bookmark_borderPaula Fürstenberg: Weltalltage

Das erste, was an diesem Roman auffällt, ist seine Neigung zu Listen aller Art. Man merkt schnell, dass diese Listen, in denen fast en passant eine in ihrer Alltäglichkeit ergreifende Geschichte untergebracht ist, nicht bloß ein verspieltes Formexperiment sind, sondern dass die Autorin ihrem Stoff derart eine Gestalt verleiht, die mit dem von ihr gewählten Erzählprinzip korrespondiert. Erzählt werden soll, so benennt die Erzählerin den Beweggrund ihres Schreibens, die Geschichte von Max, ihrem besten Freund. Schreibend möchte sie herausfinden, wie es dazu kam, dass er, der gesunde und selbstsichere Part ihrer langjährigen und innigen Freundschaftsbeziehung, scheinbar aus heiterem Himmel eine Depression entwickelt hat und damit in einem verstörenden Rollentausch sie selbst, die seit der Kindheit an chronischen Schwindel- und Übelkeitssymptomen leidet, als den kranken, instabilen Part in ihrer Beziehung abgelöst hat. Halt und Orientierung in ihrem schwankenden Dasein, für das die nicht eindeutig diagnostizierbaren Schwindelattacken der Erzählerin auch eine Metapher sind (auch wenn diese sich, dazu später, vehement gegen die Verwendung von Krankheitsmetaphern ausspricht), fand sie bisher wie selbstverständlich bei Max. Und sie fand sie in einer Organisiertheit, die sie als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die als Wäscherin in einer Fabrik viele Nachtschichten hatte und, dem Alkohol zugeneigt, nicht selten weitere „Nachtschichten“ in Bars und fremden Betten einlegte, als Strategie für sich, als Selbsttechnik entwickelt hat. Nun, da der Freund als fixer Orientierungspunkt ausfällt, bleiben nur die Listen, denen sich die Erzählerin für ihren Roman mit Hingabe widmet. Der Erzählerin zufolge ist dieses Erzählprinzip, dem das Konstruktive einer rein linear-chronologisch nicht fassbaren Wirklichkeit zugrundeliegt, zunächst einmal dem Versuch entsprungen, einen Anfang zu finden, für die Geschichte von Max‘ Krankheit, für die Geschichte ihrer Freundschaft mit Max, für die ihrer eigenen Krankheit, ihres eigenen Seins in der Welt. Einen solchen Anfang von allem, das macht die Listenform rasch deutlich, gibt es aber gar nicht. Vielmehr gibt es viele Anfänge, die alle ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben und die in der Biographie der Erzählerin immer weiter zurückreichen: Aus vielen Spulen entspinnt sich so ein Roman, der trotz seiner formalen Eigenwilligkeit in einem lockeren, unterhaltsamen Ton geschrieben ist.

Das zweite, was an diesem Roman auffällt, ist, dass kein Thema, kein Diskurs, der in den Listen zur Sprache kommt, unabhängig nur für sich steht. Die Listen bilden ein Textgewebe, das die Komplexität des alltäglichen Daseins auf der Welt abbildet und zeigt, wie viele verschiedene Faktoren im „Welt-Alltag“ zusammenwirken und einander beeinflussen. Krankheit, Herkunft, Geschichte, Bildung, Sprache, Arbeit, Freundschaft — all diese „Systeme“ existieren nicht für sich, sondern sind eng miteinander verwoben. Ein Beispiel: Die Listenschreiberin und ihr Freund Max teilen ihre ostdeutsche Herkunft, beide sind sie kurz vor der Wende geboren und in einem postsozialistischen Umfeld aufgewachsen. Doch während der Listenschreiberin die sozialen Unterschiede zu ihren Altersgenossen aus dem Westen Deutschlands erst während ihres Studiums auffallen, macht sie bereits viel früher, im kleinen und keineswegs homogenen Radius ihres ostdeutschen Heimatortes die Erfahrung von Bildungs- und Klassenunterschieden. Max‘ Mutter ist Ingenieurin, ihre eigene arbeitet in einer Fabrik, beide sind alleinerziehend; andere Kinder, die Erzählerin nennt sie „Gummistiefelkinder“, haben Eltern, die sich um sie kümmern, ihnen Butterbrote schmieren und die richtigen Kleider für den nächsten Tag herauslegen, sie selbst ist schon froh, wenn ihre Mutter in der Nacht zuhause ist. Die Wandelbarkeit von begrifflich erfassten Zuschreibungen und der mit ihnen assoziierten gesellschaftlichen Strukturen zeigt sich, als die Erzählerin denselben Begriff, „Gummistiefelkinder“, später für diejenigen ihrer Kommilitonen verwendet, die in der beruhigenden Gewissheit leben, irgendwann ihr Elternhaus zu erben. Prekarität, so veranschaulicht es die Lebensgeschichte der Erzählerin, entsteht aber nicht nur durch Herkunft, sondern etwa auch durch chronische Krankheit oder die „falsche“ Berufswahl, infolge derer man sein Dasein auf einer mäßig entlohnten Halbtagsstelle als Redaktionsassistenz fristet oder einen Verlagsvertrag für ein Buch unterzeichnet, das vor der Auszahlung ungewisser Tantiemen in einem monate- oder jahrelangen, auf jeden Fall ressourcenzehrenden Prozess geschrieben werden muss. Die derart zur Romanschreiberin aufgestiegene Listenschreiberin erlebt die fortwährende Prekarität ihres Daseins ganz körperlich; ihre Schwindel- und Übelkeitsattacken, ihre „Weltall-Tage“, die Tage, an denen sie isoliert vom „Welt-Alltag“ der anderen durch eine beängstigende Schwerelosigkeit taumelt, hören mit dem Buchvertrag in der Tasche ja nicht auf, sondern sind weiterhin „Alltag“ für sie.

Die Mehrdeutigkeit des Buchtitels weist auf das dritte hin, was an diesem Text auffällt: seine Sprachkritik und sein literarisches Erforschen der Sprache insbesondere des Körpers und der Körperlichkeit. Wie es im Roman einmal heißt, interessiert sich die Erzählerin für die „Auswirkungen von Geschichte und Gesellschaft auf den Körper“. Beim Schreiben darüber stellt sie einen Mangel fest, eine traditionelle oder soziokulturelle Ausdrucksarmut, die (vermutlich nicht nur) die deutsche Sprache in Bezug auf den Körper aufweist. Zwischen medizinischem Fachjargon und populärkultureller Neigung zu klischee- und schuldbeladenen Metaphern fehle eine adäquate Sprache für den intimen Körper, den kranken Körper, den invaliden Körper:

Es müsste eine dritte Sprache für den Körper geben, sagst du, eine Sprache, die weder kalt ist wie das Fachlatein noch mit Schuldzuweisungen und Abwertungen um sich wirft wie die Umgangssprache.

Paula Fürstenberg: Weltalltage

Unzufrieden mit dem abgedroschenen Begriff der „Ärzteodyssee“ erschafft die Erzählerin so etwa den Neologismus „Sisyphee“ für ihre jahrelangen, immer wieder ergebnislosen und sehr oft unangenehmen Besuche bei allen möglichen Fachärzten.

Eng verknüpft mit der Suche nach einer angemessenen Sprache für den kranken Körper ist die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Krankheit sowie mit der Krankheit des anderen. Auch der Erzählerin kommen taktlose und unpassende Bemerkungen im Gespräch mit ihrem depressiven Freund. über die Lippen. Sie erkennt darin, selbstkritisch, auch die Grenzen ihrer eigenen Empathiefähigkeit. Und sie nimmt sich vor, in ihrem Roman das Aussehen von Max nicht zu schildern, damit der Leser keine voreiligen, vorurteilsbehafteten Schlüsse daraus zieht, sondern unvoreingenommen und frei von gesellschaftlichen Körperbewertungen auf die Figur schauen kann — nur um kurz darauf dann doch eine Beschreibung von Max‘ äußerem Erscheinungsbild in den Text zu schmuggeln: selbstkritisch, selbstironisch zugunsten einer humorvollen Differenziertheit im Blick auf das Dasein alle Dogmen, auch ihre eigenen, unterlaufend.

Das ist das vierte, was an diesem Roman auffällt: sein Ton. Sprachwitzig ist die Listenschreiberin, und sie stellt gerne eine Regel auf, nur um sie zu brechen oder gleich eine Ausnahme folgen zu lassen. Sozialkritik und Humor schließen sich nicht aus. Ohne zynisch zu werden oder die Ironie als selbstverliebte Pose wie einen Panzer vor sich herzutragen, legt die Autorin durch das Sprachrohr ihrer Erzählerin ihre schreibenden Finger auf missklingende Strukturen. Denn so sehr die fragile Körperlichkeit vom Einzelnen erlebt wird, so wenig ist ihre Ursache ausschließlich am Individuum festzumachen. Die Erzählerin wehrt sich hier vehement gegen subtile Schuldzuschreibungen, mit denen die Verantwortung für körperliche Gebrechen ebenso wie für abweichendes Verhalten auf den Einzelnen abgeschoben wird. Ihr Ehrgeiz in der Schule etwa sei nicht mit ihrer angeblichen Schüchternheit und ihrem Fleiß zu erklären, sondern mit der Verbissenheit der potentiellen ersten sozialen Aufsteigerin in ihrer Familie.

Das fünfte, was an diesem Roman auffällt, ist seine ausgeprägte Dialogizität. Die Erzählerin steht nicht nur im pointierten Dialog mit ihrem Freund Max, sondern integriert über das Verfahren einer offengelegten Intertextualität auch andere Diskursteilnehmer in ihren Text. Susan Sontag etwa, die über Krankheit als Metapher geschrieben hat, oder Siri Hustvedt, die in Die zitternde Frau über ein auf ähnliche Weise verstörendes und nicht zu diagnostizierendes Leiden reflektiert. Auch der Erzählerinnenstimme selbst wohnt eine starke Dialogizität inne; sie verkörpert ein Ich, das sich kontinuierlich mit Du anredet, was den Lesefluss in keiner Weise stört, aber eine gewisse Distanz in ein mit Körperlichkeit und Krankheit ja sehr intimes Thema hineinbringt. Die Anrede in der zweiten Person hat sich die Erzählerin übrigens von Siri Hustvedt abgeschaut, die in Die zitternde Frau auf diese Weise sprachlich die kranke von der gesunden Siri unterschied und diese miteinander in Dialog treten ließ.

Das sechste, was an diesem Roman auffällt, ist seine Beweglichkeit, seine Prozesshaftigkeit, was ja auch gut zur Form der Listen passt. Der Schreibprozess wird kontinuierlich offengelegt und in enger Verflechtung mit der Entfaltung der Geschichte mitinszeniert. Dabei wird die Frage nach der Authentizität ebenso aufgeworfen wie die der Autoren- und Persönlichkeitsrechte. Wem gehört die Geschichte, wenn die Erzählerin über das Persönlichste ihres Freundes schreibt, wenn sie sein Leben und Leiden zum Stoff ihres Buches macht? Ihre Geschichte ist auch die Geschichte eines Buhlens und Bangens um sein Einverständnis; quasi als Legitimierung schreibt sie das Gegenlesen von Max mit in die Geschichte hinein. Und sieht sich immer wieder neuen Grenzen und Grauzonen ausgesetzt; denn wie soll sie die Biographie des Freundes erzählen, ohne auch in die Biographie seiner Familienmitglieder einzutauchen? Das Erzählen zieht immer weitere Kreise, gegen die sich der ja seinerseits fiktionalisierte Max nicht wirklich zur Wehr setzen kann. In dem beweglichen, dialektischen Konstrukt, das der Roman bildet, wird seiner Kritik und seinen Vetos zwar frei- und reumütig Raum gegeben. Die Erzählerin verfasst auch sofort eine neue Textvariante, wenn ihr Freund mit der alten nicht zufrieden war. Doch das humorvolle Paradox besteht darin, dass sie die verworfene Version ja dennoch beibehält, dass all die kritisierten, abgelehnten Versuche in dem Roman, den wir lesen, enthalten sind.

Das siebte, was an dem Roman auffällt, lässt sich gleichsam als abrundende Coda an diesen diskurs- und formbewegten Roman anschließen, da es wie ein Grundthema aus allen Listen herausklingt: Dieser von großem Sprachwitz getragene Text, der einen entlarvend-provozierenden Kommentar zum gegenwärtig boomenden Genre der Autofiktion darstellt, ist auch ein großer, ein berührender Freundschaftsroman. Es geht um Empathie und ihre Grenzen, um Liebe und Solidarität auch außerhalb traditioneller Kategorien und darum, dass der größte Freundschaftsbeweis auch darin bestehen kann, Jahr für Jahr den Rettungsschwimmer aufzufrischen oder es auszuhalten, sich für eine Weile auch einmal mit dem Status eines tagsüber ignorierten und nächtlich fast erdrückten Kuscheltiers zu begnügen.

Bibliographische Angaben
Paula Fürstenberg: Weltalltage, Kiepenheuer & Witsch 2024
ISBN: 9783462003369

Bildquelle
Paula Fürstenberg, Weltalltage
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

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