bookmark_borderElsa Morante: La Storia

Elsa Morantes 1974 erschienener Roman, ein gewaltiges, ein poetisches, ein zutiefst menschliches Epos des 20. Jahrhunderts, das den berühmtesten des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht, dieser Roman, La Storia, der die große und die kleine Geschichte im Titel trägt, zeigt den ganzen Schrecken des Daseins, sein Elend, seine Brutalität, und all seine Schönheit, sein Glück, seine wilde Poesie.

Das Besondere ist, dass Elsa Morante in ihrer episch angelegten Geschichte, die sie zu Beginn der nach Jahren gegliederten Kapitel jeweils mit einer Aufzählung historischer Ereignisse geschichtlich und geschichtsphilosophisch verortet, wirklich von den „kleinen“ Leuten erzählt. Ihre Persönlichkeiten und Schicksale werden in der ganzen Materialität ihrer jeweiligen Herkunft und ihrer Lebensbedingungen in ihrer Vielschichtigkeit und Individualität ausgeleuchtet. Damit schreibt sie auch gegen die Anonymisierung der Massen an, die die politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, allen voran natürlich den Faschismus, aber auch die kommunistisch-sozialistischen Ideologien, die sie in ihrem Text mit genauso unideologisch scharfem Blick bedachte, was ihr nach Erscheinen des Romans von der italienischen Kritik übrigens noch lange Zeit vorgehalten wurde.

Elsa Morante selbst ist das Milieu, von dem sie erzählt, nicht fremd. Sie wurde 1912 im proletarischen Viertel Testaccio geboren, in dem auch ein Teil der Handlung von La Storia verortet ist. Aus Geldnot musste sie ihr Literaturstudium abbrechen und wurde Schriftstellerin und Nachhilfelehrerin; sie lernte Alberto Moravia kennen, mit dem sie bis 1962 verheiratet war, und veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, und dann ihre großen Romane.

Im Zentrum der Handlung, die in den 1940er Jahren in den eher ärmlichen Vierteln von Rom und Umgebung spielt, steht die verwitwete Grundschullehrerin Ida, die auf den ersten Seiten von einem jungen, seinerseits recht hilf- und haltlos wirkenden deutschen Soldaten auf der Durchreise vergewaltigt wird. Hier zeigt sich bereits der direkte, ungeschönte und unaufgeregte erzählerische Blick auf das Geschehen; das, was passiert ist, wird weder verharmlost noch dämonisiert, im Vordergrund steht die Notwendigkeit der Figur Ida, einen Umgang mit den ganz materiellen Konsequenzen zu finden: Sie verheimlicht ihre Schwangerschaft und arbeitet weiterhin als Lehrerin, um für sich, ihren Sohn Nino und den bald zur Welt kommenden zweiten Sohn, der Useppe genannt wird, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch nach der ebenso heimlichen Geburt wird das Kind weiter im Verborgenen gehalten, in der Wohnung sich selbst überlassen, bewacht nur von einem Hund, den Nino auf der Straße gefunden hat. Der große Bruder ist es auch, der mit Useppe die ersten heimlichen Streifzüge in die Welt unternimmt, die das Kleinkind mit allen Sinnen in sich aufzusaugen scheint. Mit Nino und Useppe hat Elsa Morante ein eindringliches literarisches Brüderpaar geschaffen. Der ungestüme, auch verführbare Nino liebt seinen kleinen Bruder, den sensiblen, mit der Kreatürlichkeit des Daseins durch einen feinen, übersinnlichen Draht verbundenen Useppe, doch seine Unstetigkeit und sein großer Freiheitsdrang bewegen ihn, den Kleineren immer wieder im Stich zu lassen. Bei einem Luftangriff auf Rom wird das ärmliche Mietshaus, in dem die kleine Familie lebt, in Schutt und Asche gelegt. Zusammen mit vielen anderen Obdachlosen stranden Ida, Nino und Useppe in einer Notunterkunft am Rande der Stadt.

Elsa Morante zeigt die Materialität des Daseins, wie es sich im Krieg offenbart, sie zeigt die Armut, den Hunger, das Elend und den Überlebenskampf, die Überlebensstrategien ihrer drei Hauptfiguren und vieler weiterer Figuren, an die sie erzählerisch ganz nah herangeht, ungeschönt und direkt, und doch literarisch verdichtet. Sie folgt auch den kleinsten Nebenfiguren, keine Figur ist ein bloßer Statist, alle sind sie Menschen mit einer eigenen Biographie, fühlende Menschen, leidende, hoffende, mit liebenswürdigen, eigensinnigen, auch grotesken Zügen. Das Auftreten einer jeden Figur und ihr Verhalten wird vielfach perspektivisch gebrochen, so dass sich ein vielschichtiges Bild ergibt. Elsa Morante arbeitet hier aber nicht mit Verfremdung, sondern mit Annäherung, mit einer Verdichtung, die jedoch nicht alles auserzählt, sondern den Figuren ihr letztes Geheimnis belässt, ihnen eine Offenheit zugesteht, in der alles möglich ist.

In diesem besonderen poetisch-realistischen Stil kann sie auch etwas in eine literarische Sprache fassen, das auf der Gratwanderung zwischen Unzugänglichkeit und Pathos sprachlich schwer einzufangen ist. Eindringlich sind mir die Szenen im Gedächtnis geblieben, in denen sie das Sterben ihrer Figuren, ihre letzten Momente, nacherzählt, sie nachdichtet und im selben Atemzug nachempfindet. Überhaupt gelingt es ihr, in diesem Buch, in dem der Krieg ja mehr als bloßes Hintergrundraunen der Handlung ist, so vom Tod zu schreiben, dass es einen auf eine nachdenklich machende, ganz leise Weise berührt, ja erschüttert. Dass sie, ohne Pathos und Exaltation, dem Schrecken des Todes so nachwirkenden Ausdruck verleihen kann, mag daran liegen, dass sie sich ihm immer wieder aus der Perspektive des unvoreingenommenen Kleinkindes oder Tieres nähert. Das Grauen des Todes und der Gewalt offenbaren sich in einer Reihe von Bildern, die eher mit den Sinnen als mit dem Verstand wahrgenommen werden. So erkennt der kleine Useppe zum ersten Mal in seinem Leben den Tod im Blick eines Pferdes; er spürt ihn mehr, als dass er ihn begreift. Nach der Kapitulation betrachtet der kleine Junge an einem Zeitungsstand die Bilder von Gehängten, die er nicht versteht, nicht einordnen kann, deren unerklärliches Grauen sich ihm aber intuitiv erschließt.

Überhaupt spielt das Kreatürliche, das Unbewusste oder Vorbewusste, zum Beispiel auch in Form von Träumen, eine große Rolle in diesem Roman. Elsa Morante zeigt den Krieg und seine Auswirkungen auf einer anderen Ebene, jenseits der männlich dominierten martialischen Kampfschauplätze. An diesen weniger beleuchteten Rändern der Gesellschaft begegnen sich Tiere, Kinder und Alte, Geflüchtete und Ausgestoßene, und natürlich eine ganze Reihe unterschiedlichster Frauenfiguren. Es geht um Mutterschaft im Krieg, im Elend, in Armut, um Überforderung, Einsamkeit und auch um Solidarität, um eine nicht nur menschliche, auch kreatürliche Verbundenheit, die ihrerseits existentiellen Charakter hat und mitten in der Gewalt des Krieges ein utopisches Moment ist. Auch die Schwangerschaft wird, über das hinausgehend, was sie für Mutter und Kind ganz materiell bedeutet, in diesem Text ein literarisches Motiv, mit dem die Autorin Einzelschicksale in eine allgemeine conditio humana einbindet. Die heimliche Schwangerschaft Idas reiht sich auf diese Weise ein in weitere hochprekäre Schwangerschaften, in der Notunterkunft gebiert Karulina, eine noch sehr mädchenhafte Kindfrau, und fast zeitgleich auch eine junge Katze, die ihr einziges Junges nicht zu säugen vermag und es im Stich lässt.

Dass das Unbewusste nicht ausschließlich ein unverstellter Zugang zum Dasein ist, sondern in Form des Unterbewusstseins auch sozial geprägt sein kann, zeigt sich am Beispiel des diffusen Schuld- und Angstgefühls, das Ida als Tochter einer Jüdin verinnerlicht hat. Ida hält ihr Jüdischsein ebenso geheim, wie es schon ihre Mutter vor ihr tat, ihre Perspektive auf die in Rom lebenden und während des Krieges ins Getto gepferchten und später deportierten Juden ist eine gebrochene. Einerseits fühlt sie sich stark angezogen, sucht das Getto und seine Bewohner immer wieder auf, gleichzeitig legt sie ihre Tarnung nie ab.

Auch die männlichen Figuren, von denen die meisten Jüngeren freilich Partisanen und Soldaten sind, sind mehr als bloße Schablonen. Es wird nachgezeichnet, wie und warum sie sich bestimmten Gruppen anschließen oder sich als Einzelgänger durchzukämpfen versuchen. Dass die beiden Hauptfiguren Nino und Useppe beide vaterlos sind, lässt sich als deutliche Metapher lesen. In der Zeit des Faschismus und des Krieges gibt es nicht nur in Italien keine Väter mehr, nur selbst ernannte „Führer“. In dieser Leerstelle haben Ideologien eine große Anziehungskraft, und es entstehen Männerbilder, die Macht, Gewalt, Stärke demonstrieren. Nino, der Teenager und junge Erwachsene, schlägt mit seinem Ungestüm und seinem Drang nach Freiheit einen anderen Weg ein als der kleine Useppe, der im Krieg noch ein Kleinkind ist und ein ganz anderes Wesen hat. Doch beide werden mit den Schrecken des Krieges und dem Elend konfrontiert, sie erleben, wie auch die vielen anderen Figuren dieses dichten Romans, das Zermürbende des Krieges, das Elsa Morante so eindringlich zum Ausdruck zu bringen versteht wie den immer wieder im Kleinsten aufblitzenden Zauber des Daseins in all seiner Verletzlichkeit. Und so liest man atemlos, mit allen Sinnen, diese Erzählung von existentieller Sinnlichkeit, die ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Wirkung verloren hat.

Bibliographische Angaben
Elsa Morante: La Storia [1974], Wagenbach 2024
Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
ISBN: 9783803133656

Bildquelle
Elsa Morante, La Storia
© 2024 Verlag Klaus Wagenbach GmbH, Berlin

bookmark_borderJana Revedin: Margherita

Jana Revedin erzählt in ihrem auf der eigenen Familiengeschichte basierenden Roman die Geschichte einer modernen Frau und verknüpft sie geschickt und unterhaltsam mit einer Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des europäischen 20. Jahrhunderts.

Zunächst mutet die Geschichte der intelligenten und einfühlsamen Margherita, die mit ihren Schwestern einen Zeitungskiosk betreibt, um die Familie zu ernähren, wie ein Märchen an. Einer ihrer Zeitungsabonnenten ist Nino, der Erbe der alteingesessenen, reichen Familie Revedin in Treviso. Marghuerita mag ihn gern und genießt es, ab und an ein Wort mit ihm über das in den Zeitungen berichtete Zeitgeschehen zu wechseln, doch als Nino sie eines Tages zu sich einlädt und ihr einen Heiratsantrag macht, fällt sie aus allen Wolken und bleibt zunächst skeptisch, ob eine solche unstandesgemäße Liebe eine Zukunft haben kann. Doch ihr familiäres Umfeld ist dem jungen Paar gewogen — im Unterschied zu den venezianischen Patrizierfamilien, die Margherita auch nach Jahrzehnten nicht als eine der Ihren akzeptieren werden — und so findet 1920 die Hochzeit statt und die beiden ziehen in ein Palais nach Venedig.

Venedig ist zu dem Zeitpunkt eine im Wandel begriffene Stadt, und Margherita verkörpert wie keine andere diesen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Geschult in Paris, wo sie vor ihrer Hochzeit einige Monate verbrachte, sozusagen als Bildungsreise und kulturelle Initiation, nutzt sie den Einfluss der Familie ihres Mannes und nicht weniger auch ihre eigenen Kontakte, die sie in Paris geknüpft hat — darunter z.B. die später berühmte Kunstmäzenin Peggy Guggenheim –, um Venedig zu einem kulturellen Zentrum der Moderne zu machen. Film, Kunst, Sport, Mode, Architektur, überall steckt die Moderne in ihren Startlöchern, und Margherita ist begeistert und engagiert mit dabei.

Doch während Margherita sich in diese neue Welt in Venedig, in der sie als Mädchen einfacher Herkunft immer wieder auch auf Widerstand stößt, mit ihrer einfühlsamen und begeisterungsfähigen Art rasch einzufügen versteht und dem kleinen Luigi bald auch eine verantwortungs- und liebevolle Mutter wird, beobachtet sie zunehmend mit Sorge, wie ihr verträumter Mann Nino, dessen Leidenschaft die Fotografie ist, sich mehr und mehr in dubiose Geschäfte einlässt, Schulden anhäuft und sich schließlich sogar den neuen politischen Granden des Faschismus anbiedert. Diese Selbstentfremdung Ninos geht bald auch einher mit einer Entfremdung der Eheleute voneinander, die ein trauriges Ende nimmt.

Nach den 1930er Jahren folgt ein großer Zeitsprung ins Jahr 1962. Margherita ist längst Witwe, hat ihre kunstsinnige Umtriebigkeit und ihre Begeisterungsfähigkeit aber nicht verloren, sondern gestaltet mit talentierten Nachwuchsarchitekten das künftige Stadtbild Venedigs. Und, so viel sei zumindest verraten, auch die Familiengeschichte nimmt ein versöhnliches Ende mit dem hoffnungsvollen Ausblick auf eine neue Generation. Diese wird für die Autorin dann auch die Brücke zu einem autobiographischen Epilog, in dem sie schildert, wie sie selbst Margheritas Enkel kennengelernt hat: Antonio Revedin, den sie geheiratet und dessen Familiengeschichte sie hier niedergeschrieben hat.

Auch wenn der Roman manchmal an eine Chronik erinnert, da die Autorin eine Fülle an historischen Personen und Tatsachen in ihm unterbringt, werden diese doch fast immer lebendig in die Handlung eingebunden. Das gelingt zum einen durch die überzeugend gestalteten Dialoge, zum anderen auch durch die plastische und meist vielschichtige Charakterisierung der Figuren. Einzig Marherita selbst wird zwar äußerst einfühlsam, doch im Unterschied zu manch anderen gebrocheneren oder schillernderen Figuren vielleicht als zu gute Seele gezeichnet. So haftet der Erzählung doch bis zuletzt etwas Märchenhaftes an, aber das nimmt man gern in Kauf bei einer insgesamt überaus mitreißenden Geschichte.

Bibliographische Angaben
Jana Revedin: Margherita, Aufbau Verlag (2020)
ISBN: 9783351038304

Bildquelle
Jana Revedin, Margherita
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

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