bookmark_borderSylvain Prudhomme: Légende

Ich muss gestehen, ich habe Sylvain Prudhommes Roman ursprünglich vor allem deshalb angefangen zu lesen, weil sein Name meinem französischen Lieblingsdichter Sully Prudhomme so wundersam ähnelt. Mit dem übrigens nobelpreisgekrönten Dichter aus dem 19. Jahrhundert hat der französische Gegenwartsautor Sylvain Prudhomme, Jahrgang 1979, dessen jüngster Roman Par les routes kürzlich mit dem Prix Femina ausgezeichnet wurde, nun wirklich nicht im Mindesten etwas zu tun. Trotzdem habe ich diesem klanglichen Zufall eine wunderschöne literarische Entdeckung zu verdanken.

In Légende, 2016 in Frankreich erschienen, erzählt Sylvain Prudhomme zurückhaltend, feinsinnig und zugleich unheimlich intensiv von einer kargen Landschaft in der südfranzösischen Provinz, und entfaltet ausgehend von diesem lokalen Mikrokosmos eine Geschichte, die letztlich weit über die französische Grenze hinaus- und tief in die Vergangenheit hineinführt.

Getragen und in Bewegung gebracht wird der Roman durch die Geschichte einer noch jungen Freundschaft. Die Familienväter Nel und Matt haben sich über ihre Kinder kennengelernt und durch ihre geteilte Liebe zur Natur einen Draht zueinander gefunden. Nel ist Fotograf und fängt die raue, schroffe Schönheit von La Crau, der Gegend östlich von Arles, in der er aufgewachsen ist, in zahlreichen Landschaftsaufnahmen ein. Auch der Engländer Matt ist dem visuellen Medium verbunden, er plant einen Film über seine südfranzösische Wahlheimat, den er ausgehend von Gesprächen mit ihren Bewohnern, und natürlich auch mit Nel, entwickeln möchte.

In vielen Gesprächen, die Nel bisweilen fast zu intim werden, so dass er sich phasenweise aus der Freundschaft zurückzieht, entsteht so die Geschichte einer vergangenen Epoche voller Intensität, Freiheit und jugendlicher Grenzüberschreitung, deren Kehrseite mit den Begriffen Aids, Drogen, Gewalt und Tod aufwartet. Der Übergang vom Heute ins Gestern, die Rekonstruktion einer Familiengeschichte, die immer wieder sehr persönliche und bilderreiche Einblicke in das Frankreich der achtziger Jahre gibt, gelingt dem Autor dabei auf ganz unauffällige und sehr stimmige Weise.

Man erfährt von Nels Cousins Fabien und Christian, die nicht nur auf den kleinen Nel damals faszinierend gewirkt haben müssen, da sie so frei und anders zu leben schienen als man es in der französischen Provinz kannte. Fabien ist der Intellektuelle, der Selbständige, der Freigeist, der als Kind allein mit seiner Großmutter in Frankreich lebt, während seine Eltern und sein jüngerer Bruder am anderen Ende der Welt Schmetterlinge fangen und klassifizieren. Doch dann erkrankt Fabien an der damals neuen tödlichen Krankheit Aids. Sein Bruder Christian ist auf andere Weise ebenso hungrig nach Leben wie Fabien, er kann seine Leidenschaft für das Abenteuer zeitweise in der Natur ausleben, indem er in die Fußstapfen seines Vaters tritt und in Afrika unbekannten Schmetterlingen nachjagt. Doch lässt sich sein Verlangen allein dadurch nicht stillen, immer wieder provoziert er, wird handgreiflich und verfällt schließlich den Drogen. Ohne auf irgendeine Weise moralisch zu argumentieren, zeichnet Prudhomme ein ambivalentes Bild jener Zeit, er zeigt auch die beängstigende Seite einer Autonomie, die nicht vor Verletzlichkeiten schützt. Beide Brüder werden fast zeitgleich und in sehr jungen Jahren vom Tod eingeholt, der ihr exzessiv aber auch poetisch geführtes Leben grausam beendet.

Fast zwangsläufig, wenngleich eher skeptisch blickt Nel gemeinsam mit Matt auch in die eigene, ganz in der Provinz verankerte Familiengeschichte zurück. Seine Vorfahren lebten als Schäfer und Schafzüchter in enger Verbundenheit mit der Natur ein anspruchsloses, nomadenhaftes Dasein. Sein Vater entschied sich bewusst gegen die Tradition, indem er die Tochter von Landwirten heiratete und von da an einen Bauernhof bewirtschaftete. Doch der Region blieb er treu, genauso wie auch sein Sohn Nel durch seine Landschaftsfotografie der Heimat wie schicksalhaft verbunden bleibt. So führt uns Prudhomme mit seiner Erzählung behutsam vor Augen, dass man seinen Wurzeln trotz neuer Lebensentwürfe nie ganz entkommt.

Die Gegend von La Crau, ob Heimat oder Wahlheimat, ist letztlich auch die eigentliche „Hauptfigur“, das Zentrum, in dem die Geschichten von Nel und Matt, Fabien und Christian zusammenlaufen. Durch den Titel und ebenso auf den ersten Seiten der Erzählung wird diese Landschaft geradezu mythisch aufgeladen. Die Legende von Herakles, der sich hier einst, so wird es von Aischylos in dem nur fragmentarisch erhaltenen Stück Der gelöste Prometheus überliefert, dank einem von Zeus gesandten Steinregen gegen die riesenhaften Liguren verteidigen konnte, wird hier gleichsam als Ursprungsmythos der Region heraufbeschworen (vgl. Valéry Raydon: Le mythe de la Crau).

In der deutschen Übersetzung wurde vielleicht gar nicht zu unrecht der Titel Legenden im Plural gewählt, werden im Text doch weitere Legenden ausgegraben, um die herum sich Geschichten spinnen, wie die der verstorbenen Brüder oder der alten Diskothek, die damals eine Art symbolischer Mittelpunkt für die Jugend von La Crau darstellte. Schließlich taucht der Begriff „légende“ auch im Sinne einer Bildunterschrift auf, als Klassifizierung der von Christian und Onkel André neu entdeckten Schmetterlingsarten und wird auf diese Weise zu einem Symbol des Exotischen, zum Gegenpol der südfranzösischen Steinwüste, die letztlich doch alle Figuren wieder zu sich „nach Hause“ holt.

Die Geschichte ist einfach so wunderschön erzählt, so unaufdringlich und sensibel für die feinen Töne, dass sie ihren ganz eigenen Zauber entfaltet und man bald dem rauen, zerklüfteten Charme der Landschaft und seiner Bewohner verfällt.

Sylvain Prudhomme: Légende, Gallimard Collection Folio (2018)
ISBN: 9782072765124

bookmark_borderKatya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum

Das auch erwachsenen Lesern unbedingt ans Herz zu legende Kinderbuch, mit dem Elfjährige fast noch ein wenig überfordert sein könnten, handelt von einer nicht einfachen Geschwisterbeziehung, unheimlich authentisch erzählt aus der Perspektive des einfühlsamen und sensiblen 10jährigen Frank, der die Liebe zu seinem kleinen Bruder Max, einem Autisten, zugleich als große Herausforderung und immer wieder auch als Zumutung empfindet. Denn manchmal möchte er einfach nur selbst ein kleiner Junge sein, der die Kindheit genießt, mit seinen Freunden Fußball spielt, in der Wildnis imaginäre Abenteuer erlebt, an Geheimcodes tüftelt und sich kreative Rückzugsorte schafft.

Behinderung, Krankheit, Tod, die Autorin mutet Frank und den jungen Lesern wahrlich Existentielles zu, und schreibt doch auf eine bewundernswert leichte und leicht machende Weise. So gelingt es ihr wunderbar, uns vorzuführen, wie sehr das Leben, die Welt, die Sterne, das Universum, und darin vor allem das menschliche Miteinander, ein Quell von Schönheit und Liebe sind.

Altersempfehlung
Laut Verlag ab 11 Jahren, persönlich empfohlen eher erst ab 12+

Bibliographische Angaben
Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum, CARLSEN (2019)
Aus dem Englischen von Annette von der Weppen
ISBN: 9783551557612

Bildquelle
Katya Balen, Mein Bruder und ich und das ganze Universum
© 2019 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderSusan Kreller: Elektrische Fische

Was an diesem Buch sofort auffällt, ist seine wunderschöne Sprache! Wie behutsam und poetisch die Autorin erzählt, wie glaubhaft sie die Stimme der jungen Emma wiedergibt und wie aufmerksam auch die anderen Figuren charakterisiert werden. Allen voran erschüttert einen der stumme Schmerz der kleinen Schwester, die nach dem Umzug von Irland nach Norddeutschland zuerst keine deutschen, dann gar keine gesprochenen Worte mehr findet, um ihr Heimweh, ihre Einsamkeit auszudrücken. Aber auch die zarte, manchmal holprige und dadurch umso intimere, ehrlichere Freundschaftsgeschichte von Emma und Levin, der Emma, zunehmend widerstrebend, bei ihren heimlichen Planungen hilft, sich in ihr irische Heimat zurück zu flüchten, geht einem unter die Haut. Da sie beide sehr empathische Menschen sind, tragen sie jeder für sich auch innerhalb ihrer Familie das bisweilen erdrückende Gefühl einer Verantwortung mit sich: Emma für ihre verstummte Schwester und auch für ihre depressive Mutter, die sich in ihrer neuen alten Heimat nur schwer wieder zurechtfindet, Levin für seine an einer heftigen Form der Schizophrenie erkrankten Mutter, die immer wieder soziale Situationen sprengt und sich schließlich selbst in große Gefahr – und Emmas Fluchtpläne ins Wanken bringt.

Ein intelligenter und tief rührender Roman über das Verlieren und Wiederfinden von Heimat, die viel mit Vertrautheit und Vertrauen zu tun hat.

Ich weiß nicht, wie sich Aoifes Heimweh jetzt anfühlt. Sie scheint immer noch empört zu sein, weil unsere Mutter sie aus ihrem Leben genommen und in ein neues Leben gesetzt hat wie eine wehrlose Grünpflanze. Manchmal weint sie noch, aber ohne Ton, das kann sie wie ein Weltmeister. Immer wieder vergisst sie aber, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, die Traurigkeit klebt ihr morgens an den Wangen und glänzt so stark, dass sich die Sonne darin spiegelt und der ganze Tag, der noch vor ihr liegt und den meine Schwester irgendwie überstehen muss.

Elektrische Fische, S. 104 (Kap. 27)

Altersempfehlung
Ab 12 Jahren

Bibliographische Angaben
Susan Kreller: Elektrische Fische, CARLSEN (2019)
ISBN: 9783551584045

Bildquelle
Susan Kreller, Elektrische Fische
©  2019 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderLara Prescott: Alles, was wir sind

Wer einen fesselnden und gut geschriebenen Unterhaltungsroman sucht, der kann sich sich mit Alles, was wir sind von Lara Prescott wunderbar von der in Aufruhr geratenen Welt des noch jungen Kalten Krieges mitreißen lassen und in den privaten und politischen Kosmos von Boris Pasternaks spätem Leben und Werk eintauchen.

Der Roman, dessen deutscher Titel in seiner Vagheit etwas unglücklich gewählt ist, das englische The secrets we kept trifft den Kern der Geschichte(n) da doch viel genauer, ist Literatur- und Spionagegeschichte in einem und erzählt, zum Großteil aus weiblicher Perspektive, die Geschichte – oder besser zwei Geschichten einer großen Liebe: Auf russischer Seite treten wir ein in die Welt von Olga, der langjährigen Geliebten Pasternaks, die für ihn das Lager in Sibirien durchsteht und sich unermüdlich als Literaturagentin für seinen großen, von der Zensur verbotenen Roman Doktor Schiwago einsetzt, bis sie irgendwann die Verhältnismäßigkeit von Pasternaks Einsatz für sein Lebenswerk und der unmittelbaren Bedrohung für ihr Leben und das ihrer Kinder in Frage stellt. Jenseits des Atlantiks treffen wir auf die junge Stenotypistin Irina, die auch aufgrund ihres biografischen Hintergrundes als amerikanische Geheimagentin ausgewählt wird, um Pasternaks verbotenes Buch heimlich in der Sowjetunion zu verbreiten. Die Kür ihrer Ausbildung erhält sie von der schillernden Agentin Sally, mit der sie bald mehr Geheimnisse verbinden als die Spionage. Doch ihre Liebe ist im Nachkriegsamerika kaum weniger gefährlich als Pasternaks zur intellektuellen Waffe verwandeltes Buch.

Durch die wechselnden Perspektiven kann die Autorin die verschiedenen widerstreitenden Gefühle, Ansichten und Handlungsmotivationen einfangen. Insbesondere die aus der ungewöhnlichen Wir-Perspektive der „Stenotypistinnen“ erzählten Kapitel vermitteln sehr deutlich den soziologischen und genderspezifischen Hintergrund, vor dem Olga, Irina und Sally jede auf ihre Weise als für ihre Überzeugungen einstehende starke und zugleich sensible Frauen erscheinen.

Bibliographische Angaben
Lara Prescott: Alles, was wir sind, Rütten & Loening (2019)
Übersetzt von Ulrike Seeberger
ISBN: 9783352009358

Bildquelle
Lara Prescott, Alles, was wir sind
© 2019 Rütten & Loening in der Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

bookmark_borderHenrik Wergeland: Im wilden Paradies

Im Werk Henrik Wergelands (1808-1848) ist die Romantik wahrhaft eins mit der Moderne — das geht aus der schönen Auswahl der bei Wallstein erschienenen und von Heinrich Detering ins Deutsche übertragenen Texte des norwegischen Nationaldichters ganz deutlich hervor: Mal pointiert, mal nachdenklich, mal satirisch, mal introspektiv, zeugen sie von einer großen stilistischen Experimentierfreude und bringen eine Freiheit und Vielfalt der Form zum Ausdruck, die von streng komponierten Oden über Naturgedichte in freien Versen bis zum Prosagedicht reicht. Einiges erinnert an Baudelaire, etwa die ungewöhnliche Darstellung des Wahnsinns einer unmöglichen Liebe in der „Romanze des Schneeglöckchens“ oder die erotisch-hymnische Reflexion über einen Totenschädel, die im Lobpreis des knöchernen Skeletts mündet, von dessen „herrliche[r] Konstruktion aus Schönheitslinien, die nun ewig sind wie der Marmor“:

Welch fein geformte Hirnschale, die fortgerollt ist unters Laub! Sie muss einer jungen Schönheit gehört haben. (…) Wie töricht, die samtenen Rosenwangen der Geliebten zu besingen (…). Geh in das Wesen der Dinge! Fühl die Entzückung, Sterblicher, im Umarmen dieser Wirbelsäule: noch zierlicher ist sie als die Schlankheit der Jungfrau!

Auszug aus: Der Totenschädel, in der Übersetzung von H. Detering, S. 146-149

Einheit von Romantik und Moderne ist in Wergelands Biographie und Werk auch in dem Sinne zu verstehen, dass der Dichter sich sein Leben lang für einen noch im Entstehen befindlichen Nationalstaat Norwegen — das sich 1814 von Dänemark löste, die Unabhängigkeit von Schweden jedoch erst 1905 erreichte — einsetzte. Er kämpfte für ein demokratisches Heimatland, für die Gleichberechtigung der Juden, und er nutzte dafür auch intensiv den Journalismus, das aufstrebende Medium dieser Zeit. Auch in einige Gedichte hat die journalistische Meinungsäußerung Eingang gefunden, in denen er so manche dichtungstheoretische oder politische Debatten austrug.

Die zweisprachige Ausgabe ist mit knappen, aber sehr hilfreichen Kommentaren zu den einzelnen Texten im Anhang sowie mit einem Vorwort des Übersetzers versehen, das ich für sehr wertvoll halte, da es in den historischen und literarischen Entstehungskontext des Werks eines Autors einführt, der in Deutschland dem breiten Publikum weitgehend unbekannt sein dürfte. Auch mir als Literaturwissenschaftlerin und Lyrikliebhaberin, die Baudelaire, Heine, Ibsen, Rilke — all die Schriftsteller, die H. Detering in seinem Vorwort mit Wergeland in eine literarische Beziehung setzt — verehrt, war der Norweger Henrik Wergeland zuvor kein Begriff, zum Glück hat sich das jetzt geändert. Übrigens finde ich, dass das Nebeneinander von norwegischem Original und deutscher Übertragung, für die sich die Herausgeber entschieden haben, ein großer Gewinn auch für einen des Norwegischen unkundigen Leser ist; denn hat man sich einmal inhaltlich mit der wirklich schön zu lesenden und bis ins Detail durchdachten deutschen Übersetzung vertraut gemacht, erschließt sich einem darüber hinaus so manches im norwegischen Text einfach durch seinen poetischen Klang, der gerade bei Lyrik ja ein unverzichtbares Sinnelement ist.

Henrik Wergeland: Im wilden Paradies – Gedichte und Prosa
Aus dem Norwegischen übertragen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Detering
Wallstein (2019)
ISBN 9783835334984

bookmark_borderDavid Wagner: Der vergessliche Riese

Bei der Lektüre dieses auf wundersam unaufgeregte Weise so tief berührenden Buches musste ich immer wieder an ein Theaterstück von Eugène Ionesco, dem Meister des Absurden, denken: Wie in Le Roi se meurt (Der König stirbt) wird hier der schleichende und doch unaufhaltsame Prozess des Verschwindens einer ganzen Welt, eines ganzen Reiches auf ähnlich groteske und tragikomische Weise in Szene gesetzt. Hier ist es die Erinnerungswelt des an Alzheimer erkrankten Vaters, die sich mehr und mehr auflöst und eine Umkehrung der Hierarchien und Verantwortungen herbeiführt. Erschien der Vater seinen Kindern früher als Riese, zu dem sie aufschauten und der wie eine Garantie für Vertrauen und Vertrautheit mit der Welt schien, kümmern sich nun die Kinder, fast immer geduldig, sanft und ohne den Humor zu verlieren, um den Vater, dem eben diese Vertrautheit, beschleunigt durch die Krankheit, im Alter mehr und mehr verloren geht.

Seine Stimme ist die von früher, sie hat sich kaum verändert. Sie klingt noch immer so, als sage er nur kluge Sachen. Früher, im seltsamen Früher, wo liegt dieses geheimnisvolle Land, wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Größte.

Der vergessliche Riese, S. 81

David Wagner schildert in neun Kapiteln, zwischen denen größere zeitliche Abstände liegen, die den Fluss der über mehrere Jahre sich erstreckenden Erzählung jedoch kaum unterbrechen, da die Veränderungen so unmerklich sind, die fortschreitende Demenz seines Vaters, seine Besuche bei ihm, den mit dem Geschwistern heimlich geplanten Umzug ins Pflegeheim, die Ausflüge, die er mit ihm unternimmt, um mit wechselndem Erfolg der sich immer mehr verwirrenden Erinnerung Anknüpfungspunkte zu geben.

Für meinen Vater ist jeder unserer Besuche wie der erste nach langer Zeit. Ich fahre ihn durch seine Vergangenheit. Und durch meine eigene.

Der vergessliche Riese, S. 88

Die Dialogkunst des Autors ist faszinierend, im Grunde ist die ganze Erzählung ein einziger, immer wieder aufgegriffener und unermüdlicher Dialog mit dem Vater. Die Wortwechsel lesen sich unheimlich leicht, lassen einen immer wieder schmunzeln und mitunter stöhnen, und bestechen durch ihren Anschein absoluter Natürlichkeit und Authentizität. Dabei ist jeder Satz genau durchdacht, das ganze Buch auf subtile Weise durchkomponiert. Die fein nuancierten Wiederholungen sind ein Abbild des sich zersetzenden Erinnerungsvermögens des Vaters, der sich ohne es zu merken immer wieder in endlosen Gedankenschleifen verfängt, der in immer kürzeren Abständen die immer gleichen Fragen stellt.

Auch wenn die Beschäftigung mit dem Vater dadurch oft wie die absurde Arbeit des Sisyphus anmutet, der Stein, mühsam nach oben gebracht, sofort wieder den Anhang hinabrollt, fällt umso mehr die Ruhe und Geduld auf, die nicht nur der Erzähler, sondern auch seine Geschwister, auch seine junge Tochter im Umgang mit dem „vergesslichen Riesen“ aufbringen. Man könnte sagen, David Wagners Text, der in diesem Sinne fast existentialistisch zu nennen ist, lebt die Möglichkeit eines praktizierten Lebens mit der in der Figur des Vaters konzentrierten Absurdität des Daseins vor. Was die Angehörigen bei dieser Krankheit auch durchmachen müssen, welche Sorgen und Ängste, welche Gereiztheiten dabei ganz sicher auch an ihren Nerven zerren, scheint nur in ganz kurzen schockartigen Momenten auf, etwa, als der Vater vom Beifahrersitz aus bei voller Fahrt die Handbremse zieht. Eine dramatische Schilderung des Innenlebens sucht man vergebens, die Erzählung gibt Schmerz, Wut, Frust keinen Raum. Einblick in die Gefühlswelt erhält man nur vermittelt über die Dialoge.

Man erfährt in den Gesprächen wie beiläufig auch viel über das Leben des seit kurzem zum zweiten Mal verwitweten Vaters, über seine Familiengeschichte und vor allem über seine Liebe zur Musik, die anders als etwa seine in der Erinnerung verblassende berufliche Vergangenheit die Krankheit zu überdauern vermag. Darüber hinaus erzählt der Autor auch eine ganz persönliche Geschichte der Wiederannäherung von Vater und Sohn, vom fragilen und liebevollen Wiederaufbau einer Vater-Sohn-Beziehung, die durch die zweite Ehe des Vaters abgekühlt und über lange Jahre wenig gepflegt worden war, davon, wie sich in dieser für beide gänzlich neuen Lebenssituation zarte und innige neue Bande knüpfen lassen.

Trotzdem geht die Erzählung, das empfindet man beim Lesen immer wieder, über die individuelle Geschichte hinaus, indem sie einen unaufdringlich zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit inspiriert. Sie stellt die Frage in den Raum, was von einem Menschen bleibt, was Menschen über die Erinnerung hinaus miteinander verbindet und vom zutiefst menschlichen Sich-Klammern an die Erinnerung, die auch irgendwann dem Vergessen anheimfallen wird. Gerade in der Unaufgeregtheit der Erzählung kommt die Tragik der Absurdität auf stille Weise zum Vorschein, macht den Leser nachdenklich und weckt Empathie, ohne ihn zum Mitleid zu nötigen.

Bibliographische Angaben
David Wagner: Der vergessliche Riese, Rowohlt (2019)
ISBN 9783498073855

Bildquelle
David Wagner, Der vergessliche Riese
© 2019 Rowohlt Verlag

bookmark_borderMichael Römling: Pandolfo

Ein junger Mann, der durch ein gewaltsames Verbrechen sein Gedächtnis verliert, ein gewiefter Mailänder Seidenhändler, der ihn bei sich aufnimmt und sein Zwillingsbruder, ein genialer Tüftler, der vom Fliegen träumt — mit diesen drei Figuren im Zentrum einer intrigenreichen Handlung entwirft der Autor ein ebenso spannendes wie anspruchsvolles Panorama der faszinierenden Epoche der Renaissance. Ein historischer Roman, der seinesgleichen sucht!

Bibliographische Angaben
Michael Römling: Pandolfo, Rowohlt (2019)
ISBN 9783498093563

Bildquelle
Michael Römling, Pandolfo
© 2019 Rowohlt Verlag

bookmark_borderPhilippe Lançon: Der Fetzen

Philippe Lançon hat das Attentat auf Charlie Hebdo mit einer schweren Verletzung überlebt. Dieses Überleben macht er zum Thema seiner Aufzeichnungen, deren bisweilen schockierende Offenheit dem Leser sehr nahe geht. Er schildert auf nachdenkliche und sehr feinsinnige Weise die zahlreichen Herausforderungen, vor die ihn die Wiedereingliederung in das „normale“ Leben stellt. Hilfe findet er bei Kafka und Proust, aber auch durch die vielen neuen Bande, die er mit Chirurgen und Personenschützern knüpft. Innen und außen spiegeln sich dabei, sein Gesicht besteht aus ebensolchen Fetzen wie sein neues Leben, das gewaltsam vom alten getrennt wurde. 

Bibliographische Angaben
Philippe Lançon: Der Fetzen, Tropen (2019)
Aus dem Französischen von Nicola Denis, Originaltitel: Le lambeau (Gallimard)
ISBN 9783608504231

Bildquelle
Philippe Lançon, Der Fetzen
© 2019 Tropen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

bookmark_borderMirjam Pressler: Dunkles Gold

Gleich zwei Geschichten erzählt der Roman, verwoben durch die Neugier und das Talent eines jungen Mädchens. 1349 flieht die 15jährige Rachel vor den Pogromen aus ihrer Heimatstadt. Die gleichaltrige Laura, deren Geschichte in unserer Gegenwart spielt, weiß von ihrer Mutter, einer Kunsthistorikerin, alles über den Erfurter Schatz, den unbekannte Juden bei ihrer Vertreibung zurücklassen mussten. Als sie ihrem jüdischen Mitschüler Alexej näherkommt, wächst ihr Interesse für die Geschichte ihrer Stadt. In einer Graphic Novel haucht sie den vergessenen Figuren der Geschichte Leben ein und gibt Rachel und ihrem kleinen Bruder eine Biographie, die uns Leser zu fesseln und berühren vermag. Durch Einfühlung das Vergangene erlebbar machen und gegen das Vergessen anschreiben, das gelingt auch der Autorin Mirjam Pressler, die mit diesem ihrem letzten Roman zugleich ein persönliches Vermächtnis geschrieben hat, meisterhaft!

Ab 14 Jahren

Mirjam Pressler: Dunkles Gold, Beltz (2019)
ISBN 9783407812384

bookmark_borderAbubakar Adam Ibrahim: Wo wir stolpern und wo wir fallen

Mit seinem Roman „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ erschafft der nigerianische Autor Abubakar Adam Ibrahim ein schillernd realistisches und äußerst vielschichtiges Bild seiner Heimat, das einen immer wieder „stolpern“ lässt. Ob über die zahlreich eingestreuten afrikanischen Weisheiten, über die Ausbrüche der sehr lebendig gezeichneten Charaktere und nicht zuletzt über die gesellschaftliche Grenzen sprengende Liebesgeschichte der Witwe Binta mit dem 30 Jahre jüngeren Gangster Reza. Als die alles andere als oberflächliche Liebe bekannt wird, kommt eine gefährliche Dynamik in Gang, in der unverarbeitete Traumata an die Oberfläche drängen…

Abubakar Adam Ibrahim: Wo wir stolpern und wo wir fallen, Residenz (2019)
Übersetzt von Susann Urban
ISBN 9783701717125

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