bookmark_borderAudrey Magee: Die Kolonie

In der sehr atmosphärischen Anfangsszene des Romans lässt die irische Autorin Audrey Magee ein kurioses Bild des Aufbruchs entstehen. Ein exzentrischer englischer Maler besteht aus Authentizitätsgründen darauf, mit einem einfachen Fischerboot auf die kleine Insel überzusetzen, auf der er den Sommer verbringen will, um zu malen. Er zeigt sich vor allem besorgt um sein Gepäck, das vornehmlich aus Staffelei und Farben besteht, und trotzt, den Zeichenblock auf dem Schoß, mehr schlecht als recht den Wellen und der Seekrankheit. Dank der Erfahrung der beiden Fischer, von denen der eine nur Irisch spricht, kommen sie nach einer turbulenten Fahrt über das Meer auf der kleinen Insel an.

So wie die beschriebene Eingangsszene erinnert der ganze Roman an eine fortlaufende Gemäldebeschreibung. Wie ein Selbstkommentar werden aus der Perspektive des englischen Malers immer wieder, fast zwanghaft, Bildunterschriften eingefügt, als würde er ununterbrochen malen oder sich zumindest in seiner Umgebung so bewegen, als verwandelte er alles, was in seine Wahrnehmung tritt, in eine gemalte Szene. Genauso wie die lyrischen Kurzzeilen, die das Textbild an einigen Stellen verdichten, lösen sich diese malerischen Einsprengsel nicht aus dem Gesamttext heraus, sondern verschmelzen mit ihm. Zu dieser fließenden sprachlichen Form passt es, dass die Autorin auch viel mit inneren Monologen arbeitet, ohne scharfe Trennung zwischen Gedachtem und Geäußertem. Auch der Übergang der Figurenperspektive ist gleitend, wenngleich die Handvoll Protagonisten durchaus klar voneinander unterschieden wird, jeder Charakter konturiert gezeichnet und vielschichtig ausschraffiert.

Es gibt die irischen Inselbewohner, von denen hauptsächlich eine kleine Fischerfamilie zu den dramatis personae gehört, und die nicht-irischen Gäste oder Eindringlinge. Ein französischer Sprachwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über den Wandel und die Bedrohung der irischen Sprache verfasst, betreibt seit mehreren Jahren Feldforschung auf der kleinen irischen Insel. Als er in diesem Sommer, es ist das Jahr 1979, für seinen fünften Forschungsaufenthalt auf der Insel ankommt, ist er zu seinem Entsetzen aber nicht der einzige. Dass sich der bereits erwähnte englische Maler in diesem Sommer auch dort einquartiert hat, empfindet der französische Linguist nicht nur als eine persönliche Zumutung, sondern vor allem als eine Gefahr für den Fortbestand der irischen Sprache der Inselbewohner, die in Versuchung geführt werden, zu Kommunikationszwecken Englisch zu reden. Auch der Maler, der die Einsamkeit der Insel gesucht hat, um die Küstenlandschaft zu studieren und die Klippen zu malen — oder vielleicht auch nur, um endlich ein Bild zu schaffen, mit dem er seine Frau beeindrucken kann, eine Galeristin, die die avantgardistischere Kunst eines anderen seiner Landschaftsmalerei vorzieht –, ist alles andere als erbaut, als der Linguist in unmittelbarer Nähe zu ihm untergebracht wird. Um ungestört malen zu können, zieht er in eine baufällige Hütte direkt an der Küste. Doch auch dort, wo es weniger romantisch als ungemütlich ist, bleibt er nicht lange ungestört.

Die Streitereien zwischen den beiden Gästen auf der Insel schüren neue Konflikte, auch zwischen den Inselbewohnern, und lassen verborgene zutage treten. Porträtiert, auf mehreren Ebenen, wird in diesem Roman eine durch ein Unglück stark verkleinerte Familie von Fischern über mehrere Generationen: das Studienobjekt des französischen Linguisten, bei denen die Gäste einquartiert sind. James, der jüngste, den der Franzose, ungeachtet der Proteste des Jungen, mit der irischen Namensvariante Seamus ruft, ist zweisprachig. In der Familie spricht er Irisch, Englisch in der Schule, in der er sich als Außenseiter fühlt. Genauso wenig wohl fühlt sich James allerdings mit der Perspektive, in der Tradition seiner Vorfahren ein Fischer zu werden; er weigert sich aufs Meer hinauszufahren und fängt lieber Kaninchen. Seine Mutter ist eine schöne, noch junge Witwe, die in der Aussich lebt, irgendwann eine alte Witwe zu werden, wie ihre Mutter, James‘ Großmutter, die dem Engländer anfangs ähnlich feindselig gegenübersteht wie der Franzose, dessen linguistisches Anliegen sie als legitimeres Unterfangen auf der Insel betrachtet als die Malerei des Engländers, der sich augenscheinlich bald nicht mehr mit Landschaftsmalereien begnügt, sondern mit seinen Pinseln und Farbtuben in die Intimität der Inselbewohner einzudringen beginnt. Die Urgroßmutter von James schließlich ist diejenige, die sich ihr Irisch in Reinform bewahrt zu haben scheint. Aber auch sie versteht deutlich mehr, als es von außen den Anschein hat.

Das alles ereignet sich im Jahr 1979, als der Nordirlandkonflikt längst eine unaufhaltsame Gewaltspirale entfesselt hat. Trotz der scheinbaren Isolation der Insel ist er mehr als ein Hintergrundrauschen der Romanhandlung. In kurzen Zwischenkapiteln werden in immer rasanter erscheinender Dynamik die Morde des Jahres 1979 berichtet, die Opfer, katholisch, protestantisch, Familienväter, Kinder, alte Frauen, für einen kurzen, sachlichen und umso erschreckenderen Moment ins Licht geholt. Bezug darauf nehmen auf Handlungsebene dann gerade die Inselbewohner, die bei weitem nicht so abgeschottet sind, wie ihre Gäste es meinen oder erhoffen, die ihrerseits mit dem Egoismus der in eine größere Sache (die Kunst, die Wissenschaft) Verbohrten nur am Rande davon Kenntnis nehmen. Die Gewaltsamkeit der Kolonisierung ist denn auch das zentrale Thema des Romans, das mit den realen Anschlägen der IRA und den Vergeltungsschlägen von britisch-protestantischer Seite sein schreckliches eindimensionales Antlitz zeigt und auf der fiktionalen Handlungsebene auf subtile und vielschichtige Weise gespiegelt wird. Man erfährt, nicht zuletzt mittels der Figur des französischen Linguisten, viel über die Geschichte Irlands und Nordirlands, die die Autorin, auf eine übergeordnete Ebene der Gewalt- und Kolonisationsgeschichte abhebend, mit der Figur des Franzosen überdies mit der französischen Kolonisierung in Nordafrika in Verbindung bringt. Es geht auch viel um Sprache, die vom Zeugnis einer kulturellen Identität über ein sozial bedeutsames Kommunikationsmittel bis zum Machtinstrument der Kolonisatoren mit einer facettenreichen Spannbreite an Funktionen beladen ist.

Am spannendsten ist auf der fiktionalen Ebene in diesem Kontext auch die Beziehung zwischen dem englischen Maler und dem Inseljungen James, der ein erstaunliches natürliches Maltalent offenbart, da sie die Komplexität und Ambivalenz der (nicht nur) irischen Kolonisationsgeschichte erzählerisch überzeugend entfaltet. Über die Kunst nähern sich die beiden so ungleichen Menschen einander an, kommen ins Gespräch und entwickeln den Vorurteilen der Umgebung zum Trotz eine Beziehung, die einer Freundschaft auf Augenhöhe nahe zu kommen scheint. Doch ihre Beziehung bleibt fragil, vor allem von Seiten des Engländers getrübt und bedroht von Neid und Konkurrenzgedanken. Die winzige Künstlerkolonie, in der beide voneinander lernen, der erfahrene Maler vom frischen Blick des Jungen, der talentierte Junge vom Wissen und der Technik des Älteren, wird so doch wieder auf eine Machtkonstellation reduziert, die den einen enttäuscht, den anderen verunsichert zurücklässt.

Die Autorin lässt ihrerseits ein sehr zwielichtiges und widersprüchliches Bild von einigen ihrer Figuren beim Leser zurück. Während der Franzose, dem die irische Sprache so am Herzen liegt, als Sohn einer algerischen Mutter und eines ehemaligen französischen Soldaten mit seiner eigenen verdrängten Familiengeschichte zu kämpfen hat, die den Konflikt zwischen Kolonisator und Kolonisiertem auf kleinstem, scheinbar privatestem Raum, enthält, legt der Engländer, der mit dem Inseljungen und seiner Mutter auf verschiedene Weise in intime, auch wertschätzende Beziehungen tritt, dann doch wieder ein Verhalten an den Tag, das an das der englischen Kolonisatoren erinnert: Er eignet sich die Ideen des naiven Künstlers an und lässt ihn am Ende im Stich. So die eine Lesart, neben der weitere möglich sind, etwa in Form der Frage, was es mit authentischer Kunst auf sich hat, ob es eine solche überhaupt gibt, angesichts des Ineinanders von Traditionen und Kulturen. Was ist eine kulturelle Aneignung, was ein schnödes Plagiat? Offenbaren sich rückständige oder fortschrittliche Ansichten in der künstlerischen Form, die man wählt? Das Thema Kunst scheint mir, auch durch die äußere Form des Textes, das am tiefsten in den Roman eingewobene zu sein, mehr noch als das scheinbar im Vordergrund stehende Thema Sprache, bei dem die Autorin weniger in die Tiefe geht. Es sei denn, man betrachtet auch die Malerei als eine Sprache, als eine Art sich auszudrücken. Mit ihrem sehr in diese Sprache eintauchenden Text verwickelt die Autorin ihre lesenden Betrachter auf alle Fälle in ein inneres Streitgespräch mit ihren teils impressionistisch hingetupften, teils in ein fast barockes Licht- und Schattenspiel integrierten Figuren.

Bibliographische Angaben
Audrey Magee: Die Kolonie, Harper Collins 2025
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
ISBN: 9783312012893

Bildquelle
Audrey Magee, Die Kolonie
© 2025 Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

bookmark_borderSteve Sem-Sandberg: Der Sturm

Der skandinavische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg setzt sich in seinen Romanen (z.B. Die Erwählten oder Die Elenden von Łódź, und ganz neu erschienen: W über das historische Vorbild von Büchners Woyzeck) gerne auf eine ganz besondere Art mit der Geschichte auseinander. Vergangenheits- und Erinnerungsarbeit strukturieren auch den 2019 auf Deutsch erschienenen Roman Der Sturm. Er setzt ein mit einer Rückkehr wider besseres Wissen, und dieses anfangs noch unklare Gefühl der Bedrohung bleibt bis zum Ende des stimmungsvollen Romans erhalten.

Es ist der Ich-Erzähler, Andreas Lehman, selbst, der dieses Gefühl immer weiter nährt. Trotzdem kann er nicht anders, als nach dem Tod seines Ziehvaters Johannes auf die Insel zurückzukehren, auf der er aufgewachsen ist. Während er im sogenannten Gelben Haus, in dem er mit seiner Schwester Minna von Johannes aufgenommen worden war, als ihre Eltern verschwanden, den Nachlass sichtet, hat er den Eindruck, dabei von so manch zwielichtigen Inselgeschöpfen feindselig beäugt zu werden. Zugleich kommen, je länger er sich auf der Insel aufhält, immer drängendere, wenngleich zunächst recht unzusammenhängende Erinnerungen hoch. Sem-Sandberg gestaltet sie sinnlich und verstörend, szenisch dicht und doch bruchstückhaft, wie kleine klärende Risse in einem Nebelfeld, die wieder neue Rätsel aufwerfen.

Da tritt uns seine rebellische große Schwester ganz lebendig und als schwer fassbares, widersprüchliches Wesen entgegen, das den kleinen, die Schwester fast devot-voyeuristisch bewundernden Bruder in grenzwertige, demütigende Streiche hineinzog. Eher schemenhaft nehmen die amerikanischen Eltern der beiden Kontur an, die angeblich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, und deren in die Zeit des Krieges zurückreichende Verbindung zur Insel der Ich-Erzähler erst nach und nach auf die Spur kommt. Die dominierende Figur wird in Andreas Erinnerung aber der alte Kaufmann, der einst fast die ganze Insel besaß und idealistische Pläne für sie ersann, nach dem Krieg jedoch den Hass der Bewohner auf sich zog. Er erinnert nicht zufällig an Shakespeares Inselkönig Prospero aus dem Stück, das denselben Titel trägt wie Sem-Sandbergs Roman. Natur und Metapher, Natur und Mythos sind in diesem Text nämlich eng verwoben. So ereignet sich auch kein Sturm im meteorologischen Sinne während der Romanhandlung, Schneeschauer und dichte winterliche Nebelfelder, von den Bewohnern der Insel „Bleiche“ genannt, jedoch umso häufiger. Ja letztere sind gewissermaßen Grundstimmung und Kompositionsprinzip dieses so eindringlichen und suggestiven Romans, der einen auf schmerzhafte Weise in Bann schlägt und vor allem mit seiner Sprachpoesie verzaubert wie Prospero seine gestrandeten Übeltäter.

Tatsächlich verrät gerade die Ambivalenz, die dieser Shakespeareschen Figur innewohnt, einiges über sein Alter ego Kaufmann im Roman, der sich vom Idealisten und philanthropischen Träumer zum Kollaborateur und schließlich zum Sündenbock für die Inselbewohner wandelt. Während Kaufmann vor dem Krieg auf der Insel eine erste Kolonie in Form eines sozialutopischen Falanstère wohl nach dem Vorbild Charles Fouriers begründete, in der er neue Anbaumethoden anwandte, verstieg er sich mit seinen landwirtschaftlichen und biologischen Feldforschungen während des Krieges womöglich bis hin zu Menschenexperimenten — so der Verdacht, der sich Andreas bei seinen Nachforschungen in der Vergangenheit immer mehr aufdrängt.

Doch der Autor lässt uns absichtlich im Ungewissen darüber, was tatsächlich passiert ist. Wie in Shakespeares Stück überlagern sich Traum und Wirklichkeit und verweisen sehr oft auf die metaphorische Struktur des Unterbewusstseins. Das weiße Pferd, das Andreas wiederholt beim Träumen beobachtet, scheint mir hier ein zentrales Motiv zu sein, wie ein Hinweis auf die poetische Anlage des Romans. Harmlos wird das Geschehen dadurch nicht, im Gegenteil kippen Sehnsucht, Schönheit und Traumhaftes immer wieder um in eine fast mythische Gewalt, als würde ein Fluch auf der Insel liegen. Gut und böse gehen ineinander über, sind fluide Kategorien, und das Monströse lauert eben nicht nur im optisch Furchteinflößenden, auch wenn dieses wunderbar zum Sündenbock taugt. Auch dem Erzähler selbst ist nicht recht zu trauen: Was entspringt seiner Fantasie, seinem Schmerz, seiner Kränkung, einer Verletzung, was ist echte Erinnerung oder rationale Erkenntnis, was Unterstellung, Hoffnung, Fiktion oder gar Wahn?

Gar nicht traumhaft, sondern schmerzhaft real ist jedoch der Griff der Vergangenheit nach der Gegenwart, der nicht durch einen mythischen Fluch, sondern durch die Ängste und Aggressionen der Menschen ausgelöst wird. Warum setzt sich die Gewalt, die während der Besatzungszeit verübt wurde, über die Generationen hinweg fort, warum hören die Anfeindungen nicht auf? In Sem-Sandbergs Text deutet sich eine Erklärung an:

[Ich begreife] mit einem Mal, dass der Niedergang nicht so sehr eine Folge der auf der Insel herrschenden Inzucht war, […] sondern dass einfach alle in sich selbst feststeckten und es der Stummheit und dem Schweigen am Ende gelungen war, jeden nur möglichen Ausgang zu versperren. Oder war es etwa so, dass man schwieg, weil man einfach nicht zu reden vermochte, denn wenn man das, was man wusste, in Worte fasste, würde man auch den eigenen passiven Anteil am Geschehen eingestehen müssen und somit auch die eigene Schuld daran, dass alles immer so weitergehen konnte, ohne dass jemand etwas sagte oder auch nur die geringste Anstrengung unternahm, um die Sache ans Licht zu bringen, das aber wäre einfach zu viel gewesen. Dann schon besser, dass Kaufmann für alles die Verantwortung bekam, schließlich war er ja doch nicht ganz richtig im Kopf.

Sem-Sandberg, Der Sturm, S. 192

Sem-Sandberg entlässt seine Figuren anders als Shakespeare in seinem Stück nicht durch einen Zaubertrick aus der Verantwortung ihres Schweigens, ihrer Schuld, ihrer Gewalt. Und doch bricht beim Lesen immer wieder etwas Leuchtendes herein, kann man sich, wie beim Zusammensetzen eines alten Puzzles, von dem einige Teile für immer verloren gegangen und andere durch strahlendere neue ersetzt worden sind, dem Sog der sich immer wieder entziehenden, aber intensiven, magischen Geschichte kaum entziehen. So gewährt die Lektüre dem mutigen Leser einen schockierenden und betörenden Einblick in die schillernde Komplexität des menschlichen Seins und Handelns.

Bibliographische Angaben
Steve Sem-Sandberg: Der Sturm, Klett-Cotta (2019)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek
ISBN: 9783608981209

Bildquelle
Steve Sem-Sandberg, Der Sturm
© 2019 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

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