Der Titel, im italienischen Original La vacanza (Die Ferien), ist so trügerisch wie die Eingangsszene in diesem kurzen, verstörenden und auf eigenwillige Weise poetischen Buch, dem ersten Roman, den Dacia Maraini, heute eine der berühmtesten Schriftstellerinnen italienischer Sprache, 1962 veröffentlichte. 1936 als Tochter einer (verarmten) sizilianischen Adligen und eines Japanologen in Fiesole bei Florenz geboren, verbrachte sie ihre ersten Jahre in Japan, einige davon in Gefangenenlagern, in denen die Familie, die ihre antifaschistische Haltung nicht verheimlichte, interniert wurde, ehe sie nach dem Krieg wieder nach Italien zurückkehrte und fortan bei der Familie mütterlicherseits im noch sehr traditionell geprägten und verarmten Sizilien aufwuchs. Mit 18 Jahren zog sie zu ihrem Vater nach Rom und veröffentlichte erste Kurzgeschichten in Zeitungen, der Beginn eines nicht nur literarisch bewegten Lebens. Sie trat dem Gruppo 63 bei, wurde Teil des italienischen Neorealismo, lernte Alberto Moravia kennen und engagierte sich in der Frauenbewegung, ein Lebensthema, das sich von Beginn an auch in ihrem literarischen Werk widerspiegelt.
Zurück zu den ersten Seiten von Tage im August. Zwei Kinder, die Ich-Erzählerin Anna, deren Alter Maraini für die nun erschienene deutsche Neuübersetzung von elf auf 14 Jahre angehoben hat — was der entwicklungspsychologischen Glaubhaftigkeit der auch geistig frühreifen Erzählerin entgegenkommt, in Bezug auf das Schockierende des Textes jedoch nur Makulatur ist — und ihr jüngerer Bruder Giovanni verlassen das Internat der ungeliebten katholischen Klosterschule, in der sie seit dem Tod der Mutter den Großteils des Jahres leben, um die Sommerferien mit ihrem Vater am Meer zu verbringen. Die wilde Fahrt mit dem Motorrad, der Halt in einer Eisdiele, all die kindliche Harmlosigkeit und Ausgelassenheit sind nur ein flüchtiges, schon im Moment verlorenes Trugbild eines Glücks, eines Aufbruchs — in die Freiheit, in die erste Liebe –, an den die Ich-Erzählerin mit aller Macht glauben will. Die Handlung spielt, das erfährt man bald, mitten im Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1943, Mussolini ist in Bedrängnis, wird kurzzeitig gestürzt und muss Rom verlassen, doch der Faschismus und die Gewalt der deutschen Besatzer sind weiterhin allgegenwärtig. Auch wenn es hier keine Chronik des Krieges gibt wie in Elsa Morantes Romanepos La Storia, das übrigens gerade ebenfalls in beeindruckender Neuübersetzung erschienen ist (Rezension folgt), und Marainis Roman auch als nur einen kurzen Sommer umspannende Initiationsgeschichte eines jungen Mädchens erzählerisch ganz anders angelegt ist als Morantes umfassendes psychologisch-philosophisches Epos vom Schicksal der sonst in den Geschichtsbüchern nur am Rande auftauchenden „kleinen“ Leute, ist der Krieg, nicht nur als kontinuierliches Hintergrundrauschen in Gestalt donnernder Jagdbomber, auch in Marainis Debütroman nicht zu überhören und zu übersehen; auf das Romangeschehen hat er die Wirkkraft eines psychologischen Brandbeschleunigers, in dessen Angesicht auch die aus einigen Szenen erwachsende Frage nach der Ursache von Gewalt eine andere Dimension gewinnt.
Enttäuschend oder zumindest anders als gedacht gestaltet sich bereits die Ankunft der Kinder im neuen Sommerhaus des Vaters, das eigentlich seinem Arbeitgeber mit dem pompösen Namen Pompeo gehört, der mitsamt vernachlässigter Gattin und kurz vor dem Erwachsenwerden stehendem Sohn die oberen Zimmer bewohnt. Arrangieren müssen sich die Kinder auch mit der bis kurz vor der Ankunft verschwiegenen Tatsache, dass sie sich die Wohnung mit einer jungen, ihre Weiblichkeit gern zur Schau stellenden Lebe-Frau namens Nina teilen werden, der neuen Beziehung des Vaters, die sie entgegen seiner naiven Hoffnung natürlich nicht mit „Mama“ anreden, mit der sie in diesem Sommer jedoch deutlich mehr Zeit verbringen als mit dem Vater, der für seine Arbeit die meiste Zeit außer Haus verbringt. Die junge Ich-Erzählerin hofft dennoch, auf ihren Streifzügen zu den Badeanstalten und ans Meer das zu finden, was ihr in den unbarmherzigen und sittenstrengen Mauern der Klosterschule vorenthalten wurde. Doch von Freiheit und Liebe erfährt sie kaum mehr als die Schattenseiten. Die Augusttage am Meer haben nichts von einem unschuldigen Sommer an sich, vor allem für den Leser wird die Atmosphäre schnell beklemmend und man möchte das junge Mädchen zurückhalten, wenn sie sich, in immer größerer Teilnahmslosigkeit, den Wünschen zwielichtiger Gestalten fügt, auf der Suche nach etwas, das sie selbst nicht wirklich zu benennen weiß. Orientierungslos in erste Erfahrungen mit der Geschlechtlichkeit hineinstolpernd begegnet sie allerorten einer selbst orientierungslosen Männlichkeit, die sich in machistischem Gehabe, sexueller Ausbeutung und Gewalt entlädt. Es ist eine zugleich dominante und schwächliche Männlichkeit, die der Roman einem in vielen Variationen vor Augen führt und die auch schon bei den Heranwachsenden, ja bei den an den Klippen spielenden Kindern die Gruppendynamik bestimmt; wie die frühreifen Spielkameraden von Giovanni miteinander umgehen, hat bereits erschreckend protofaschistische Züge. Die Rolle der Frauen im Roman besteht gemäß den Gesetzen dieser machistischen Welt darin, das männliche Begehren zu schüren und auf die ihnen entgegengebrachte Verachtung ihrerseits mit Verachtung zu reagieren. Sexualität dient, zumindest denen, die damit schon mehr Erfahrung haben, vor allem der Ablenkung vom Krieg und der Verdrängung von Ängsten, so wie auch das exzessive Kartenspiel, das im Sommerhaus von den Erwachsenen praktiziert wird. Erfolg hat diese Strategie wenn überhaupt nur sehr kurzfristig, aus dem Krieg kann sich niemand heraushalten, er tangiert, freilich auf verschiedene, keineswegs hierarchiefreie Weise, letztlich jeden.
Die Analyse gesellschaftlicher und sexueller Macht- und Verdrängungsmechanismen entfaltet in diesem Text gerade deshalb eine so unheimliche Wirkung, weil sie fast ganz aus der beobachtenden Perspektive des jungen Mädchens entsteht, die von großer Unvoreingenommenheit — nicht gleichzusetzen mit Naivität — und bisweilen geradezu erschreckender Nüchternheit gekennzeichnet ist. Annas Blick ist ein sezierender, entlarvend in seiner scheinbaren Vorbehaltlosigkeit, Direktheit und Ungeschöntheit. Wie eine Forscherin ihrer Umgebung und ihrer selbst willigt die Ich-Erzählerin immer wieder von neuem darin ein, dass ihr junger Körper begehrt und ausgenutzt wird, ihre Empfindungen pendeln zwischen Ekel und Neugier, Sehnsucht und Teilnahmslosigkeit. Annas geradezu selbstverleugnendes Verhalten lässt sich nur nachvollziehen, wenn man es als Initiation in eine Welt auf dem Höhepunkt patriachalischer Hierarchien versteht, in einen Krieg der Geschlechter, in der das Schüren von Begehren den Frauen als einzige „Waffe“ zur Verfügung steht, deren Einsatz jedoch den Verrat am eigenen Körper impliziert. Wenn aber die Selbsterfahrung nur zur völligen Selbstauflösung führt und die Transformation ausbleibt, mit der das Ich zusammen mit seiner Erhebung in eine neue Stufe der Welterfahrung auch eine sinnstiftende soziale Eingliederung erfährt, wird die Idee der Initiation ad absurdum geführt. Das entgeht natürlich auch der Ich-Erzählerin nicht, die zwar körperlich unerfahren, aber dank ihrer scharfen Beobachtungsgabe geistig schon sehr reif ist. Dieses unauflösbare Ineinander von Kindlichkeit und Abgeklärtheit charakterisiert den so sonderbar berührenden wie befremdlichen Grundton des ganzen Textes. Er ist durchdrungen von einer unbändigen und doch mit jeder Erfahrung mehr als Illusion enttarnten Hoffnung auf ein ungekanntes Glück. Ja, Tage im August ist in jeder Hinsicht eine Geschichte der Ent-Täuschung, von der Hoffnung auf Freiheit bleibt nur ein bitterer Nachgeschmack. Der Verdorbenheit und Gewaltsamkeit der Welt stehen die Verlogenheit und Lieblosigkeit der Nonnen in der Klosterschule gegenüber, die Religion ist hier kein Ort der (metaphysischen) Zuflucht, geschweige denn der Barmherzigkeit. Der machistischen Gewaltsamkeit, die im Krieg jede Tarnung von sich wirft, wird hier auch keine feministische Utopie entgegengesetzt; es gibt keine Verbundenheit, keine Solidarität, auch nicht unter den Frauen. Die Nonnen lästern über verantwortungslose Mütter und Frauen wie Nina, die sich, ob in wilder Ehe oder ganz allein doch auch irgendwie durchschlagen müssen in einer Zeit, in der alle Grenzen, alle Gewissheiten und alle Sicherheiten gesprengt werden.
Dacia Maraini zeichnet in ihrem ersten Roman, der bereits getränkt ist von ihrer als Kriegskind geprägten Lebenserfahrung, eine Welt ohne Ideal, keine der Figuren ist wirklich sympathisch oder könnte in irgendeiner Weise Orientierung für die Ich-Erzählerin bieten. Die ein bisschen an die Maus aus Kafkas Kleiner Fabel erinnert, wenn sie sehenden Auges in die Fänge der Katze läuft; egal welche Laufrichtung sie einschlägt, ein Ausweg aus der Gewalt ist nicht in Sicht.
Bibliographische Angaben
Dacia Maraini: Tage im August, Folio 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
ISBN: 9783852568942
Bildquelle
Dacia Maraini, Tage im August
© 2024 Folio Verlaggesellschaft m. b. H., Wien, Bozen