bookmark_borderGilles Kepel: Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen

Seit Jahrzehnten ist der Nahe Osten als Konfliktherd in den Nachrichten, kein Land in dieser Region ist unversehrt von Gewalt, Bürgerkrieg, Militärschlägen, Attentaten, im Gegenteil, mit der Schreckensherrschaft des so genannten „Islamischen Staates“ zwischen 2014 und 2017 und dem immer noch auf unabsehbare Zeit andauernden und so viele verschiedene Akteure und wechselnde Koalitionen bindenden Syrienkrieg scheint die Lage verfahrener denn je. Und umso unübersichtlicher — wer verfolgt in diesem Krieg welche Interessen, wer rächt welche vergangenen Taten, ist die Türkei nun gegen den Diktator Assad oder bekämpft sie aus Angst vor dem kurdischen Separatismus die Rebellen? Und welche Rolle spielt eigentlich der Iran? Warum trauen sich Salafisten und Muslimbrüder nicht über den Weg, obwohl sie doch beide als sunnitisch-islamistische Bewegungen gelten, und was ist der Unterschied zwischen den dschihadistischen Zielen Al-Qaidas und dem verbrecherischen Konstrukt des „Islamischen Staats“?

Gilles Kepel, französischer Arabist und Politikwissenschaftler, versucht in seinem neuen Buch Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen Ordnung in diese wirklich äußerst komplexe Lage zu bringen, und das gelingt ihm ganz schön gut. Ich habe bei der Lektüre seiner über 400 Seiten starken Analyse jedenfalls ziemlich oft innerlich „Aha!“ gerufen und das Buch mit dem — angesichts der sehr beunruhigenden gesellschaftspolitischen Situation freilich getrübten — Gefühl intellektueller Befriedigung geschlossen, einige für das Verständnis des Nahen Ostens unabdingliche Erkenntnisse gewonnen zu haben.

Dass der Autor die Komplexität dieser Konflikte so gut durchdringen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass er seit langem in intensivem Kontakt mit der Region steht. Gilles Kepel lernte den Nahen Osten in den 1970er Jahren kennen, u.a. als Stipendiat am Institut Français in Damaskus, und schloss weitere Forschungsaufenthalte an, die bis heute andauern. Seine Doktorarbeit, in der er lokale islamistische Bewegungen untersuchte, schrieb er in Ägypten. Seitdem hat er zahlreiche Reisen in den Nahen Osten und nach Nordafrika unternommen und führte viele Gespräche vor Ort, die auch in das aktuelle Buch mit einfließen. Er ist somit zugleich Augenzeuge und Wissenschaftler, und diese doppelte Perspektive wirkt sich sehr positiv auf die Tiefe und detailreiche Anschaulichkeit seiner Analyse aus. Sein fundiertes Wissen und die akribische Recherche stellt Kepel seinen Lesern in einem darüber hinaus auch sehr gut lesbaren Text zur Verfügung, indem er nämlich kulturelle, gesellschaftliche und historische Hintergründe in seine Argumentation integriert und wichtige Fakten oder Zusammenhänge auch auf die Gefahr der Wiederholung hin mehrfach in Erinnerung ruft, was meines Erachtens für jeden Leser, der kein absoluter Kenner des Nahen Ostens ist, sehr angebracht ist.

Dennoch erfordert die Lektüre Konzentration, was bei der Fülle der Akteure, der Länder und Regionen, der religiösen und politischen Strömungen, ihrer unterschiedlichen und konkurrierenden Antriebe und Ziele, nicht Wunder nimmt. Trotz der guten Gliederung des Stoffes, die es einem erleichtert, sich Zusammenhänge zu erschließen und einen Überblick zu erhalten, ist Chaos auf keinen Fall ein Buch, das man einfach so nebenbei konsumieren kann. Der Autor nimmt dem Leser das Denken — zum Glück — nicht ab, aber er erleichtert es einem, er bahnt uns gewissermaßen einen freilich steilen Weg in eine Region, in der wir sonst verloren wären.

Kepels Text ist eine ausgewogene Kombination aus detailreichem Nachzeichnen der zahlreichen einzelnen Konflikte und dem Aufzeigen großer Linien und Tendenzen. So leuchtet er die gesamte Region aus, die den Nahen Osten und Nordafrika umschließt, beschreibt den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund jedes einzelnen Landes und die Art und Weise, wie es in den großen Konflikt involviert ist. Dabei analysiert er aufs genaueste die verschiedenen religiösen Strömungen, porträtiert die einflussreichsten dschihadistischen Wortführer und ihre Ideologien ebenso wie politische Führungsfiguren, Parteien oder Bewegungen. Dieses horizontal-regional aufbereitete Material ergänzt er durch eine vertikal-chronologische Achse, auf der er einen Überblick über die zentralen Etappen und Entwicklungslinien in einem Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert herstellt. So verfolgt er insbesondere die wachsende Islamisierung der Politik im Nahen Osten und hebt die Bedeutung der iranischen Revolution hervor: 1979, der Beginn der Islamischen Republik, ist für ihn ein Schlüsseljahr, da von nun an der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten die regionalen Konflikte antreibt und verschärft; der religiös stigmatisierte Feind ist nicht mehr (nur) Israel, sondern auch die Anhänger der Schia (und umgekehrt), bevor auch der Westen zum ideologisch-religiös aufgeladenen Feindbild wird. Sehr anschaulich und nachvollziehbar beschreibt Kepel vor diesem Hintergrund auch die drei Phasen des Dschihadismus, der in der ersten Phase, als Spielfigur im Kalten Krieg, von den USA instrumentalisiert und angeheizt wurde, in der zweiten Phase mit Al-Qaida eine hierarchische Terrorstruktur errichten konnte, mit welcher der Konflikt sichtbar und spürbar auch in den Westen übertragen wurde, und in der dritten Phase schließlich, die im so genannten „Islamischen Staat“ kulminierte, die hierarchischen Strukturen durch ein System internationaler und virtueller Vernetzung ersetzte, das mittels ungebundener, lokaler Einzeltäter überall auf der Welt und längst auch in Europa den islamistischen Terror explodieren lässt.

Einen großen Raum in Kepels Text nimmt weiterhin seine Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen und der gravierenden Folgen des „Arabischen Frühlings“ ein, den er als Euphemismus bezeichnet, da sich außer in Tunesien die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Region nicht erfüllt hat. Schließlich richtet der Autor einen besonderen Fokus auf den noch andauernden Krieg in Syrien, für ihn ein Kernkonflikt, an dessen Ausgang sich die Weichen für die Zukunft der Region stellen werden.

Kepel macht keinen Hehl aus seinem Misstrauen in den politischen Islam, den er für das zentrale Problem der Dauerkonflikte im Nahen Osten hält. Deshalb legt er in seinem Text immer wieder den Finger in die Wunde und hebt die religiös motivierten Zwiste und Aufspaltungen sowie die gefährliche Konstruktion religiöser Feindbilder hervor, die auch alle politischen und gesellschaftlichen Konflikte ideologisch aufladen und in Verbindung mit geopolitischen Machtkämpfen ein besonders explosives Potential haben. Gleichwohl durchdringt der Autor ebenso die eine eigene Dynamik auslösende Verwicklung weltpolitischer Akteure in den Konflikt sowie die strukturellen und historischen Ursachen. Der zweite Unruhestifter neben der Religion ist für Kepel das Öl, mit dem sich nicht nur autoritäre Regime und lokale Eliten auf Kosten einer verarmenden, unter hoher Jugendarbeitslosigkeit leidenden Bevölkerung bereichert haben, sondern das im Laufe der Geschichte auch oftmals zu wirtschaftlich motivierten internationalen Eingriffen oder eben Nicht-Eingriffen geführt hat. Dass der Nahostkonflikt durch die sich überkreuzenden Interessen der internationalen Akteure stark beeinflusst wird, ist Gilles Kepel absolut bewusst. Immer wieder verfolgen diese ihre eigenen (sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen) Interessen in der Region, wie es der von russischer und amerikanischer Seite angetriebene Kampf um Afghanistan im Kalten Krieg ebenso veranschaulicht wie die Anti-Terror-Ideologie der hart intervenierenden amerikanischen Neokonservativen nach dem 11. September. Auch im gegenwärtigen Syrienkonflikt treten die Rivalitäten verschiedenster Akteure zutage, die zum Teil egoistisch, zum Teil zögerlich und ungeschickt taktieren, was die Unübersichtlichkeit der Situation weiter verschärft.

Aus dem Text geht auch hervor, wie verhängnisvoll schlechte Diplomatie sein kann und wie essentiell das Durchschauen der unterschiedlichen Motive für eine Beruhigung des Chaos sein wird. Kepel sieht die Region als eine große Herausforderung für Europa und macht mehr als deutlich, dass wir in diesen Konflikt — durch die Terroranschläge, die massenhafte Flucht, die wirtschaftlichen Vernetzungen — längst zu sehr verwickelt sind, um keine Verantwortung zu übernehmen.

Bibliographische Angaben
Gilles Kepel: Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, Kunstmann (2019)
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow, Originaltitel: Sortir du chaos — Les crises en Méditerranée et au Moyen-Orient, Gallimard (2018)
ISBN: 9783956143205

Bildquelle
Gilles Kepel, Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen
© 2019 Verlag Antje Kunstmann GmbH

bookmark_borderPhilippe Lançon: Der Fetzen

Philippe Lançon hat das Attentat auf Charlie Hebdo mit einer schweren Verletzung überlebt. Dieses Überleben macht er zum Thema seiner Aufzeichnungen, deren bisweilen schockierende Offenheit dem Leser sehr nahe geht. Er schildert auf nachdenkliche und sehr feinsinnige Weise die zahlreichen Herausforderungen, vor die ihn die Wiedereingliederung in das „normale“ Leben stellt. Hilfe findet er bei Kafka und Proust, aber auch durch die vielen neuen Bande, die er mit Chirurgen und Personenschützern knüpft. Innen und außen spiegeln sich dabei, sein Gesicht besteht aus ebensolchen Fetzen wie sein neues Leben, das gewaltsam vom alten getrennt wurde. 

Bibliographische Angaben
Philippe Lançon: Der Fetzen, Tropen (2019)
Aus dem Französischen von Nicola Denis, Originaltitel: Le lambeau (Gallimard)
ISBN 9783608504231

Bildquelle
Philippe Lançon, Der Fetzen
© 2019 Tropen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

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