bookmark_borderElsa Morante: La Storia

Elsa Morantes 1974 erschienener Roman, ein gewaltiges, ein poetisches, ein zutiefst menschliches Epos des 20. Jahrhunderts, das den berühmtesten des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht, dieser Roman, La Storia, der die große und die kleine Geschichte im Titel trägt, zeigt den ganzen Schrecken des Daseins, sein Elend, seine Brutalität, und all seine Schönheit, sein Glück, seine wilde Poesie.

Das Besondere ist, dass Elsa Morante in ihrer episch angelegten Geschichte, die sie zu Beginn der nach Jahren gegliederten Kapitel jeweils mit einer Aufzählung historischer Ereignisse geschichtlich und geschichtsphilosophisch verortet, wirklich von den „kleinen“ Leuten erzählt. Ihre Persönlichkeiten und Schicksale werden in der ganzen Materialität ihrer jeweiligen Herkunft und ihrer Lebensbedingungen in ihrer Vielschichtigkeit und Individualität ausgeleuchtet. Damit schreibt sie auch gegen die Anonymisierung der Massen an, die die politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, allen voran natürlich den Faschismus, aber auch die kommunistisch-sozialistischen Ideologien, die sie in ihrem Text mit genauso unideologisch scharfem Blick bedachte, was ihr nach Erscheinen des Romans von der italienischen Kritik übrigens noch lange Zeit vorgehalten wurde.

Elsa Morante selbst ist das Milieu, von dem sie erzählt, nicht fremd. Sie wurde 1912 im proletarischen Viertel Testaccio geboren, in dem auch ein Teil der Handlung von La Storia verortet ist. Aus Geldnot musste sie ihr Literaturstudium abbrechen und wurde Schriftstellerin und Nachhilfelehrerin; sie lernte Alberto Moravia kennen, mit dem sie bis 1962 verheiratet war, und veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, und dann ihre großen Romane.

Im Zentrum der Handlung, die in den 1940er Jahren in den eher ärmlichen Vierteln von Rom und Umgebung spielt, steht die verwitwete Grundschullehrerin Ida, die auf den ersten Seiten von einem jungen, seinerseits recht hilf- und haltlos wirkenden deutschen Soldaten auf der Durchreise vergewaltigt wird. Hier zeigt sich bereits der direkte, ungeschönte und unaufgeregte erzählerische Blick auf das Geschehen; das, was passiert ist, wird weder verharmlost noch dämonisiert, im Vordergrund steht die Notwendigkeit der Figur Ida, einen Umgang mit den ganz materiellen Konsequenzen zu finden: Sie verheimlicht ihre Schwangerschaft und arbeitet weiterhin als Lehrerin, um für sich, ihren Sohn Nino und den bald zur Welt kommenden zweiten Sohn, der Useppe genannt wird, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch nach der ebenso heimlichen Geburt wird das Kind weiter im Verborgenen gehalten, in der Wohnung sich selbst überlassen, bewacht nur von einem Hund, den Nino auf der Straße gefunden hat. Der große Bruder ist es auch, der mit Useppe die ersten heimlichen Streifzüge in die Welt unternimmt, die das Kleinkind mit allen Sinnen in sich aufzusaugen scheint. Mit Nino und Useppe hat Elsa Morante ein eindringliches literarisches Brüderpaar geschaffen. Der ungestüme, auch verführbare Nino liebt seinen kleinen Bruder, den sensiblen, mit der Kreatürlichkeit des Daseins durch einen feinen, übersinnlichen Draht verbundenen Useppe, doch seine Unstetigkeit und sein großer Freiheitsdrang bewegen ihn, den Kleineren immer wieder im Stich zu lassen. Bei einem Luftangriff auf Rom wird das ärmliche Mietshaus, in dem die kleine Familie lebt, in Schutt und Asche gelegt. Zusammen mit vielen anderen Obdachlosen stranden Ida, Nino und Useppe in einer Notunterkunft am Rande der Stadt.

Elsa Morante zeigt die Materialität des Daseins, wie es sich im Krieg offenbart, sie zeigt die Armut, den Hunger, das Elend und den Überlebenskampf, die Überlebensstrategien ihrer drei Hauptfiguren und vieler weiterer Figuren, an die sie erzählerisch ganz nah herangeht, ungeschönt und direkt, und doch literarisch verdichtet. Sie folgt auch den kleinsten Nebenfiguren, keine Figur ist ein bloßer Statist, alle sind sie Menschen mit einer eigenen Biographie, fühlende Menschen, leidende, hoffende, mit liebenswürdigen, eigensinnigen, auch grotesken Zügen. Das Auftreten einer jeden Figur und ihr Verhalten wird vielfach perspektivisch gebrochen, so dass sich ein vielschichtiges Bild ergibt. Elsa Morante arbeitet hier aber nicht mit Verfremdung, sondern mit Annäherung, mit einer Verdichtung, die jedoch nicht alles auserzählt, sondern den Figuren ihr letztes Geheimnis belässt, ihnen eine Offenheit zugesteht, in der alles möglich ist.

In diesem besonderen poetisch-realistischen Stil kann sie auch etwas in eine literarische Sprache fassen, das auf der Gratwanderung zwischen Unzugänglichkeit und Pathos sprachlich schwer einzufangen ist. Eindringlich sind mir die Szenen im Gedächtnis geblieben, in denen sie das Sterben ihrer Figuren, ihre letzten Momente, nacherzählt, sie nachdichtet und im selben Atemzug nachempfindet. Überhaupt gelingt es ihr, in diesem Buch, in dem der Krieg ja mehr als bloßes Hintergrundraunen der Handlung ist, so vom Tod zu schreiben, dass es einen auf eine nachdenklich machende, ganz leise Weise berührt, ja erschüttert. Dass sie, ohne Pathos und Exaltation, dem Schrecken des Todes so nachwirkenden Ausdruck verleihen kann, mag daran liegen, dass sie sich ihm immer wieder aus der Perspektive des unvoreingenommenen Kleinkindes oder Tieres nähert. Das Grauen des Todes und der Gewalt offenbaren sich in einer Reihe von Bildern, die eher mit den Sinnen als mit dem Verstand wahrgenommen werden. So erkennt der kleine Useppe zum ersten Mal in seinem Leben den Tod im Blick eines Pferdes; er spürt ihn mehr, als dass er ihn begreift. Nach der Kapitulation betrachtet der kleine Junge an einem Zeitungsstand die Bilder von Gehängten, die er nicht versteht, nicht einordnen kann, deren unerklärliches Grauen sich ihm aber intuitiv erschließt.

Überhaupt spielt das Kreatürliche, das Unbewusste oder Vorbewusste, zum Beispiel auch in Form von Träumen, eine große Rolle in diesem Roman. Elsa Morante zeigt den Krieg und seine Auswirkungen auf einer anderen Ebene, jenseits der männlich dominierten martialischen Kampfschauplätze. An diesen weniger beleuchteten Rändern der Gesellschaft begegnen sich Tiere, Kinder und Alte, Geflüchtete und Ausgestoßene, und natürlich eine ganze Reihe unterschiedlichster Frauenfiguren. Es geht um Mutterschaft im Krieg, im Elend, in Armut, um Überforderung, Einsamkeit und auch um Solidarität, um eine nicht nur menschliche, auch kreatürliche Verbundenheit, die ihrerseits existentiellen Charakter hat und mitten in der Gewalt des Krieges ein utopisches Moment ist. Auch die Schwangerschaft wird, über das hinausgehend, was sie für Mutter und Kind ganz materiell bedeutet, in diesem Text ein literarisches Motiv, mit dem die Autorin Einzelschicksale in eine allgemeine conditio humana einbindet. Die heimliche Schwangerschaft Idas reiht sich auf diese Weise ein in weitere hochprekäre Schwangerschaften, in der Notunterkunft gebiert Karulina, eine noch sehr mädchenhafte Kindfrau, und fast zeitgleich auch eine junge Katze, die ihr einziges Junges nicht zu säugen vermag und es im Stich lässt.

Dass das Unbewusste nicht ausschließlich ein unverstellter Zugang zum Dasein ist, sondern in Form des Unterbewusstseins auch sozial geprägt sein kann, zeigt sich am Beispiel des diffusen Schuld- und Angstgefühls, das Ida als Tochter einer Jüdin verinnerlicht hat. Ida hält ihr Jüdischsein ebenso geheim, wie es schon ihre Mutter vor ihr tat, ihre Perspektive auf die in Rom lebenden und während des Krieges ins Getto gepferchten und später deportierten Juden ist eine gebrochene. Einerseits fühlt sie sich stark angezogen, sucht das Getto und seine Bewohner immer wieder auf, gleichzeitig legt sie ihre Tarnung nie ab.

Auch die männlichen Figuren, von denen die meisten Jüngeren freilich Partisanen und Soldaten sind, sind mehr als bloße Schablonen. Es wird nachgezeichnet, wie und warum sie sich bestimmten Gruppen anschließen oder sich als Einzelgänger durchzukämpfen versuchen. Dass die beiden Hauptfiguren Nino und Useppe beide vaterlos sind, lässt sich als deutliche Metapher lesen. In der Zeit des Faschismus und des Krieges gibt es nicht nur in Italien keine Väter mehr, nur selbst ernannte „Führer“. In dieser Leerstelle haben Ideologien eine große Anziehungskraft, und es entstehen Männerbilder, die Macht, Gewalt, Stärke demonstrieren. Nino, der Teenager und junge Erwachsene, schlägt mit seinem Ungestüm und seinem Drang nach Freiheit einen anderen Weg ein als der kleine Useppe, der im Krieg noch ein Kleinkind ist und ein ganz anderes Wesen hat. Doch beide werden mit den Schrecken des Krieges und dem Elend konfrontiert, sie erleben, wie auch die vielen anderen Figuren dieses dichten Romans, das Zermürbende des Krieges, das Elsa Morante so eindringlich zum Ausdruck zu bringen versteht wie den immer wieder im Kleinsten aufblitzenden Zauber des Daseins in all seiner Verletzlichkeit. Und so liest man atemlos, mit allen Sinnen, diese Erzählung von existentieller Sinnlichkeit, die ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Wirkung verloren hat.

Bibliographische Angaben
Elsa Morante: La Storia [1974], Wagenbach 2024
Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
ISBN: 9783803133656

Bildquelle
Elsa Morante, La Storia
© 2024 Verlag Klaus Wagenbach GmbH, Berlin

bookmark_borderIvy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter

Ich muss zugeben, dass ich mit diesem Buch nicht ganz warm geworden bin, wenngleich es in einem bewundernswert stringenten und originellen Ton bis zur letzten Seite durchkomponiert ist. Und wenngleich es mich jetzt, im Nachhinein, noch ganz schön weiter beschäftigt. Das Besondere: Fast der ganze Roman besteht aus Dialogen, er erinnert an ein aus den Fugen geratenes Theaterstück, ja, es scheint in gewisser Lesart wie ein Vorgriff auf etwas, was 20 Jahre später mit dem Theater des Absurden auf die Theaterbühnen kam. Beckett, Ionesco, Genet schrieben ihre Stücke ab den 1950er Jahren, Compton-Burnetts Roman, einer von insgesamt 20 Romanen, die sie im Lauf ihres Lebens verfasste, erschien im Original bereits 1935.

Aber worum geht es eigentlich? Das titelgebende Haus wird gehütet von einer wohlhabenden englischen Familie des späteren 19. Jahrhunderts. Die Handlung setzt am Weihnachtstag im Jahr 1885 ein und obwohl alles durch die radikale Konzentration auf die Dialoge und den Verzicht auf jedes zeithistorische Kolorit sehr zeitlos wirkt, ist die Welt der Figuren durchdrungen von tief verinnerlichten Moral- und Machtvorstellungen, die so auf die Spitze getrieben werden, dass sie, je vehementer die Figuren sie in ihrer Rede verteidigen, in ihrer Instabilität und Absurdität vorgeführt werden. Das Familienoberhaupt Duncan Edgeworth verkörpert in so grotesk-komischer wie grausamer Weise das sich noch immer machtvoll behauptende Patriarchat; die Frauen dominieren zwar im Redeanteil der Handlung, doch ist ihre Existenz deutlich prekärer als die der Männer, gleichwohl auch diese ihr Glück den patriarchalen Gepflogenheiten unterordnen müssen. Nacheinander verschleißt Duncan, der zwei Töchter im heiratsfähigen Alter hat, zwei Ehefrauen, erst die dritte wird ihn endlich überleben. Potentieller männlicher Erbe des Hauses ist zu Beginn Duncans Neffe Grant. Doch dann kommen Kinder auf die Welt, es werden neue Beziehungen geschlossen, gelöst und vor allem endlos besprochen von den Nachbarn und Bekannten, die pausenlos um die Familie herumschwirren und ihnen wortreich und mit viel geheuchelter Anteilnahme, die immer wieder in offene Häme umschlägt, moralische Unterstützung bezeugen.

Die Handlung, die es durchaus in sich hat: Kindsmord, Ehebruch, Erpressung, findet zwischen den Zeilen statt, oftmals auch in Leerstellen zwischen den Kapiteln. Die Theaternähe zeigt sich auch hier: Das Vergehen von Zeit wird nicht erzählt, alles spielt sich in einer kontinuierlichen Gegenwart ab, was eine dramatische Raffung zur Folge hat, in der sich die Ereignisse zu überstürzen scheinen. Da es keinen omnipräsenten Erzähler gibt, wird die Handlung ausschließlich von den Dialogen zusammengehalten, die nicht immer leicht zuzuordnen sind. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches zwar fesselnd, aber auch anstrengend ist. Ein weiterer besteht darin, dass eigentlich keine der Figuren sympathisch ist. Alle haben sie ihre Schwächen, die kühl belächelt, verheimlicht oder entlarvt werden, ohne dass jemals ein Anflug menschlicher Wärme zu spüren wäre.

Ein weiteres Merkmal der Dialoge ist ihre ausgestellte Oberflächlichkeit. Sie wirken banal und eitel, sind es im Zusammenspiel des Textes jedoch ganz und gar nicht. Vielmehr hat die Autorin sie so geschliffen und poliert, dass jede verbale Spitze, jede kleinste Übertretung laufend für Erschütterungen sorgt. Die Figuren sprechen Dinge aus, die man sich eigentlich nur im Stillen denken würde, und verpacken noch die größte Unverschämtheit in eine konventionelle, höfliche Ausdrucksweise. Ständig reden die Figuren aneinander vorbei, ob sie sich unbewusst oder absichtlich missverstehen, ist oft nicht zu unterscheiden, ebenso wenig, ob eine Aussage zynisch ist oder einfach nur schrecklich naiv. Diese Dialogtechnik, die die Autorin wirklich ziemlich genial bis zum Ende durchzieht, bewegt sich nah am Absurden und hat einige Ähnlichkeit mit den sprachlichen Mitteln, die von Beckett und Ionesco in ihren Stücken eingesetzt werden. Gesalbte Worte und höfliche Floskeln werden durch allzu direktes Nachfragen als hohle Phrasen entlarvt, Konventionen, wie etwa das Weihnachtsfest gleich zu Beginn des Romans, werden dialogreich in ihre Bestandteile zerlegt, sie werden verdinglicht, als leere Symbolik entzaubert, so dass ihre äußeren, heiligen Hüllen offen zu Tage liegen. Wie in den Stücken Genets dient die Absurdität der Rede auch dazu, Hierarchien und Machtverhältnisse zum Einsturz oder zumindest ins Wanken zu bringen. Hierarchien bestehen in Compton-Burnetts Roman zwischen männlichen und weiblichen Figuren, zwischen Familienmitgliedern und Bediensteten, und der pater familias ist wie die Kirche eine Institution, deren Autorität unter der Oberfläche langsam zu zerbröckeln beginnt und daher umso gnadenloser seine Macht ausspielt. Das gelingt ihm bis zu einem gewissen Grad, denn obwohl er nicht vor Lächerlichkeit gefeit ist, obwohl er immer wieder mit spöttischen Worten angegriffen wird, kann er doch nicht wirklich vom Sockel gestürzt werden. Der Schein ist wichtiger als das Sein, die Ehre des Hauses wichtiger als das Glück seiner Hüter, die allesamt Rollen spielen, in denen sie sich eigentlich überhaupt nicht zu Hause fühlen.

„Es ist schwer, in einer Familie vernünftig miteinander zu reden.“, heißt es an einer Stelle. Ein Haus und seine Hüter ist als Klassiker der britischen Literatur und als Text einer für die damalige Zeit unkonventionellen Autorin — Compton-Burnett wurde 1884 als eines von 12 Kindern in Middlesex geboren, schrieb zahlreiche Romane, wurde in den Adelsstand erhoben und lebte bis zu ihrem Tod 1969 in verschiedenen gleichgeschlechtlichen Beziehungen –, zu Recht und von Gregor Hens mit überzeugender stilistischer Verve ins Deutsche übersetzt worden. „Lustig“ und „vergnüglich“, wie der Roman in manchen Kritiken genannt wird, würde ich ihn jedoch nicht nennen. Immer wieder komisch, das ja, und immer wieder auch schockierend, provozierend, und letztlich auch sehr traurig.

Bibliographische Angaben
Ivy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter [engl. A House and Its Head, 1885], Die Andere Bibliothek 2024
Aus dem Englischen von Gregor Hens
ISBN: 9783847704690

Bildquelle
Ivy Compton-Burnett, Ein Haus und seine Hüter
© 2025 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderJacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand

Und es ward Licht, „Et la lumière fut“ — der französische Originaltitel, unter dem das Buch 1953 erschien, trägt die biblische Reminiszenz noch deutlicher vor sich her als der Titel der deutschen Übersetzung, der gleichfalls Wert auf einen poetischen Klang legt. Von Beginn an ist klar: Diese Autobiographie eines Blinden, der im französischen Widerstand aktiv war, geht über einen persönlichen Erfahrungsbericht, über ein historisches Zeugnis hinaus. Was der Titel andeutet, bestätigt sich auf den ersten Seiten, die einen sofort auf eine irgendwie zarte Weise in Bann ziehen: Dieser Text ist, ohne sich hinter dem heute so verbreiteten Etikett der Autofiktion zu verstecken, zutiefst literarisch. Hier schreibt jemand, ohne sein Ich zu verfremden, voll Überschwang und Leidenschaft von seinem der radikalen Realität der Geschichte ausgesetzten Leben und von seinem Glauben, der ihn trug, auch oder gerade in der sehr weltlichen Erfahrung des Krieges. Wahrscheinlich hat diese Transzendenz, die durch das ganze Buch hindurchschimmert, etwas Altmodisches; aber sie hat zugleich auch etwas sehr Wahres. Denn die poetische Innigkeit von Lusseyrans autobiographischer Erzählung kippt eben nie ins Esoterische oder Rührselige, da ihr, das spürt man immer wieder, eine tiefe, schmerzhafte und schöne Menschlichkeit zugrunde liegt.

Beim Lesen der chronologisch erzählten Geschichte der Kindheit und jungen Erwachsenenjahre des Autors Jacques Lusseyran (1924-1971), der sie nach dem Ende des Krieges aufgeschrieben hat, taucht man nicht nur in die historisch bewegte Zeit der französischen Zwischenkriegs- und Weltkriegsjahre ein, die wir heutigen Leser ja nicht mehr selbst erlebt haben können, sondern auch in eine den allermeisten von uns auf andere Weise ebenso fremde Erfahrung des Eintritts in die innere Landschaft eines „sehenden Blinden“. Wir machen also die Erfahrung einer doppelten Alterität, die sich uns durch die mitreißende Sprache in großer Leichtigkeit vermittelt. Die Überarbeitung der Übersetzung aus den 1960er Jahren für die deutsche Neuausgabe hat sicher auch ihr Quantum zu der so flüssigen Lesbarkeit beigetragen.

Jacques Lusseyran wurde nicht als Blinder geboren. Er verlor sein Augenlicht im Alter von acht Jahren durch einen Unfall in der Schule. Und er fand es von neuem, indem er, so schildert er es, dank liebevoller Eltern und Freunde und dank seines eigenen inneren Antriebs zu einem „sehenden Blinden“ wurde. Dankbarkeit und Willenskraft erscheinen als die zwei Wesensmerkmale des Autors, die ihm, wie man heute sagen würde, zu einer besonderen Resilienz verholfen haben. Es wurde ihm möglich, seine Hilflosigkeit abzuschütteln und ein neues Sehen zu erlernen, sich auf neue Art und Weise im Dasein zu orientieren. Aus der Perspektive dieses wieder sehenden Blinden erfahren wir, wie es sich anfühlte, in den 1930er Jahren in Paris und Umgebung aufzuwachsen. Wir erfahren von seinen Freundschaften und von seiner ersten Liebe, die jedoch hinter der Innigkeit der Freundschaften, die er lebte und pflegte und die trotz der körperlichen Abhängigkeit des Blinden doch immer Freundschaften auf Augenhöhe waren, wie selbstverständlich zurückstehen musste. Etwas irritierend ist für uns heute vielleicht, dass Lusseyran anfangs trotz der, wie es scheint, gleichberechtigten Ehe seiner beiderseits berufstätigen Eltern in seinem früh begonnenen Engagement für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Möglichkeit der politischen Beteiligung von Frauen völlig außer Acht ließ. Das ändert sich später; alles andere wäre bei einer so reflektierten, lernbereiten und erfahrungsoffenen Persönlichkeit, wie sie aus dem Text hervorgeht, auch verwunderlich gewesen.

Bemerkenswert ist, dass Jacques Lusseyran den Krieg als noch größere Zäsur im Leben wahrnahm als den Verlust seines Augenlichts. Nicht nur politisch, sondern auch privat, wobei sich ab diesem Zeitpunkt der persönliche Lebensweg des Autors auch untrennbar mit dem politischen verknüpfte: Während der für die gesamte Bevölkerung als sehr belastend erlebten Besatzungszeit initiiert Lusseyran eine Widerstandsbewegung besonderer Art. Er schart eine Gruppe junger Männer um sich, die von ihm, einem blinden und ebenfalls noch sehr jungen Mann, geleitet wird, von einem jungen Mann, so schildert er es in der Rückschau, der einerseits nicht weiß, wie ihm da geschieht, und der andererseits intuitiv sehr wohl weiß, was er zu tun hat. Die Gruppe, die eine von mehreren parallel im Untergrund arbeitenden ist, entwirft erste Flugblätter zur Aufklärung der abgeschotteten Pariser Bevölkerung, bevor sie nach einiger Zeit mit anderen zusammenarbeitet, im komplexen Netz der Résistance aufgeht und sich, neben weiteren Aktionen, an einer richtigen Untergrundzeitung beteiligt, in der unter der permanenten Gefahr des Auffliegens und des Verrats über die Folterungen durch die Gestapo, die Konzentrationslager und die Judenverfolgung berichtet wird.

Dass der junge Blinde, ohne dass er sich aufgedrängt hätte, wie selbstverständlich als Anführer der Gruppe akzeptiert wird, ist, zumal in einem doch immer patriarchale Machtverhältnisse hervorkehrenden Umfeld des Krieges, schon erstaunlich. Er muss eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben, ein besonderes geistiges Charisma, das auch mit seiner Menschenkenntnis und seinem Gespür für Situationen, wie sie vielleicht aus seiner Augenblindheit erwachsen sind, zusammenhing. Auch mit seinem Gedächtnis, das verräterisches Papier ersetzte, trug er gewiss einen unschätzbaren Teil zur Untergrundkommunikation bei. Lusseyran absolvierte neben der Kräfte und Zeit beanspruchenden Untergrundtätigkeit auch noch ein Literaturstudium und spürte auch in dieser „Nebentätigkeit“ die menschenverachtenden Auswirkungen des Krieges. Denn ein Dekret des Vichy-Regimes — die Macht der nationalsozialistischen Besatzer hatte längst auch auf die so genannte freie Zone übergegriffen — verbot nun körperlich eingeschränkten Personen, zu denen auch Blinde gezählt wurden, die Ausübung bestimmter Berufe und verschloss ihnen auch den Zugang zur höheren Bildung. Durch wohlgesinnte Vertrauenspersonen gelang es Lusseyran, sein Studium fortzusetzen, doch war diese bedrohliche Erfahrung von Ausgrenzung durch die neuen politischen Machthaber nur ein erster Vorbote weiterer politischer Gewalt. Wie zahlreiche seiner Freunde und Mitstreiter im Untergrund wurde auch Lusseyran verraten und verhaftet. Er wurde Verhören unterzogen und entging nur knapp dem Tod durch Erschießen. Im Gefängnis in Fresnes war er zeitweise in Einzelhaft und wurde dann, wie so viele andere, mit dem Zug ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Von den 2000 Franzosen, die im Januar 1944 mit ihm dort ankamen, überlebten nur 30. Auch er selbst wurde unter den menschenunwürdigen Lagerbedingungen sehr krank, war dem Tode schon näher als dem Leben und erfuhr seine fast einem Wunder gleichende Genesung wie eine erneute Wiedergeburt. Aus der er wieder eine schier unglaubliche Energie zu ziehen verstand, indem er sich, auch im KZ, für Aufklärung einsetzte, Menschen um sich scharte und seinen Widerstand fortsetzte.

Die Widerstandskraft, die Lusseyran auch im psychologischen Sinne entwickelte, lässt an das berühmte Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen des österreichischen Psychiaters und Ausschwitzüberlebenden Viktor Frankl denken. Seine Widerstandskraft setzte Lusseyran aber auch ganz konkret politisch ein, in einem umfassenderen Sinne freilich als Einsatz für das Wohl der Menschen, für das höchste Gut der Menschlichkeit, für das es sich auch unter unmenschlichsten Bedingungen zu kämpfen lohnt. Seine Autobiographie knüpft daher in gewisser Hinsicht auch an die mittelalterliche, christlich geprägte literarische Tradition der chansons de geste an, mit der Schilderung der glücklichen Kindheit, der sich anschließenden Zeit des Aufwachsens als Zeit der Prüfungen, der Verwandlungen, mit der Verteidigung der Werte von Mut, Weisheit und Einsatz für die Gemeinschaft. In der Gegenwartsliteratur hat unlängst auch Anne Weber mit ihrem Versroman Annette, ein Heldinnenepos gleichfalls für eine historische Figur des französischen Widerstands, der aus der Bretagne stammenden Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, dieses uralte Genre entstaubt und auf poetische Weise reaktualisiert. Beide Bücher, das des blinden Widerstandskämpfers und das über seine weibliche Verwandte im Geiste und in der Tat, sind gerade jetzt, im Kontext von Diskriminierung, Krieg, Gewalt, so zeitlos wie aktuell.

Bibliographische Angaben
Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand, Klett-Cotta 2024
Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt [1966], überarbeitet von Tobias Scheffel
ISBN: 9783608988239

Bildquelle
Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht
© 2025 Klett-Cotta Verlag. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderDacia Maraini: Tage im August

Der Titel, im italienischen Original La vacanza (Die Ferien), ist so trügerisch wie die Eingangsszene in diesem kurzen, verstörenden und auf eigenwillige Weise poetischen Buch, dem ersten Roman, den Dacia Maraini, heute eine der berühmtesten Schriftstellerinnen italienischer Sprache, 1962 veröffentlichte. 1936 als Tochter einer (verarmten) sizilianischen Adligen und eines Japanologen in Fiesole bei Florenz geboren, verbrachte sie ihre ersten Jahre in Japan, einige davon in Gefangenenlagern, in denen die Familie, die ihre antifaschistische Haltung nicht verheimlichte, interniert wurde, ehe sie nach dem Krieg wieder nach Italien zurückkehrte und fortan bei der Familie mütterlicherseits im noch sehr traditionell geprägten und verarmten Sizilien aufwuchs. Mit 18 Jahren zog sie zu ihrem Vater nach Rom und veröffentlichte erste Kurzgeschichten in Zeitungen, der Beginn eines nicht nur literarisch bewegten Lebens. Sie trat dem Gruppo 63 bei, wurde Teil des italienischen Neorealismo, lernte Alberto Moravia kennen und engagierte sich in der Frauenbewegung, ein Lebensthema, das sich von Beginn an auch in ihrem literarischen Werk widerspiegelt.

Zurück zu den ersten Seiten von Tage im August. Zwei Kinder, die Ich-Erzählerin Anna, deren Alter Maraini für die nun erschienene deutsche Neuübersetzung von elf auf 14 Jahre angehoben hat — was der entwicklungspsychologischen Glaubhaftigkeit der auch geistig frühreifen Erzählerin entgegenkommt, in Bezug auf das Schockierende des Textes jedoch nur Makulatur ist — und ihr jüngerer Bruder Giovanni verlassen das Internat der ungeliebten katholischen Klosterschule, in der sie seit dem Tod der Mutter den Großteils des Jahres leben, um die Sommerferien mit ihrem Vater am Meer zu verbringen. Die wilde Fahrt mit dem Motorrad, der Halt in einer Eisdiele, all die kindliche Harmlosigkeit und Ausgelassenheit sind nur ein flüchtiges, schon im Moment verlorenes Trugbild eines Glücks, eines Aufbruchs — in die Freiheit, in die erste Liebe –, an den die Ich-Erzählerin mit aller Macht glauben will. Die Handlung spielt, das erfährt man bald, mitten im Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1943, Mussolini ist in Bedrängnis, wird kurzzeitig gestürzt und muss Rom verlassen, doch der Faschismus und die Gewalt der deutschen Besatzer sind weiterhin allgegenwärtig. Auch wenn es hier keine Chronik des Krieges gibt wie in Elsa Morantes Romanepos La Storia, das übrigens gerade ebenfalls in beeindruckender Neuübersetzung erschienen ist (Rezension folgt), und Marainis Roman auch als nur einen kurzen Sommer umspannende Initiationsgeschichte eines jungen Mädchens erzählerisch ganz anders angelegt ist als Morantes umfassendes psychologisch-philosophisches Epos vom Schicksal der sonst in den Geschichtsbüchern nur am Rande auftauchenden „kleinen“ Leute, ist der Krieg, nicht nur als kontinuierliches Hintergrundrauschen in Gestalt donnernder Jagdbomber, auch in Marainis Debütroman nicht zu überhören und zu übersehen; auf das Romangeschehen hat er die Wirkkraft eines psychologischen Brandbeschleunigers, in dessen Angesicht auch die aus einigen Szenen erwachsende Frage nach der Ursache von Gewalt eine andere Dimension gewinnt.

Enttäuschend oder zumindest anders als gedacht gestaltet sich bereits die Ankunft der Kinder im neuen Sommerhaus des Vaters, das eigentlich seinem Arbeitgeber mit dem pompösen Namen Pompeo gehört, der mitsamt vernachlässigter Gattin und kurz vor dem Erwachsenwerden stehendem Sohn die oberen Zimmer bewohnt. Arrangieren müssen sich die Kinder auch mit der bis kurz vor der Ankunft verschwiegenen Tatsache, dass sie sich die Wohnung mit einer jungen, ihre Weiblichkeit gern zur Schau stellenden Lebe-Frau namens Nina teilen werden, der neuen Beziehung des Vaters, die sie entgegen seiner naiven Hoffnung natürlich nicht mit „Mama“ anreden, mit der sie in diesem Sommer jedoch deutlich mehr Zeit verbringen als mit dem Vater, der für seine Arbeit die meiste Zeit außer Haus verbringt. Die junge Ich-Erzählerin hofft dennoch, auf ihren Streifzügen zu den Badeanstalten und ans Meer das zu finden, was ihr in den unbarmherzigen und sittenstrengen Mauern der Klosterschule vorenthalten wurde. Doch von Freiheit und Liebe erfährt sie kaum mehr als die Schattenseiten. Die Augusttage am Meer haben nichts von einem unschuldigen Sommer an sich, vor allem für den Leser wird die Atmosphäre schnell beklemmend und man möchte das junge Mädchen zurückhalten, wenn sie sich, in immer größerer Teilnahmslosigkeit, den Wünschen zwielichtiger Gestalten fügt, auf der Suche nach etwas, das sie selbst nicht wirklich zu benennen weiß. Orientierungslos in erste Erfahrungen mit der Geschlechtlichkeit hineinstolpernd begegnet sie allerorten einer selbst orientierungslosen Männlichkeit, die sich in machistischem Gehabe, sexueller Ausbeutung und Gewalt entlädt. Es ist eine zugleich dominante und schwächliche Männlichkeit, die der Roman einem in vielen Variationen vor Augen führt und die auch schon bei den Heranwachsenden, ja bei den an den Klippen spielenden Kindern die Gruppendynamik bestimmt; wie die frühreifen Spielkameraden von Giovanni miteinander umgehen, hat bereits erschreckend protofaschistische Züge. Die Rolle der Frauen im Roman besteht gemäß den Gesetzen dieser machistischen Welt darin, das männliche Begehren zu schüren und auf die ihnen entgegengebrachte Verachtung ihrerseits mit Verachtung zu reagieren. Sexualität dient, zumindest denen, die damit schon mehr Erfahrung haben, vor allem der Ablenkung vom Krieg und der Verdrängung von Ängsten, so wie auch das exzessive Kartenspiel, das im Sommerhaus von den Erwachsenen praktiziert wird. Erfolg hat diese Strategie wenn überhaupt nur sehr kurzfristig, aus dem Krieg kann sich niemand heraushalten, er tangiert, freilich auf verschiedene, keineswegs hierarchiefreie Weise, letztlich jeden.

Die Analyse gesellschaftlicher und sexueller Macht- und Verdrängungsmechanismen entfaltet in diesem Text gerade deshalb eine so unheimliche Wirkung, weil sie fast ganz aus der beobachtenden Perspektive des jungen Mädchens entsteht, die von großer Unvoreingenommenheit — nicht gleichzusetzen mit Naivität — und bisweilen geradezu erschreckender Nüchternheit gekennzeichnet ist. Annas Blick ist ein sezierender, entlarvend in seiner scheinbaren Vorbehaltlosigkeit, Direktheit und Ungeschöntheit. Wie eine Forscherin ihrer Umgebung und ihrer selbst willigt die Ich-Erzählerin immer wieder von neuem darin ein, dass ihr junger Körper begehrt und ausgenutzt wird, ihre Empfindungen pendeln zwischen Ekel und Neugier, Sehnsucht und Teilnahmslosigkeit. Annas geradezu selbstverleugnendes Verhalten lässt sich nur nachvollziehen, wenn man es als Initiation in eine Welt auf dem Höhepunkt patriachalischer Hierarchien versteht, in einen Krieg der Geschlechter, in der das Schüren von Begehren den Frauen als einzige „Waffe“ zur Verfügung steht, deren Einsatz jedoch den Verrat am eigenen Körper impliziert. Wenn aber die Selbsterfahrung nur zur völligen Selbstauflösung führt und die Transformation ausbleibt, mit der das Ich zusammen mit seiner Erhebung in eine neue Stufe der Welterfahrung auch eine sinnstiftende soziale Eingliederung erfährt, wird die Idee der Initiation ad absurdum geführt. Das entgeht natürlich auch der Ich-Erzählerin nicht, die zwar körperlich unerfahren, aber dank ihrer scharfen Beobachtungsgabe geistig schon sehr reif ist. Dieses unauflösbare Ineinander von Kindlichkeit und Abgeklärtheit charakterisiert den so sonderbar berührenden wie befremdlichen Grundton des ganzen Textes. Er ist durchdrungen von einer unbändigen und doch mit jeder Erfahrung mehr als Illusion enttarnten Hoffnung auf ein ungekanntes Glück. Ja, Tage im August ist in jeder Hinsicht eine Geschichte der Ent-Täuschung, von der Hoffnung auf Freiheit bleibt nur ein bitterer Nachgeschmack. Der Verdorbenheit und Gewaltsamkeit der Welt stehen die Verlogenheit und Lieblosigkeit der Nonnen in der Klosterschule gegenüber, die Religion ist hier kein Ort der (metaphysischen) Zuflucht, geschweige denn der Barmherzigkeit. Der machistischen Gewaltsamkeit, die im Krieg jede Tarnung von sich wirft, wird hier auch keine feministische Utopie entgegengesetzt; es gibt keine Verbundenheit, keine Solidarität, auch nicht unter den Frauen. Die Nonnen lästern über verantwortungslose Mütter und Frauen wie Nina, die sich, ob in wilder Ehe oder ganz allein doch auch irgendwie durchschlagen müssen in einer Zeit, in der alle Grenzen, alle Gewissheiten und alle Sicherheiten gesprengt werden.

Dacia Maraini zeichnet in ihrem ersten Roman, der bereits getränkt ist von ihrer als Kriegskind geprägten Lebenserfahrung, eine Welt ohne Ideal, keine der Figuren ist wirklich sympathisch oder könnte in irgendeiner Weise Orientierung für die Ich-Erzählerin bieten. Die ein bisschen an die Maus aus Kafkas Kleiner Fabel erinnert, wenn sie sehenden Auges in die Fänge der Katze läuft; egal welche Laufrichtung sie einschlägt, ein Ausweg aus der Gewalt ist nicht in Sicht.

Bibliographische Angaben
Dacia Maraini: Tage im August, Folio 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
ISBN: 9783852568942

Bildquelle
Dacia Maraini, Tage im August
© 2024 Folio Verlaggesellschaft m. b. H., Wien, Bozen

bookmark_borderSibilla Aleramo: Eine Frau

Der Titel ist Programm. Una donna, auf deutsch Eine Frau, erstmals 1906 im italienischen Original erschienen, ist Autobiographie, ist Roman, ist vor allem aber ein Exemplum, in dem eine Frau, eine schreibende Frau, von sich und im gleichen Atemzug für andere sprechen will, für die unzähligen anderen Frauen, deren Schicksale unerzählt geblieben sind. Im gesamten Text werden konsequent keine Namen genannt, weder der der Ich-Erzählerin noch die ihrer Familie, und auch nicht die der übrigen Figuren, was umso mehr ins Auge sticht, da das Handlungskonstrukt, das dem Nachwort von Elke Heidenreich zufolge stark autobiographisch beeinflusst ist, sehr romanhafte Züge aufweist. Auch die sehr flüssig lesbare deutsche Neuübersetzung von Ingrid Ickler kann glücklicherweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen Roman handelt, der, gleichwohl schon mit einem Fuß im neuen Jahrhundert, noch dem literarischen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspringt. Den Übergang, die Schwellenzeit kann man auch stilistisch in diesem zugleich so altmodischen und so modernen Text ausmachen, vielleicht, weil er sich auch so fluide zwischen Autobiographie und Fiktion bewegt, Bekenntnis, Analyse und eine emotionale Dramatik in sich vereint und eine Seelenerforschung betreibt, die man noch romantisch nennen mag und die auf jeden Fall einen anderen Charakter hat als die Ich-Analysen der gegenwärtig viel publizierten autofiktionalen Texte.

Zuweilen kommt man sich selbst ein wenig voyeuristisch vor, so atemlos lässt sich dem Spannungsbogen der Erzählung folgen, der ein emotional aufgeladenes Ereignis nach dem anderen bereithält; es geht um Schwangerschaft, um Mutterliebe, um heimliche, um ausgebeutete und um vernachlässigte Liebe, um Liebe, die in Verachtung umschlägt, um versuchte Selbstmorde, um Vergewaltigung. Und darum, wie verbreitet, wie alltäglich diese Dramen sind, wie alltäglich auch der Schmerz, der mitunter ein Leben lang weiterbrennt. Doch wird im Text bei weitem nicht alles auserzählt, vieles wird nur angedeutet, während die Gedankenwelt der Erzählerin einen umso größeren Raum einnimmt, und allmählich auch ihr langsam zu seiner Gestalt findendes literarisches und emanzipatorisches Vorhaben, die eigene Geschichte aufzuschreiben.

Wissbegierig, lernwillig, neugierig ist die Erzählerin schon als Kind, zum Vater, einem Naturwissenschaftler, der gerne mit seiner aufgeweckten Tochter philosophische Spaziergänge unternimmt, hat sie eine enge intellektuelle Beziehung, sie bewundert ihn, während sie ihrer Mutter gegenüber, die außer ihr noch drei weitere Kinder großzieht, Distanz und allmählich auch eine leise Verachtung verspürt. Erst später begreift die Erzählerin, wie unglücklich ihre Mutter in ihrer Ehe war, in der sie ihre Neigungen, etwa zur Literatur, zur Lyrik, nicht wertgeschätzt sah, ja unterdrücken musste, und in der ihre selbstverständliche Unterordnung und absolute Abhängigkeit mit einer zunehmenden Geringschätzung und schließlich dem völligen Gestaltverlust ihrer Person einherging. Nach dem Umzug der Familie von Mailand ins sehr traditionelle Süditalien, wo sich der Vater als Fabrikdirektor beruflich neu orientieren kann, wird die Depression der Mutter auch nach außen hin sichtbar. In der speziellen Schichtung der ländlich geprägten süditalienischen Gesellschaftsstrukturen bleibt die Familie ein Fremdkörper, die Macht des Vaters über die einheimischen Fabrikarbeiter trägt ihm nicht gerade Sympathien ein, die Erzählerin muss mangels lokaler Infrastruktur ihre Schulbildung abbrechen, der Mutter gelingt es immer weniger, sich um ihre Kinder zu kümmern und auch der Vater wendet sich stillschweigend mehr und mehr von der Familie ab, verbringt seine Zeit in der Fabrik und bei seiner Geliebten. Die Mutter erleidet einen Zusammenbruch und wird schließlich aus dem instabilen Familiengefüge herausgelöst und in klinische Verwahrung gegeben.

Die sich lange Zeit hinter einer Fassade von Alltäglichkeit abspielende Familiengeschichte ist auch deshalb so wichtig für die Erzählung, da die zentrale Erkenntnis des Textes darin besteht, dass weibliche Unfreiheit und patriarchale Denkmuster immer wieder von neuem vererbt werden. Gerade mit dem existentiell erlebten Eintritt ins Muttersein entstehen die Würde der Frau antastende emotionale Zwänge, die sich als Verantwortung tarnen beziehungsweise oft kaum von Verantwortung zu unterscheiden sind. Und so widerfährt der Erzählerin, die doch als Kind und als Jugendliche so selbstbewusst und dem Leben zugewandt ist, die beginnt, ihr Denken in großer Freiheit zu entfalten, ein ganz ähnliches Schicksal wie ihrer Mutter. Sie heiratet jung, mit gerade einmal 17 Jahren, einen Angestellten in der Fabrik ihres Vaters, den sie nicht liebt und der auch sie nicht wirklich liebt, sondern eher als Objekt des Begehrens und Besitzens betrachtet. Was im Ehebett, und schon zuvor, körperlich zwischen ihnen passiert, ist von sexuellem Einverständnis oder gar sexueller Erfüllung weit entfernt. Als die Erzählerin einen Sohn bekommt, fühlt sie sich durch die Mutterliebe verwandelt, jedoch verstärkt diese zugleich ihre Unfreiheit als Ehefrau. Die Eifersucht ihres Mannes und wohl auch seine Angst vor der intellektuellen Überlegenheit seiner Frau werden zum Gefängnis für die Erzählerin, die das Haus nicht mehr ohne ihren Mann verlassen darf, der schließlich sogar das Briefpapier abzählt, mit dem sie in Kontakt zur großstädtischen, fortschrittlicheren Außenwelt der Schriftsteller und Intellektuellen tritt. Aus beruflicher Not zieht die kleine Familie nach Rom, wo die Erzählerin journalistisch tätig werden und einen neuen Freundeskreis aufbauen kann. Die ersehnte Unabhängigkeit erfüllt sich ihr aber nicht, da ihr Ehegefängnis in Rom weiterbesteht; ihr Mann übt auch dort weiter Kontrolle aus und zwingt sie schließlich, zurück nach Süditalien zu gehen. Schließlich gelingt es ihr, zu einem eigentlich unbezahlbaren Preis, der rückständigen Welt den Rücken zu kehren; als sie Mann und Kind verlässt, ist sie 25 Jahre alt.

Die Autorin selbst hat ihren Mann und ihren Sohn 1902 verlassen, lange vergeblich um das Kind gekämpft und dann 1906 ihr Buch veröffentlicht, in dem sie den langen Weg ihrer Entscheidung für die Freiheit erzählt. Sie wurde über 80 Jahre alt und führte ein umtriebiges und engagiertes Leben als Journalistin, Sozialarbeiterin, Dichterin, Liebende, ihren Sohn aber konnte sie erst viele Jahre nach ihrem Fortgang wiedersehen.

Auch wenn ihr Buch Eine Frau ein eindrückliches literarisches Zeugnis der frühen Frauenbewegung ist und, wie Elke Heidenreich im Nachwort schreibt, auch in den 1970er Jahren schon einmal ins Deutsche übersetzt wurde, stieß es bisher in Deutschland auf erstaunlich wenig Resonanz. Das Leben und das Schreiben dieser Schriftstellerin, ihre innere und äußere Revolte gegen die (süd)italienischen patriarchalen, traditionellen Strukturen schienen nach außen hin wohl zu weit von der Lebenswelt der deutschen Frauenbewegung entfernt. Zugegeben, sprachlich mag uns der Text, wenn er auch sehr gut lesbar, ja verschlingbar ist, heute stellenweise fremd erscheinen, in seiner eigenwilligen Mischung aus Pathos und Klarheit, aus Nachdenklichkeit und schockierender Direktheit. Immer wieder tauchen auch Gedankengänge auf, die etwas abrupt wieder abgebrochen werden, um die Handlung weiterzutreiben; vor allem die mystischen Passagen und die andeutungsreiche Begegnung der Erzählerin in Rom mit dem von ihr so genannten „Propheten“ können einen irritieren. Das verhindert aber keinesfalls, dass man beim Lesen ihrer sonst sehr konzisen, überlegten Sprache immer wieder ins Stutzen gerät, so nahe kommt sie einem mit ihren Gedanken und Gefühlen; immer wieder blitzen Sätze auf, die eine Frau heute genauso hätte ausdrücken können, und die vielen wunden Punkte, die sie schreibend berührt und offenlegt, die Gewissenserforschung und emotionalen Zwickmühlen, die sie beschreibt, erscheinen alles andere als verstaubt. Wenn sie etwa die Frage stellt, warum Muttersein so selbstverständlich mit Aufopferung gleichgesetzt wird, wie man als Mutter auch eine Frau bleiben kann, ja muss, für sich selbst, aber auch im Sinne eines ganzheitlicheren Daseinsverständnisses, eines anders gedachten Verständnisses von Verantwortung, das die Verwirklichung der eigenen Stärken und Vorlieben als etwas betrachtet, das man dem Leben schuldig ist, gerade auch für die Kinder, denen die Mutter ja ein Vorbild, ein Beispiel sein will. Die Erzählerin lotet ihr Gewissen, aber auch die gesellschaftlichen Ursachen für geschlechtsbezogene und soziale Ungerechtigkeiten genauestens aus; ihr gesamter Text ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die eigene Verantwortung besteht, sich selbst und den anderen gegenüber. Ist eine Mutter, die bleibt, aber unterdrückt und unaufrichtig lebt, gegen die Werte, die sie eigentlich an ihr Kind weitergeben will, einer Mutter vorzuziehen, die geht, um ihre Würde zu bewahren und Erniedrigung, Einengung, vielleicht sogar der Gewalt zu entgehen? Dafür, dass künftige Generationen von Frauen nicht mehr vor ein solches Dilemma gestellt werden, schreibt Sibilla Aleramo ihre Geschichte auf, deshalb fasst sie selbst eine unkonventionelle, mutige und schmerzhafte Entscheidung, um für die Emanzipation zu kämpfen, nicht nur übrigens für die Emanzipation der Frauen, sondern auch der benachteiligten sozialen Bevölkerungsteile Italiens; ihre Sympathie für die Arbeiterbewegung, ihr Blick auf die Armut, die Enge, das Leid der unteren Schichten geht schon aus ihrem ersten Buch deutlich hervor. Allein, um sich diesen solidarischen Impetus der Emanzipation ins Gedächtnis zu rufen, lohnt es sich, in der Lektüre von Eine Frau den Bewusstwerdungsprozess dieser zu Unrecht kaum bekannten italienischen Schriftstellerin mit- und nachzuvollziehen.

Bibliographische Angaben
Sibilla Aleramo: Eine Frau, Eisele 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich.
ISBN: 9783961611850

Bildquelle
Sibilla Aleramo, Eine Frau
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderCharles Ferdinand Ramuz: Derborence

Hörfassung der Rezension

Zweimal, 1714 und 1749, wurde der im Schweizer Wallis gelegene Talkessel von Derborence von Bergstürzen heimgesucht, die mit zerstörerischer Wucht eine Schar von Bergbauern, ihr Vieh und ihre Chalets unter sich begruben und zwei Jahrhunderte später Charles Ferdinand Ramuz zu seinem Roman inspirierten. Nach dem ersten Sturz 1714 benannte man die Berge um in „Diablerets“, also Teufelsberge oder Teufelshörner; ein im Wallis ansässiger Pfarrer, dessen Aufzeichnungen erhalten sind, machte sich an den Ort der Katastrophe auf, um dort den Teufel auszutreiben, der in den Augen der Einheimischen das Unglück verursacht hatte. Sein Bericht ist die Vorlage für Ramuz, der in einem radikal reduzierten und zugleich radikal zärtlichen naturpoetischen Stil die existentielle Bedeutung dieses Naturereignisses für die Bewohner der Bergregion in einem kargen und eindringlichen Prosatext zum Ausdruck bringt.

Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der frankophonen Schweiz, zu seinem Werk zählen neben Lyrik, (Musik-)Theater und Essays 22 Romane, von denen längst nicht alle ins Deutsche übersetzt sind. Nun hat der Schweizer Limmat Verlag eine neue deutsche Auflage von Derborence herausgebracht, in der Übersetzung des inzwischen ebenfalls verstorbenen Schweizers Hanno Helbling.

Auch wenn der Protagonist des Romans weniger ein einzelnes Individuum ist als die ganze von dem Unglück betroffene Bergregion, oder vielleicht auch der Berg selbst, zeichnen sich die Konturen zweier Figuren doch ein wenig schärfer ab, nämlich die des frisch verheirateten Paares Antoine und Thérèse. Antoine begibt sich zu Beginn der Geschichte zusammen mit anderen Bergbauern, darunter auch Thérèses Onkel Séraphin, für einige Wochen im Sommer auf eine Berghütte, um dort oben das Vieh zu hüten. Des Nachts werden sie von dem herabstürzenden Berg überrascht, der alle Hirten und alles Vieh unter sich begräbt. Die Nachricht von dem Unglück erreicht kurz darauf auch die Bewohner von Derborence, die ihre Männer, Väter und Söhne kollektiv betrauern, aber ohne Leichname nicht bestatten können. Zwei Monate später taucht Antoine im Dorf auf, bärtig und abgemagert wie ein Gespenst, als das er den Bewohnern und zunächst auch seiner Frau Thérèse erscheint. Ist er ein wandelnder Geist, der ohne christliches Begräbnis noch nicht zur Ruhe gekommen ist? Während die Dorfbewohner Antoine umscharen und befragen und sich allmählich von seiner Lebendigkeit überzeugen lassen, wagt sich dennoch kaum jemand zur Unglücksstelle zurück. Als Antoine erfährt, dass niemand von den anderen lebend vom Berg zurückgekommen ist, lässt er sich nicht davon abbringen, dorthin zurückzukehren, um seinen verschütteten und aller Wahrscheinlichkeit nach längst toten väterlichen Freund Séraphin aus den Trümmern zu befreien. Einzig Thérèse, die den wie durch ein Wunder ins Leben zurückgekehrten Mann und Vater ihres ungeborenen Kindes nicht ein zweites Mal verlieren will, ist fest entschlossen, ihn ins Dorf zurückzuholen…

Ramuz schreibt sich in diesem Roman an die Essenz des Daseins heran. Hinter dem vordergründigen Regionalismus seiner lokal verankerten Erzählung, in die er die Namen der Bergdörfer ebenso mit aufnimmt wie die Sprachen und Dialekte, die sich in dieser Alpenregion mischen, das Schweizerdeutsch, das Frankoprovenzalische, hinter einer archaisch wirkenden bäuerlichen Welt, scheint gerade angesichts des harten, der Natur auf Gedeih und Verderb ausgesetzten Lebens in den Alpen immer wieder die conditio humana auf. So wird das Dasein der Menschen dort ganz von den Jahreszeiten geprägt, die bestimmen, wann die Männer mit dem Vieh auf die Alpe gehen oder wie die Gemüsegärten bewirtschaftet werden. Das Wirtshaus als lokaler Treffpunkt der Männer nach getaner Arbeit ist ein Ort der dörflichen Gemeinschaft, der Kollektivität, die auch den Umgang mit dem Tod, die Rituale der Trauer charakterisiert. Selbst der regionale Aberglauben, die Furcht vor dem Werk des Teufels, erhält in der Geschichte angesichts der Katastrophe, mit der die Dorfbewohner umgehen müssen, eine mythische Kraft, die im narrativen Kontext jedoch alles andere als lächerlich, sondern irgendwie sehr nachvollziehbar wirkt. Ramuz konfrontiert seine Figuren mit existentiellen Situationen, in denen sie auf das Äußerste, was das Menschsein ausmacht, zurückgeworfen werden. So bremst Antoine, als er von seinem Überleben unter dem Geröll erzählt, seine Zuhörer, die wissen wollen, wie er so lange seinen Hunger und Durst gestillt habe:

„Ihr habt es zu eilig; die Luft, die ist noch wichtiger als das Brot und das Wasser; und da war ich nun zufrieden, weil ich sah, dass mir wenigstens die Luft nicht fehlen würde, wegen der Löcher überall zwischen den Steinen, die aufeinander getürmt waren, eine große Masse, aber voll von Ritzen, wo die Luft hereinkonnte, und darunter hab ich auf allen vieren herumkriechen können, aufstehen nicht; und so hab ich gesehen, dass ich Glück hatte […]“.

Ramuz, Derborence

Es sind universelle Themen, von denen diese Geschichte erzählt: von der Angst und vom Tod, und nicht zuletzt auch von der Liebe, von einer großen Liebe ohne große Worte, die Verständigung vollzieht sich hier jenseits der Sprache. Und so besiegt am Ende die Menschlichkeit wenn auch nicht die Natur, so doch die Angst und den mythischen Zauber, als nämlich eine schwangere Frau den größten Mut und die größte Entschlossenheit von allen beweist. Ihre Liebesgeschichte ist umso berührender, als sich die innige Verbundenheit des Paares ganz schlicht und fast unmerklich aus der Schroffheit der Berglandschaft herausschält:

Er schwingt die Hacke, er schlägt herab.
Sie muss nur darauf hören, woher der Ton kommt; sie bleibt stehen, geht weiter. Sie umgeht noch diesen Felsblock, jenen noch; dann werden die Blöcke kleiner, rücken zusammen, türmen sich gleichzeitig auf, bilden wie Stufen einer [sic!] Treppe, die sie hinaufsteigt; in dieser Einöde, wo nie eine Frau sich allein hineingewagt hätte, doch sie ist nicht allein, ihre Liebe ist da, und die Liebe begleitet sie, treibt sie vorwärts.

Ramuz, Derborence

So eigen wie die Bergbewohner und ihre Umgebung ist auch die Sprache, die Ramuz für seinen Roman verwendet. Zugleich einfach und expressiv, nimmt sie die lokale Umgangssprache in sich auf und brachte dem Schriftsteller erst Kritik ein, während Kollegen wie Céline oder Claudel sie bewunderten. Seine Texte zeigen, dass sich Regionalismus und Avantgardismus nicht ausschließen; so arbeitete Ramuz zum Beispiel auch mit Igor Strawinsky zusammen, schuf mit ihm mehrere (Bühnen-)Werke. In seinem Roman Derborence fällt auf, wie seine epische Prosa immer wieder in Poesie übergeht, insbesondere dann, wenn die Natur in den Vordergrund tritt. Schönheit und Kargheit, Gewalt und Zartheit liegen dann oft ganz nah beieinander. So entsteht etwa eine unaufdringliche, stille Form der Melancholie, wenn er dem Klang des Wortes Derborence nachspürt:

Derborence, das Wort klingt sanft; sanft und etwas traurig klingt es in uns nach. Es beginnt mit einem festen und bestimmten Laut, dann zögert es und sinkt, noch während man es klingen lässt, ins Leere: Derborence; als wollte es so auf den Untergang, auf die Einsamkeit und das Vergessen deuten.

Ramuz, Derborence

Immer wieder geht der Text in poetische Naturbeschreibungen über, die man heute wohl mit dem Begriff des Nature Writing bezeichnen würde; die Dorfbewohner leben mit einer großen Selbstverständlichkeit mit der Natur und haben zugleich auch eine unverbrüchliche Achtung vor ihr, sie erscheint an vielen Stellen selbst personifiziert: eine Respektsperson, mit der man tagtäglich umgehen und der man sich fügen muss, die einem vertraut ist, die man inwendig kennt und die doch auch eine Unberechenbarkeit in sich trägt, die man nie unterschätzen darf:

Sie […] schauten zum Bach hinüber, sie sahen, wie die großen Steine auf dem Grund seines Bettes nun trocken wurden, zwischen sich ganz stille Tümpel stehen ließen, und diese Tümpel glänzten wie Brillengläser. Die starke Stimme des Wassers ist verstummt, die sie mit dem Ohr unwillkürlich wiederzufinden versuchen, dort, wo sie hätte sein müssen und in der Luft, wo sie nicht mehr war, und sie wunderten sich über diese neue Stille, und gleichzeitig fügten sie sich ihr. Denn sie verstummten einer nach dem anderen, und dann machten sich die vom Sanetsch und die vom Anzeindaz auf den Heimweg.

Ramuz, Derborence

In der Bergwelt von Derborence hat man auf die Natur zu hören gelernt, lauscht man in beständiger Achtsamkeit ihrer Stimme; denn die eigene menschliche Existenz hängt ja davon ab, ob es gelingt, im Einklang mit ihr zu leben:

Und da seufzt einer von ihnen; und da seufzt auch der Berg, er hebt schwer seine steinerne Brust, lässt sie schwer wieder sinken.

Ramuz, Derborence

Diese selbstverständliche Ehrfurcht haben wir in den modernen Städten aufgewachsenen Menschen heute wohl so gut wie verloren, bei der Lektüre dieses wunderbaren Textes erinnert man sich daran, mit Ehrfurcht, aber keineswegs mit Selbstverständlichkeit.

Bibliographische Angaben
Charles Ferdinand Ramuz: Derborence [1934], Limmat (3. Aufl., 2021)
Aus dem Französischen übersetzt von Hanno Helbling
ISBN: 9783857914393

Bildquelle
Charles Ferdinand Ramuz, Derborence
© 2021 Limmat Verlag AG, Zürich

bookmark_borderSylvia Townsend Warner: Lolly Willowes or The loving huntsman

Als ich diesen ersten Roman der englischen Schriftstellerin und Musikwissenschaftlerin aus dem Jahr 1926 gelesen habe, hat mich schon auf den ersten Seiten eine Faszination ganz eigener Art ergriffen und beim weiteren Lesen nicht mehr losgelassen: Ich war abwechselnd und manchmal auch gleichzeitig amüsiert, erschrocken, empört und verzaubert von dieser feinsinnigen Geschichte einer Frau, die anders ist und anders lebt, als es von ihresgleichen wie selbstverständlich erwartet wird, einer Frau, die als unverheiratete Erwachsene nicht nur ihren Mädchennamen, Laura, verliert, um fortan von allen nur noch Tante Lolly genannt zu werden, sondern auch die Freiheit, eine weibliche Identität zu haben, die nicht in einer familiären Beziehung begründet ist, einer Frau schließlich, die in eine Schublade gesteckt wird, die so eng ist, dass sie, als auch ihre kleinen, unauffälligen Fluchten nicht mehr helfen, auf immer noch subtile, aber wirksame Weise aufbegehrt und sich die Freiheit und Naturnähe ihrer Kindheit wieder zurückzuerobern versucht.

Der aus drei Teilen bestehende Roman weist eine stringente, aber stark kontrastive Struktur auf, deren größter Bruch, gleichwohl er unterschwellig lange vorbereitet wurde, im dritten Teil stattfindet, der sich durch seinen Übergang ins Ironisch-Fantastische von den vorhergehenden Teilen abhebt. Im ersten Teil erfährt man, wie die Hauptfigur Lolly Willowes, die damals noch Laura gerufen wurde, auf dem Land in Lady Place aufwächst; die Mutter lässt ihr, entgegen den eher strengen Sitten auf dem englischen Lande am Ende des 19. Jh., viel Freiraum, Laura darf lesen, was sie will, sie darf mit ihren Brüdern in der Natur umherjagen, und vor allem darf sie sich des leidigen Gesellschaftsspiels entziehen, welches das Leben der jungen Mädchen in der Suche nach einem Bräutigam kulminieren lässt. Nach dem frühen Tod der Mutter bleibt Laura ganz selbstverständlich bei ihrem Vater und sorgt für Haus und Garten, auch als die beiden Brüder nacheinander heiraten. Erst als der Vater stirbt, wird Laura sich über Nacht den gesellschaftlichen Konventionen, die in Lady Place keine Macht hatten, beugen. Sie zieht — und hier könnte der Kontrast in den Augen Lauras nicht größer sein — zur Familie ihres Bruders Henry nach London. Sie erlebt London als das genaue Gegenteil von Lady Place, das sie gegen eine graue, enge und von engstirnigen Menschen bewohnte Stadt eintauschen musste. Freiheit, sowohl des Geistes als auch des Körpers, und Natürlichkeit sind in dem Roman eng mit dem Begriff der Natur verbunden, während das urbane Gesellschaftsleben Entfremdung und Rollenzwänge begünstigt:

There was a small garden at Apsley Terrace, but it had been gravelled over because Henry disliked the quality of London grass; and in any case it was not the sort of garden in which she could run barefoot.

She was also annoyed by the hardness of the London water. Her hands were so thin that they were always red; now they were rough also. If they could have remained idle, she would not have minded this so much. But Caroline never sat with idle hands; she would knit, or darn, or do useful needlework. Laura could not sit opposite her and do nothing.

Lolly Willowes, S. 46 (Part 1)

Die im Zitat genannte Caroline ist Lauras Schwägerin und in fast allem das Gegenteil von ihr; Caroline ist eine perfekte Hausfrau und Mutter, sie bestätigt ihren Ehemann unhinterfragt in allem, was er denkt und tut, und bringt in Gesellschaft anderer niemanden mit eigenen Gedanken und Widerspruch aus dem Konzept, so wie Laura das in ihrer nur scheinbar naiven Art immer wieder tut, wenn sie gedankenlos geäußerte Klischees und Dummheiten einfach nicht so stehen lassen kann. Lauras unvoreingenommene, genaue Beobachtungsgabe, die in zurückhaltendem personalen Erzählstil vermittelt wird, verschafft dem Leser hier den Genuss psychologisch sehr nuancierter und entlarvender Figurenporträts. So durchschaut Laura etwa sehr genau, dass ihre Schwägerin zwar den Konventionen zufolge einen vorbildlichen Charakter hat, ihr Verharren in Konformität und Passivität sich letztlich jedoch auch auf das Verhalten ihres Mannes negativ auswirkt. Denn da Henry zuhause, ebenso wie übrigens auch in seinem beruflichen Umfeld — er hat eine Stelle als Jurist — keinerlei Widerspruch und geistige Anregung erhält, macht er es sich mit der Zeit in seinen Vorurteilen bequem und wird immer engstirniger; man geht wohl nicht zu weit, wenn man hier ein indirektes Plädoyer für eine gleichberechtigte Beziehung herauszulesen meint.

Doch so gut es Caroline und ihr Mann auch mit Laura meinen, indem sie ihr ein Obdach und Gesellschaft geben — die nicht mehr ganz junge Frau fügt sich einfach nicht in die für sie vorgesehene Rolle. Und zwar nicht durch Provokation und Aufmüpfigkeit, sondern schlicht durch die von ihr gelebte Natürlichkeit, mit der die Anstrengungen der anderen als unaufrichtig und zwanghaft entlarvt werden und an der denn auch alle Versuche, sie doch noch irgendwie an den Mann zu bringen, abprallen müssen. Mit diesen erzähltechnischen Strategien gelingt es der Autorin, ihre Figuren sehr lebendig und augenzwinkernd zu charakterisieren, hintersinnig Gesellschaftskritik zu üben und nicht zuletzt auch den Frust und die Verzweiflung ihrer Hauptfigur Laura für den Leser spürbar zu machen:

Caroline seemed affectionately disposed towards her; she was full of practical good sense, her advice was excellent, and pleasantly bestowed. Laura saw her a good wife, a fond and discreet mother, a kind mistress, a most conscientious sister-in-law. She was also rather gluttonous. But for none of these qualities could Laura feel at ease with her. Compared to Caroline she knew herself to be unpractical, unmethodical, lacking in initiative. The tasks that Caroline delegated to her she performed eagerly and carefully, but she performed them with the hampering consciousness that Caroline could do them better than she, and in less time.

Lolly Willowes, S. 52 f. (Part 1)

Als Lauras jüngerer Bruder James stirbt, wird ihr Kindheitsparadies Lady Place verpachtet, alles Mobiliar und die vielen, teils kuriosen Sammlerstücke aus früheren Willowes-Generationen werden verteilt oder zwischengelagert. In der Folge dieses einschneidenden Ereignisses wird deutlich, dass Laura, gleichwohl James‘ Sohn Titus, Lauras Neffe, rein rechtlich der Erbe von Lady Place sein wird, die wahrhaftige, nämlich geistige und emotionale Erbin der Willowes‘ ist. Dies ist für den weiteren Fortgang der Geschichte insofern von zentraler Bedeutung, als Laura sich von ihrer geographischen Bindung zu Lady Place freimachen kann, da sie erkennt, dass dieser Sehnsuchtsort nur noch in ihrer Erinnerung, dafür aber der Zeit und des Raums enthoben, weiterexistiert; so wird sie innerlich bereit für ihren Befreiungsschlag, ihren Ausbruch.

Doch erst einmal findet mit dem Ersten Weltkrieg ein anderer Ausbruch statt, der entscheidende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Hierarchien und eben auch auf die Geschlechterrollen hat; auf einmal ist es ganz selbstverständlich, dass die Frauen am Erwerbsleben teilhaben und in der Öffentlichkeit präsent sind. Weibliche Biographien, die für Leute wie Caroline und Henry vor dem Krieg unvorstellbar gewesen wären, werden geschrieben, wie zum Beispiel die ihrer eigenen Tochter mit dem andeutungsreichen Namen Fancy: Nach ihrer überraschenden und unkonventionellen Heirat 1914 wird sie bereits 1916 zur Kriegswitwe — und im gleichen Atemzug zur „widowed amazon“ (S. 70), zur modernen, unabhängigen Frau:

At least [so denkt sich ihre Mutter Caroline] Fancy might stay in her very expensive flat and be a mother to her baby. But Fancy drew on a pair of heavy gauntlet gloves and went to France to drive motor lorries.

Lolly Willowes, S. 70 (Part 1)

Mit dem Krieg ist auch der erste Teil des Romans zu Ende. Während die Londoner Willowes auf nun recht anachronistisch wirkende Weise zum Alltag vor dem Krieg zurückkehren —

When the better days to come came, they proved to be modelled as closely as possible up to the days that were past. It was astonishing what little difference differences had made.

Lolly Willowes, S. 73 (Part 1)

— ergreift Laura eine schwer fassbare Melancholie, die ebenso plötzlich, wie sie aufgekommen ist, wieder verschwindet, doch eine weitere unsichtbare Wunde in ihr hinterlässt, ein vages Ungenügen, das sie mit kleinen eskapistischen Streifzügen durch die Stadt und in Buchläden zunächst aufzuheben scheint. Doch hinter diesem scheinbaren Ausleben von Selbständigkeit und Freiheit verbirgt sich eine tiefe Einsamkeit, der sie in ihrer Rolle als unverheiratetes Anhängsel der Familie nicht zu entkommen vermag:

These things were exciting enough to be pleasurable, for she kept them secret. Henry and Caroline […] were quite indifferent as to where and how she spent her afternoons; they felt no need to question her, since they could be sure that she would do nothing unsuitable or extravagant. Laura’s expeditions were secret because no one asked her where she had been. […] But she did not examine too closely into this; she liked to think of them as secret.

Lolly Willowes, S. 79 f. (Part 2)

Die Kehrseite dieser kleinen Freiheiten, die sie sich nimmt, ist das vollständige Desinteresse der anderen für ihre Person. Für die Gesellschaft existiert sie im Grunde gar nicht. Und so fängt unterschwellig etwas in ihr zu brodeln an, eine Sehnsucht, die sie zum Entsetzen ihrer aus allen Wolken fallenden Familie dann doch eines Tages zu einer unerhörten „Extravaganz“ veranlasst. Sie fasst die Entscheidung, London zu verlassen und in eine ländliche Gegend zu ziehen, die sie nur aus einem Reisebericht kennt; und zwar ganz allein. Als sie mit dieser Neuigkeit inmitten eines Familientreffens herausplatzt, nimmt sie außer ihrem Neffen Titus niemand ernst; daher sucht sie später erneut das Gespräch mit ihrem Bruder:

„But Lolly, what you want is absurd.“
„It’s only my own way, Henry.“
„If you would like a change, take one by all means. Go away for a fortnight. […] Take a little trip abroad if you like. But come back to us at the end of it.“
„No, Henry. I love you all, but I feel I have lived here long enough.“
„But why? But why? What has come over you?“
Laura shook her head.
[…] „Lolly! I cannot allow this. You are my sister. I consider you my charge. […] It is not sensible. Or suitable.“
„I have reminded you that I am forty-seven. If I am not old enough now to know what is sensible and suitable, I never shall be.“

Lolly Willowes, S. 102 f. (Part 2)

Auch als sich im weiteren Gesprächsverlauf herausstellt, dass Henry ihr Geld ohne ihr Wissen ungünstig angelegt hat, so dass kaum mehr etwas davon übriggeblieben ist, lässt Laura sich nicht von ihrem Entschluss abbringen. Sie stellt sich auf ein bescheideneres, aber unabhängiges Leben ein und zieht zu einem älteren Ehepaar in eine Pension. In ihrer neuen Umgebung unternimmt sie behutsame freundschaftliche Annäherungen und vor allem viele Streifzüge durch die Natur, auf denen sie — zugleich schmerzhaft und befreiend, eine innere Wandlung durchmacht und endlich die ganze Dimension ihrer vorherigen Entfremdung erkennt. Im charakteristisch augenzwinkernd-satirischen Stil hebt die Autorin Lauras persönliches Schicksal auf eine übergeordnete, gesellschaftliche und historische Ebene:

There was no question of forgiving them [ihrer Londoner Familie]. She had not, in any case, a forgiving nature; and the injury they had done her was not done by them. If she were to start forgiving she must needs forgive Society, the Law, the Church, the History of Europe, the Old Testament, great-great-aunt Salome and her prayer-book, the Bank of England, Prostitution, the Architect of Apsley Terrace, ans half a dozen other useful props of civilisation.

Lolly Willowes, S. 152 (Part 2)

Doch es wäre zu kurz gegriffen und — gerade angesichts der in der zitierten Textstelle genannten historisch verankerten Gesellschaftsstrukturen — zu weltfremd, wenn ihr Akt der Emanzipation damit einfach so vollendet wäre. Im dritten Teil geht es denn auch darum, ihr neues Dasein gegen seine Bedrohung von außen zu verteidigen. Diese Bedrohung manifestiert sich ausgerechnet in Gestalt ihres Neffen Titus, der ihr in gewisser Weise sehr ähnlich ist und den sie eigentlich von Herzen gern hat. Titus ist inzwischen Student, ein junger, vor Willen und Kraft strotzender Mann, der den Ausbruch seiner Tante auf seine Weise imitiert und für eine Zeitlang bei ihr wohnen möchte. Doch Laura empfindet dieses Ansinnen als Affront und ihren Neffen als Eindringling, der ihr das alte Leben, aus dem sie sich so mühsam befreit hat, wieder überzustülpen droht: Auf einmal ist sie wieder die nützliche, liebenswürdige, unbedeutende Tante Lolly, kurz davor, wieder in die alten Ketten gelegt zu werden:

She walked up and down in despair and rebellion. She walked slowely, for she felt the weight of her chains. Once more they had fastened upon her. She had worn them for many years, acquiesciently, scarcely feeling their weight. Now she felt it. And, with their weight, she felt their familiarity, and the familiarity was the worst of all.

Lolly Willowes, S. 156 (Part 3)

Das Gefühl der Bedrohung besteht auch in der von ihr auf einmal ganz stark empfundenen Kluft zwischen einer Männlichkeit, die auch Selbstverständlichkeit bedeutet, und ihrer Weiblichkeit: Für Titus entspringt seine Lust auf einen Aufenthalt fernab seiner Familie einer leicht zu erfüllenden, durch keinerlei Hindernisse erschwerten Laune, während der Ausbruch für Laura ein einzigartiger, von Imagination, Hoffnung und Emotion beseelter Kraftakt war. Die Art ihrer Liebe zu dieser Gegend unterscheidet sich in Lauras Augen daher grundlegend:

It was comfortable, it was portable, it was a reasonable appreciative appetite, a possessive and masculine love. […] He loved the countryside as though it was a body.
She had not loved it so. […] for long before she saw it she had loved it and blessed it. With no earnest than a name, a few lines and letters on a map […] she had trusted the place and staked everything on her trust. She had struggled to come, but there had been no such struggle for Titus.

Lolly Willowes, S. 162 f. (Part 3)

Mit Lauras Verzweiflung nimmt der Roman in diesem letzten Teil noch einmal so richtig Fahrt auf. Es bleibt poetisch, aber es wird fantastisch, wild und abenteuerlich. Wie kann sie diesen Eindringling wieder loswerden, wie sich gegen die Verletzung ihres so mühsam eroberten Schutzraumes wehren? Und schließt Laura wirklich einen Pakt mit dem Teufel, der ihr in Gestalt einer kleinen Katze auflauert? Mit dem Motiv der Hexe, das im letzten Teil in den Roman Eingang findet, stellt die Autorin provokativ-ironisch die Frage in den Raum, ob für eine unabhängig lebende Frau ab einem bestimmten Alter nur die ewig-alte Unterstellung gültig sein kann, dass sie eine Hexe ist. Zugespitzt: Muss eine Frau böse werden, um frei sein zu können? In der Handlung wird dieser Mythos aufgegriffen und dann geschickt transformiert und dekonstruiert. Entsprechend der Inversion, die den bösen Teufel hier in eine liebende Erscheinung der Natur verwandelt, wird auch der Begriff der Hexe — wie der Frau — seiner historisch-moralischen Zuschreibungen enthoben und in einen sozialkritischen Kontext gestellt:

One doesn’t become a witch to run round being harmful, or to run round being helpful either, a district visitor on a broomstick. It’s to escape all that — to have a life of one’s own, not an existence doled out to you by others […].

Lolly Willowes, S. 243 (Part 3)

Durch die mythisch-fantastische Struktur des Textes im dritten Teil wirkt eine solche Dekonstruktion zugleich kämpferisch und utopisch, zumal sich poetische Ernsthaftigkeit und spielerische Ironie hier stets gegenseitig durchdringen. So wurzelt etwa der Gedanke an ein Kollektiv der Hexen, die eine eigene soziale Klasse darstellen könnten, aus einem ganz realen Ungerechtigkeitsempfinden und vermag den Lesern doch zugleich ein halb amüsiertes, halb trauriges Schmunzeln zu entlocken: wie z.B. wenn es um die Rekrutierung von weiblichen Hexen oder männlichen Zauberern geht; die Benachteiligung der Frauen im wirklichen Leben stellt nämlich einen absoluten Pluspunkt in ihrer Qualifikation als Hexe dar:

I can’t take warlocks so seriously, not as a class. It is the witches who count. We have more need of you. Women have such vivid imaginations, and lead such dull lives.

Lolly Willowes, S. 238 (Part 3)

Lolly Willowes ist ein ebenso melancholisches wie humorvolles Stück Literatur, kunstvoll verfasst in einem ganz eigenen Stil, den man poetisch-magischen Realismus nennen könnte oder besser noch: poetisch-magischen Feminismus? Auf jeden Fall vereinen sich hier Elemente des britischen Gesellschaftsromans satirisch-kritischer Prägung und eine ins Fantastische getauchte Abenteuergeschichte mit utopischen und naturhymnenhaften Zügen zu einem poetischen Gesamtkunstwerk, dessen kritisch-utopischer Gehalt auch heute noch Relevanz hat. Aufschlussreich ist, dass sich Laura zwar mit der utopischen Idee des selbstbestimmten Hexen-Lebens anfreunden kann, nicht jedoch mit der kollektiven Form des Hexensabbats, von dem sie gleich wieder Reißaus nimmt, als sie darin neue gesellschaftliche Zuschreibungen und Zwänge entdeckt. Laura ist eine literarische Figur, die sich nicht von Ideologien einzwängen und dirigieren lassen will, sondern die im Einklang mit sich und ihrer Umwelt leben möchte, und die dafür immer wieder auch ihre Rückzugsorte braucht. Somit zeichnet ihre Geschichte eindrücklich einen emanzipatorischen Akt nach, der aber ungleich poetischer ist, als alle zeitgenössischen Gesellschaftsformen des Feminismus es sein können, sei es des politisch-aktivistischen, des sprachpolitisch-formbehafteten oder derjenigen Spielart, die — wie Beate Hausbichler es in ihrem kürzlich erschienenen Buch, Der verkaufte Feminismus, analysiert — oft mehr Pose und Label ist als ehrliches Engagement. Literatur, das zeigt der Roman, ist doch immer noch eine der besten Arten, gesellschaftliches Bewusstsein zu schärfen, ohne den empathischen und differenzierten Blick für die Geschichte des Einzelnen zu verlieren.

Bibliograpische Angaben
Sylvia Townsend Warner: Lolly Willowes or The loving huntsman [1926], Academy Chicago Limited (1979)
ISBN: 9780915864911

Zur deutschen Ausgabe:














Bildquelle
Sylvia Townsend Warner: Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann, Dörlemann (2020)
In neuer deutscher Übersetzung von Ann Anders
ISBN 9783038200796
© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich

bookmark_borderSusan Sontag: Wie wir jetzt leben

Die große amerikanische Intellektuelle Susan Sontag kannte ich bisher so gut wie nur von den berühmten, geradezu ikonischen Fotografien, die es von ihr gibt. Fast schon paradox angesichts dessen, was die hochgeschätzte Essayistin über das Wesen der Fotografie und die moderne Bilderflut geschrieben hat. Anstatt mich daher aber in einer der neu erschienenen umfangreichen Biographien über sie in Interpretationen ihrer Persönlichkeit zu verlieren, habe ich mich von einem ebenfalls frisch erschienenen, ganz schmalen Band mit einer kleinen Auswahl an Kurzgeschichten aus ihrer Feder verlocken lassen, um mich dieser faszinierenden femme de lettres auf literarischem Wege anzunähern. Nach wenigen Stunden atemloser und beglückender Lektüre bin ich überzeugt, dass das der richtige Weg war.

Wie wir jetzt leben versammelt auf gut 100 Seiten nur fünf Texte, in neuer Übersetzung von Kathrin Razum, die den pointierten, flüssigen und von Text zu Text sehr wandelbaren Stil Sontags stilsicher ins Deutsche überträgt. Nur fünf eher kurze Texte, aber was für ein Genuss! Jeden einzelnen von ihnen habe ich sozusagen geistig inhaliert, stets kleine innere Juchzer ausstoßend über ein kühnes Formexperiment, einen überraschenden Blick auf eine Welt, der auch Jahre, Jahrzehnte später noch punktgenau und nicht minder schmerzlich ins Wesentliche trifft. Sontag nimmt auch in ihren literarischen Texten auf ihren eigenen gesellschaftlichen Kontext Bezug, doch auf eine existenzielle Weise, mit der sie die Zeit überbrückt und schreibend ins Herz und in den Geist von uns „jetzt lebenden“ Lesern dringt.

„Wie wir jetzt leben“ ist auch der Titel der ersten Kurzgeschichte des Bandes, in der sich die Autorin mit der Aidspandemie auseinandersetzt und sich dabei auf die Form des Diskurses über die Krankheit konzentriert. Das Schreiben über die gesellschaftlichen Implikationen von Krankheit kann man als eines der Lebensthemen von Susan Sontag bezeichnen, dem sie auch in essayistischer Form nachspürte, vor dem autobiographischen Hintergrund ihrer eigenen Krebserkrankung ebenso wie im Kontext der Entdeckung des sich weltweit ausbreitenden Aids-Virus. Hier lotet sie nun sprachlich virtuos in einem vielstimmigen Textkunstwerk auf literarischem Weg aus, wie man über die Krankheit spricht, über die Angst sich anzustecken und die schambehaftete Erleichterung, selbst nicht krank zu sein, sowie über den, der an ihr leidet, über sein seelisches und körperliches Auf und Ab, seine Stimmungen und Reaktionen. Dabei kommt jedoch der Erkrankte selbst nie zu Wort, bleibt auffällig abstrakt und unsichtbar, während sich die Stimmen der Besorgten, der Optimistischen, der Rücksichtsvollen, der sich Aufopfernden, der Distanzierten usw. geradezu überschlagen.

Überhaupt ist der Autorin an Sprache viel gelegen, deren Möglichkeiten und Grenzen sie in den hier versammelten Erzählungen immer wieder auslotet. So auch in dem formal experimentierfreudigen folgenden Text, in dem sie dem komplizierten Kommunizieren über das emotional oft so unmittelbare und zugleich mittelbare, weil zeitversetzte Medium Brief in vielfältigen Varianten nachgeht. Variationen über ein Bild aus der Oper Eugen Onegin, nämlich die Briefszene der Tatjana, wechseln sich ab mit erzählerischen Passagen oder Berichten über das Briefeschreiben in Grenzsituationen, wie aus einem abstürzenden Flugzeug oder im Gefängnis vor der unabwendbaren Hinrichtung. Es geht um ein geradezu existenzielles Schreiben im Kontext von Liebe und Tod, Verlassenwerden und nicht gelebten Möglichkeiten. Auch im dritten Text steht auf eine wiederum überraschend neue Art das Schreiben im Zentrum, diesmal als Frage nach dem Potential der Fiktion im Verhältnis zur Realität. Die eigentliche Geschichte ließe sich gewissermaßen auf einen einzigen Satz reduzieren, während ein reflektierender Kommentar sich raumgreifend in den Vordergrund drängt und ein im Grunde banales Alltagsereignis fiktional verdichtet.

In der vierten Geschichte tauchen wir in die Welt der Wirkmacht der Bilder ein und damit wiederum in ein Thema, mit dem sich Susan Sontag auch in essayistischer Form auseinandergesetzt hat. Die hier gewählte literarische Form ist die eines parabelhaften, teilweise auch augenzwinkernd komischen Gesprächs zwischen einem Vogel, der als unkender Unheilsbote auftritt, zugleich aber auch den sich in die luftigen Höhen der Freiheit schwingenden Künstler bzw. die Künstlerin Susan Sontag selbst verkörpert, und einem Vertreter der Gattung Mensch, namentlich einem Nachfahren Noahs. Dieser lebt mit seinen Artgenossen noch immer in einer Arche, die ihm ein Rückzugsort vor Katastrophen jeder Art zu sein scheint, während der Vogel ihn mit Bildern von einer bedrohlichen, gewaltsamen, krankenden Welt aus seiner lethargischen, verdrängenden Abwehrhaltung zu locken versucht. Erstaunlich und eigentlich sehr traurig, dass man keine Silbe an dieser Parabel ändern muss, um ihre Bedeutsamkeit für unsere Gegenwart zu erfassen, in der Kriegsgewalt und Zerstörung der Natur auch ebenso omnipräsent wie aus der Alltagswirklichkeit gerne verdrängt sind.

Schließlich gibt der fünfte und letzte, deutlich autobiographisch gefärbte Text mit dem Titel „Wallfahrt“ auch einen literarisierten Einblick in das Leben und die Persönlichkeit der Autorin. Wir erfahren von den Familienverhältnissen, Jugendfreundschaften und vor allem von der geistigen Reifung der ganz jungen Susan Sontag, die als Teenagerin zusammen mit einem Freund den von ihr verehrten Autor des Zauberberg Thomas Mann besucht, der zu dieser Zeit im südkalifornischen Exil lebt. Diese Wallfahrt wider Willen — Susan sträubt sich von vornherein dagegen, sich der gefürchteten Wirklichkeit des idealisierten Schriftstellers auszusetzen — hat in Sontags Nacherzählung auch eine große Komik, da ihr Besuch von einer geradezu panischen Scheu und Schamhaftigkeit dominiert wird, die ihre Schatten über den ehrwürdigen Wallfahrtsort in Pacific Palisades wirft. Über dieses früh erwachte Unbehagen angesichts der Kluft zwischen Werk und Autor hinaus entwirft Sontag hier auch ein spannendes Bild der künstlerischen Avantgarde im Amerika der 1940er Jahre, zeigt den prägenden Einfluss der Exilkünstler aus Europa und schildert mit ansteckender Begeisterung ihre Leidenschaft für die Musik Strawinskys oder Schönbergs, die sie damals in Kalifornien noch persönlich erlebte.

Für mich ist dieser kleine Band mit diesen fünf so unterschiedlichen literarischen Prosastücken eine wahre Entdeckung der Schriftstellerin Susan Sontag. Jeder dieser Texte gibt einen neuen Einblick in ihre Art zu schreiben und in ihre wache, scharfsinnige, aber auch stets offene, sich Widersprüchen und Zweifeln ausliefernde Art zu denken. Darüber hinaus bieten diese Texte eine inspirierende und wachrüttelnde Lektüre gerade auch für unsere turbulente Gegenwart. Es lohnt sich, in die darin aufgeworfenen Diskurse und Gedankenexperimente einzusteigen und sie weiterzudenken, sei es was den Umgang mit Krankheit in unserer Gesellschaft betrifft, die durch das Internet inzwischen ja noch viel immanentere Macht der Bilder oder unsere Neigung, gesellschaftliche Missstände oder sich anbahnende Katastrophen zu verdrängen.

Bibliographische Angaben
Susan Sontag: Wie wir jetzt leben, Hanser (2020)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
ISBN: 9783446267640

bookmark_borderJames Baldwin: Giovannis Zimmer

Die Bücher von James Baldwin (1924-1987) sind inzwischen Klassiker und sie sind Texte von großer literarischer Qualität, in denen sich die Stimme eines Autors erhebt, der sich in zweierlei Hinsicht einer Minderheit zuordnen lässt. In diesem Sinne könnte man Giovannis Zimmer als Roman eines schwarzen Autors über Homosexualität bezeichnen, aber gegen diese doch auch wieder vereinnahmenden Zuschreibungen hätte Baldwin, der sich durchaus in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, sich jedoch als Mensch und als Schriftsteller keinesfalls zur Symbolfigur reduzieren lassen wollte, sich wohl mit Sicherheit gewehrt. Umso schöner ist es, dass seine Literatur, die Vorurteile aufdeckt und immer den Menschen sieht, nicht die Gruppe, in neuen deutschen Übersetzungen gerade jetzt wiederentdeckt wird, zu einem Zeitpunkt, wo eine teils überfällige und dringend notwendige, teils aber auch sich ins Gegenteil verkehrende, ihre eigentlichen Ziele ad absurdum führende Debatte um kulturelle Aneignung im Bereich von Kunst und Literatur geführt wird.

Giovannis Zimmer ist Baldwins zweiter Roman nach Go tell it on the mountain, in dem er von Glaube, Bigotterie und sexueller Unsicherheit in einem afroamerikanischem Milieu erzählte. Trotz expliziter Wünsche seines amerikanischen Verlags weigerte er sich aber, erneut einen Roman mit afroamerikanischen Protagonisten vorzulegen, da er sich nicht auf ein bestimmtes Herkunftsmilieu — „Identität“ würden wir heute sagen — festlegen und dadurch eben auch begrenzen lassen wollte. In Giovannis Zimmer sind daher nun eben alle wichtigen Figuren Weiße, weiße Amerikaner und weiße Franzosen. Das hat in den 1950er Jahren, als der Roman erschien, durchaus für Furore gesorgt, so manch einer empfand diese „kulturelle Aneignung“ als Skandal und Tabubruch…

Die Handlung entwickelte Baldwin, der selbst einige Zeit in Frankreich verbrachte, aus einem autobiographischen fait divers, den er jedoch zu einem psychologisch vielschichtigen Roman ausgebaut hat, zu einer auch stilistisch beeindruckenden Erzählung: Mit den ersten Sätzen wird man schon von ihr gefangen genommen, und das Poetische, Nachdenkliche, Empathische des Textes, der zugleich nie vor schonungsloser (Selbst-) Kritik seiner Figuren zurückscheut, begleitet einen bis zur letzten Seite. Manchmal ist die Lektüre geradezu schmerzhaft, aber immer auch intensiv, schön und flüssig lesbar und der Stil auf unprätentiöse Weise komplex in seinen psychologischen Beobachtungen und metaphorisch-literarischen Verdichtungen.

Ich weiß gar nicht, wie ich das Zimmer beschreiben soll. In gewisser Weise wurde daraus jedes Zimmer, in dem ich je war, und jedes Zimmer, in dem ich fortan sein werde, wird mich an Giovannis Zimmer erinnern. Wirklich lange habe ich dort nicht gewohnt — wir lernten uns vor Frühlingsbeginn kennen, und im Sommer zog ich aus –, aber noch immer ist mir, als hätte ich dort ein Leben verbracht. Das Leben in diesem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und fest steht, dass dort alles umgewälzt wurde.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines jungen Amerikaners namens David in Form einer Rückschau, die an eine Beichte erinnert. David quält das Gewissen, er empfindet Mitschuld am unmittelbar bevorstehenden und durch nichts mehr aufzuhaltenden Tod eines Menschen, den er liebte und doch fallen ließ. Indem er in Rückblenden sein Leben und die Begegnung mit Giovanni Revue passieren lässt, unternimmt er auch eine Selbstbefragung, die immer wieder in Selbstverachtung umschlägt, welche sich wiederum mehr und mehr als Movens seines schließlich verhängnisvollen Verhaltens entlarvt.

So erfährt man in eindringlichen Szenen vom romantischen Beginn und erst prosaischen, dann tragischen Ende der Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Barista Giovanni in Paris, aber auch von viel weiter in seine Kindheit und Jugend zurückreichenden Episoden: vom frühen Tod der Mutter, vom instabilen Verhältnis zu seinem Vater, von den ihn überfordernden sexuellen Gefühlen zu seinem Schulfreund, seiner Flucht und seinem Verrat an ihm, von seinen jugendlichen Alkoholexzessen und schließlich von seiner Verlobung mit der Amerikanerin Hella und seiner weiteren Flucht nach Paris, wo er in Hellas Abwesenheit in Schwulenbars verkehrt, ohne sich jedoch in der Öffentlichkeit oder auch nur sich selbst gegenüber zu seiner Sexualität zu bekennen.

James Baldwin zeichnet natürlich auch ein subtiles Gesellschaftsporträt und übt indirekt Kritik an homophoben Machtstrukturen und Vorurteilen gegenüber Außenseitern der Gesellschaft, die Sündenböcke braucht, um sich ihrer selbst zu versichern. So fällt, als der schmierige Barbesitzer Guillaume umgebracht wird, der Verdacht sofort auf den homosexuellen Giovanni, der zudem auch noch Ausländer ist. Wie sich die Geschichte wirklich abgespielt, welche Situation der Ausbeutung zu der Tat geführt hat, will die Öffentlichkeit hingegen gar nicht so genau wissen.

Es war ein entsetzlicher Skandal. (…) Ein solcher Skandal droht immer, noch bevor das Echo verhallt, einen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Man braucht eine Erklärung, eine Lösung und so schnell wie möglich ein Opfer. Die meisten in Verbindung mit diesem Verbrechen aufgegriffenen Männer wurden nicht wegen Mordverdachts aufgegriffen. Sondern weil sie im Verdacht standen, wie die Franzosen es mit einer wohl hämischen Behutsamkeit nennen, les goûts particuliers zu pflegen.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Trotzdem ist das Buch kein politisches Manifest, versteht es sich nicht als Protestliteratur — sondern als Literatur. Baldwin selbst legte Wert darauf zu betonen, dass das Thema des Romans nicht die Homosexualität sei, sondern die Angst, jemanden zu lieben. Damit stellt er eine universale menschliche Eigenschaft in den Vordergrund, eine existentielle Erfahrung, die unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. ist.

„Du findest mein Leben schändlich“, setzte er nach, „weil meine Bekanntschaften schändlich sind. Sind sie ja auch. Aber du solltest dich fragen, warum.“
„Warum sind sie — schändlich?“, fragte ich ihn.
„Weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. (…)“

Baldwin, Giovannis Zimmer

Darüber hinaus ist sein Roman auch ein Text über Scham, Verdrängung und (Selbst-) Erkenntnis, über den Prozess einer Bewusstwerdung, die den schmerzhaften Weg des Sich Erinnerns geht, das ein wahrer Kraftakt ist und damit auch ein würdiger und mitreißender Gegenstand der modernen (Liebes-) Tragödie, die uns Baldwin mit Giovannis Zimmer hinterlassen hat.

Menschen, die sich erinnern, beschwören Wahnsinn durch Schmerz, den Schmerz ihrer fortwährenden Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Form des Wahnsinns, den Wahnsinn, den Schmerz zu leugnen und die Unschuld zu hassen. Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Bibliographische Angaben
James Baldwin: Giovannis Zimmer [engl. Orig. 1956], dtv 2020
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
ISBN: 9783423282178

Bildquelle
James Baldwin: Giovannis Zimmer
© 2020 dtv Literatur in der dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

bookmark_borderAnita Brookner: Hotel du Lac

Eine schöne literarische Wiederentdeckung, ein Text in elegantem, humorvoll-entlarvendem Stil, der heute ein bisschen aus der Zeit gefallen scheint und einem gerade dadurch die besondere, abgeschiedene Atmosphäre des Schweizer Hotels, in das sich die Hauptfigur flüchtet, umso eindringlicher vermittelt.

1984 bekam die Autorin für Hotel du Lac den Booker Prize, nun wird es im Eisele Verlag neu aufgelegt. Anita Brookner (1928-2016), deren Eltern aus Polen nach London flüchteten und ihren deutschen Namen „Bruckner“ der englischen Schreibung anglichen, war zuerst Kunsthistorikerin, ehe sie in den 1980er Jahren ihre schriftstellerische Karriere begann und zahlreiche Romane veröffentlichte, von denen bisher nur ein Bruchteil ins Deutsche übersetzt wurden. Hotel du Lac ist der erste, den ich von ihr lese, und er hat mich durch seine im positivsten Sinne klassische Erzählweise, die melancholische Nachdenklichkeit mit scharfer, durchaus witziger Beobachtungsgabe verbindet, sofort für sich eingenommen. Hinzu kommt, dass die Geschichte, die schon durch den Schauplatz, ein abgeschiedenes Kurhotel in der Nachsaison, in trügerisch ruhiger und damit spannungsreicher Atmosphäre schwebt, den Leser in ständiger Erwartung eines neuen Skandälchens oder gar Skandals hält, der diese Ruhe durchbricht.

Erst im letzten Drittel des Buches erfährt man, warum die 39jährige Schriftstellerin ihr geliebtes Häuschen in England zurückgelassen und sich — wohl nicht ganz freiwillig — eine Auszeit in dem gediegenen, auf seine Traditionen stolzen Schweizer Hôtel du Lac genommen hat. Als Edith dort ankommt, ist die Hauptsaison vorbei, nur noch wenige, vor allem weibliche Gäste, verbringen aus ganz unterschiedlichen Motiven den Übergang vom Sommer in den Herbst an diesem Ort, an dem sich gleichende Tage durch Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendessen strukturiert sind. Die stille, feinsinnige und gerade etwas traurige Edith, die mit Oberflächlichkeit nichts anfangen kann, ihr weniges Geld mit ihrer Arbeit als Autorin selbst verdient und in der Tiefe ihres Herzens sehr romantisch ist, passt so gar nicht in diese seltsam träge, selbstbezogene, affektheischerische und zugleich trostlose Gesellschaft hinein, auch wenn sie von dieser recht schnell in Beschlag genommen wird. Sie verbringt ihre Tage damit, ihren Roman weiterzuschreiben, die einsame und stille Natur rund um den meist grauen See in langen Spaziergängen einzuatmen und die anderen Gäste zu beobachten und ihren jeweiligen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Außerdem schreibt sie lange Briefe an einen gewissen David, dessen Rolle in ihrem Leben erst nach und nach aufgedeckt wird.

Die Autorin erforscht mit ihrer selbstkritischen, zwischen Vernunft und Hoffnung zweifelnder, aber nicht verzweifelnder Protagonistin die Rolle der Frau in einer Zeit, als man noch Briefe schrieb, statt Handynachrichten, in der zwischen Frau, Dame und Lady unterschieden wurde und ein Skandal aus anderen Gründen entstand als heutzutage. Trotzdem ist einem die Hauptfigur ganz nah, was auch daran liegt, dass Edith ein „tiefes Wasser“ ist, hinter ihren unscheinbaren Strickjacken verbirgt sich eine Frau mit klarem Verstand, mit Witz und Gefühl, die sich ihres eigenen Werts trotz Kränkungen und Rückschlägen bewusst ist.

Anita Brookner: Hotel du Lac, Eisele (2020)
Aus dem Englischen von Dora Winkler
ISBN: 9783961610792

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