehen in ein Palais nach Venedig.

Venedig ist zu dem Zeitpunkt eine im Wandel begriffene Stadt, und Margherita verkörpert wie keine andere diesen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Geschult in Paris, wo sie vor ihrer Hochzeit einige Monate verbrachte, sozusagen als Bildungsreise und kulturelle Initiation, nutzt sie den Einfluss der Familie ihres Mannes und nicht weniger auch ihre eigenen Kontakte, die sie in Paris geknüpft hat — darunter z.B. die später berühmte Kunstmäzenin Peggy Guggenheim –, um Venedig zu einem kulturellen Zentrum der Moderne zu machen. Film, Kunst, Sport, Mode, Architektur, überall steckt die Moderne in ihren Startlöchern, und Margherita ist begeistert und engagiert mit dabei.

Doch während Margherita sich in diese neue Welt in Venedig, in der sie als Mädchen einfacher Herkunft immer wieder auch auf Widerstand stößt, mit ihrer einfühlsamen und begeisterungsfähigen Art rasch einzufügen versteht und dem kleinen Luigi bald auch eine verantwortungs- und liebevolle Mutter wird, beobachtet sie zunehmend mit Sorge, wie ihr verträumter Mann Nino, dessen Leidenschaft die Fotografie ist, sich mehr und mehr in dubiose Geschäfte einlässt, Schulden anhäuft und sich schließlich sogar den neuen politischen Granden des Faschismus anbiedert. Diese Selbstentfremdung Ninos geht bald auch einher mit einer Entfremdung der Eheleute voneinander, die ein trauriges Ende nimmt.

Nach den 1930er Jahren folgt ein großer Zeitsprung ins Jahr 1962. Margherita ist längst Witwe, hat ihre kunstsinnige Umtriebigkeit und ihre Begeisterungsfähigkeit aber nicht verloren, sondern gestaltet mit talentierten Nachwuchsarchitekten das künftige Stadtbild Venedigs. Und, so viel sei zumindest verraten, auch die Familiengeschichte nimmt ein versöhnliches Ende mit dem hoffnungsvollen Ausblick auf eine neue Generation. Diese wird für die Autorin dann auch die Brücke zu einem autobiographischen Epilog, in dem sie schildert, wie sie selbst Margheritas Enkel kennengelernt hat: Antonio Revedin, den sie geheiratet und dessen Familiengeschichte sie hier niedergeschrieben hat.

Auch wenn der Roman manchmal an eine Chronik erinnert, da die Autorin eine Fülle an historischen Personen und Tatsachen in ihm unterbringt, werden diese doch fast immer lebendig in die Handlung eingebunden. Das gelingt zum einen durch die überzeugend gestalteten Dialoge, zum anderen auch durch die plastische und meist vielschichtige Charakterisierung der Figuren. Einzig Marherita selbst wird zwar äußerst einfühlsam, doch im Unterschied zu manch anderen gebrocheneren oder schillernderen Figuren vielleicht als zu gute Seele gezeichnet. So haftet der Erzählung doch bis zuletzt etwas Märchenhaftes an, aber das nimmt man gern in Kauf bei einer insgesamt überaus mitreißenden Geschichte.

Bibliographische Angaben
Jana Revedin: Margherita, Aufbau Verlag (2020)
ISBN: 9783351038304

Bildquelle
Jana Revedin, Margherita
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderMonika Helfer: Die Bagage

Mich hat Monika Helfers Roman Die Bagage von der ersten Seite an gefangengenommen, was ganz klar an ihrem so besonderen, eindringlichen Erzählton liegt, mit dem sie, fast wie eine Märchenerzählerin, ganz natürlich, ganz schnörkellos und zugleich so kunstvoll und zauberhaft ihre Figuren zum Leben erweckt, als seien sie einem Gemälde entstiegen. Und in dem sie liebevoll und zugleich gnadenlos von dem alles andere als unbeschwerten Leben einer Familie im frühen 20. Jahrhundert erzählt, deren Hof sich abgelegen am äußersten Rand eines österreichischen Bergdorfes befindet.

Am entfernten Rand befindet sich diese Familie nicht nur geographisch, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Man nennt sie abfällig „die Bagage“, eine Bezeichnung, die wie ein Stigma an ihnen haftet. Der Begriff, der im Französischen „Gepäck“ heißt, stammt noch von den Vorfahren der Familie, die so genannte Träger waren:

das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.

Helfer, Die Bagage

Und auch wenn die Familie inzwischen längst sesshaft ist und den Beruf nicht mehr ausübt, tragen sie die Last des Namens noch immer.

Die Autorin schöpft für ihren Roman aus der Geschichte ihrer eigenen Vorfahren, was natürlich gut passt, da es ja gerade um Herkunft und eine Familiengeschichte geht, doch muss man das eigentlich gar nicht wissen, die Erzählung entfaltet ihren Zauber auch ohne diesen autobiographischen Hintergrund. Und allein schon durch die biblischen (und natürlich auch sehr österreichischen) Namen der Großeltern Josef und Maria Moosbrugger taucht sie die Geschichte, die ja auch schon lange vor ihrer Geburt begann und nur in der Nachdichtung erzählt werden kann, in eine romaneske, fiktionalisierte Welt.

Auch wenn die Autorin den Bogen bis heute spannt, steht im Zentrum doch ein kurzer und stark verdichteter Zeitraum vor und während des Ersten Weltkriegs. Josef, ein stattlicher, schöner, im Privaten auch auf seine Weise zärtlicher Mann, der aber keine großen Worte macht, und mit seiner Frau Maria bisher drei Kinder hat, wird bei Ausbruch des Krieges zusammen mit drei anderen Männern aus dem Dorf eingezogen. Er wird der einzige von ihnen sein, der aus dem Krieg zurückkehrt. Die Beziehung zwischen Josef und Maria ist innig, doch auf fast elementare und in der Tradition verankerte Weise:

Josef liebte seine Frau. Er selber hat dieses Wort nie gesagt. Es gab dieses Wort in der Mundart nicht. (…) Deshalb hatte er dieses Wort auch nie gedacht. Maria gehörte ihm. Und er wollte, dass sie zu ihm gehörte, Ersteres meinte das Bett, Letzteres die Familie.

Helfer, Die Bagage

Als er seine Frau, den Hof und das Dorf verlassen muss, um für einen Kaiser und ein Vaterland ins Feld zu ziehen, zu denen er keinerlei Bezug oder Bindung hat, hält er den Bürgermeister an, auf Maria, die eine ungewöhnliche Schönheit ist, „aufzupassen“. Maria ist von da an auf die Hilfe der im Dorf Gebliebenen angewiesen und ansonsten ganz auf sich allein gestellt, um die Kinder, den Hof und sich selbst irgendwie durch die im Krieg sich noch verschärfende Armut zu bringen und sich gegen männliche Avancen zur Wehr zu setzen. Doch die Familie hält auch ohne Vater zusammen, sei es auch um den Preis, dass die Kinder in dieser schroffen Umwelt vorschnell die Rolle von Erwachsenen einzunehmen versuchen. Und mitten in dieser entbehrungsreichen Zeit taucht auf einmal ein blonder junger Mann aus Deutschland aus und mit ihm ein Gefühl, das Maria ganz neu und ganz stark überfällt. Sie begegnen sich nur zweimal, doch als Maria dann während des Krieges schwanger wird — ihr Mann kommt auch auf Heimaturlaub –, werden böse Zungen im Dorf laut und sie sieht sich geächtet, ja sogar der Pfarrer schließt die Familie vom göttlichen Segen aus. Es bleibt in der Erzählung unklar, von wem das Kind, das Grete heißen und die Mutter der Erzählerin werden wird, wirklich ist. Doch die Gerüchte erreichen auch ihren heimkehrenden Mann Josef und der straft nicht seine Frau, sondern das neugeborene Mädchen, das er nie als seine Tochter anerkennen wird. Eindringlich und schmerzhaft wird geschildert, wie Grete unter der Ablehnung ihres Vaters leidet, die, so spitzt es die Autorin in ihrer umso schockierender wirkenden lakonischen Erzählweise zu, gerade in der verweigerten Gewalt in ihrer Radikalität zum Ausdruck kommt:

Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nicht mit ihr gesprochen.

Helfer, Die Bagage

Hier verwendet die Autorin die indirekte Rede; denn die Erzählungen anderer, vor allem ihrer Tante, zitierend, rekonstruiert sie die Geschichte, deren Offenheit und Konstruiertheit sie mehrfach betont. Indem sie Ereignisse wiederholt erzählt und das Erzählen an sich thematisiert — übrigens ohne den Erzählfluss dadurch zu stören –, schafft sie ein reflexives Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart und markiert die Geschichte als eine erzählte, die von ihr gewählte Ordnung als eine subjektive:

Eine Ordnung in die Erinnerung zu bringen — wäre das nicht eine Lüge? Eine Lüge insofern, weil ich vorspielen würde, so eine Ordnung existiere.

Helfer, Die Bagage

Monika Helfer gibt ihrem Roman durchaus eine Ordnung, bricht diese aber immer wieder auf, so dass das Geschehen durch verschiedene Blickwinkel erhellt wird, die ihr zugleich intensive Momentaufnahmen und schattierte Charakterzeichnungen ermöglichen.

Besonders konturiert gezeichnet werden die Moosbruggerkinder, die man sowohl als kleine Kinder während dem Krieg kennenlernt als auch als Erwachsene, jung Verstorbene oder Gealterte. Durch die Beleuchtung verschiedener zeitlicher Ebenen bekommt die insgesamt eher kurze Erzählung so auch eine epische Dimension. Ebenso wohnt ihr eine gewisse Tragik inne, die durch die gerade durch das zyklische Moment der Wiederholung betonte Unausweichlichkeit hervorgerufen wird. Am Beispiel der schlaglichtartig erhellten Lebenswege der Kinder zeigt sich die Schwierigkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Gerührt und zugleich mit einem Gefühl banger Ohnmacht liest man, wie Lorenz, der zweitälteste Sohn von Josef und Maria, der dem Vater so ähnlich ist und doch gerade nicht in seine Fußstapfen will, während dem Krieg wie selbstverständlich die Rolle des abwesenden Vaters übernimmt — so gut es ihm eben gelingt, denn er ist doch immer auch noch ein Kind. Von diesem Lorenz heißt es einmal, und die Stelle verrät die ganze Kraft der Bindung und der Herkunft:

Ein Bauer wollte er nicht werden. Allein, dass er sich überlegte, was aus ihm einmal werden könnte, unterschied ihn von allen anderen Buben im Dorf.

Helfer, Die Bagage

Im gleichen Atemzug Bindung und Offenheit zur Sprache zu bringen, ist vielleicht der Kern dieses auf magische Weise anrührenden Romans.

Bibliographische Angaben
Monika Helfer: Die Bagage, Hanser 2020
ISBN: 9783446265622

Bildquelle
Monika Helfer, Die Bagage
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderLeïla Slimani: Le pays des autres

Im ersten Teil ihrer auf drei Bände angelegten marokkanischen Familiensaga zeigt Leïla Slimani eindrucksvoll, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich habe das Buch kaum auf die Seite legen wollen, so mitreißend und einfühlsam entfaltet die Autorin die Auswirkungen der großen, von geschichtlichen Tumulten erschütterten Welt auf die kleine marokkanisch-französische Familie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem kargen Land bei Meknès niederlässt. Wer Slimanis mit dem Goncourt 2016 ausgezeichneten Roman Chancon douce (dt. „Dann schlaf auch du“) gelesen hat und von dieser zutiefst schockierenden und zugleich behutsam erzählten Geschichte begeistert war, wird zunächst vielleicht überrascht sein. Denn mit ihrem neuen Roman betritt sie ein Terrain, das von der Tragödie, die sich zwischen einer modernen Pariser Familie und ihrem in prekären Verhältnissen lebenden, vereinsamten Kindermädchen abspielt, Welten entfernt zu sein scheint. Doch was man sofort wiedererkennt, ist die schlicht-poetisch schöne, sofort vereinnahmende Sprache, mit der Slimani ihre Leser ab der ersten Seite in ihre Geschichte hineinzuziehen versteht.

Le pays des autres (dt.: „Im Land der anderen“), der nun auf Französisch erschienene erste Teil der Trilogie, umfasst den Zeitraum von 1944 bis 1956 und ist zum Teil autobiographisch inspiriert; Slimanis aus dem Elsässer Bürgertum stammende Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg einen algerischen Soldaten der französischen Kolonialarmee kennenlernte und mit ihm nach Marokko ging, war wohl das Vorbild für die Elsässerin Mathilde, die im Roman den Marokkaner Amine heiratet, mit ihm in seine Heimat zieht und dort ihre beiden gemeinsamen Kinder Aïcha und Selim aufzieht.

Mathilde und Amine sind ein zunächst leidenschaftlich verliebtes und optisch schönes, wenn auch sehr ungleiches Paar: Sie ist groß und blond, er ist dunkel und attraktiv und um einiges kleiner als sie. Sie verlässt ihre kriegsversehrte Heimat Frankreich, um mit ihrer großen Liebe im exotischen Marokko eine eigene Familie zu gründen, er kehrt nach dem Kriegseinsatz in Frankreich mit einer französischen Frau an seiner Seite zu seinen Wurzeln zurück und möchte das Land, das sein verstorbener Vater ihm als ältestem Sohn hinterlassen hat, modern bewirtschaften und zum Blühen bringen. Doch so wie Mathilde bald bewusst wird, dass ihre romantischen Erwartungen in der marokkanischen Realität enttäuscht werden und sie mit ihrem modernen Verständnis der Rolle der Frau und auch in ihrer ambivalenten Rolle als Französin und Frau eines Marokkaners zu kämpfen hat — bei den Gattinnen der französischen Kolonialbeamten fühlt sie sich nicht minder als Außenseiterin als unter ihren einheimischen Nachbarn und der marokkanischen Familie ihres Mannes –, wachsen auch Amine die Herausforderungen, die nicht nur landwirtschaftlicher, sondern auch kultureller und gesellschaftlicher Natur sind, zunehmend über den Kopf und bedrohen den inneren Frieden seiner Familie.

Rund um Mathildes und Amines kleine Familie entwirft die Autorin einen vielfältigen, aber stets überschaubaren Figurenkosmos, der auf sehr literarische Weise, nämlich über die narrative und dialogische Schilderung von Szenen, die Einblick in den Charakter und das von den äußeren Ereignissen geprägte Innenleben der Figuren geben, ein differenziertes Panorama der marokkanischen Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre vermittelt. Überhaupt zeigt sich in den vielen Szenen, in denen Slimani die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren in großer Lebendigkeit und Poesie aufleben lässt, ihre Kunst, den Leser zum Mitfühlen zu bewegen, ohne sich deshalb mit dem oft ambivalenten Verhalten der Figuren kritiklos zu identifizieren. Ohne textliche Ausschweifung arbeitet sie das Wesentliche heraus, gibt den Figuren Raum und den Lesern die Möglichkeit, für einen Moment in ihre Empfindungen und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswelten einzutauchen. Besonders nahe gehen einem dabei die Ängste, Sorgen und Hoffnungen von Mathildes und Amines Tochter Aïcha, etwa wenn sie voll furchtsamem Widerwillen das erste Mal die französische katholische Schule in der Stadt besucht, in der sie mit den auf sie zugleich fremd und faszinierend wirkenden Töchtern der Algerienfranzosen zusammenkommt, unter denen sie ein spöttisch belächelter Fremdkörper bleibt. Zwar macht sie in der Schule rasch Fortschritte und findet in einer der Schwestern eine ihr wohlwollende Beschützerin, doch ihre halbmarokkanische Herkunft, ihr auf die Mitschülerinnen rückständig wirkendes Zuhause auf dem Land weitab der kolonial geprägten Stadt und ihr introvertierter Charakter scheinen sie in ihrer Außenseiterposition festzunageln. Slimani zeichnet ein sehr sensibles Porträt des innerlich zerrissenen kleinen Mädchens, dessen mystisch veranlagte, sehnsüchtige, sehr intelligente Persönlichkeit auch eine grausame Seite aufweist, die aus dem Schmerz erwächst.

Immer wieder kreist die Geschichte um die konfliktreiche Frage der Zugehörigkeit und Herkunft, deren Ambivalenz sich am Beispiel einer halbfranzösischen-halbmarokkanischen Familie eindrücklich entfalten lässt. Es geht um Fragen von Herrschaft und Macht, um rassistische Arroganz, aber auch um Einsamkeit, Wut, Unverständnis, Verletzung und Verletzlichkeit. Der hybride Zitrusbaum, der „citrange“, eine Kreuzung aus Zitronen- und Orangenbaum, den Aïcha mit ihrem Vater pflanzt, nimmt in der Geschichte die Funktion einer Metapher ein. Die hybriden Früchte sollen ihrer Umwelt resistenter gegenüberstehen, doch haben sie auch einen fast ungenießbar bitteren Geschmack. In diesem Sinne ist auch Aïcha, die als Tochter einer Französin unter den marokkanischen Landarbeitern fernab des europäisch geprägten Stadtlebens aufwächst, aber zugleich Weihnachten unter einem aus dem Nachbargrundstück gestohlenen Nadelbaum feiert, eine solche Frucht, die ihre hybride Herkunft teils bitter zu spüren bekommt, ebenso wie ihre Eltern, die als „couple mixte“ von allen Seiten misstrauisch beäugt werden: Amine, der mit seiner blonden Frau und seiner Vergangenheit im Dienst der Kolonialarmee den Marokkanern zu französisch, seiner Frau hingegen zu stark den marokkanischen Traditionen verhaftet ist, und Mathilde, die immer wieder als Europäerin auffällt, wenn sie sich etwa sehr zum Unbehagen Amines dem traditionellen Teetrinken der Männer anschließt, wenn sie darauf besteht, dass ihre Schwägerin in die Schule geht oder ihr Hausmädchen von oben herab behandelt, und als Frau eines marokkanischen Bauern zugleich keinerlei Status bei der französischen Bevölkerung hat.

Le pays des autres ist somit auch ein (post)kolonialistischer Roman, der vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte zwischen den französischen Besatzern und den marokkanischen Unabhängigkeitskämpfern spielt. Die Autorin schildert, wie die politischen Unruhen und die zunehmende Gewalt Zwietracht und Schmerz auch innerhalb von Familien säen. Nach dem Tod des Vaters herrscht zwischen den Söhnen eine unterschwellige Konkurrenz, die Omar, den jüngeren Bruder Amines, in den bewaffneten Kampf treibt. Eifersüchtig auf die Auszeichnungen seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg, entwickelt er einen umso größeren Hass auf die französischen Besatzer, für die sein Bruder einst gekämpft hat, überwirft sich mit Amine und verlässt sein Elternhaus, um sich den Unabhängigkeitskämpfern anzuschließen. Das Ineinander von persönlicher Biographie einerseits und dem mächtigen Einfluss der Geschichte andererseits, die bei Omars Rebellion zum Ausdruck kommt, tritt im Verlauf des Romans immer wieder zum Vorschein.

Vor dem Hintergrund der anderen Texte der Autorin ist es nicht überraschend, dass Kolonialismus und Sexualität hier eng miteinander verwoben werden und das Verhältnis von Männer- und Frauenrollen Machtstrukturen aufdeckt, die mit den kolonialen Herrschaftsbeziehungen verwandt sind. Isabela Figueiredo, deren literarisierte Erinnerungen an ihre Kindheit im portugiesischen Kolonialreich unter dem Titel Roter Staub vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurden, schildert übrigens genau diesselbe Verflechtung der Unterwerfung der Frau und der kolonisierten Afrikaner in Bezug auf das portugiesische Kolonialsystem. Slimani selbst hat in ihrem Essay Sexe et mensonges (2017) die Situation der Frauen in Marokko untersucht und tritt für die Legalisierung der Abtreibung in dem Land ein, in dem sie geboren wurde. Dem Zusammenhang von weiblichem Begehren und Freiheit ging sie auch in ihrem Roman Dans le jardin de l’ogre (2014) nach. Wenn sie nun in Le pays des autres Beziehungen zwischen Männern und Frauen darstellt, wirkt das nie thesenhaft, sondern wird stets mit viel Gespür für die feinen Töne erzählt. Besonders unter die Haut geht die Geschichte von Selma, der bildhübschen jüngeren Schwester Amines, die sich in einen jungen Franzosen verliebt und erste Anstalten macht, sich aus dem für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rahmen zu lösen.

Selma, la veille, avait embrassé un garçon. Et depuis, elle ne cessait de se demander comment il était possible que les hommes qui l’empêchaient, qui la dominaient, soient aussi ceux pour qui elle avait tant envie d’être libre. (…) Depuis hier, sans cesse, elle avait besoin de fermer les yeux pour vivre encore, avec une excitation jamais tarie, ce moment délicieux. (…) Elle était comme prisonnière de ce souvenir (…). À chaque fois qu’il avait posé ses lèvres sur sa peau, il lui avait semblé qu’il la délivrait de la peur, de la lâcheté dans laquelle on l’avait élevée.

Était-ce à ça que servaient les hommes? Était-ce pour cela qu’on parlait tant d’amour? (…) Comme ils ont raison de se méfier et de nous mettre en garde car ce que nous cachons là, sous nos voiles et nos jupons, ce que nous dissimulons est plein d’un feu pour lequel nous pouvons tout trahir.

Selma hatte am Vortag einen Jungen geküsst. Und seitdem fragte sie sich unablässig, wie es möglich sein konnte, dass dieselben Männer, die ihr im Weg standen, die sie beherrschten, auch die waren, für die sie so große Lust verspürte, frei zu sein. (…) Seit gestern musste sie immerzu ihre Augen schließen, um wieder und wieder, mit einer nie versiegenden Erregung, diesen köstlichen Moment zu erleben. (…) Sie war wie gefangen von dieser Erinnerung (…). Jedesmal, wenn er mit seinen Lippen ihre Haut berührt hatte, war es ihr vorgekommen, als ob er sie von der Angst, von der Feigheit, in der sie erzogen worden war, befreite.
Waren die Männer dazu gut? War das der Grund, weshalb man so viel von Liebe sprach? (…) Wie Recht sie doch haben, dem zu misstrauen und uns davor zu warnen, denn was wir dort verbergen, unter unseren Schleiern und unseren Unterröcken, was wir dort verbergen, enthält ein Feuer, für das wir alles verraten können.

Slimani: Le pays des autres, S. 283 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Doch in dem gewaltsamen gesellschaftlichen Kontext der 1950er Jahre ist der Konflikt vorgezeichnet. Als ein Fotograf von dem schönen jungen Paar ein Foto macht und es in seinem Laden ausstellt, fliegt die Liebesgeschichte ebenso auf wie die heimlichen Ausbrüche, die Selma während ihrer Schulzeit in die Freiheit der Stadt unternimmt. Amine, der ja selbst mit einer Französin verheiratet ist, entdeckt das Foto durch Zufall im Schaufenster, rastet aus und die erträumte Freiheit der jungen Frau endet in einer überstürzten Zwangsheirat.

Slimani gelingt es, das Auf und Ab der Sehnsüchte und Enttäuschungen in ihrer ganzen Ambivalenz in einer so gelungenen Balance aus mitreißender Unmittelbarkeit und reflektierender Distanz darzustellen, dass man nach der letzten Seite dieses ersten Bandes unbedingt nach einer Fortsetzung verlangt. Die ist auch geplant, jedoch erst für 2022 mit dem zweiten Teil, der die Zeit von 1970-1980 umfassen soll, in dem die Tochter Aïcha als junge Erwachsene im Zentrum steht, während Marokko von den Attentaten auf den König Hassan II. erschüttert wird, und für 2024 mit dem dritten Teil, in dem mit der Generation von Aïchas Kindern die globalisierte und vom islamistischen Terror geprägte Gegenwart erreicht wird. Wir brauchen also noch etwas Geduld, aber wenn die Autorin dem Stil des ersten Teils treu bleibt, wird sich das Warten auf jeden Fall lohnen!

Leïla Slimani: Le pays des autres, Gallimard (2020)
ISBN:  9782072887994

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner