bookmark_borderBov Bjerg: Serpentinen

In leichten Sätzen hat Bov Bjerg einen sehr ernsten Roman geschrieben, in Sätzen, die sich serpentinenhaft assoziativ hin und her winden, die ziemlich wild — für mein ästhetisches Empfinden etwas zu wild und vor allem zu lose — in der Zeit und im Raum umherkreisen und sich immer wieder auch verhängnisvoll wiederholen.

Denn hinter dem an der Oberfläche leichten Stil, hinter den sich spielerisch zugeworfenen Worten von Vater und Sohn, die gemeinsam die Sommerferien in der alten Heimat des Vaters verbringen, lauert die bedrängte Psyche des Vaters, der zugleich der Erzähler ist, lauert der Schmerz des Kindes, das er einmal war, und v.a. die Angst vor sich selbst und davor, dem eigenen Kind den gleichen Schmerz zuzufügen, den einst sein Vater ihm zugefügt hat.

So kämpft er die ganze Zeit, mit sich selbst, mit seinen Erinnerungen und seinen Gedanken; man ist beim Lesen nicht selten schockiert, wie stark die Depression ihn im Griff hat: trotz besseren Wissens, trotz seines Willens, mit der geradezu mythische Dimension annehmenden väterlichen Tradition zu brechen, ja auch trotz der Liebe zu seinem Sohn. Er kämpft, bis auf dem Höhepunkt der Geschichte etwas Schlimmes passiert, nicht das Schlimmste, wie sich dann herausstellt, und doch wird das Schlimmste hier zumindest für einen Moment Wirklichkeit.

Aber eine Depression lässt sich eher nicht durch einen Schock ein für allemal heilen. Ebenso wenig wie die fortschreitende Demenz der Mutter, die zusätzlich auf dem Erzähler lastet. Eine Depression ist zwar kein unausweichliches mythisches Erbe, doch eine auch genetisch vererbbare Krankheit, die den Betroffenen und genauso auch die ihm Nahestehenden immer wieder von Neuem herausfordert. Eher noch lassen einen daher die kleinen überraschenden Momente, die der Erzähler trotz allem mit seinem kleinen Sohn ganz bewusst erlebt und die anders sind als seine Erfahrungen mit dem eigenen Vater, ein wenig hoffen, dass der selbstmörderische Kreislauf, der seine Familie seit ewigen Zeiten verschlingt, vielleicht doch irgendwann beendet werden kann.

Berührend finde ich vor allem, wie Bjerg den siebenjährigen Sohn darstellt, der nur „der Junge“ genannt wird, wie er ihn in die Geschichte integriert, die ansonsten natürlich stark von der Gedankenwelt des Vaters vereinnahmt wird, und wie er ihn in knappen, aber fein gezeichneten Situationen charakterisiert: als empathischen, aufgeschlossenen, offenherzigen, seinen Vater vorbehaltlos liebenden Jungen, der oft erwachsener wirkt als der Vater und doch zugleich noch ein schutzbedürftiges Kind ist, das einen Vater braucht, der es im entscheidenden Moment auffangen kann.

Serpentinen ist ein insgesamt ziemlich düsterer Text, der zwar ein authentisches Bild der Krankheit auf literarisch durchdachte Weise vermitteln mag, in mir aber einen allzu destruktiven, letztlich doch in der Ausweglosigkeit verharrenden Eindruck hinterlassen hat. Ich musste beim Lesen einige Male an den Roman von David Wagner denken, in dem er das auf andere Weise nicht weniger schmerzliche Thema eines alzheimerkranken Vaters überzeugend darstellt, dabei aber mit einem so feinen Humor erzählt, dass die Lektüre dadurch keineswegs weniger eindringlich, aber doch erträglicher wird und so bei mir auch einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen hat (vgl. Rezension vom 21.1.2020). Aber natürlich ist die Erzählperspektive eine andere: Wagner erzählt aus der des mit-leidenden Angehörigen, Bjerg vertieft sich unmittelbar in die Psyche des Erkrankten.

Bibliographische Angaben
Bov Bjerg: Serpentinen, Claasen 2020
ISBN: 9783546100038

Bildquelle
Bov Bjerg, Serpentinen
© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH

bookmark_borderRobert Seethaler: Der letzte Satz

Er weiß es zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber er ahnt es wohl schon… Die Überfahrt, die der berühmte Komponist, Dirigent und Hofdirektor der Wiener Oper Gustav Mahler im Jahr 1910 an Bord der Amerika unternimmt, wird die letzte in seinem Leben sein: Ein alternder, herzkranker Mann, der vom Deck des Schiffes auf den Atlantik blickt und von seinen Erinnerungen eingeholt wird, während er von einem aufmerksamen Schiffsjungen ein wenig gegen seinen Willen umsorgt wird — aus dieser Situation heraus nähert sich Robert Seethaler dem Leben oder eigentlich eher der Persönlichkeit des Mannes, der mit seinen Symphonien und seinen Liedern so komplexe, so tiefgehende, so innige Musikwerke schuf.

So sehr man bedauern kann, dass Leben und Werk des großen Künstlers hier in recht knappen Episoden und Andeutungen abgehandelt werden — seine Wiener Zeit, sein Wirken an der Oper, seine Reform des Musiktheaters etwa kommen kaum zur Sprache, und die künstlerische Dimension seines musikalischen Werks geht aus dem kurzen Text nicht wirklich hervor –, so zeigt sich doch das Talent des Autors, in kurzen Skizzen die Wesenszüge seiner Figuren so lebendig herauszuarbeiten, dass sie einem beim Lesen rasch sehr nah, sehr vertraut sind.

So erlebt man Mahler als einen nicht nur künstlerisch feinnervigen, rastlosen, charakterlich auch schwierigen Menschen. Ja im Kontext der Erzählgegenwart erscheint er geradezu als eine zutiefst gequälte Seele, als jemand, der von seiner schweren Krankheit gezeichnet ist und dabei ist, seine Autonomie, seine Würde zu verlieren, die er dem Schiffsjungen gegenüber so verzweifelt zu wahren versucht.

Insofern ist Seethalers Erzählung durchaus das gelungene Psychogramm eines gebrochenen Menschen, dem schmerzhaft bewusst wird, dass angesichts des herannahenden Todes Kategorien wie Ruhm und Erfolg verblassen und an Bedeutung verlieren, während sich die Schicksalsschläge seines Lebens, der Verlust der kleinen Tochter, die scheiternde Beziehung mit seiner Frau Alma, in den Vordergrund drängen. So liegt der Verdacht nahe, dass es Seethaler in seinem Buch mehr darum geht, am Beispiel einer gebrochenen Figur die conditio humana auszuloten, und indem er zu diesem Zweck eine historische Figur fiktionalisiert, erreicht er natürlich schnell eine große Fallhöhe, ein großes Spannungsverhältnis zwischen künstlerischem Genie und körperlicher Hinfälligkeit, mit der sich die Prekarität und Vergänglichkeit des Daseins schön sichtbar machen lassen.

In eindrucksvollen Momentaufnahmen, verdichtet durch Mahlers Erinnerungen, erwächst aus Seelennot auch Nachdenklichkeit. Kleine, unscheinbare Verhaltensweisen werden stilistisch so subtil entfaltet, dass der Charakter Mahlers in diesen Momentaufnahmen zum Vorschein tritt — und auch eine Ahnung vom schöpferischen Ursprung seiner Musik. Allerdings setzt das voraus, dass man bereits eine gewisse Vertrautheit mit Mahlers Werken hat, so ganz ohne musikalischen Bezug wird es für den Leser wohl eher schwierig, sich auf den Text einzulassen.

Die Kritik im Feuilleton war bisher nicht sehr gnädig mit Seethalers Versuch, der Dimension des Geschichtlichen nicht wie bisher über eine in der Geschichte unbekannte Figur nachzuspüren, sondern dieses Mal gewissermaßen umgekehrt aus der Geschichtlichkeit seiner Figur heraus zurück zum Allgemeinmenschlichen zu gehen. Ich finde, es ist ein interessantes erzählerisches Experiment, das der ohnehin sehr experimentierfreudige Seethaler da anstellt — ganz begeistert bin ich ja von seinem richtig wilden, witzigen Roman Jetzt wird’s ernst –, und das einem, wenn man ein bisschen was mit klassischer Musik anfangen kann, doch ein paar angenehme Lesestunden beschert — am besten, man hört dazu seine unsagbar schöne Erste Symphonie.

Bibliographische Angaben
Robert Seethaler: Der letzte Satz, Hanser 2020
ISBN: 9783446267886

Bildquelle
Robert Seethaler, Der letzte Satz
© 2020 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderMonika Helfer: Die Bagage

Mich hat Monika Helfers Roman Die Bagage von der ersten Seite an gefangengenommen, was ganz klar an ihrem so besonderen, eindringlichen Erzählton liegt, mit dem sie, fast wie eine Märchenerzählerin, ganz natürlich, ganz schnörkellos und zugleich so kunstvoll und zauberhaft ihre Figuren zum Leben erweckt, als seien sie einem Gemälde entstiegen. Und in dem sie liebevoll und zugleich gnadenlos von dem alles andere als unbeschwerten Leben einer Familie im frühen 20. Jahrhundert erzählt, deren Hof sich abgelegen am äußersten Rand eines österreichischen Bergdorfes befindet.

Am entfernten Rand befindet sich diese Familie nicht nur geographisch, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Man nennt sie abfällig „die Bagage“, eine Bezeichnung, die wie ein Stigma an ihnen haftet. Der Begriff, der im Französischen „Gepäck“ heißt, stammt noch von den Vorfahren der Familie, die so genannte Träger waren:

das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.

Helfer, Die Bagage

Und auch wenn die Familie inzwischen längst sesshaft ist und den Beruf nicht mehr ausübt, tragen sie die Last des Namens noch immer.

Die Autorin schöpft für ihren Roman aus der Geschichte ihrer eigenen Vorfahren, was natürlich gut passt, da es ja gerade um Herkunft und eine Familiengeschichte geht, doch muss man das eigentlich gar nicht wissen, die Erzählung entfaltet ihren Zauber auch ohne diesen autobiographischen Hintergrund. Und allein schon durch die biblischen (und natürlich auch sehr österreichischen) Namen der Großeltern Josef und Maria Moosbrugger taucht sie die Geschichte, die ja auch schon lange vor ihrer Geburt begann und nur in der Nachdichtung erzählt werden kann, in eine romaneske, fiktionalisierte Welt.

Auch wenn die Autorin den Bogen bis heute spannt, steht im Zentrum doch ein kurzer und stark verdichteter Zeitraum vor und während des Ersten Weltkriegs. Josef, ein stattlicher, schöner, im Privaten auch auf seine Weise zärtlicher Mann, der aber keine großen Worte macht, und mit seiner Frau Maria bisher drei Kinder hat, wird bei Ausbruch des Krieges zusammen mit drei anderen Männern aus dem Dorf eingezogen. Er wird der einzige von ihnen sein, der aus dem Krieg zurückkehrt. Die Beziehung zwischen Josef und Maria ist innig, doch auf fast elementare und in der Tradition verankerte Weise:

Josef liebte seine Frau. Er selber hat dieses Wort nie gesagt. Es gab dieses Wort in der Mundart nicht. (…) Deshalb hatte er dieses Wort auch nie gedacht. Maria gehörte ihm. Und er wollte, dass sie zu ihm gehörte, Ersteres meinte das Bett, Letzteres die Familie.

Helfer, Die Bagage

Als er seine Frau, den Hof und das Dorf verlassen muss, um für einen Kaiser und ein Vaterland ins Feld zu ziehen, zu denen er keinerlei Bezug oder Bindung hat, hält er den Bürgermeister an, auf Maria, die eine ungewöhnliche Schönheit ist, „aufzupassen“. Maria ist von da an auf die Hilfe der im Dorf Gebliebenen angewiesen und ansonsten ganz auf sich allein gestellt, um die Kinder, den Hof und sich selbst irgendwie durch die im Krieg sich noch verschärfende Armut zu bringen und sich gegen männliche Avancen zur Wehr zu setzen. Doch die Familie hält auch ohne Vater zusammen, sei es auch um den Preis, dass die Kinder in dieser schroffen Umwelt vorschnell die Rolle von Erwachsenen einzunehmen versuchen. Und mitten in dieser entbehrungsreichen Zeit taucht auf einmal ein blonder junger Mann aus Deutschland aus und mit ihm ein Gefühl, das Maria ganz neu und ganz stark überfällt. Sie begegnen sich nur zweimal, doch als Maria dann während des Krieges schwanger wird — ihr Mann kommt auch auf Heimaturlaub –, werden böse Zungen im Dorf laut und sie sieht sich geächtet, ja sogar der Pfarrer schließt die Familie vom göttlichen Segen aus. Es bleibt in der Erzählung unklar, von wem das Kind, das Grete heißen und die Mutter der Erzählerin werden wird, wirklich ist. Doch die Gerüchte erreichen auch ihren heimkehrenden Mann Josef und der straft nicht seine Frau, sondern das neugeborene Mädchen, das er nie als seine Tochter anerkennen wird. Eindringlich und schmerzhaft wird geschildert, wie Grete unter der Ablehnung ihres Vaters leidet, die, so spitzt es die Autorin in ihrer umso schockierender wirkenden lakonischen Erzählweise zu, gerade in der verweigerten Gewalt in ihrer Radikalität zum Ausdruck kommt:

Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nicht mit ihr gesprochen.

Helfer, Die Bagage

Hier verwendet die Autorin die indirekte Rede; denn die Erzählungen anderer, vor allem ihrer Tante, zitierend, rekonstruiert sie die Geschichte, deren Offenheit und Konstruiertheit sie mehrfach betont. Indem sie Ereignisse wiederholt erzählt und das Erzählen an sich thematisiert — übrigens ohne den Erzählfluss dadurch zu stören –, schafft sie ein reflexives Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart und markiert die Geschichte als eine erzählte, die von ihr gewählte Ordnung als eine subjektive:

Eine Ordnung in die Erinnerung zu bringen — wäre das nicht eine Lüge? Eine Lüge insofern, weil ich vorspielen würde, so eine Ordnung existiere.

Helfer, Die Bagage

Monika Helfer gibt ihrem Roman durchaus eine Ordnung, bricht diese aber immer wieder auf, so dass das Geschehen durch verschiedene Blickwinkel erhellt wird, die ihr zugleich intensive Momentaufnahmen und schattierte Charakterzeichnungen ermöglichen.

Besonders konturiert gezeichnet werden die Moosbruggerkinder, die man sowohl als kleine Kinder während dem Krieg kennenlernt als auch als Erwachsene, jung Verstorbene oder Gealterte. Durch die Beleuchtung verschiedener zeitlicher Ebenen bekommt die insgesamt eher kurze Erzählung so auch eine epische Dimension. Ebenso wohnt ihr eine gewisse Tragik inne, die durch die gerade durch das zyklische Moment der Wiederholung betonte Unausweichlichkeit hervorgerufen wird. Am Beispiel der schlaglichtartig erhellten Lebenswege der Kinder zeigt sich die Schwierigkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Gerührt und zugleich mit einem Gefühl banger Ohnmacht liest man, wie Lorenz, der zweitälteste Sohn von Josef und Maria, der dem Vater so ähnlich ist und doch gerade nicht in seine Fußstapfen will, während dem Krieg wie selbstverständlich die Rolle des abwesenden Vaters übernimmt — so gut es ihm eben gelingt, denn er ist doch immer auch noch ein Kind. Von diesem Lorenz heißt es einmal, und die Stelle verrät die ganze Kraft der Bindung und der Herkunft:

Ein Bauer wollte er nicht werden. Allein, dass er sich überlegte, was aus ihm einmal werden könnte, unterschied ihn von allen anderen Buben im Dorf.

Helfer, Die Bagage

Im gleichen Atemzug Bindung und Offenheit zur Sprache zu bringen, ist vielleicht der Kern dieses auf magische Weise anrührenden Romans.

Bibliographische Angaben
Monika Helfer: Die Bagage, Hanser 2020
ISBN: 9783446265622

Bildquelle
Monika Helfer, Die Bagage
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderZoë Beck: Paradise City

Zoë Beck hat sich als Autorin anspruchsvoller Spannungsliteratur in der Vergangenheit bereits einen Namen gemacht, zuletzt in Die Lieferantin und Schwarzblende, in denen sie gesellschaftlich konfliktreiche und komplexe Stoffe der Gegenwart oder einer beunruhigend realistisch erdachten nahen Zukunft auf intelligente und unterhaltsame Weise gestaltet hat. Vielleicht kann man sie ein wenig mit dem französischen Schriftsteller Olivier Norek vergleichen, der in seinen Kriminalromanen ebenfalls sehr überzeugend ein ähnliches Ineinander von Spannung und gesellschaftlicher Wachsamkeit anstrebt. In seinem Roman Entre deux mondes (dt. All dies ist nie geschehen, Blessing 2019) zum Beispiel verarbeitet Norek am Beispiel des „Dschungel“ genannten Flüchtlingslagers in Calais auf vielschichtige Weise das Thema Flucht und Migration, indem er, ähnlich wie das auch Zoë Becks Stärke ist, über die Figurenebene viele ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Thema psychologisch nachvollziehbar und authentisch ins Geschehen einzubinden versteht.

In Becks neuestem Roman, Paradise City, entspinnt sich die Kriminalhandlung vor dem detailreich und durchdacht geschilderten Hintergrund unserer Gesellschaft, wie sie in einer v.a. medizin- und sicherheitstechnisch konsequent weitergeführten Fortentwicklung der Gegenwart in einigen Jahrzehnten aussehen könnte. Auch diesmal wirft die Autorin viele gesellschaftspolitische und ethische Fragen auf und regt über die vielfach ambivalenten Implikationen eines schon heute relevanten Themas zum Nachdenken an, anstatt moralisch eindeutige Antworten zu geben.

Der Klimawandel und das Sicherheitsbedürfnis der Menschen haben ihre Spuren hinterlassen in dem Deutschland, das Zoë Beck sich für ihren neuen Roman ausgemalt hat. So fliegt schon mal ein Papagei vorbei, es gibt heftige Winterstürme und Sturmfluten, so manche Stadt im Norden ist dem gestiegenen Meeresspiegel anheimgefallen, statt Berlin, das nur noch als historisches Ausflugsziel geschätzt wird, als Museum der Vergangenheit —

Wie alle Kinder war sie (die Hauptfigur Liina) mit ihrer Familie schon mal in Berlin gewesen, gebucht hatten sie die Geschichtserlebniswoche „Berlin 2021“

Beck, Paradise City, S. 45

— ist Frankfurt am Main zur Hauptstadt geworden, man reist auch fast nicht mehr und nur innerhalb eines überschaubaren Radius, exotische Länder besucht man höchstens virtuell, gelten sie doch mehr als Gefahrenquelle denn als attraktives Reiseziel, und auch gesundheitstechnisch hat sich einiges getan: Die Bedrohung durch lebensgefährliche Krankheiten wurde minimiert, nachdem Aids und Krebs nun medizinisch geheilt werden können, die schlimmsten bevölkerungsdezimierenden Infektionswellen hat man bereits hinter sich gebracht, und damit sich am erreichten Fortschritt auch nichts ändert, wird alles engmaschig überwacht und kontrolliert. Ein so genanntes Smartcase, der Nachfolger unseres Smartphones, speichert alle Gesundheitsdaten, registriert die kleinsten Anzeichen medizinischer Gefährdung, auf die der auf Prävention eingestellte Algorithmus unmittelbar reagiert, etwa mit der Anweisung bestimmte Tabletten einzunehmen, der vorbeugenden Erhöhung einer Dosis, mit Vorladungen zum Arzt oder ins Krankenhaus. So praktisch das ist und so sehr es die Gesundheitsvorsorge der Menschen verbessert, erinnert ein solcherart mit eigenmächtigen Algorithmen ausgestattetes Gesundheitssystem doch beängstigend an das Sozialkreditsystem, das in China längst Realität ist. Auch in Becks deutscher Zukunftsgesellschaft gibt es etwa für Sport oder regierungspolitische Konformität Zusatzpunkte und eine schönere Wohnung.

Niemand geht ohne Smartcase raus. Mit dem Smartcase bezahlt man, es dient als Personalausweis, sämtliche Zugangsberechtigungen — ebenso wie die Bereiche, für die man gesperrt ist — sind darauf gespeichert, die Gesundheitsdaten sind darüber im Notfall abrufbar, einfach alles. Das Smartcase ist ein flexibler Körperteil, und seit gefühlten Ewigkeiten reden Tech-Konzerne davon, dass es bald komplett unter der Haut verschwindet.

Beck, Paradise City, S. 37

Wichtig zu wissen ist, dass Beck ihr Buch vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie geschrieben hat, es somit Ausdruck eines sich schon länger abzeichnenden gesellschaftlichen Wandels ist und die Autorin darin längerfristige Strukturen untersucht, die uns von der gegenwärtigen Pandemiesituation nur schlaglichtartig ins Bewusstsein gebracht werden.

Im Zentrum dieser immer wieder erschreckend aktuell wirkenden Geschichte steht die junge Liina. Auf ihre Figur konzentriert sich die Autorin am meisten, in ihr laufen alle Fäden der Handlung, des Kriminalfalls zusammen und in ihr kristallisieren sich auch alle thematischen Konfliktfelder des Romans. Liina ist heimliche Mitarbeiterin der im Untergrund tätigen Agentur Gallus, die von Özlem Gerlach und Yassin Schiller geleitet wird. Sie sind in gewissem Sinne Investigativjournalisten, sie recherchieren unermüdlich, wollen Staub aufwirbeln, sie hinterfragen und überprüfen die staatlich monopolisierten Nachrichten und versuchen auf diese Weise aus dem Untergrund heraus eine Art Opposition zu erzeugen und die Regierung zum Handeln zu zwingen: eine durchaus nicht ungefährliche Form des Widerstands. Yassin, einer der Chefs und außerdem Liinas Exfreund aus Studienzeiten, mit dem sie vor kurzem wieder eine Affäre begonnen hat, landet zu Beginn der Geschichte — vermutlich gewaltsam — auf den Gleisen einer einfahrenden S-Bahn und schwebt nun in Lebensgefahr. Dass trotz strenger Kameraüberwachung genau rund um den angeblichen Unfall verschwommene Gestalten auf den Videobildern zu sehen sind, die sich mit ausgefeiltesten technischen Tricks unkenntlich zu machen wussten, schürt den Verdacht von Liina und ihren Kollegen, zumal kurz darauf ein zweiter Anschlag stattfindet, dem Kaya Erden, eine Investigativjournalistin alten Schlags, zum Opfer fällt. Sie hatte mit Yassin wohl eine Recherche geplant, die irgendwer um jeden Preis verhindern will…

Auch Vergangenheit und Gegenwart werden über die Protagonistin Liina miteinander verbunden. Einige Kapitel sind Rückblenden, in denen Liinas Biographie und damit auch die für die gegenwärtigen Ereignisse wichtige Vorgeschichte Gestalt annimmt. Man erfährt, warum sie damals mit Yassin Schluss gemacht und nach Skandinavien gegangen ist, und dass sie selbst aus einem bestimmten Grund, der hier nicht verraten wird, in höchstem Grad von den Fortschritten des Gesundheitssystems abhängig ist, das nun jedoch eine Entscheidung von ihr erzwingt, die sie so nicht treffen will. Man erfährt auch vom schwierigen Verhältnis zu ihrem behinderten Zwillingsbruder, das einen Schatten auf die ansonsten so couragiert gezeichnete Protagonistin wirft, und von ihrer inzwischen als Gesundheitsministerin amtierenden Freundin aus Kindheitstagen, mit der sie damals im abgelegenen, nicht vom GPS erfassten Frankfurter Hinterland eine merkwürdige Dorfgemeinschaft entdeckte. Die Menschen dort waren irgendwie anders, das spürte Liina, auch wenn sie nicht genau verstand, in welcher Weise. In der Stadt hatte sie von den Menschen dort bereits gehört, die man als „die Parallelen“ bezeichnete:

so nannte man die Menschen, die nicht dazugehören wollten. Es gab nur wenige Informationen über sie, und viele Gerüchte.

Beck, Paradise City, S. 125

Liina, die sich mit dem Desinteresse, den Vorurteilen und auch der unbestimmten Angst der Menschen bereits als Kind nicht zufrieden gibt, will sich selbst ein Bild machen und kehrt noch ein paarmal in das verbotene Dorf zurück. Doch erst viel später wird ihr klar, dass die ihr ungewohnt zutraulich begegnenden Kinder dort zum Großteil behindert waren und in ihrer eigenen Gesellschaft, der sichtbaren, offiziellen, nicht gewünscht und nicht vorgesehen waren. Tatsächlich ist diese aus der Zeit und der Norm fallende Gruppe irgendwann aus dem Hinterland verschwunden, und auch zu ihr führt eine der Spuren des kompliziert gestrickten Kriminalfalls, in den Liina Jahre später verwickelt wird.

Während man gespannt der Entwicklung der Geschichte folgt und mit Liina die Puzzlestücke zusammensetzt, nimmt einen eine andere Art von Spannung fast noch mehr gefangen: eine Spannung, die sich aus den ethischen Ambivalenzen ergibt, mit denen man über die Figuren beim Lesen auch selbst konfrontiert wird. Ohne tendenziös oder auf irgendeine Weise voreingenommen zu sein, macht die Autorin aus der Geschichte heraus die große Verantwortung spürbar, die mit den Entscheidungen der Gesellschaft und des Einzelnen verbunden ist, und sie zeigt die Beeinflussbarkeit und Relativität auch bei ethischen Werturteilen, die je nachdem, ob sich die Waagschale durch das Sicherheitsbedürfnis der Menschen auf der Seite der Vorsorge- und Präventionskompetenz des Staates nach unten senkt oder auf derjenigen der (Entscheidungs-) Freiheit, eine ganz andere Richtung oder Gewichtung nehmen können. Auch die künstliche Intelligenz spielt in diese ethische Unsicherheit mit hinein, wenn ein Algorithmus über Leben und Tod, Abtreibung oder Mutterschaft entscheidet. Und auf einmal stellt sich das moralische Gewissen nicht ein, wenn man über eine Abtreibung nachdenkt, sondern wenn man der Gesundheitssoftware (in Becks Roman heißt sie abgekürzt KOS) wertvolle Daten vorenthält:

Eine Schwangerschaft abzubrechen ist so unkompliziert wie eine Zahnreinigung. Es genügt, einen Termin zu machen. Beratung ist jederzeit möglich, aber anders als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird den Frauen kein schlechtes Gewissen gemacht. (…) Die allermeisten Schwangerschaften werden sehr schnell festgestellt, weil fast alle jeden Monat standardisiert Blut und Urin zu Hause mit KOS überprüfen und auswerten lassen.

Beck, Paradise City, S. 58

Warum lassen die Menschen in Paradise City das alles so ungefragt mit sich geschehen? Machen sie sich zu unmündigen Bürgern, indem sie ihre Handlungsfreiheit freiwillig begrenzen? Oder gebieten Vernunft und Gemeinschaftssinn eine derartige Unterordnung unter das technisch verwaltete größere Ganze, zumal auf diese Weise bereits eine sichtbare Verbesserung des allgemeinen Wohlstands erreicht wurde? Ist es überraschend, wenn die Mehrheit dafür ist, es zur Pflicht zu machen, sich auf genetisch bedingte Suchtanfällligkeiten testen zu lassen? Immer wieder umkreist die Autorin in ihrem Roman die Frage der Akzeptanz:

Liina kann sich gut vorstellen, wie die Leute massenhaft diesen Tests zustimmen. Alles wissen wollen, alles planen wollen, nichts dem Zufall überlassen.

Beck, Paradise City, S. 107

Kein Zufall ist es jedenfalls, dass man bei der Lektüre mehr als einmal an den französischen Soziologen Jean Baudrillard erinnert wird, der in seinen Schriften über die Verdrängung von Tod und Krankheit aus den zeitgenössischen Gesellschaften geschrieben hat, die mehr und mehr einem reibungslos funktionierenden, technisch perfektionierbaren System gleichen wollen. Bei Beck liest man: „Bedrohliche medizinische Unklarheiten sind nicht erwünscht. Sie sind nicht Teil des Systems“ (S. 145); der technisch-medizinische Fortschritt ist auch in ihrer romanesken Zukunftswelt an das Modellbild eines gesunden, also „normalen“, „funktionierenden“ Menschen gekoppelt, während alle aus der Norm fallenden Außenseiter der Gesellschaft als Störfaktoren betrachtet werden. Auch ein „unnatürlicher“ Tod, ein Mord oder ein Selbstmord, wird hier zum Skandal, da er das Gesellschaftssystem in Frage stellt und in seiner Logik eigentlich nicht vorkommen darf. Schon ein Unfall ist kritisch und das Höchstmaß des Sagbaren:

Sie checkt die Nachrichten, obwohl sie weiß, wie wenig das bringt. (…) „Unfall“ könnte genauso gut „Selbstmord“ bedeuten, aber man spricht nicht gern von Selbstmorden. Weil sich offiziell so gut wie niemand umbringt. (…) Bei allem, was die alltäglichen Abläufe stört, wird erst einmal ein Anschlag vermutet, was sich nie bestätigt. Andere stellen leise die Sicherheitsvorkehrungen an Bahnhöfen in Frage.

Beck, Paradise City, S. 21

Alles, was die reibungslosen Abläufe durcheinanderbringt, wird in Becks erdachtem Zukunftsdeutschland als Gefahr eingestuft, und das geradezu mythische Sinnbild dieser Gefahr ist das Selbstmordattentat, das, so liest man es bei Baudrillard, das System sprengt und dennoch oder gerade deshalb als Angstvorstellung vor dem Unvorhersehbaren, Gewaltsamen, Irrationalen permanent unter der Oberfläche lauert.

Eine weitere Kehrseite besteht darin, zusammen mit allem Systemfremden, Ineffizienten, Unkontrollierbaren auch die Kontroverse, die Kunst, das Andersartige in den Hintergrund zu drängen, ja auszulöschen. Die Existenz der Untergrundorganisation, für die Liina arbeitet, ist ein starker Hinweis auf die autoritären Züge, die diese Gesellschaft angenommen hat. Handelt es sich um eine schleichend eingeführte Diktatur? Es ist nicht die Rede von einem militärischen Übergriff des Staates und die meisten Menschen heißen die staatlichen Maßnahmen gut, die ihr Leben verlängern und seine Qualität verbessern, aber schrauben sie nicht auch ihre Selbstbestimmung zurück…?

Sie haben saubere Luft zum Atmen, sauberes Trinkwasser, gute Lebensmittel, die beste medizinische Versorgung. Es fehlt ihnen an nichts, weil sie daran glauben, dass es ihnen an nichts fehlt, und Freiheit ist ein viel zu abstraktes Konzept.

Beck, Paradise City, S. 173

An einigen Stellen musste ich an Cécile Wajsbrots jüngsten Roman mit dem deutschen Titel Zerstörung denken (vgl. Rezension vom 19.3.2020), ein stilistisch ganz anders gearteter, poetisch-vielstimmiger Text, der aber eine ähnliche Grundstimmung heraufbeschwört und auf ähnliche Tendenzen aufmerksam macht. Wie in Zerstörung werden auch in Paradise City Museen als Orte der Erinnerung und des reflektierten freiheitlichen Bewusstseins zurückgedrängt zugunsten staatlicher Gebäude und eines zweckrationalen Denkens; hier ein Auszug aus einem Dialog Liinas mit einer Freundin:

„Irgendwo musste ja Platz für die ganzen Bundesministerien geschaffen werden. Die Museen sind jetzt im Quartier Bad Vilbel.“ — „Alle Museen auf einem Haufen?“ — „Praktisch und rentabel, heißt es. Ein Highlight für die Freizeitgestaltung. (…)“ — „Aber das Theater steht noch. In dieser Lage. Erstaunlich. “ — „Noch behält man es für Staatsempfänge, um auf Kultur zu machen. (…)“

Beck, Paradise City, S. 92 f.

Paradise City ist vielleicht weniger ein Thriller, wie es auf dem Buchdeckel angekündigt wird, als ein intelligent und unterhaltsam geschriebener Spannungsroman, der nicht zuletzt auch von seinen erfrischenden Dialogen lebt und die vielfältigen ethischen Dilemmata einer „schönen neuen Welt“ glaubhaft zur Sprache bringt. Auch wenn ich manche Nebenfigur gerne noch ein bisschen näher kennengelernt hätte und mir eine tiefere Zeichnung der Charaktere gewünscht hätte, hat mich der Roman durch seine romaneske Aufbereitung eines gesellschaftlich relevanten Stoffes absolut überzeugt!

Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Paradise City, Suhrkamp (2020)
ISBN: 9783518470558

bookmark_borderBritta Teckentrup und Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben

Ein wunderschönes Bilderbuch, dessen Reime nett und eingängig aus dem Englischen ins Deutsche übertragen sind, das aber ganz besonders durch die Illustrationskunst Britta Teckentrups auffällt, die mit Farben so viel erzählen kann. (Vgl. Der blaue Vogel, Rezension vom 8.7.2020)

So erfahren die kleinen Bilderbuchentdecker vom Lauf der Jahreszeiten, von der bunten Vielfalt der Natur und all der Tiere, die sich an so ganz unterschiedlichen Plätzen der Erde ihr Zuhause geschaffen haben, ob im Wald, im Wasser, im Himmel oder unter der Erde.

Zusammen mit dem kleinen Bär, der zu Beginn der Geschichte in seiner gemütlichen Höhle aus dem Winterschlaf erwacht, macht man sich staunenden Auges auf den Weg, entdeckt spielerisch, wie verschieden und faszinierend die Lebensräume der anderen Tiere sind, um am Ende der Reise und des Jahres wieder mit ihm in seine Höhle zurückzukehren — und wenn’s gelingt, gleich auch mit einzuschlafen und das farbenfrohe Reich der Bilder mit ins Reich der Träume zu tragen.

Altersempfehlung
Ab vier Jahren

Bibliographische Angaben
Britta Teckentrup, Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben, arsEdition (2020)
ISBN: 9783845839356

Bildquelle
Britta Teckentrup, Patricia Hegarty: Zuhause — Wie die Tiere leben
© 2020 arsEdition GmbH, München

bookmark_borderNadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

Mit den grandiosen Romanen der geheimnisvollen italienischen Schriftstellerin, die sich Elena Ferrante nennt und deren Platz in den Bestsellerlisten wirklich einmal ein auch literarisch verdienter ist, scheint hierzulande die Neugier auf italienische Autorinnen sichtbar gewachsen zu sein. Die sich außerdem trotz ganz unterschiedlicher Handlungsentwürfe doch an bestimmten gemeinsamen Interessenfeldern abzuarbeiten scheinen. Letzes Jahr etwa wurde ein Roman von Rosa Ventrella, Die Geschichte einer anständigen Familie, aus dem Italienischen übersetzt, das deutsche Cover erinnert wohl nicht zufällig an die Neapel-Saga Ferrantes; auch Ventrella betont den Bezug zur regionalen Herkunft, die Geschichte spielt in Bari, wo die Autorin auch selbst aufgewachsen ist, es geht auch bei ihr um die sozio-psychologischen Konflikte einer Familie und um die konfliktreichen emotionalen und intellektuellen Bedürfnisse eines in einengenden Traditionen zur jungen Frau heranwachsenden Mädchens.

Auch die junge sizilianische Schriftstellerin und Kinderbuchautorin Nadia Terranova, Jahrgang 1978, die u.a. für den Premio Strega nominiert wurde, kann man in diesem regionalen, weiblichen literarischen Kontext verorten, gleichwohl sie wieder eine ganz eigene Erzählweise hat. Ihr nun ins Deutsche übersetzter Roman über eine junge Frau aus dem sizilianischen Messina, deren an Depression erkrankter Vater aus ihrem Leben und ihrer Familie verschwand, als sie ein dreizehnjähriges Mädchen war, ist ein ganz schmales Buch, das mich mit seiner großen poetischen und psychologischen Dichte sehr beeindruckt hat.

Der sehr übersichtliche Schauplatz der Geschichte, der aber einen großen Raum in die subjektiv erinnerte Vergangenheit der Ich-Erzählerin, Ida, eröffnet, ist das Haus ihrer Eltern bzw. ihrer Mutter in Messina, das überquillt vor allzu lange aufbewahrten Gegenständen und eben auch Erinnerungen. Dorthin kehrt die inzwischen erwachsene Ida, die sich ein neues Leben mit ihrem Mann in Rom konstruiert hat, zu Beginn der Erzählung zurück, nachdem ihre Mutter ihr am Telefon angekündigt hat, das Haus ausräumen, sanieren und verkaufen zu wollen. Sie kommt ohne ihren Mann an diesen Ort ihrer Kindheit und der schmerzhaften Erinnerung zurück, um ihre beiden so verschiedenen Welten, Gegenwart und Vergangenheit, römische Hauptstadt und sizilianische Heimat, die sie allzu säuberlich auseinander hält, nun doch irgendwie in ein Verhältnis zu setzen. Ida ist — und das ist nicht ganz unwichtig — Autorin, sie schreibt Texte fürs Radion, fiktionalisierte Erzählungen, für die sie auf Erlebtes und Beobachtetes zurückgreift. Auf diese Weise schreibt sich die Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend auch metaliterarisch in den Text ein — auch etwas, was an Elena Ferrante erinnert –, wenngleich das an der Oberfläche erfüllte Leben der Erzählerin und Texterin bisher eher einer Fluchtbewegung geschuldet ist, einer Vermeidung jeder tieferen Konfrontation mit der Vergangenheit, die sie daher unbewusst umso schwerer zu belasten scheint.

Die Rückkehr nach Messina stellt insofern einen Wendepunkt in Idas Leben dar, der eine gewisse inwendige Notwendigkeit zu haben scheint. Denn als sie sich in ihrem alten Kinderzimmer wiederfindet, kann sie sich der beängstigenden Versuchung des Blickes zurück, dem sie so lange durch ihre Flucht nach vorne entgangen war, nicht mehr entziehen. Schlaflos, zurückgeworfen auf ihr Inneres, setzt sie sich mit den realen und den ideellen, emotionalen Räumen ihrer Vergangenheit auseinander, öffnet sich für das, was in ihrer Erinnerung überdauert hat, sucht nach den Puzzleteilen ihrer eigenen Geschichte und ihres eigenen Selbst, dessen Autonomie nur im Prozesshaften erlangt werden kann und auch auf der bewussten, kreativen Auseinandersetzung mit den Bildern der Erinnerung beruht. Wesentlich ist dabei das Bewusstsein der Subjektivität, die jeder Wahrheit über die eigene Geschichte innewohnt. So stellt Ida eine schöne Reflexion über das unsichere und doch so faszinierende, schillernde, wandelbare Wesen der Erinnerung an, die zugleich auch als metaliterarischer Kommentar zu lesen ist:

Ich habe mich oft gefragt, ob diese Version der Geschichte vielleicht erst beim späteren Erzählen entstanden ist und schon vorwegnimmt, was ich erst am Nachmittag entdeckte, nämlich, dass mein Vater gegangen war; doch selbst wenn, wäre das erfundene Gefühl wahrer als die Wahrheit. Die Erinnerung ist ein kreativer Prozess, sie wählt aus, setzt zusammen, entscheidet, verwirft; der Roman der Erinnerung ist das unverdorbenste Spiel, das wir spielen.

Nadia Terranova

Und so steht das bewusste Rekonstruieren einer Geschichte auch im Zentrum des Romans von Nadia Terranova. Die narrative Logik der Erzählung entspricht der Suche der Erzählerin nach Identität. Es geht darum, ausgewählten Dingen und Episoden nachträglich Bedeutung und Symbolkraft zu geben, so dass die Ereignisse im Nachhinein Prägnanz erhalten, wie der Philosoph Hans Blumenberg sagen würde, der in dieser dem Prinzip des Mythos folgenden Neigung des Menschen eine anthropologische Veranlagung sieht.

Eine solche Mythisierung findet nach dem Verschwinden des Vaters im Haus der auf Mutter und Tochter reduzierten Familie tatsächlich statt, die Gegenstände erfahren eine magische Aufladung durch eine nicht thematisierte, aber im stummen Einverständnis gesetzte unsichtbare Anwesenheit des Vaters, die sich von Zeit zu Zeit in banalen, aber mythisch aufgeladenen Alltagsphänomen wie sickerndem Wasser zu manifestieren scheint. Der Vater ist verschwunden, sein Verschwinden wird bald auch nicht mehr mit Worten thematisiert, aber er bleibt permanent unterschwellig präsent. Er ist eine Leerstelle, die unablässig auf sich selbst zu verweisen scheint, für Ehefrau und Tochter jedes „normale“ Familienleben, wie Ida es bei den Nachbarn oder Schulkameraden beobachtet, forthin unmöglich macht und von ihr als fehlende Unschuld, fehlende Ausgelassenheit erlebt wird: „Mein Leben lang war ich die Tochter von Sebastiano Laquidaras Abwesenheit.“ (Nadia Terranova)

Doch im Unterschied zu damals wagt es Ida nun, diese Verlusterfahrung, die für sie unbestreitbar ein einschneidendes Erlebnis war, zu benennen und die mythische Kontingenz des zeitlichen Zusammenfalls des väterlichen Verschwindens mit ihrer Menarche, dem Beginn ihrer Pubertät, in einem kreativen Prozess erzählerisch miteinander zu verknüpfen. Die Autorin verwendet das Motiv des Vaterverlusts somit auch, um einen Roman über die Konstruktion einer weiblichen Identität zu schreiben. Die konfliktreiche Beziehung von Mutter und Tochter nimmt entsprechend großen Raum in der Erzählung ein, und es ist schön, wie es der Autorin mit leisen Zwischentönen gelingt, auch die tiefe Verbundenheit, die über die Spannungen und Gereiztheiten hinweg zwischen den beiden Frauen besteht, anzudeuten.

Die poetischen, nachdenklichen Töne, das Gespür für feine, aber sinnige Unterschiede und der unprätentiöse, sehr nah am Ich der Figur orientierte Stil, in dem diese zum Ausdruck gebracht werden, macht die literarische Qualität dieses berührenden Buches aus. So denkt Ida, als sie ihren Erinnerungen an die Großeltern und ihren Vater nachgeht, über Tod, Verlust und Verschwinden nach. Allerseelen wurde in ihrer Familie als Fest der Erinnerung gefeiert, was dem Tod seinen Schrecken nahm. Doch wie anders erlebte sie dann das Verschwinden des Vaters:

So war der Tod, wie ich ihn bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr kannte: eine direkte, blinde Linie, die mit Vererbung und Vergänglichkeit zu tun hatte, ein Ort, von dem die Menschen nur einmal im Jahr zurückkehrten, ein unschönes, aber letztlich fruchtbares Fest. Das war er, und vor ihm hatte ich keine Angst.
Dann, eines Morgens, war mein Vater verschwunden. (…) Der Tod ist ein Fixpunkt, doch das Verschwinden ist das Fehlen eines Punktes oder jedes anderen Satzzeichens am Ende der Wortreihe. Wer verschwindet, schreibt die Zeit um, und ein Reigen aus Obsessionen umgibt die Überlebenden.

Nadia Terranova

Der Roman hat drei Teile, die mit „Der Name“, „Der Körper“ und „Die Stimme“ überschrieben sind und sowohl auf die Erzählerin selbst als auch auf den Vater bezogen werden können. Die Re- und Dekonstruktion der Vergangenheit ermöglicht Ida erst, sich von unbestimmten, unterdrückten Schuldgefühlen freizumachen, die auch die Beziehungen zu anderen Personen, ihrer früheren Freundin, ihren Mann, beeinflussen. Der sakralisierte Raum des abwesenden Vaters, den bildhaft gesprochen nur ihre Mutter und sie selbst betreten durften, machte es schwer, wenn nicht unmöglich, jemanden von außen hereinzulassen. Daher die Rebellion der Tochter, als ihre Mutter eine neue Beziehung eingeht, daher die fehlende Empathie für die beste Freundin, als diese Schmerzhaftes erlebt. Erst unfreiwillig, dann mutiger verlässt Ida allmählich ihre Schutzzone und öffnet die Augen auf ihre Außenwelt, auf andere Schicksale und Erfahrungen.

Es ist ein schmerzhafter Prozess der Erkenntnis, des Sich-Annehmens, den die Erzählerin durchläuft und wir Leser ganz nah mit ihr. Und so wohnt diesem wunderbaren Roman eine von jedem Kitsch befreite Poesie von Schmerz und Hoffnung inne, die einen nachdenklich stimmt und auf magische Weise ganz intensiv berührt.

PS:
Der allzu ausgedehnte deutsche Titel, der für das schlichte italienische „Addio Fantasmi“ gefunden wurde, ist, wie ich finde, etwas irreführend, da er Assoziationen zu Büchern wie von Jonas Jonasson weckt, mit denen Terranovas Erzählung nun so gar nichts zu tun hat.

Bibliographische Angaben
Nadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand, Aufbau Verlag (2020)
Aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen
ISBN: 9783351034849

Bildquelle
Nadia Terranova, Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

bookmark_borderMarco Balzano: Ich bleibe hier

Graun, so heißt das kleine Vinschgauer Dorf am Reschensee, das 1950 gegen den Willen und Widerstand seiner Bewohner komplett geflutet wurde, ein Zufall der geographischen Benennung und doch im Nachhinein mit fast schicksalhaftem, mythisches Unheil prophezeiendem Beiklang…

Zum Glück entgeht der italienische Autor Marco Balzano in seinem neuen Roman der Verführung durch das Mythische. Schlicht und unaufgeregt, und gerade dadurch berührend und glaubhaft, erzählt er in seinem neuen Roman von einigen einschneidenden Kapiteln der Geschichte Südtirols und seiner von ihr gebeutelten Bewohner.

Der schnörkellose, geradlinige, jedes Pathos vermeidende, fast elementare Stil, der sich ganz nah an der ländlich geprägten Lebenswelt der Protagonisten bewegt, die von den historischen Ereignissen mehrfach wie von einer Lawine gewaltsam überrollt werden, passt wunderbar zu der Erzählerin, die sich Balzano für sein durchaus ambitioniertes Vorhaben, die komplexe Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert literarisch einzufangen, erdacht hat. Sie heißt Trina und erzählt ihre Geschichte, die ihrer Familie und die ihres — erst von den italienischen Faschisten, dann von den Nazis, durch Krieg, durch wirtschaftliche Interessen, durch nationalistische Ausgrenzung und Polarisierung — vielfach bedrohten und schließlich komplett vernichteten Dorfes in Form von Briefen an ihre verschwundene Tochter.

Um Bindung und Verlust geht es auf vielen Ebenen in dem Roman, und zugleich um Loyalität und Familie, um existenzielle Ängste, Herkunft und Sprache, Flucht und Vertreibung, um die Notwendigkeit und den Preis politischen oder gesellschaftlichen Engagements. So unterrichtet Trina, die als erste in ihrer Familie studiert hat und Grundschullehrerin geworden ist, die Südtiroler Dorfkinder in ihrer deutschen Muttersprache zeitweise unter großer Gefahr im Untergrund, als die italienischen Faschisten die deutsche Sprache und Kultur und mit ihnen am liebsten auch alle Südtiroler zum Schweigen bringen wollen. Und ihr Mann kämpft sein Leben lang und bis zur völligen Erschöpfung dafür, mit seiner Familie in seinem Heimatdorf Graun leben oder überhaupt überleben zu können, während seine Kinder die Frage nach der Heimat zu seinem großen Schmerz anders beantworten…

Dem scheinbar unbedeutenden individuellen Schicksal wird auf diese Weise die große Geschichte eingeschrieben, die gerade im bescheidenen mikroskopischen Blick auf den Einzelnen ihre erschütternde allgemeinmenschliche Dimension offenbart. Immer wieder gelingen dem Autor poetisch eindringliche Szenen, in denen sich die existenzielle Bedeutung der Geschichte in einzelnen Momentaufnahmen verdichtet. So verbirgt sich hinter der durchaus auch sehr unterhaltsam gestalteten, eher episodischen als epischen Oberfläche ein tiefsinniger Text, in dem die großen Fragen des Daseins und Menschseins anklingen.

Bibliographische Angaben
Marco Balzano: Ich bleibe hier, Diogenes 2020
ISBN: 9783257071214

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