bookmark_borderBirgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Arthur heißt die Hauptfigur dieses ein wenig skurrilen und sehr liebevollen Romans über einen, der auf die schiefe Bahn geraten ist und mit psychologischer Hilfe wieder auf den rechten Weg gebracht werden soll. Arthur ist das erzählerische Subjekt, aus dessen Perspektive wir den Großteil der Geschichte erfahren. Er ist aber zugleich auch das Studienobjekt von Börd und Betty, zweier Psychologen, die eine neue Methode der Wiedereingliederung ehemaliger Gefängnisinsassen in die Gesellschaft entwickelt haben. Diese Methode besteht, knapp umrissen, darin, dass der Patient sich in der Therapie sein „ureigenes Optimalbild“ von sich aufbaut, sich sozusagen zur strahlenden Hauptfigur seines Lebens macht, erzählerisch eine bessere Version seiner selbst konstruiert, in deren Rolle er dann im Notfall jederzeit hineinschlüpfen kann, um einen Rückfall zu verhindern.

Erzählen, um das Leben zu meistern, sich einüben in psychologisch wirksame Narrative — die österreichische Autorin entwirft in ihrem Roman ein so anschauliches wie ausgefallenes Szenario bibliotherapeutischer Praxis, also des Heilens, des Verarbeitens der eigenen Lebensgeschichte mit den Kräften der literarischen Fiktion, die wohl noch eher ein Randphänomen der Psychotherapie darstellt, aber längst nichts Exotisches mehr hat. Im Roman wird dieses therapeutische Verfahren, das das Erzählen in den Mittelpunkt rückt, „Schwarzsprechen“ genannt. Arthur erzählt von sich, wie das in einer Therapie üblich ist, doch tut er das nicht in Anwesenheit des Therapeuten, sondern er spricht gewissermaßen ins Schwarze hinein, nimmt die Texte auf und gibt die Tondokumente anschließend an Börd, seinen Psychiater, weiter, ohne mit Sicherheit zu wissen, ob der sie auch wirklich anhört. Das Wesentliche ist hier nicht das Zuhören, sondern das Sprechen.

Manchmal ist ihm, als erzählte der Mensch sich die eigene Geschichte deshalb wieder und wieder, damit er sich auch die unglaublichsten Dinge begreiflich macht. Und variiert die Geschichte von Erzählung zu Erzählung, immer ein Stück näher ans Erträgliche, bis er sie irgendwann als Teil seiner selbst versteht.

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Dramaturgisch kennzeichnet den Roman ein Wechsel zwischen der Erzählgegenwart, den Inhalten des Tonmaterials und Rückblicken, so dass sich den Lesern nach und nach der bewegte Lebensweg Arthurs erschließt und man nachvollziehen kann, wie er auf die schiefe Bahn geraten konnte und zum Internetbetrüger wurde. Man erfährt von seiner Kindheit in einem sozial schwachen Viertel, vom neuen Partner der Mutter, vom Umzug nach Spanien und dem Aufbau eines luxuriösen Hospizes durch seine Eltern, das Arthur von heute auf morgen in die Welt der Neureichen katapultiert. Nach dem Unfalltod der Freundin kehrt Arthur nach Österreich zurück, wo ihn die Geldprobleme nicht mehr loslassen.

Eine fast genauso interessante Figur wie Arthur ist Börd, mit vollem Namen Konstantin Vogl, den Birgit Birnbacher als Psychologen anlegt, der selbst psychische Probleme hat. Das mag keine ganz neue Idee sein, ist aber so plastisch und mit einem untergründigen Humor umgesetzt, dass einem dieser Charakter lange im Gedächtnis bleibt. Schon Börds Erscheinungsbild ist für einen Psychiater ungewöhnlich: Er trägt weder dezentes Zivil noch weiße Ärztekluft, sondern läuft in Latzhose und blauem Arbeitsmantel herum, um, wie es heißt, „leichter zu akzeptieren, dass er nicht mehr der ist, der er mal war“. Vieles erfährt man in diesem Roman nur in Andeutungen, so auch, dass er in prekären Verhältnissen in einer Autowerkstatt wohnt, von seiner Frau verlassen wurde und zu viel trinkt. Börd ist selbst kein wirklich sozial verträglicher Charakter, er verhält sich manchmal unmöglich, dann aber auch wieder wohltuend unvoreingenommen gegenüber seinen Patienten, und ist in jedem Fall ein sehr unorthodoxer Therapeut. Nachdem Börd mehrfach angeeckt und aus der institutionellen Wissenschaft, um ein wenig zu kalauern, heraus-geflogen ist, wird die Studie, an der Arthur teilnimmt, offiziell von Betty geleitet, einer ehemaligen Studentin von Börd. Es gibt also immer wieder verschwimmende Grenzen in dieser Geschichte, die Grenzen von normal und unnormal werden fließend, ebenso die von Psychiater und Patient, und nicht einmal die Hierarchien sind klar gesteckt. Das sorgt in Birgit Birnbachers Erzählstil für Humor und für einen erfrischend unkonventionellen, befreiten Blick.

Und so liegt die (erste) Pointe der Erzählung darin, dass sich bei Arthur ein Therapieerfolg gerade dadurch andeutet, dass ihn die Übungen und Sitzungen mit Börd dazu bringen, die Studie in Frage zu stellen und in durchaus selbstwirksamer Weise zu widerlegen:

„Es kommt mir so vor“, hatte Arthur zu Betty gesagt, „als habe gegen euer allzu großes Einwirken eine Verteidigung meines Selbst begonnen. Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier herausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite.“

Birnbacher, Ich an meiner Seite

Doch dann funkt das Leben in all seinen Irrungen und Wirrungen und bürokratischen Finessen schon wieder dazwischen. Die Geschichte endet, so könnte man monieren, vielleicht etwas zu abrupt, andererseits wird der Hauptfigur so auch eine Offenheit gewährt, die nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine Chance für ihn sein kann, die Chance eines Lebens in Freiheit. Diese Freiheit erscheint in Birgit Birnbachers Roman zweischneidig, und man beginnt zu begreifen, welch herausfordernde Aufgabe eine Wiedereingliederung in die so genannte Gesellschaft ist. Einerseits bedeutet Freiheit für Arthur, das Gefängnis verlassen zu können, das, wie man nur in Andeutungen erfährt, ein Raum schlimmer Erfahrungen für ihn gewesen ist, ein gefährliches Milieu, dominiert von sozialem Druck und sich in schwer kontrollierbarer Eigendynamik entwickelnder Gruppengewalt. Davon unabhängig bedeutet die Entlassung aus dem Gefängnis, andererseits, nicht die Entlastung von seinen Gedanken, mit denen man in therapeutischer Arbeit vielleicht einen Umgang finden lernt. Und schließlich entpuppt sich das Zurechtfinden in der so genannten Freiheit als Lebensaufgabe für Arthur, der überall auf Zäune und Grenzen stößt, auf soziale und bürokratische und imaginäre Schranken, die unüberwindlich scheinen.

Ich an meiner Seite ist ein aus vielen Gründen lesenswerter Roman; was alles zusammenhält, sind aber in meinen Augen die Figuren, die in ihren Qualen und Nöten zugleich liebevoll und grotesk charakterisiert werden und trotz ihrer humorvollen Überzeichnung sehr lebensnah wirken: die jahrelang todkranke ehemalige Schauspieldiva, mit der Arthur eine ganz besondere Freundschaft verbindet, und der psychische Seelennöte ausstehende Psychiater, der sein Leben selbst kaum in den Griff bekommt, sind vielleicht die zwei berührendsten Charaktere. Man möchte den Figuren immer wieder zurufen, tu das nicht, und kann gleichzeitig doch verstehen, warum sie so irrational handeln, nur um dann von den eigentlich erwartbaren Konsequenzen überrollt zu werden. Ein sehr lebensechtes Stück literarischer Fiktion!

Bibliographische Angaben
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite, Zsolnay 2020
ISBN: 9783552059887

Bildquelle
Birgit Birnbacher, Ich an meiner Seite
© 2020 Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien, bei der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderNadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

Mit den grandiosen Romanen der geheimnisvollen italienischen Schriftstellerin, die sich Elena Ferrante nennt und deren Platz in den Bestsellerlisten wirklich einmal ein auch literarisch verdienter ist, scheint hierzulande die Neugier auf italienische Autorinnen sichtbar gewachsen zu sein. Die sich außerdem trotz ganz unterschiedlicher Handlungsentwürfe doch an bestimmten gemeinsamen Interessenfeldern abzuarbeiten scheinen. Letzes Jahr etwa wurde ein Roman von Rosa Ventrella, Die Geschichte einer anständigen Familie, aus dem Italienischen übersetzt, das deutsche Cover erinnert wohl nicht zufällig an die Neapel-Saga Ferrantes; auch Ventrella betont den Bezug zur regionalen Herkunft, die Geschichte spielt in Bari, wo die Autorin auch selbst aufgewachsen ist, es geht auch bei ihr um die sozio-psychologischen Konflikte einer Familie und um die konfliktreichen emotionalen und intellektuellen Bedürfnisse eines in einengenden Traditionen zur jungen Frau heranwachsenden Mädchens.

Auch die junge sizilianische Schriftstellerin und Kinderbuchautorin Nadia Terranova, Jahrgang 1978, die u.a. für den Premio Strega nominiert wurde, kann man in diesem regionalen, weiblichen literarischen Kontext verorten, gleichwohl sie wieder eine ganz eigene Erzählweise hat. Ihr nun ins Deutsche übersetzter Roman über eine junge Frau aus dem sizilianischen Messina, deren an Depression erkrankter Vater aus ihrem Leben und ihrer Familie verschwand, als sie ein dreizehnjähriges Mädchen war, ist ein ganz schmales Buch, das mich mit seiner großen poetischen und psychologischen Dichte sehr beeindruckt hat.

Der sehr übersichtliche Schauplatz der Geschichte, der aber einen großen Raum in die subjektiv erinnerte Vergangenheit der Ich-Erzählerin, Ida, eröffnet, ist das Haus ihrer Eltern bzw. ihrer Mutter in Messina, das überquillt vor allzu lange aufbewahrten Gegenständen und eben auch Erinnerungen. Dorthin kehrt die inzwischen erwachsene Ida, die sich ein neues Leben mit ihrem Mann in Rom konstruiert hat, zu Beginn der Erzählung zurück, nachdem ihre Mutter ihr am Telefon angekündigt hat, das Haus ausräumen, sanieren und verkaufen zu wollen. Sie kommt ohne ihren Mann an diesen Ort ihrer Kindheit und der schmerzhaften Erinnerung zurück, um ihre beiden so verschiedenen Welten, Gegenwart und Vergangenheit, römische Hauptstadt und sizilianische Heimat, die sie allzu säuberlich auseinander hält, nun doch irgendwie in ein Verhältnis zu setzen. Ida ist — und das ist nicht ganz unwichtig — Autorin, sie schreibt Texte fürs Radion, fiktionalisierte Erzählungen, für die sie auf Erlebtes und Beobachtetes zurückgreift. Auf diese Weise schreibt sich die Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend auch metaliterarisch in den Text ein — auch etwas, was an Elena Ferrante erinnert –, wenngleich das an der Oberfläche erfüllte Leben der Erzählerin und Texterin bisher eher einer Fluchtbewegung geschuldet ist, einer Vermeidung jeder tieferen Konfrontation mit der Vergangenheit, die sie daher unbewusst umso schwerer zu belasten scheint.

Die Rückkehr nach Messina stellt insofern einen Wendepunkt in Idas Leben dar, der eine gewisse inwendige Notwendigkeit zu haben scheint. Denn als sie sich in ihrem alten Kinderzimmer wiederfindet, kann sie sich der beängstigenden Versuchung des Blickes zurück, dem sie so lange durch ihre Flucht nach vorne entgangen war, nicht mehr entziehen. Schlaflos, zurückgeworfen auf ihr Inneres, setzt sie sich mit den realen und den ideellen, emotionalen Räumen ihrer Vergangenheit auseinander, öffnet sich für das, was in ihrer Erinnerung überdauert hat, sucht nach den Puzzleteilen ihrer eigenen Geschichte und ihres eigenen Selbst, dessen Autonomie nur im Prozesshaften erlangt werden kann und auch auf der bewussten, kreativen Auseinandersetzung mit den Bildern der Erinnerung beruht. Wesentlich ist dabei das Bewusstsein der Subjektivität, die jeder Wahrheit über die eigene Geschichte innewohnt. So stellt Ida eine schöne Reflexion über das unsichere und doch so faszinierende, schillernde, wandelbare Wesen der Erinnerung an, die zugleich auch als metaliterarischer Kommentar zu lesen ist:

Ich habe mich oft gefragt, ob diese Version der Geschichte vielleicht erst beim späteren Erzählen entstanden ist und schon vorwegnimmt, was ich erst am Nachmittag entdeckte, nämlich, dass mein Vater gegangen war; doch selbst wenn, wäre das erfundene Gefühl wahrer als die Wahrheit. Die Erinnerung ist ein kreativer Prozess, sie wählt aus, setzt zusammen, entscheidet, verwirft; der Roman der Erinnerung ist das unverdorbenste Spiel, das wir spielen.

Nadia Terranova

Und so steht das bewusste Rekonstruieren einer Geschichte auch im Zentrum des Romans von Nadia Terranova. Die narrative Logik der Erzählung entspricht der Suche der Erzählerin nach Identität. Es geht darum, ausgewählten Dingen und Episoden nachträglich Bedeutung und Symbolkraft zu geben, so dass die Ereignisse im Nachhinein Prägnanz erhalten, wie der Philosoph Hans Blumenberg sagen würde, der in dieser dem Prinzip des Mythos folgenden Neigung des Menschen eine anthropologische Veranlagung sieht.

Eine solche Mythisierung findet nach dem Verschwinden des Vaters im Haus der auf Mutter und Tochter reduzierten Familie tatsächlich statt, die Gegenstände erfahren eine magische Aufladung durch eine nicht thematisierte, aber im stummen Einverständnis gesetzte unsichtbare Anwesenheit des Vaters, die sich von Zeit zu Zeit in banalen, aber mythisch aufgeladenen Alltagsphänomen wie sickerndem Wasser zu manifestieren scheint. Der Vater ist verschwunden, sein Verschwinden wird bald auch nicht mehr mit Worten thematisiert, aber er bleibt permanent unterschwellig präsent. Er ist eine Leerstelle, die unablässig auf sich selbst zu verweisen scheint, für Ehefrau und Tochter jedes „normale“ Familienleben, wie Ida es bei den Nachbarn oder Schulkameraden beobachtet, forthin unmöglich macht und von ihr als fehlende Unschuld, fehlende Ausgelassenheit erlebt wird: „Mein Leben lang war ich die Tochter von Sebastiano Laquidaras Abwesenheit.“ (Nadia Terranova)

Doch im Unterschied zu damals wagt es Ida nun, diese Verlusterfahrung, die für sie unbestreitbar ein einschneidendes Erlebnis war, zu benennen und die mythische Kontingenz des zeitlichen Zusammenfalls des väterlichen Verschwindens mit ihrer Menarche, dem Beginn ihrer Pubertät, in einem kreativen Prozess erzählerisch miteinander zu verknüpfen. Die Autorin verwendet das Motiv des Vaterverlusts somit auch, um einen Roman über die Konstruktion einer weiblichen Identität zu schreiben. Die konfliktreiche Beziehung von Mutter und Tochter nimmt entsprechend großen Raum in der Erzählung ein, und es ist schön, wie es der Autorin mit leisen Zwischentönen gelingt, auch die tiefe Verbundenheit, die über die Spannungen und Gereiztheiten hinweg zwischen den beiden Frauen besteht, anzudeuten.

Die poetischen, nachdenklichen Töne, das Gespür für feine, aber sinnige Unterschiede und der unprätentiöse, sehr nah am Ich der Figur orientierte Stil, in dem diese zum Ausdruck gebracht werden, macht die literarische Qualität dieses berührenden Buches aus. So denkt Ida, als sie ihren Erinnerungen an die Großeltern und ihren Vater nachgeht, über Tod, Verlust und Verschwinden nach. Allerseelen wurde in ihrer Familie als Fest der Erinnerung gefeiert, was dem Tod seinen Schrecken nahm. Doch wie anders erlebte sie dann das Verschwinden des Vaters:

So war der Tod, wie ich ihn bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr kannte: eine direkte, blinde Linie, die mit Vererbung und Vergänglichkeit zu tun hatte, ein Ort, von dem die Menschen nur einmal im Jahr zurückkehrten, ein unschönes, aber letztlich fruchtbares Fest. Das war er, und vor ihm hatte ich keine Angst.
Dann, eines Morgens, war mein Vater verschwunden. (…) Der Tod ist ein Fixpunkt, doch das Verschwinden ist das Fehlen eines Punktes oder jedes anderen Satzzeichens am Ende der Wortreihe. Wer verschwindet, schreibt die Zeit um, und ein Reigen aus Obsessionen umgibt die Überlebenden.

Nadia Terranova

Der Roman hat drei Teile, die mit „Der Name“, „Der Körper“ und „Die Stimme“ überschrieben sind und sowohl auf die Erzählerin selbst als auch auf den Vater bezogen werden können. Die Re- und Dekonstruktion der Vergangenheit ermöglicht Ida erst, sich von unbestimmten, unterdrückten Schuldgefühlen freizumachen, die auch die Beziehungen zu anderen Personen, ihrer früheren Freundin, ihren Mann, beeinflussen. Der sakralisierte Raum des abwesenden Vaters, den bildhaft gesprochen nur ihre Mutter und sie selbst betreten durften, machte es schwer, wenn nicht unmöglich, jemanden von außen hereinzulassen. Daher die Rebellion der Tochter, als ihre Mutter eine neue Beziehung eingeht, daher die fehlende Empathie für die beste Freundin, als diese Schmerzhaftes erlebt. Erst unfreiwillig, dann mutiger verlässt Ida allmählich ihre Schutzzone und öffnet die Augen auf ihre Außenwelt, auf andere Schicksale und Erfahrungen.

Es ist ein schmerzhafter Prozess der Erkenntnis, des Sich-Annehmens, den die Erzählerin durchläuft und wir Leser ganz nah mit ihr. Und so wohnt diesem wunderbaren Roman eine von jedem Kitsch befreite Poesie von Schmerz und Hoffnung inne, die einen nachdenklich stimmt und auf magische Weise ganz intensiv berührt.

PS:
Der allzu ausgedehnte deutsche Titel, der für das schlichte italienische „Addio Fantasmi“ gefunden wurde, ist, wie ich finde, etwas irreführend, da er Assoziationen zu Büchern wie von Jonas Jonasson weckt, mit denen Terranovas Erzählung nun so gar nichts zu tun hat.

Bibliographische Angaben
Nadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand, Aufbau Verlag (2020)
Aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen
ISBN: 9783351034849

Bildquelle
Nadia Terranova, Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

bookmark_borderLeif Randt: Allegro Pastell

Man weiß nicht so recht, was man von Tanja Arnheim und Jerome Daimler, den beiden Anfang 30-jährigen Protagonisten von Allegro Pastell, einem ziemlich konsequenten Porträt der Generation der Millennials, halten soll. Irgendwie habe ich sie im Laufe der Lektürezeit, die erstaunlich kurzweilig war, doch ziemlich lieb gewonnen, aber sie nerven einen auch mit ihrer gar so abgeklärten, wenn auch nicht unsensiblen Art, mit ihrem Leben und dem der anderen umzugehen. Man könnte Leif Randt vorwerfen, zu stark an der Oberfläche zu bleiben und auch sprachlich etwas umständlich zu formulieren — doch genau dieses Sich-Abarbeiten an Oberflächen (des Stils, des Konsums, der Bildschirme, der sozialen Netzwerke, der sexuellen Beziehungen und eben auch der Kommunikation und Meta-Kommunikation) scheint das Leben wenn nicht der ganzen Generation, so doch zumindest der Protagonisten des Romans im Kern auszumachen. Insofern ist der Text in sich absolut stimmig — und vielstimmig auslegbar: ironisch, satirisch oder eben doch — als zwiespältiges Abbild seiner Figuren — der verzweifelte Versuch, Authentizität zu inszenieren.

Tanja und Jerome führen eine halbwegs feste Beziehung, legen aber Wert darauf, sich ihre Freiheiten und Freiräume zu lassen. Jeder hat seinen eigenen Freundeskreis und seine eigene Wohnung, Tanja in Berlin, Jerome im Maintal bei Frankfurt, wo er den Bungalow seiner längst geschiedenen Eltern bewohnt. Als größter Quell der Scham gilt die Verletzlichkeit, die man auf keinen Fall zulassen will. Vielmehr nährt man das eigene Selbstbild mit dem Streben nach einem gelassenen und toleranten Umgang, einer Coolness, die zugleich offen für ein gesteuertes Maß an Empfindsamkeiten ist. Auch der Rausch hat seinen Platz in einem derart abgerundeten Leben, freilich streng dosiert und kontrolliert. Gleichwohl werden im Lauf der Erzählung Risse in den solcherart gestalteten Oberflächen deutlich. So gibt Jerome etwa innerlich zu, alles andere als aufrichtig zu sein, wenn er behauptet, mit allen Exfreundinnen weiterhin in locker freundschaftlichem Kontakt zu sein, wie es vermeintlich von ihm erwartet wird. Und ist Tanja nicht weitaus tiefer getroffen als sie es für möglich gehalten hätte, als sie von Jeromes neuer Beziehung erfährt?

Zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaften ebenso wie romantische oder sexuelle Beziehungen, definieren sich in dieser Welt vor allem über Stil- und Geschmacksfragen, werden durch diese am Leben erhalten oder gehen an ihnen zugrunde — was dann recht lautlos geschieht, dem Abbruch medialer Kommunikation entsprechend, die das körperliche Zusammensein zuvor oft nicht nur ergänzte, sondern diesem gar nicht selten sogar vorgezogen wurde. Alles kreist darum, seinen eigenen Stil zu finden und zu haben, aber auch den der anderen zu tolerieren, auch wenn man ihn insgeheim belächelt, so dass das Leben aus einem quasi dialektischen Pingpongspiel eines steten Austauschs von stilbestätigenden und stilformenden Meinungen besteht.

Vor allem aber möchten Leif Randts Darsteller unserer Gegenwart ihre Freiheit, ihre Fitness, ihre Sexualität, ihren beruflichen Erfolg, ihre Partys genießen, ohne sich durch äußere oder innere Grenzen einschränken zu lassen — kurz gesagt, sie wollen eine „gute Zeit“ haben. In solche Diskurse bettet Leif Randt seine Geschichte derart engmaschig ein, dass es eigentlich unbedingt ironisch gemeint sein muss; fast jeder Satz enthält Anspielungen auf angesagte Lifestyle-Debatten und wiedererkennbare Schlagworte unserer Gesellschaft. Da die Figuren zu allem eine Meinung haben, alles bewerten, einordnen und vergleichen, investiert der Autor entsprechend viele Worte darein zu berichten, was er oder sie zu einer Sache denkt und welche Haltung er oder sie zu etwas einnimmt. Diese stilistische Umständlichkeit äußert sich formal in der Bevorzugung indirekter Rede — wörtliche Rede kommt in Form explizit kursiv hervorgehobener Dialoge deutlich seltener vor, häufiger aber in Form einer anderen Art vermittelter Kommunikation, nämlich als Austausch von Mails oder Textnachrichten über diverse Messengerdienste.

Der vermittelten Art der Kommunikation entspricht auch das neuartige Menschen- und Weltbild, das trotz ständiger Optimierungsversuche sich einer stabilen Form erst recht immer mehr entzieht. Die Persönlichkeiten setzen sich mehr aus ihren fluktuierenden, kurzlebigen Haltungen und Meinungen zusammen als aus ihrem Handeln oder ihrem Charakter. Und so ist auch das Individuum einer permanenten Bewertung ausgesetzt: Ein einzelner Satz, den es geäußert hat, eine bestimmte Reaktion oder ein Kleidungsstück können so auch eine Beziehung von Grund auf verändern.

Der Roman zeigt, dass eine derart offensiv ausgelebte Freiheit, in der Stilfragen zur existenziellen Rückversicherung mutieren, ihre Kehrseite in einem gestiegenen Druck der Selbstoptimierung findet. Denn die Coolness ist gar nicht so leicht aufrechtzuerhalten, wenn man sich zu allem noch so Banalem irgendwie verhalten muss und alles noch so Alltägliche mit dem eigenen Lebensstil in Einklang zu bringen versucht. Die angestrebte Individualität führt sich durch ihre immer perfektere Inszenierung letztlich selbst ad absurdum.

Die Protagonisten von Allegro Pastell, deren liebstes Spielzeug Smartphone und Computer sind, sind ziemlich gut darin, Authentizität zu inszenieren — doch immerhin auch feinnervig genug, eine innere Unruhe darüber zu verspüren, die den Widerspruch darin ahnen lässt.

Bibliographische Angaben
Leif Randt: Allegro Pastell, Kiepenheuer & Witsch (2020)
ISBN: 9783462053586

Bildquelle
Leif Randt, Allegro Pastell
© 2020 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

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