bookmark_borderLeïla Slimani: Le pays des autres

Im ersten Teil ihrer auf drei Bände angelegten marokkanischen Familiensaga zeigt Leïla Slimani eindrucksvoll, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich habe das Buch kaum auf die Seite legen wollen, so mitreißend und einfühlsam entfaltet die Autorin die Auswirkungen der großen, von geschichtlichen Tumulten erschütterten Welt auf die kleine marokkanisch-französische Familie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem kargen Land bei Meknès niederlässt. Wer Slimanis mit dem Goncourt 2016 ausgezeichneten Roman Chancon douce (dt. „Dann schlaf auch du“) gelesen hat und von dieser zutiefst schockierenden und zugleich behutsam erzählten Geschichte begeistert war, wird zunächst vielleicht überrascht sein. Denn mit ihrem neuen Roman betritt sie ein Terrain, das von der Tragödie, die sich zwischen einer modernen Pariser Familie und ihrem in prekären Verhältnissen lebenden, vereinsamten Kindermädchen abspielt, Welten entfernt zu sein scheint. Doch was man sofort wiedererkennt, ist die schlicht-poetisch schöne, sofort vereinnahmende Sprache, mit der Slimani ihre Leser ab der ersten Seite in ihre Geschichte hineinzuziehen versteht.

Le pays des autres (dt.: „Im Land der anderen“), der nun auf Französisch erschienene erste Teil der Trilogie, umfasst den Zeitraum von 1944 bis 1956 und ist zum Teil autobiographisch inspiriert; Slimanis aus dem Elsässer Bürgertum stammende Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg einen algerischen Soldaten der französischen Kolonialarmee kennenlernte und mit ihm nach Marokko ging, war wohl das Vorbild für die Elsässerin Mathilde, die im Roman den Marokkaner Amine heiratet, mit ihm in seine Heimat zieht und dort ihre beiden gemeinsamen Kinder Aïcha und Selim aufzieht.

Mathilde und Amine sind ein zunächst leidenschaftlich verliebtes und optisch schönes, wenn auch sehr ungleiches Paar: Sie ist groß und blond, er ist dunkel und attraktiv und um einiges kleiner als sie. Sie verlässt ihre kriegsversehrte Heimat Frankreich, um mit ihrer großen Liebe im exotischen Marokko eine eigene Familie zu gründen, er kehrt nach dem Kriegseinsatz in Frankreich mit einer französischen Frau an seiner Seite zu seinen Wurzeln zurück und möchte das Land, das sein verstorbener Vater ihm als ältestem Sohn hinterlassen hat, modern bewirtschaften und zum Blühen bringen. Doch so wie Mathilde bald bewusst wird, dass ihre romantischen Erwartungen in der marokkanischen Realität enttäuscht werden und sie mit ihrem modernen Verständnis der Rolle der Frau und auch in ihrer ambivalenten Rolle als Französin und Frau eines Marokkaners zu kämpfen hat — bei den Gattinnen der französischen Kolonialbeamten fühlt sie sich nicht minder als Außenseiterin als unter ihren einheimischen Nachbarn und der marokkanischen Familie ihres Mannes –, wachsen auch Amine die Herausforderungen, die nicht nur landwirtschaftlicher, sondern auch kultureller und gesellschaftlicher Natur sind, zunehmend über den Kopf und bedrohen den inneren Frieden seiner Familie.

Rund um Mathildes und Amines kleine Familie entwirft die Autorin einen vielfältigen, aber stets überschaubaren Figurenkosmos, der auf sehr literarische Weise, nämlich über die narrative und dialogische Schilderung von Szenen, die Einblick in den Charakter und das von den äußeren Ereignissen geprägte Innenleben der Figuren geben, ein differenziertes Panorama der marokkanischen Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre vermittelt. Überhaupt zeigt sich in den vielen Szenen, in denen Slimani die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren in großer Lebendigkeit und Poesie aufleben lässt, ihre Kunst, den Leser zum Mitfühlen zu bewegen, ohne sich deshalb mit dem oft ambivalenten Verhalten der Figuren kritiklos zu identifizieren. Ohne textliche Ausschweifung arbeitet sie das Wesentliche heraus, gibt den Figuren Raum und den Lesern die Möglichkeit, für einen Moment in ihre Empfindungen und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswelten einzutauchen. Besonders nahe gehen einem dabei die Ängste, Sorgen und Hoffnungen von Mathildes und Amines Tochter Aïcha, etwa wenn sie voll furchtsamem Widerwillen das erste Mal die französische katholische Schule in der Stadt besucht, in der sie mit den auf sie zugleich fremd und faszinierend wirkenden Töchtern der Algerienfranzosen zusammenkommt, unter denen sie ein spöttisch belächelter Fremdkörper bleibt. Zwar macht sie in der Schule rasch Fortschritte und findet in einer der Schwestern eine ihr wohlwollende Beschützerin, doch ihre halbmarokkanische Herkunft, ihr auf die Mitschülerinnen rückständig wirkendes Zuhause auf dem Land weitab der kolonial geprägten Stadt und ihr introvertierter Charakter scheinen sie in ihrer Außenseiterposition festzunageln. Slimani zeichnet ein sehr sensibles Porträt des innerlich zerrissenen kleinen Mädchens, dessen mystisch veranlagte, sehnsüchtige, sehr intelligente Persönlichkeit auch eine grausame Seite aufweist, die aus dem Schmerz erwächst.

Immer wieder kreist die Geschichte um die konfliktreiche Frage der Zugehörigkeit und Herkunft, deren Ambivalenz sich am Beispiel einer halbfranzösischen-halbmarokkanischen Familie eindrücklich entfalten lässt. Es geht um Fragen von Herrschaft und Macht, um rassistische Arroganz, aber auch um Einsamkeit, Wut, Unverständnis, Verletzung und Verletzlichkeit. Der hybride Zitrusbaum, der „citrange“, eine Kreuzung aus Zitronen- und Orangenbaum, den Aïcha mit ihrem Vater pflanzt, nimmt in der Geschichte die Funktion einer Metapher ein. Die hybriden Früchte sollen ihrer Umwelt resistenter gegenüberstehen, doch haben sie auch einen fast ungenießbar bitteren Geschmack. In diesem Sinne ist auch Aïcha, die als Tochter einer Französin unter den marokkanischen Landarbeitern fernab des europäisch geprägten Stadtlebens aufwächst, aber zugleich Weihnachten unter einem aus dem Nachbargrundstück gestohlenen Nadelbaum feiert, eine solche Frucht, die ihre hybride Herkunft teils bitter zu spüren bekommt, ebenso wie ihre Eltern, die als „couple mixte“ von allen Seiten misstrauisch beäugt werden: Amine, der mit seiner blonden Frau und seiner Vergangenheit im Dienst der Kolonialarmee den Marokkanern zu französisch, seiner Frau hingegen zu stark den marokkanischen Traditionen verhaftet ist, und Mathilde, die immer wieder als Europäerin auffällt, wenn sie sich etwa sehr zum Unbehagen Amines dem traditionellen Teetrinken der Männer anschließt, wenn sie darauf besteht, dass ihre Schwägerin in die Schule geht oder ihr Hausmädchen von oben herab behandelt, und als Frau eines marokkanischen Bauern zugleich keinerlei Status bei der französischen Bevölkerung hat.

Le pays des autres ist somit auch ein (post)kolonialistischer Roman, der vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte zwischen den französischen Besatzern und den marokkanischen Unabhängigkeitskämpfern spielt. Die Autorin schildert, wie die politischen Unruhen und die zunehmende Gewalt Zwietracht und Schmerz auch innerhalb von Familien säen. Nach dem Tod des Vaters herrscht zwischen den Söhnen eine unterschwellige Konkurrenz, die Omar, den jüngeren Bruder Amines, in den bewaffneten Kampf treibt. Eifersüchtig auf die Auszeichnungen seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg, entwickelt er einen umso größeren Hass auf die französischen Besatzer, für die sein Bruder einst gekämpft hat, überwirft sich mit Amine und verlässt sein Elternhaus, um sich den Unabhängigkeitskämpfern anzuschließen. Das Ineinander von persönlicher Biographie einerseits und dem mächtigen Einfluss der Geschichte andererseits, die bei Omars Rebellion zum Ausdruck kommt, tritt im Verlauf des Romans immer wieder zum Vorschein.

Vor dem Hintergrund der anderen Texte der Autorin ist es nicht überraschend, dass Kolonialismus und Sexualität hier eng miteinander verwoben werden und das Verhältnis von Männer- und Frauenrollen Machtstrukturen aufdeckt, die mit den kolonialen Herrschaftsbeziehungen verwandt sind. Isabela Figueiredo, deren literarisierte Erinnerungen an ihre Kindheit im portugiesischen Kolonialreich unter dem Titel Roter Staub vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurden, schildert übrigens genau diesselbe Verflechtung der Unterwerfung der Frau und der kolonisierten Afrikaner in Bezug auf das portugiesische Kolonialsystem. Slimani selbst hat in ihrem Essay Sexe et mensonges (2017) die Situation der Frauen in Marokko untersucht und tritt für die Legalisierung der Abtreibung in dem Land ein, in dem sie geboren wurde. Dem Zusammenhang von weiblichem Begehren und Freiheit ging sie auch in ihrem Roman Dans le jardin de l’ogre (2014) nach. Wenn sie nun in Le pays des autres Beziehungen zwischen Männern und Frauen darstellt, wirkt das nie thesenhaft, sondern wird stets mit viel Gespür für die feinen Töne erzählt. Besonders unter die Haut geht die Geschichte von Selma, der bildhübschen jüngeren Schwester Amines, die sich in einen jungen Franzosen verliebt und erste Anstalten macht, sich aus dem für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rahmen zu lösen.

Selma, la veille, avait embrassé un garçon. Et depuis, elle ne cessait de se demander comment il était possible que les hommes qui l’empêchaient, qui la dominaient, soient aussi ceux pour qui elle avait tant envie d’être libre. (…) Depuis hier, sans cesse, elle avait besoin de fermer les yeux pour vivre encore, avec une excitation jamais tarie, ce moment délicieux. (…) Elle était comme prisonnière de ce souvenir (…). À chaque fois qu’il avait posé ses lèvres sur sa peau, il lui avait semblé qu’il la délivrait de la peur, de la lâcheté dans laquelle on l’avait élevée.

Était-ce à ça que servaient les hommes? Était-ce pour cela qu’on parlait tant d’amour? (…) Comme ils ont raison de se méfier et de nous mettre en garde car ce que nous cachons là, sous nos voiles et nos jupons, ce que nous dissimulons est plein d’un feu pour lequel nous pouvons tout trahir.

Selma hatte am Vortag einen Jungen geküsst. Und seitdem fragte sie sich unablässig, wie es möglich sein konnte, dass dieselben Männer, die ihr im Weg standen, die sie beherrschten, auch die waren, für die sie so große Lust verspürte, frei zu sein. (…) Seit gestern musste sie immerzu ihre Augen schließen, um wieder und wieder, mit einer nie versiegenden Erregung, diesen köstlichen Moment zu erleben. (…) Sie war wie gefangen von dieser Erinnerung (…). Jedesmal, wenn er mit seinen Lippen ihre Haut berührt hatte, war es ihr vorgekommen, als ob er sie von der Angst, von der Feigheit, in der sie erzogen worden war, befreite.
Waren die Männer dazu gut? War das der Grund, weshalb man so viel von Liebe sprach? (…) Wie Recht sie doch haben, dem zu misstrauen und uns davor zu warnen, denn was wir dort verbergen, unter unseren Schleiern und unseren Unterröcken, was wir dort verbergen, enthält ein Feuer, für das wir alles verraten können.

Slimani: Le pays des autres, S. 283 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Doch in dem gewaltsamen gesellschaftlichen Kontext der 1950er Jahre ist der Konflikt vorgezeichnet. Als ein Fotograf von dem schönen jungen Paar ein Foto macht und es in seinem Laden ausstellt, fliegt die Liebesgeschichte ebenso auf wie die heimlichen Ausbrüche, die Selma während ihrer Schulzeit in die Freiheit der Stadt unternimmt. Amine, der ja selbst mit einer Französin verheiratet ist, entdeckt das Foto durch Zufall im Schaufenster, rastet aus und die erträumte Freiheit der jungen Frau endet in einer überstürzten Zwangsheirat.

Slimani gelingt es, das Auf und Ab der Sehnsüchte und Enttäuschungen in ihrer ganzen Ambivalenz in einer so gelungenen Balance aus mitreißender Unmittelbarkeit und reflektierender Distanz darzustellen, dass man nach der letzten Seite dieses ersten Bandes unbedingt nach einer Fortsetzung verlangt. Die ist auch geplant, jedoch erst für 2022 mit dem zweiten Teil, der die Zeit von 1970-1980 umfassen soll, in dem die Tochter Aïcha als junge Erwachsene im Zentrum steht, während Marokko von den Attentaten auf den König Hassan II. erschüttert wird, und für 2024 mit dem dritten Teil, in dem mit der Generation von Aïchas Kindern die globalisierte und vom islamistischen Terror geprägte Gegenwart erreicht wird. Wir brauchen also noch etwas Geduld, aber wenn die Autorin dem Stil des ersten Teils treu bleibt, wird sich das Warten auf jeden Fall lohnen!

Leïla Slimani: Le pays des autres, Gallimard (2020)
ISBN:  9782072887994

bookmark_borderAnna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli

Neapel liegt nicht am Meer“ — Italienkenner und -liebhaber mögen sich wundern, doch die Schriftstellerin Anna Maria Ortese (1914-1998), die diesen Band mit Erzählungen und literarischen Reportagen über Neapel zum ersten Mal 1953 veröffentlichte und selbst lange Jahre in der Stadt lebte, wirft hier einen anderen, ungewohnten und dennoch wahrhaftigen Blick auf die berühmte Stadt am Mittelmeer: ein Blick, geprägt von Elend, Armut, Verzweiflung, aber auch von träumerischen Anwandlungen der Hoffnung und einem mal kämpferischen, mal resignierten Durchhaltevermögen, von sozialen Ungleichheiten und engen Familienstrukturen, und bevölkert von all den vielen und vielseitigen, zugleich abstoßenden und faszinierenden Charakteren, denen die Autorin bei ihrer Rückkehr in die Stadt ihrer Jugend nach dem Krieg begegnete.

Der Matthes & Seitz Verlag hat nun das Buch, das bisher nur noch antiquarisch unter dem Titel „Neapel — Stadt ohne Gnade“ in einer Übersetzung von 1955 zu haben war, in neuer und zum ersten Mal vollständiger Übersetzung herausgebracht — und schon ist das Buch wieder vergriffen und harrt einer Neuauflage. Turbulent ist die Verlagsgeschichte des Buches von Beginn an. Als es 1953 beim Verlag Einaudi erscheint, wird es von großen Teilen der italienischen Kulturszene als Buch „contro Napoli“, gegen Neapel, verurteilt; die Stadt Neapel — und vor allem auch die jungen journalistischen und schriftstellerischen Kollegen, die Ortese in einem der in diesem Band versammelten Texte mit einem für sie typischen, desillusionierend scharfen Blick wohl allzu kritisch porträtiert, erscheinen der intellektuellen Öffentlichkeit in so unlieb düsterem Licht, dass die talentierte junge Schriftstellerin ungeachtet der Preise, die sie für ihre Werke erhält, lange Zeit als Außenseiterin der damaligen Kulturwelt Italiens gilt und mit Geldsorgen zu kämpfen hat. Damals hielt sie es übrigens für das Beste, Neapel zu verlassen; sie lebte nie mehr in der Stadt, deren Charakter sie literarisch so beeindruckend eingefangen hatte; nur in ihren literarischen Texten kehrte sie doch immer wieder an diesen Ort zurück.

1994 legte der Adelphi Verlag ihr Neapel-Buch neu auf; im Vorwort ordnet die Autorin ihren einst so heftig kritisierten hoffnungs- und skrupellosen Blick auf Neapel in ihre Poetik des Irrealen ein, das ihren literarisch verdichteten schriftstellerischen Blick auf die Wirklichkeit charakterisiert, der, wie sie betont, immer auch ein subjektiv-poetischer ist. Ortese verlor in der Zeit, als sie an dem Buch arbeitete, nacheinander beide Eltern, davor waren schon zwei ihrer Brüder verunglückt. Der Tod ihres ersten Bruders, den sie mit dem Schreiben von Gedichten verarbeitete, war wohl auch der Anstoß zu ihrer literarischen Karriere. Vor diesem biographischen Hintergrund lässt sich die folgende Äußerung über ihren auch persönlich geprägten Blick auf Neapel besser verstehen:

Io, invece, mancava di radici, o stavo perdere le ultime, e attribuii alla bellissima città questo ’spaesamento‘ che era soprattutto il mio.

Ich hingegen hatte keine Wurzeln mehr, oder war gerade dabei, die letzten zu verlieren, und schrieb daher der wunderschönen Stadt ein ‚Unbehagen‘ zu, das vor allem mein persönliches war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Nicht nur in ihren literarischen Reportagen, in denen sich Journalistisches und Poetisches mischt, sondern etwa auch in der 1975 erschienenen neuartigen autobiographischen Erzählung Il Porto di Toledo. Ricordi della vita irreale — das die der Wirklichkeit eingeschriebene Irrealität bereits im Titel trägt — experimentiert sie mit Stilen und Genres. Trotzdem bezeichnet Ortese auch Jahrzehnte später ihre Neapel-Texte, wenn auch als subjektiv literarisiert, so doch unbedingt als wahrhaftig:

Erano molto veri i dolore e il male di Napoli, uscita in pezzi dalla guerra.

Sie waren sehr real, der Schmerz und das Leid Neapels, das in Trümmern aus dem Krieg hervorgegangen war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage bei Adelphi 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Gattungsfrage ist auch in Il mare non bagna Napoli hochspannend und es ist überaus faszinierend, wie der sehr wiedererkennbare, poetisch dichte Stil, ihr entlarvend-einfühlsames und auf sehr genauen, in die Tiefe und ins Detail gehenden Beobachtungen beruhendes Schreiben sich fast unmerklich von der fiktiven Erzählung weg und ins Essayistische hineinbewegt. Während die ersten beiden Texte noch eindeutig als Fiktion bezeichnet werden können, würde man die folgenden doch eher Reportagen nennen, in denen das Journalistische jedoch nie ohne das Literarische, Poetische auskommt.

„Un paio di occhiali“ heißt die Erzählung, mit der man als Leser in Orteses neapolitanische Welt eingeführt wird. Die Hauptfigur ist Eugenia, ein kleines Mädchen, das sehr schlecht sieht und daher ihre ärmliche Umwelt noch nie in all ihrer Schärfe zu Gesicht bekommen hat. Voll Stolz und Vorfreude, ja geradezu euphorisch, wartet sie auf ihre erste Brille, die sich ihre arme Familie gewissermaßen vom Leibe abgespart hat; immer wieder wird betont, dass ihre Tante Nunzia beim Optiker dafür 800 Lire bezahlt hat. Endlich ist es nun soweit, ihre Mutter holt die Brille ab und die ganze Nachbarschaft hat sich auf dem schmutzigen Innenhof versammelt, um das fast biblische Ereignis zu verfolgen, wenn Eugenia zum ersten Mal ihre neue Brille aufsetzt und sehend wird. Doch alle Erwartungen werden gebrochen, Eugenia ist völlig überfordert mit dem, was sie nun auf einmal in aufdringlicher Schärfe zu sehen bekommt — und ihr wird übel:

Come un imbuto viscido il cortile, con la punta verso il cielo e i muri lebbrosi fitti di miserabili balconi; (…) il selciato bianco di acqua saponata, le foglie di cavolo, i pezzi di carta, i rifiuti, e, in mezzo al cortile, quel gruppo di cristiani cenciosi e deformi, coi visi butterati dalla miseria e dalla rassegnazione, che la guardavano amorosamente. Cominciarono a torcersi, a confondersi, a ingigantire.

Der Hof wie ein klebriger Trichter, dessen Spitze zum Himmel zeigte, und die Mauern wie Aussätzige mit erbärmlichen Balkonen übersät; (…) das vom Seifenwasser weiße Pflaster, die Blätter von Kohlköpfen, die Papierfetzen, der Müll und in der Mitte des Hofes jene zerlumpte und entstellte Christengruppe, mit ihren vom Elend und der Resignation pockennarbigen Gesichtern, die sie liebevoll anschauten. Sie begannen sich zu verdrehen, zu verschwimmen, sich riesenhaft zu vergrößern.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 33 (Übersetzung der Rezensentin)

Im entsetzten Blick des Mädchens, das die sie umgebende Hässlichkeit der Armut wie ein Schock trifft, offenbart sich das ganze Elend der Hausgemeinschaft. Doch selbst innerhalb dieses einen Wohnblocks zeigt sich auch die soziale Ungleichheit, die Ortese im Nachkriegsneapel immer wieder beobachtet. Denn das obere Stockwerk gehört einer wohlhabenderen Dame, die Verwandte im reichen Viertel Posillipo hat und der alle übrigen Hausbewohner mit geradezu andächtiger Ehrfurcht begegnen. Die Arroganz, die ihrer zur Schau gestellten Großzügigkeit innewohnt, entlarvt die Autorin in einer Szene, als Eugenia die Gnade erfährt, ein altes, abgetragenes, fadenscheiniges Kleid von ihr zum Geschenk zu bekommen. Doch wie staunt Eugenia, als sie auf den Balkon ihrer reichen Nachbarin tritt, der mit seiner Aussicht auf das nahe und doch so ferne Meer zum Zeichen des höheren gesellschaftlichen Ranges wird, während das Sehen für die Armen entweder unmöglich ist oder zur Qual wird.

Uscì sul balcone. Quant’aria, quanto azzurro! Le case, come coperte da un velo celeste, e giù il vicolo, come un pozzo, con tante formiche che andavano e venivano… come i suoi parenti (…). E intorno, quasi invisibile nella gran luce, il mondo fatto da Dio, col vento, il sole, e laggiù il mare pulito, grande… Stava lì, col mento inchiodato sui ferri, improvvisamente pensierosa, con un’espressione di dolore che la imbruttiva, di smarrimento.

Sie trat auf den Balkon hinaus. Wie viel Luft, wie viel Blau! Die Häuser, wie bedeckt von einem himmlischen Schleier, und unten die Gasse, wie ein Schacht, mit lauter Ameisen, die hin und herliefen… wie ihre Eltern (…). Und ringsum, fast unsichtbar in all dem Licht, die Welt, die Gott gemacht hatte, mit dem Wind, der Sonne, und da unten das saubere, weite Meer… Dort stand sie, das Kinn wie festgenagelt auf dem Geländer, plötzlich ganz nachdenklich, mit einem Ausdruck des Schmerzes, des Verlustes, der sie hässlich aussehen ließ.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 30 (Übersetzung der Rezensentin)

Die zweite Erzählung, „Interno familiare“, schildert ein kleinbürgerliches „Familienintérieur“. Schonungslos und zugleich einfühlsam werden wir als Leser in das für Frauen ab einem gewissen Alter hoffnungslose Milieu herangeführt sowie an die nicht mehr ganz junge Anastasia, die älteste Tochter einer Familie, deren väterliches Oberhaupt gestorben ist, und die sich in einem letzten Aufbäumen ihrer Sehnsucht für die kurze Dauer eines Tages einer unerfüllbaren Hoffnung hingibt. Als Anastasia nämlich von der Rückkehr eines Jugendfreundes erfährt, der lange auf See unterwegs war, gerät sie in Tagträume — Träume ganz bescheiden anmutender Art, dass sie als Frau doch noch begehrt werden, ja vielleicht sogar noch heiraten könnte –, die den Familienfrieden dennoch zu erschüttern drohen:

Con una vera angoscia, capiva che l’equilibrio, la pace della famiglia erano in pericolo, se la colonna di quella casa s’inteneriva.

Mit einer wahren Angst begriff sie (die Mutter), dass das Gleichgewicht, der Familienfrieden in Gefahr waren, wenn die Säule dieses Hauses in Rührung geriete.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 52 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn Anastasia, die „Säule des Hauses“, verdient nach dem Tod des Vaters mit ihrem eigenen Strickwarenladen das Geld für die ganze Familie, sie übernimmt auf Kosten ihrer eigenen Träume die Verantwortung für ihre Geschwister und deren künftige Kinder, für ihre Tante und für ihre Mutter, die ihr ihre jüngere, kränkliche Tochter vorzieht und Anastasia unsanft, fast abfällig behandelt und doch zugleich liebt und genau weiß, welches Opfer sie von ihrer Ältesten wie selbstverständlich erwartet. Angesichts der erstickenden Strukturen, in denen sich die Frauen ihrer sozialen Schicht damals in Neapel bewegten, begreift man die Kühnheit und Vergeblichkeit, ja die Irrealität des so harmlos anmutenden Traums von Anastasia:

Non poteva pensare, vivere. Qualche cosa era vivo in lei, e neppure poteva dirlo. Questa era la sua bontà, la sua forza, questa incapacità d’intendere e di volere una vita sua. Soltanto ricordare poteva, di quando in quando, vedere, e poi subito quel lume, quel paesaggio era spento.

Sie konnte nicht denken, nicht leben. Etwas in ihr war lebendig, und sie konnte es nicht einmal ausdrücken. Dies war ihre Güte, ihre Stärke, diese Unfähigkeit, etwas anzustreben und ein eigenes Leben haben zu wollen. Sie konnte sich nur erinnern, von Zeit zu Zeit etwas sehen, und dann plötzlich war jenes Licht, jene Landschaft wieder erloschen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 40 (Übersetzung der Rezensentin)

Vor Tränen sieht auch Anastasia — wie Eugenia in der ersten Erzählung — kaum etwas, ihr verschwommener Blick weiß den Hafen, an dem das Schiff ihres Jugendfreundes ankert, nur einen Kilometer entfernt, der für sie jedoch eine unüberbrückbare Distanz darstellt; doch der Schmerz erlischt zusammen mit ihrer Sehnsucht so schnell, wie er gekommen ist, und Anastasia fügt sich ohne Hoffnung und ohne Klage wieder in die von ihr erwartete Rolle.

Die sich anschließenden Kapitel nähern sich dem Genre der Reportage und des Essays an und sind allesamt aus einer Ich-Perspektive erzählt, die man wohl mit derjenigen der jungen Journalistin Ortese gleichsetzen kann. In „Oro a Forcella“ läuft sie, mit wachem Blick alle möglichen Szenen und Charaktere einfangend, durch eine Straße, in der sich die Menschen dicht an dicht drängen, beobachtet und macht sich Gedanken über das so eigene Elend der Stadt:

Una miseria senza più forma, silenziosa come un ragno, disfaceva e rinnovava a modo suo quei miseri tessuti, invischiando sempre più gli strati minimi della plebe, che qui è regina. (…) Qui, il mare non bagnava Napoli. Ero sicuro che nessuno lo avesse visto (…). In questa fossa oscurissima, non brillava che il fuoco del sesso, sotto il cielo nero del sovrannaturale.

Ein Elend, das keine Form mehr annahm, das still war wie eine Spinne, zerstörte und erneuerte auf seine Weise jene elenden Netze, indem es die kleinsten Schichten des Pöbels, der hier regierte, immer dichter einwickelte. (…) Hier lag Neapel nicht am Meer. Ich war sicher, dass niemand hier es gesehen hatte. (…) In dieser stockfinsteren Grube leuchtete nichts als das Feuer des Sex, unter dem schwarzen Himmel des Übernatürlichen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 67 (Übersetzung und Hervorhebung der Rezensentin)

Dieser extrem verdichtete, bildhafte Stil ist typisch für Ortese und zeigt, welche Literarizität und fast ins Mythische reichende psychologische Tiefenbohrung auch denjenigen ihrer Texte innewohnt, die bereits mehr in Richtung Reportage gehen.

In diesem Sinne weist auch das auf den ersten Blick sehr journalistisch anmutende Kapitel „La città involuntaria“ irrealisierende, mythisch-metaphorische Tendenzen auf, die Ortese aber unmittelbar aus sehr präzisen Beobachtungen der Wirklichkeit hervorgehen lässt. Wie in ihren Kurzgeschichten verwendet sie auch hier eine große literarische Einfühlsamkeit auf jede einzelne der beschriebenen Figuren, auch dann, wenn die berichterstattende Erzählerin nur einen kurzen, aber nicht weniger intensiven Blick auf sie erhaschen kann. Die „unfreiwillige Stadt“ ist ein riesiges Industriebauwerk am Hafen — die III e IV Granili, ehemalige Kornspeicher –, in dem nach dem Krieg unzählige Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Wiederum befindet sich dieses Gebäude räumlich ganz nah an Neapels Meer, doch die meisten seiner Bewohner bekommen es nie ins Gesicht; statt in mediterranem Ambiente leben sie inmitten einer feuchten Dunkelheit, die allenfalls von künstlichem Licht durchbrochen wird.

Die Journalistin folgt einer „guida“, die sie in einer Art Céline’schen Reise ans Ende der Nacht tief hinein in das riesige kerkerkafte Gebäude führt und ihr Szenen zu sehen gibt, in denen sich das Elend der eingepferchten Menschen nackt und schonungslos offenbart. Es ist wie ein Eintritt in die Hölle, Schmutz, Blut, Urin, Finsternis, Hunger, Tod beherrschen das Innere des Gebäudes. Und wie in Dantes Unterwelt gibt es auch hier gewisse hierarchische Abstufungen der Qual; je höher die Etage liegt, desto größer der Komfort und Lebensmut, und sei er nur illusorisch, und je tiefer, desto schmutziger, dunkler und erbärmlicher ist auch der Zustand der Zimmer und ihrer Bewohner. Letztlich gibt es nur eine Richtung, die nach unten:

Evitavano qualsiasi contatto con i cittadini dei primi piani, mostrando per la loro abiezione una severità non priva di compassione (…). Non risaliva più nessuno, da giù. Non era facile risalire quei gradini in apparenza piani e comodissimi. C’era qualcosa che chiamava, da giù, e chi cominciava a scendere era perduto (…).

Sie (die Bewohner der oberen Etage) vermieden jeden erdenklichen Kontakt mit den Bürgern aus den ersten Etagen und legten dabei für deren Verworfenheit eine Strenge an den Tag, die nicht ohne Mitleid war (…). Von dort unten kam niemand mehr nach oben. Es war nicht leicht, jene dem Schein nach so ebenen und bequemen Stufen zu erklimmen. Da war etwas, das nach einem rief, einen nach unten zog, und wer den ersten Schritt nach unten getan hatte, war verloren (…).

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 87 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Besonders unter die Haut geht die Schilderung der Kinderschicksale, von denen die Erzählerin berichtet. Ein Junge bricht plötzlich tot zusammen, eine Trauerfeier wird improvisiert und niemand ist allzu überrascht über das Vorkommnis, das längst kein Einzelfall ist; ein kleines zweijähriges Mädchen, das so klein und schwächlich ist, dass es die Erzählerin erst für ein Neugeborenes hält, hat in ihrem Leben bisher nur ein einziges Mal das Tageslicht gesehen.

Questa infanzia, non aveva d’infantile che gli anni. Pel resto, erano piccoli uomini e donne, già a conoscenza di tutto, il principio come la fine delle cose, già consunti dai vizi, dall’ozio, dalla miseria più insostenibile, malati nel corpo e stravolti nell’animo, con sorrisi corrotti o ebeti, furbi e desolati nello stesso tempo. Il novanta per cento, mi disse la Lo Savio, sono già tuberculotici o disposti alla tubercolosi (…). Assistono normalmente all’accoppiamento dei genitori, e lo ripetono per giuoco. Qui non esiste altro giuoco, poi, se si escludono le sassate.

Diese Kindheit hatte nichts Kindliches außer der Zahl der Lebensjahre. Ansonsten waren sie kleine Männer und Frauen, die schon über alles Bescheid wussten, über den Anfang wie über das Ende der Dinge, die schon aufgezehrt waren von den Lastern, dem Nichtstun, dem unerträglichsten Elend, die körperlich krank waren, seelisch verwirrt, deren Lächeln verdorben oder schwachsinnig war, die listig und trostlos zugleich dreinblickten. 90 Prozent von ihnen, so sagte es mir die Lo Savio, litten schon an Tuberkulose oder würden es bald (…) Es war ganz normal, dass sie dabei waren, wenn ihre Eltern Sex hatten, und sie wiederholten es, wenn sie spielten. Hier gibt es kein anderes Spiel, wenn man das Steinewerfen mal ausnimmt.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 93 (Übersetzung der Rezensentin)

Im letzten und längsten Kapitel, „Il silenzio della ragione“ („Das Schweigen der Vernunft“) erzählt Ortese, wie sie quer durch Neapel pilgert, um ihre früheren Journalistenkollegen aufzusuchen, über die sie eine Reportage plant. Ihre Porträts sind wenig schmeichelhaft; so wie sie den jahrhundertealten Mythos der Stadt entzaubert, entzaubert sie auch die junge Intellektuellenszene im Nachkriegsneapel. Einst engagiert und idealistisch neigten sie, so das harte Urteil der Autorin, nun zu hohlen, unaufrichtigen Posen und fänden keine Sprache mehr, um der Stadt und ihren Bewohnern gerecht zu werden:

Quello che vedevo al mio lato, fra gli altri ragazzi muti, era un piccolo uomo dal viso appassito, dallo sguardo monotono. Uno che non aveva più il coraggio di alzare gli occhi, di riprendere un discorso, di pensare un pensiero chiaro, logico. La città lo aveva distrutto. (…) Tutti erano caduti, qui, quelli che avevano desiderato pensare o agire, tutte le lingue si erano confuse ed erano andate a incrementare la dolorosa vegetazione umana.

Jener, der da neben mir lief, inmitten der anderen stummen Jungen, war ein kleiner Mann mit verwelktem Gesicht, mit eintönigem Blick. Einer, der nicht mehr den Mut aufbrachte, den Blick zu erheben, eine Unterhaltung aufzunehmen, einen klaren, logischen Gedanken zu fassen. Die Stadt hatte ihn zerstört. (..) Alle waren sie hier gefallen, jene, die einmal unbedingt denken oder handeln wollten, alle Sprachen waren verwirrt und dazu übergegangen, die schmerzensreiche menschliche Vegetation sprießen zu lassen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 168 (Übersetzung der Rezensentin)

Die große Stärke Orteses, die diesen Band trotz all seiner desillusionierenden und schockierenden Elemente so reizvoll macht, sind meiner Ansicht nach ihre Porträts; sie beobachtet ganz genau und findet für die feinsten Charakterzüge eine differenzierte und hochpoetische Sprache, die einem bisweilen Schauer über den Rücken laufen lässt und einen immer wieder staunen lässt.

Als Ferrante-Leserin erkennt man auch einige der Viertel Neapels wieder, in denen Lenùs und Lilas Geschichte spielt, sowie gewisse soziale Strukturen, die sich im Stadtbild abzeichnen. Orteses Neapelbild inspirierte Ferrante, wie sie selber sagt, und auch wenn sie der Schönheit und Lebenslust einen größeren Platz in ihrer großen Neapelsaga einräumt als Ortese in ihren kurzen, auf Desillusion zielenden Texten, so ist doch auch Elena Ferrantes Neapel von einem genauen Blick auf die verschiedenen sozialen Milieus geprägt und alles andere als eine hübsche mediterrane Kulisse.

Questa limpida e dolce bellezza di colline e di cielo, solo in apparenza era idillica e soave. Tutto, qui, sapeva di morte, tutto era profondamente corrotto e morto, e la paura, solo la paura, passeggiava nella folla da Posillipo e Chiaia.

Diese reine und sanfte Schönheit der Hügel und des Himmels war nur dem Schein nach idyllisch und süß. Alles hier wusste vom Tod, alles war zutiefst verdorben und tot, und die Angst, nur die Angst, wanderte in der Menge zwischen Posillipo und Chiaia.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 156 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Anna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli, Adelphi (1994)
ISBN: 9788845910548

Zur neuen deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz:

Bildquelle
Anna Maria Ortese, Neapel liegt nicht am Meer
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
© 2019 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

bookmark_borderMichael Martens: Im Brand der Welten

Ivo  Andrić — Ein Europäisches Leben

Selten habe ich eine solch spannende, auf ausnahmslos jeder Seite fesselnde Biographie gelesen, die noch dazu in ihrer historischen Fundierung und quellenkritischen Differenziertheit absolut beeindruckend ist!

Dieses Buch soll weder ein Denkmal errichten noch ein Denkmal stürzen. Es ist der Versuch, sich einem Menschen und seiner Zeit zu nähern.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 465

So definiert der Autor Michael Martens, der als politischer Korrespondent selbst viele Jahre im (süd)osteuropäischen Ausland verbracht hat, sein rundum erreichtes biographisches Anliegen im Nachwort seines Buches, dessen erzählerische und wissensvermittelnde Leistung auf knapp 500 Seiten nie nachlässt. Dass dem Niederschreiben intensive Recherchen vorausgegangen sind — u.a. diplomatische Akten, Zeitzeugenberichte, Andrićs Notizbücher und natürlich sein umfangreiches literarisches Werk –, macht sich in der Qualität des Textes bemerkbar, der zugleich nie überfrachtet wirkt.

Natürlich sind das Leben und das zur Weltliteratur gehörende Werk des 1892 im heutigen Bosnien als katholischer Kroate — und formal sogar noch als osmanischer Staatsbürger — im Habsburgerreich geborenen Ivo Andrić, der 1961 den Literaturnobelpreis bekam und als jugoslawischer Spitzendiplomat Karriere machte, für sich schon ein schillernder Stoff. Doch Im Brand der Welten ist nicht nur die Biographie einer ohne jeden Zweifel spannenden intellektuellen Persönlichkeit, sondern ebenso die historische Biographie eines ganzen Jahrhunderts, des 20., und eines ganzen Kontinents, Europas.

In der Zeitspanne von 1892 bis 1975, in der Andrić gelebt hat, wurde Europa mehrfach grundlegend erschüttert, und Andrić, der im Laufe seines Lebens so unterschiedlichen historischen Figuren wie den Attentätern von Sarajevo, Hitler oder Picasso persönlich begegnete, stand als Zeit- und Augenzeuge oft mitten im turbulenten Weltgeschehen. Seine Biographie belegt anschaulich, dass die scheinbar randständige Region, aus der er stammte, in Wahrheit zum Kerngebiet der historischen Wendepunkte Europas im 20. Jahrhundert gehörte.

Kurz vor Andrićs Geburt war seine Heimat dem Habsburgerreich einverleibt worden, ohne jedoch die Spuren der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft auszulöschen, die die Region weiterhin prägten. Der Vater verschwindet früh, seine alleinerziehende Mutter vertraut das Kleinkind Onkel und Tante in Višegrad an, der Stadt, in der die berühmte Brücke über die Drina führt, um in einer der unter österreichisch-ungarischer Verwaltung neu entstandenen Fabriken das wenige Geld zum Leben zu erwirtschaften. Der Strukturwandel geht indes nur schleppend voran, das Kompetenzgerangel zwischen den konkurrierenden Monarchen blockiert viele Projekte wie den Eisenbahnbau, natürlich stets auf Kosten der Randregionen. Der junge Andrić, der fürs Gymnasium nach Sarajevo geht und später in Zagreb, Wien und Krakau studiert, empfindet eine tiefe Abneigung gegen die Herrschaft der Doppelmonarchie und engagiert sich — freilich mehr intellektuell — für ein von den Habsburgern unabhängiges vereintes Jugoslawien. Dafür tritt er auch der Bewegung „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“) bei, aus deren revolutionärsten Mitgliedern die späteren Attentäter des österreichischen Kronprinzen hervorgehen. Mit dem Attentat, das den Ersten Weltkrieg auslöst, hat Andrić selbst zwar nichts zu tun, trotzdem muss er — vielleicht verdächtig wegen eines frühen politischen Gedichts oder wegen seiner Jugendfreundschaft mit einem der Attentäter — für ein knappes Jahr ins Gefängnis.

Nach dem Krieg tritt Andrić in den Dienst des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen ein. In Belgrad bekommt er einen Posten im Außenministerium und wird bald darauf als Diplomat nach Rom gesandt. Dort verfolgt er Mussolinis Aufstieg aus nächster Nähe und verfasst, natürlich zunächst unter Pseudonym, einige faschismuskritische Essays, die zu den wenigen deutlich geäußerten politischen Stellungnahmen Andrićs gehören. Es folgen Stationen in Bukarest, Triest, Graz, wo er die für den diplomatischen Dienst verlangte Dissertation nachholt, Marseille und Madrid, wo er begeistert die Kunst und das Leben Goyas studiert und im kunstpoetischen Gespräch mit Goya niederschreibt. Nach Aufenthalten in Brüssel und Genf kehrt er nach Belgrad zurück, wo sich die großserbische Monarchie inzwischen in eine Diktatur verwandelt hat und sich von oppositionellen Unabhängigkeitskämpfern bedroht sieht. Tatsächlich wird König Aleksandar 1934 in Marseille ermordet. Andrićs Karriere ist davon nicht betroffen, vielmehr steigt er im Außenministerium weiter auf, bis er 1939 als außerordentlicher Gesandter in Hitlers Berlin kommt.

In Berlin muss Andrić aber mit vielen Menschen Umgang pflegen, die er verachtet — und dabei auch eine moralische Gratwanderung vollziehen. (…) Es überrascht nicht, dass der Schriftsteller Andrić in Berlin fast gänzlich hinter dem Diplomaten verschwindet.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 222

Doch alle diplomatischen Winkelzüge, von denen Andrić selbst im Übrigen mehr und mehr aufgrund der sich auch in Jugoslawien zuspitzenden Lage — es wird um Saloniki geschachert, serbische Offiziere putschen gegen Prinzregent Paul — ausgeschlossen wird, was ihm nach dem Krieg zugute kommen wird, können nicht verhindern, dass Hitler 1941 dem jugoslawischen Königreich den Krieg erklärt. Von 1941 bis 1944 hält sich Andrić zum Großteil im besetzten Belgrad auf. Hier entstehen nun in einem unermüdlichen Schaffensprozess seine großen Romane, die ihn später weltberühmt machen: Wesire und Konsuln, Die Brücke über die Drina und Das Fräulein. An Weltruhm denkt er beim Schreiben jedoch sicherlich nicht:

Die Arbeitswut ist eine Überlebensstrategie. (…) Andrić klammert sich an das Schreiben, um nicht zu verzweifeln. Sein Schreiben ist existenziell. Er schreibt ins Nichts hinein. Er weiß nicht, ob seine Manuskripte am nächsten Tag bei einem Bombenangriff verbrennen oder bei einer Razzia beschlagnahmt werden. Er ahnt nicht, ob nicht schon in der Nacht die Gestapo an seine Tür klopfen und ihn mitnehmen wird. Er weiß nicht einmal, ob es je wieder einen Staat geben wird, in dem er veröffentlichen kann. (…) Der Krieg ist zugleich die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Andrić seine großen Werke überhaupt schreiben kann.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 268

Trotz eingehender Schilderungen all der weltbewegenden historischen Ereignisse kommt der Schriftsteller Andrić in der Biogaphie nicht zu kurz; vielmehr geht Martens auch intensiv auf die charakteristischen Merkmale seiner Literatur ein, die u.a. von Essays über große epische Romane bis hin zur kürzeren Form der Erzählung reichen. Martens nennt Andrić einen „genaue(n) psychologische(n) Beobachter, der trotz der konservativen Form seiner Texte ein moderner Erzähler ist“ (S. 155), seine psychologischen Skizzen „meisterliche Portraits von Menschentypen, die jeder kennt“ (S. 277). Die unermüdliche Fleißarbeit des Schriftstellers, der Stunden, Tage, Wochen in Archiven verbringt, um Material zu sammeln, das er teilweise erst Jahrzehnte später literarisch verwendet, wird ebenso hervorgehoben wie sein Talent, das Gesammelte poetisch zu verdichten. Außerdem tauche bei Andrić, lange bevor daraus ein europäisches Konfliktthema wurde, die Frage auf, „ob Orient und Okzident, ob Europa und der Islam miteinander existieren können oder nicht“ (S. 279). Zugleich sei jedoch „Andrićs Bosnien eine literarische Privatlandschaft, ein mythisch überhöhter Kontinent“ (S. 280), weswegen weder die spätere Instrumentalisierung noch die Verdammung seines Werks der vielschichtigen und sich einseitigen Zuschreibungen entziehenden Literatur des Schriftstellers gerecht werde. Andrić habe unabhängig von religiösen Zugehörigkeiten „schlicht kein sonderlich positives Bild, wie Menschen, die Macht haben, mit jenen Menschen umgehen, die keine haben“. (S. 281) Im Übrigen hat Andrić selbst immer wieder betont, dass seine Texte, auch wenn sie in der Vergangenheit spielten, keine historischen Romane seien:

Die Vergangenheit zu beschreiben heißt nicht, vor der Gegenwart zu fliehen, sondern nur, einen bestimmten Blickwinkel der großen menschlichen Wirklichkeit zu beschreiben, welche die Vergangenheit und die Gegenwart und die Zukunft umfasst und alles, was in ihnen ist — menschliche Leben und Taten und ihre Träume und Gedanken.

Ivo Andrić, zit. nach Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 411

Der Zweite Weltkrieg ist verheerend, ganz besonders auch für Jugoslawien, wo die deutschen Besatzer sogenannte Sühnelager einrichten, in denen sie für jeden Getöteten aus ihren Reihen blutige Rache an ihren jugoslawischen Geiseln nehmen, wo die Shoa 60000 von 75000 Juden das Leben kostet und wo schließlich auch noch ein schrecklicher Bürgerkrieg ausbricht, in dem sich kroatische Ustaše („Aufständische“), serbische Tschetniks und kommunistische Partisanen gewaltsam bekämpfen:

(In Bosnien) ist die Hölle auf Erden entstanden, in der jeder jeden bekämpft. Das ist Teil der Strategie der Besatzer. (…) Im Schatten der von den Besatzern verübten Verbrechen bricht in Jugoslawien ein Bürgerkrieg aus, dem mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 239

Nach der deutschen Niederlage übernehmen die Partisanen unter Tito die Macht in Jugoslawien, Massenmorde finden statt und auch Andrić bangt um Leben und Freiheit, wird aber verschont und von nun an als literarisches Aushängeschild des kommunistischen Jugoslawiens in das neue Regime integriert. Andrić akzeptiert den Kommunismus, so wie er zuvor die serbische monarchische Diktatur akzeptiert hat, als „notwendiges Übel, das dem Jugoslawismus das Überleben sichert“ (S. 310). Er passt sich an, arrangiert sich und es vollzieht sich die verblüffende „Metamorphose des einstigen königlichen Gesandten Andrić zu Genosse Ivo“ (S. 311). 1961 erhält er den Nobelpreis, zu einem Zeitpunkt, als das gemäßigt auftretende kommunistische Jugoslawien international Anerkennung findet, zieht sich jedoch mit dem Alter mehr und mehr von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen zurück. Mit seiner Frau Milica Babić, die er erst spät geheiratet hat, verbringt er bis zu ihrem Tod viel Zeit an der Küste in Herceg Novi, schreibt Erzählungen und stürzt sich, als sie stirbt, ein letztes Mal in die schriftstellerische Arbeit an zwei monumentalen Projekten, den „von lauter Migranten, Flüchtlingen, Entwurzelten“ (S. 402) bevölkerten Roman Omer Pascha Latas, über dessen historisches Vorbild der Biograph Martens übrigens einen vortrefflichen geschichtlichen Abriss gibt, sowie sein stilistisch modernstes Werk mit dem Titel Wegzeichen, „Anti-Tagebuch“ und „poetische Summe eines Lebens“ (S. 426).

Im Brand der Welten ist eine ungemein bereichernde und lebendig erzählte Geschichtsstunde, die einen das Europa des 20. Jahrhunderts aus einer weniger vertrauten Perspektive, nämlich der Südosteuropas, betrachten lässt. Historische Ereignisse, Zusammenhänge, Konflikte, die einem durchaus bekannt sind, werden hier noch einmal aus einem unbekannten und überaus erkenntnisreichen Blickwinkel heraus erzählt.

Ebenso faszinierend ist, wie behutsam sich Martens der immer wieder sich entziehenden Persönlichkeit Andrićs annähert, die man als Leser von Seite zu Seite besser kennenlernt, obwohl der Biograph sich jeder vorschnellen Einschätzung enthält und alle Gerüchte, Meinungen und Urteile über den Autor prüft, gegeneinander abwägt, revidiert, verfeinert. Es entsteht das Bild eines schwer greifbaren, da eher zurückgezogenen Charakters, der nach außen hin ein durchaus gefälliges, weltgewandtes Auftreten hatte und entsprechend große Anerkennung in seiner Funktion als Diplomat fand, die ihm allerdings auch als willkommene Fassade zu dienen schien, hinter der er seine persönlichen, intimen Gedanken und Gefühle verborgen halten konnte. Das schlug sich auch in seinem literarischen Werk nieder, aus dem er seine eigene Person genauso wie konkrete Anspielungen auf seine Gegenwart heraushalten wollte, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass es bis heute zeitlose Gültigkeit besitzt und gut lesbar ist. So schreibt Martens über sein vielleicht persönlichstes, da auf lebenslangen Tagebucheinträgen beruhendes Werk Wegzeichen:

Die Genese der literarischen Miniaturen soll nicht erkennbar sein, Rückschlüsse auf ihre Entstehung, auf die Beziehungen zwischen seinen Gedanken und einzelnen Lebensetappen will Andrić nicht zulassen. Er will sich im Text auflösen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 426

Dieses extreme Streben nach Privatheit, nach einer Trennung von persönlicher Meinung und öffentlicher Anpassung, was freilich auch Andrićs Doppelrolle als Diplomat bzw. politischer Vertreter und Schriftsteller geschuldet war, deren Kombination ihm einen großen Spagat abverlangt haben musste, hatte zur Folge, dass Außen und Innen gerade in Bezug auf die politischen Regime, mit denen er sich immer wieder arrangierte, oftmals ziemlich weit auseinanderklafften. Martens schreibt von einem Zerfallen in einen „Nacht-Andrić und einen Tag-Andrić“ (S. 232). So ist es nicht erstaunlich, dass hier auch der Vorwurf des Opportunismus im Raum stehen bleibt, wenngleich Martens betont, dass Andrić konsequent das Schreiben über die Politik gestellt habe und seinem einzigen politischen Ideal, dem vereinten Jugoslawien, ein Leben lang treu blieb, auch wenn das bedeutete, so unterschiedliche Regime wie Monarchie und Kommunismus zu unterstützen.

Ein weiterer Vorwurf, den Martens diskutiert und entkräftet, ist der von Andrićs angeblicher Islamfeindlichkeit, der einer einseitigen Auslegung von seiner sich der Tagespolitik stets entziehenden Literatur entspringt, jedoch zu großen Missverständnissen und zu einer fatalen Instrumentalisierung im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre führte.

Martens Biographie ist eine Bereicherung für jeden (literatur)geschichtlich interessierten Leser und eine inspirierende Motivation, in ein vielfältiges und geradezu klassisches literarisches Werk einzutauchen, das gemeinhin weit weniger bekannt ist als etwa die qualitativ vergleichbaren Texte französisch- oder englischsprachiger Autoren. Ich jedenfalls habe mir sofort die Erzählung Der verdammte Hof besorgt, in der Andrić mit mehrfach verschachtelten Erzählebenen spielt und einmal mehr den in die Vergangenheit zurückreichenden bosnischen und osmanischen Schauplatz nicht als folkloristische Kulisse, sondern als Ort zeitloser menschlicher Fragen und Konflikte verwendet, die sich in diesem Fall — die Erzählung wurde 1954 veröffentlicht — wohl auch, aber eben nicht ausschließlich, als versteckte Kritik am kommunistischen Regime lesen lassen. Und wessen Interesse für den „Nacht-Andrić“ nach der Lektüre geweckt wurde, der kann sich auf eine deutsche Textausgabe mit Auszügen aus den in schlaflosen Nächten gefüllten Notizbüchern freuen, die im Herbst unter dem Titel Insomnia — Nachtgedanken in der Übersetzung des Biographen erscheinen. Ich bin schon überaus gespannt!

Michael Martens: Im Brand der Welten — Ivo Andrić — Ein Europäisches Leben, Zsolnay (2019)
ISBN: 9783552059603

bookmark_borderEva García Sáenz: Die Herren der Zeit

Dass Kriminalplot und historischer Roman ein durchaus harmonisches und spannungsreiches literarisches Ensemble bilden können, hat zuletzt der Schwede Natt och Dag mit seinem Stockholmroman 1793 gezeigt, von dem kürzlich auch eine Fortsetzung (1794) erschienen ist (vgl. Rezension vom 22.5.2020). Die spanische Autorin Eva García Sáenz wagt sich für den Abschluss ihrer in der Stadt Vitoria spielenden Krimitrilogie, in deren Mittelpunkt der Profiler – und Ich-Erzähler – Unai Lopez de Ayala alias „Kraken“ steht, ebenfalls an eine – allerdings ganz anders geartete – Mischform von Historien- und Kriminalroman.

Die Stadt Vitoria und ihr baskisches Umland mit ihrer tief ins Mittelalter zurückreichenden Geschichte bildeten auch in den ersten beiden Teilen den geschichtsträchtigen und mit lokalen Mythen und Ritualen aufgeladenen, aber stets klar in der Gegenwart verankerten Schauplatz. Mit dem letzten Teil ist nun jedoch ein regelrechtes Hybrid entstanden, in dem zwei verschiedene zeitliche Ebenen parallel geführt werden, so dass man sich als Leser erst ein wenig irritiert, bald aber ziemlich gefesselt und am Schluss atemlos zwischen der tragischen Geschichte der Belagerung der Stadt am Übergang vom 12. ins 13. Jahrhundert und den laufenden Mordermittlungen im heutigen Vitoria hin und herlenken lässt. Es ist fast, als läse man zwei Bücher gleichzeitig, ein Eindruck, den die Autorin durch eine mise en abyme zusätzlich verstärkt: Im Zentrum der Gegenwartshandlung steht nämlich ein historischer Roman, der denselben Titel trägt wie Sáenz‘ Roman, „Die Herren der Zeit“, mit dessen Lektüre sich auch die Romanfiguren befassen und in dessen mysteriöser Entstehungsgeschichte Ayala den Schlüssel zu einer beunruhigenden Mordserie vermutet, die seine Stadt in Schrecken versetzt. Denn für die ziemlich grausamen mittelalterlichen Tötungsarten, die an den gegenwärtigen Opfern verübt werden, scheint sich der Mörder ziemlich genau an der Geschichte des historischen Romans zu orientieren. Oder ist das alles nur eine wilde Mutmaßung des auch familiär unter Druck stehenden Ayala, dem im Laufe der turbulenten, wahrhaft dramatischen Ermittlungen auf schmerzhafte Weise klar wird, dass er mit seinem unermüdlichen Einsatz gegen die brutalen Verbrechen, die seine Stadt immer wieder heimsuchen, Gefahren heraufbeschwört, die nicht nur ihn, sondern sein ganzes freundschaftliches und familiäres Umfeld bedrohen? Und was hat es eigentlich mit dem proteischen Adligen und Burgherren Ramiro Alvar auf sich, der eine traumatische Familiengeschichte zu verarbeiten hat und zurückgezogen in seinem Turm wohnt, von dem aus auch der anonyme Autor des Romans sein Manuskript versendet haben muss?

Auch wenn es die Autorin mit der wahrlich dichten Häufung höchst dramatischer Verwicklungen vielleicht etwas übertreibt und die Kriminalgeschichte eine zwar geschickt konstruierte, psychologisch jedoch nicht völlig überzeugende Auflösung hat, ist ihr für ihre Trilogie, deren eigenwillige Hauptfiguren einem ans Herz gewachsen sind, auf jeden Fall ein fulminanter Abschluss gelungen, der einige Stunden oder Tage höchst spannungsreichen Lesegenuss bereitet.

Bibliographische Angaben
Eva García Sáenz: Die Herren der Zeit, Fischer (2020)
Aus dem Spanischen von Alice Jakubeit
ISBN: 9783651025851

Bildquelle
Eva García Sáenz, Die Herren der Zeit
© 2020 Fischer Scherz in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt / Main

bookmark_borderOliver Scherz: Ein Freund wie kein anderer — Im Tal der Wölfe

Die einfühlsam und in so gar nicht kindlicher, aber trotzdem für Kinder verständlicher und sehr schöner Prosa erzählte Geschichte der außergewöhnlichen Freundschaft von Erdhörnchen Habbi und Wolf Yaruk findet ihre Fortsetzung im „Tal der Wölfe“.

Nach dem Winterschlaf hofft Habbi, seinen Wolfsfreund wieder zu sehen. Tatsächlich wartet Yaruk schon auf ihn, doch irgendwie hat er sich verändert. Ein erwachsener Ernst hat sich in sein spielerisches Wesen geschlichen, und Habbi, der doch am liebsten möchte, dass alles ist wie früher, erfährt nach und nach, was in der Zeit seines Winterschlafs im Wolfsrudel alles passiert ist und dass sein Freund auf einmal eine Verantwortung innehat, die mit ihrer Freundschaft schwer vereinbar ist.

Zuerst aber verbringen die beiden einen ausgelassenen Tag des Wiedersehens, bis das plötzlich steigende Wasser im reißenden Bach, der Habbis Erdhörnchendorf vom Tal der Wölfe trennt, Habbi den Rückweg versperrt. Yaruk nimmt ihn kurzerhand mit zu seinem Rudel, und ein nicht ganz ungefährliches Abenteuer beginnt.

Die beiden Freunde machen die Erfahrung, dass Liebe, Freundschaft, Fürsorge, Familie, Verantwortung und Gewissen starke Kräfte sind, die aber bisweilen miteinander in Konflikt geraten können. Dann gilt es, eine Entscheidung zu treffen, und das ist alles andere als einfach! Doch wenn zwei sich gern haben, können sie vielleicht auch Grenzen überwinden…

Ein wunderschönes und auch spannendes Vorlesebuch, das natürlich ein gutes Ende hat und einen außerdem nicht zuletzt dank des angenehm unaufdringlichen, aufs Wesentliche reduzierten und zugleich sehr liebevollen Pinselstrichs der Illustratorin Barbara Scholz in eine bezaubernde Welt der Tiere und der Natur entführt.

Altersempfehlung
Ab 6 Jahren

Bibliographische Angaben

Oliver Scherz: Ein Freund wie kein anderer — Im Tal der Wölfe, Thienemann-Esslinger (2020)
ISBN: 9783522185288

Bildquelle
Oliver Scherz, Im Tal der Wölfe
© 2020 Thienemann-Esslinger Verlag

bookmark_borderMarion Messina: Faux départ

Der Debütroman der jungen Französin Marion Messina gilt als Roman über das Stigma der Armut, über die Klassengesellschaft, über die Spaltung der französischen Gesellschaft, und wird oft in einem Atemzug mit den Texten von Nicolas Mathieu, Edouard Louis oder Annie Ernaux genannt. Er ist aber auch der einzige mir bisher bekannte Roman, in dem — freilich nur als ein Aspekt eines viel umfangreicheren Gesellschaftspanoramas — ein akutes und immer größere Teile der Bevölkerung betreffendes soziales Problem auf sehr pointierte und eindringliche Weise geschildert wird: das eines außer Rand und Band geratenen Immobilienmarktes, an dem die sich zuspitzende soziale Ungleichheit eine geradezu symbolische Verdichtung erfährt, die jedoch auf einen leider sehr realen Zustand verweist:

Il n’y avait aucun contrôle, le marché immobilier parisien était le seul domaine de France parfaitement déréglementé, voire anarchique. Cette ville avait besoin de sa force de travail mais ne la voulait pas entre ses murs.

Es gab keinerlei Kontrolle, der Pariser Wohnungsmarkt war in Frankreich der einzige Bereich, der komplett dereguliert, ja anarchisch war. Diese Stadt brauchte ihre Arbeitskraft, aber wollte sie nicht innerhalb ihrer Mauern haben.

Faux départ, S. 139 (Übersetzung der Rezensentin)

Als Aurélie, die junge Antiheldin des Romans, ganz allein, ohne Partner, ohne Geld und ohne Beziehungen von Grenoble nach Paris geht, in der Hoffnung, dort ihr Studium fortsetzen und dank der Möglichkeiten der Hauptstadt endlich den sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zur akademisch gebildeten Angestellten meistern zu können, gerät sie in einen völlig entfesselten Wohnungsmarkt, der sich als kapitaler Wettkampf herausstellt, bei dem sie von vornherein chancenlos ist. Die Szene, in der Aurélie schildert, wie sie inmitten der sich auf wenigen Quadratmetern drängenden wohnungs- oder besser schlafplatzsuchenden Menschen Schlange steht, um eine winzige, heruntergekommene, völlig überteuerte Kammer ohne Sanitäreinrichtung zu besichtigen, bleibt einem in ihrem desillusionierten und entlarvenden Realismus noch lang im Gedächtnis. Letztlich bleibt Aurélie in ihrem Provisorium in der Jugendherberge, bis sie einen gut verdienenden Angestellten kennenlernt, mit dem sie weniger aus Liebe denn aus Not zusammenzieht.

Tatsächlich sind die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, der Wunsch und die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, diese zu verlassen, in Faux départ Ausgangspunkt und treibende Kraft der Handlung. Doch meiner Ansicht nach lässt sich der in seiner Ernüchterung doch auch auf fast sanfte, melancholische Weise poetische Roman nicht auf dieses Thema beschränken. Vielmehr zeichnet sich dieser Text, der eben kein Sozialreport ist, durch eine höchst literarische Ambivalenz aus. So scheinen auch die Klassenkategorien einer gewissen Transformation unterworfen, durch die sie zwar nicht vollständig aufgehoben werden, jedoch im Kontext der wieder anders gearteten Machtstrukturen einer vernetzten, sexualisierten und durchökonomisierten Gesellschaft ihre Eindeutigkeit verlieren. Während Michel Houellebecq in Bezug auf die desillusionierende Schilderung einer konsumorientierten Sexualität oft als literarische Referenz Marion Messinas genannt wird, möchte ich hier auch die Theorien der Soziologin Eva Illouz ins Spiel bringen, die der ontologischen Haltlosigkeit als Folge prekär gewordener langfristiger romantischer Bindung auf den Grund geht, sowie die Studien der Philosophin Elizabeth Anderson über die modernen Irrwege des ökonomischen Liberalismus in Bezug auf Autonomie und Würde am Arbeitsplatz (vgl. Rezension vom 31.3.2020).

Erzählt wird die Geschichte, die trotz allem auch eine romantische Liebesgeschichte ist und in der — natürlich (post)modernisierten — Tradition einer Flaubert’schen Education sentimentale gelesen werden kann, in großen Teilen aus der Perspektive von Aurélie, die ihrem prekären Herkunftsmilieu über den Weg des Studiums zu entkommen hofft. Messina beschreibt aber auch die auf andere Weise holprige Suche nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit, auf der sich der aus Kolumbien stammende Alejandro, Aurélies große Liebe und großer Kummer, seit seiner Ankunft in Frankreich befindet. Stigmatisiert wird man selbst in einer so kosmopolitischen Stadt wie Paris nicht nur, wenn man sich den angesagten Style nicht leisten kann, sondern auch infolge einer ausländischen Herkunft. Gleichwohl dient die lateinamerikanische Identität Alejandros im Handlungsgefüge wohl hauptsächlich dazu, durch den Blick von außen — gleich Montesquieus Persischen Briefen — die Hybris zu entlarven, mit der eine privilegierte europäische Schicht nicht nur auf ihn blickt, den Ausländer mit Akzent, mit dem man sich ab und zu ganz gern als weltoffen schmückt, sondern auch auf die Mitglieder der Unterschicht, die man an ihren billigen, schlecht sitzenden Klamotten erkennt.

Aurélie ist in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Grenoble aufgewachsen, hat gerade ihr Abitur bestanden und ein Stipendium für ein Studium an einer renommierten Hochschule erworben — und erlebt die erste einer nicht enden wollenden Kette von Desillusionen, als sie begreift, dass sie ihr Stipendium nicht antreten kann, da ihre Eltern sich ihren Umzug in eine andere Stadt nicht leisten können. Kaum 18 geworden, zweifelt sie schon an allem:

Elle doutait de tout, à commencer par le destin émancipateur auquel elle s’était raccrochée pendant des années, prenant en horreur le mode de vie de ses parents, comme inscrit dans leurs gènes.

Sie zweifelte an allem, zuallererst an dem schicksalhaften Versprechen der Emanzipation, an das sie sich jahrelang geklammert hatte, während sie die Lebensweise ihrer Eltern, die ihnen gleichsam genetisch eingeprägt war, geradezu verabscheute.

Faux départ, S. 55 (Übersetzung der Rezensentin)

Die allseits verkündete Chancengleichheit erweist sich als „republikanischer Mythos“ (S. 54), Schule und Studium scheinen keinen Ausweg aus dem prekären Herkunftsmilieu zu bieten. Vielmehr gestaltet sich Aurélies Ankunft im Erwachsenenleben als unaufhörlicher Kampf um Beachtung, Geld und Liebe, in dem sie immer wieder unterzugehen droht. Sie fühlt sich einsam, nirgends zugehörig, macht unangenehme erste sexuelle Erfahrungen und als sie sich schließlich in den Kommilitonen Alejandro verliebt, den sie bezeichnenderweise nicht in der Vorlesung, sondern in ihrem Nebenjob als Putzhilfe kennenlernt, beschert ihr das zwar ein bisher ungekanntes Glücksgefühl, das jedoch überschattet wird von der Unverbindlichkeit ihrer Beziehung, auf der Alejandro besteht. Als Alejandro Grenoble verlässt, hält auch Aurélie nichts mehr in der Stadt, und sie geht nach Paris. In der Freiheit und Unbegrenztheit der Möglichkeiten, die das urbane Großstadtmilieu verspricht, potenzieren sich für Aurélie jedoch die Herausforderungen; ohne Wohnung, angewiesen auf einen schlecht bezahlten, ausbeuterischen Job als willkürlich herumkommandierte Messehostess, hat sie kaum Zeit für soziale Kontakte und an eine Fortsetzung ihres Studiums kann sie gar nicht erst denken. Der begrenzte soziale Aufstieg, auf den sie noch hoffen kann, gestaltet sich nicht nur äußerst mühevoll, sondern auch in einem Rahmen und unter Bedingungen, die es fraglich machen, inwieweit er überhaupt erstrebenswert ist:

Elle se sentait coincée entre un milieu ouvrier peu curieux, corvéable à merci, respectueux, soumis et craintif et une classe moyenne abêtie, déliquescente, qui semblait impatiente de liquider le peu de dignité sociale et intellectuelle dont elle aurait pu hériter.

Sie fühlte sich eingezwängt zwischen einem wenig neugierigen, der Fronarbeit ausgelieferten, respektbezeugenden, unterwürfigen und furchtsamen Arbeitermilieu einerseits, und einer verblödeten, dekadenten Mittelschicht andererseits, die es eilig zu haben schien, das Wenige an gesellschaftlichem und intellektuellem Ansehen, das sie hätte erben können, auszulöschen.

Faux départ, S. 116 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn sie beobachtet, dass auch die mehr oder weniger nur für ihre Arbeit lebende Mittelschicht in Paris ein entfremdetes Dasein hat. Das Unbehagen, das die Autorin am Beispiel ihrer Protagonistin beschreibt, ist nicht nur ihrer Herkunft geschuldet, sondern auch Teil eines umfassenderen Lebensgefühls, das Generationen und soziale Schichten überschreitet und das in engem Zusammenhang mit der Technisierung, Sexualisierung und Ökonomisierung des ganzen Lebens steht, das auch Eva Illouz beschreibt (vgl. Rezension vom 25.2.2020). Bindungslosigkeit und Oberflächlichkeit als Folge von Akkumulation und Wahlfreiheit erstrecken sich dabei nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch auf das Aurélie tief enttäuschende Bildungssystem und den stets zur Disposition stehenden Arbeitsplatz, der als Ort des Geldverdienens gleichwohl im Zentrum einer sich über Konsum und Lifestyle definierenden Gesellschaft steht. Auch Franck, der nicht mehr ganz junge und seines Single-Daseins überdrüssige Betriebswirt, mit dem Aurélie für eine Weile zusammenzieht, hat um den Preis von Einsamkeit und Burnout sein bisheriges Leben seiner beruflichen Karriere untergeordnet, um einen Lebensstandard zu erreichen, von dem Aurélie zwar nur träumen kann, der ihn in Paris jedoch nur um Haaresbreite vom Prekariat abgrenzt:

En province ils appartenaient à deux castes qui ne se fréquentaient pas, mais à Paris l’écart de niveau de vie entre classe moyenne et ouvriers disparaissait; il n’existait plus qu’une seule catégorie : les travailleurs pauvres.

Außerhalb von Paris gehörten sie zu zwei verschiedenen Kasten, die einander nicht begegneten, doch in Paris verschwand der Unterschied des Lebensstandards zwischen Mittelschicht und Arbeiterschicht; es gab nur noch eine einzige Kategorie: die arme arbeitende Schicht.

Faux départ, S. 174 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Großstadt Paris ist in Faux départ gleichsam eine satirisch überspitzte Metapher für den urbanisierten Raum, an dem sich alles derart akkumuliert, dass sich die Wahlfreiheit in eine freiwillige Unterwerfung unter die ökonomischen Prinzipien verkehrt:

La vie en ville et ses temps de transports indécents limitaient singulièrement les aspirations à la lecture et aux séquences de repos. Le sexe, gage de plaisir immédiat et marqueur social, était devenu à lui seul un leitmotiv. Je baise donc je suis.

Das Leben in der Stadt und seine schamlosen Verkehrszeiten begrenzten die Sehnsucht nach Lektüre und einem Zur-Ruhe-Kommen auf einzigartige Weise. Der Sex war als Garantie unmittelbaren Genusses und als sozialer Marker ganz für sich allein zu einem Leitmotiv geworden. Ich ficke, also bin ich.

Faux départ, S. 167 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Durchdringung von Sex, Konsum und urbanem Leben ist ein Motiv, dem Messina in ihrem Roman häufig nachspürt, mitunter in Sätzen, die tatsächlich sehr der Houellebecq’schen Sprache verwandt sind:

On n’avait jamais autant parlé de cul de manière libérée mais elle ne voyait que des célibataires decomplexés, obligés de consacrer une part non négligeable de leur revenu dans des sorties en quête du partenaire de débauche d’un soir ou d’un mois, délai maximal toléré.

Nie hatte man so viel und auf so befreite Weise über Sex gesprochen, und doch sah sie nur lauter Singles ohne Hemmungen, die sich verpflichtet fühlten, einen nicht geringen Teil ihres Einkommens fürs Weggehen aufzuwenden, auf der Suche nach einem Sexpartner für einen Abend oder — das war die maximal tolerierte Frist — für einen Monat.

Faux départ, S. 153 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Im Schriftbild wird eine Eigenheit deutlich, die sich durch Messinas gesamten Text zieht, nämlich die Sichtbarmachung aktueller Diskurse und populärer Ausdrucksweisen durch Kursivdruck. Die Autorin entlarvt und ironisiert auf diese Weise verbreitete Labels begrifflicher Pauschalisierung, die zugleich viel über das Lebensgefühl unserer Gesellschaft verraten. Darüber hinaus legen diese auf eine metatextuelle Ebene verweisenden Markierungen die sich stets selbst hinterfragende Suche der Autorin nach einer Benennung immer fluiderer sozialer Beziehungen offen, die ja auch ihre Geschichte und die Sorgen ihrer Figuren bewegt.

Ähnlich wie Houellebecq beschreibt die Autorin die Wünsche und Nöte einer sexualisierten Gesellschaft und zeigt mit ihren verunsicherten und unzufriedenen Protagonisten die Kehrseite der scheinbaren Wahl-Freiheit auf: So hingezogen Alejandro sich zu Aurélie fühlt, die gerade durch ihre Unauffälligkeit und ihren Mangel an Selbstinszenierung unter all den jungen Frauen heraussticht, hat er Angst, eine Bindung zuzulassen. Getrieben von dem irrealen und doch allseits idealisierten Wunsch, alle Möglichkeiten auszukosten, verspürt er letztlich nur Leere, Einsamkeit, Melancholie und ein nicht näher bestimmbares Ungenügen: eine Art postmodernen „ennui“. Aurélie hingegen fühlt sich hoffnungslos überfordert im allgegenwärtigen Inszenierungswettbewerb, in dem sie aufgrund ihrer prekären Herkunft und auch aufgrund ihres fast aus der Zeit gefallenen romantischen Charakters von vornherein unterlegen ist.

Les femmes, elles, seraient toujours prêtes à mourir pour un homme qu’elles penseraient être unique (…); les hommes considéraient les femmes comme à leur disposition, elles devraient lutter pour être plus désirables que leurs congénères, se faire toujours plus belles, plus minces, plus toniques. Au contraire du règne animal, ce n’était pas à l’élément masculin de se battre pour conquérir la femelle qui assurerait la perpétuation de l’espèce, mais à la femelle de se battre pour avoir l’honneur de se faire pénétrer dans le cadre d’un rapport sexuel stérile. Ce retournement de la situation permettait à des acteurs du marché d’enregistrer des bénéfices records pour des biens et services marchands dévolus à la seule modification constante du corps féminin (…).

Die Frauen würden immer bereit sein, für einen Mann zu sterben, den sie für einzigartig hielten (…); die Männer hielten die Frauen für jederzeit verfügbar, sie — die Frauen — sollten darum kämpfen, begehrenswerter als ihre Geschlechtsgenossinnen zu sein, immer noch schöner, schlanker, anregender zu werden. Im Unterschied zum Tierreich war es nicht Aufgabe des Männchens zu kämpfen, um das Weibchen zu erobern, das das Fortleben der Art sicherstellte, sondern es war Aufgabe des Weibchens um die Ehre zu kämpfen, im Rahmen einer sterilen sexuellen Beziehung penetriert zu werden. Eine solche Umkehrung der Situation ermöglichte den Playern auf dem ökonomischen Markt, Rekordgewinne für ökonomische Güter und Dienstleistungen einzustreichen, die einzig der fortwährenden Anpassung des weiblichen Körpers dienten.

Faux départ, S. 147 (Übersetzung der Rezensentin)

Geradezu erfrischend liest sich hier der satirisch überspitzte weibliche Gegenblick zu Houellebecqs männlicher Perspektive, der einen an Eva Illouz‘ Feststellung erinnert, dass in der vernetzten Welt der Wahlfreiheit weiterhin gewisse Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen. Unabhängig vom Geschlecht tun sich auch bei Marion Messina die Figuren am schwersten, die sich nach Liebe und Bindung sehnen; die zitierte Passage macht deutlich, wie der beständige Konkurrenzkampf, in dem man sich bei der Suche nach einer romantischen Beziehung behaupten muss, an den Kräften und auch am Geldbeutel der Beteiligten nagt. Indem Messina jedoch eine weibliche Perspektive ins Zentrum rückt, kann sie vielleicht sogar noch besser die Kehrseite der allseits postulierten sexuellen Autonomie einfangen. Folgendes Zitat unterstreicht die Ambivalenz von Freiheit und Emanzipation, die dem ganzen Roman innewohnt:

…elle se réjouissait de pouvoir se soustraire aux convenances auxquelles elle aurait pourtant tant voulu se soumettre…

…sie freute sich, sich den Konventionen zu entziehen, denen sie sich doch so gern unterworfen hätte…

Faux départ, S. 80 (Übersetzung der Rezensentin)

Hervorheben muss man auch, dass sich Aurélie, gleichwohl in zweierlei Hinsicht scheinbar in der Situation des Opfers, als romantisch empfindende Frau und als Sprössling der Unterschicht, nicht eindeutig auf diese Rolle beschränken lässt. Zwar ist sie in der Beziehung mit Alejandro diejenige, die mehr liebt und mehr unter der Unverbindlichkeit der Beziehung leidet, doch darf man nicht übersehen, dass sie sich gleich zweimal aus freien Stücken für diese auf wackligen Füßen stehende Beziehung entscheidet. In der späteren Beziehung zu Franck ist sie sich der Machtverhältnisse absolut bewusst; hier nutzt sie ihr eigenes Kapital als junge attraktive Frau, die sich selbst im Austausch für eine gewisse Stabilität und den Komfort einer Wohnung einem Mann hingibt, der wiederum sein bisheriges emotionales Leben dem Beruf „geopfert“ hat. Schließlich verlässt sie Franck und entscheidet sich gegen eine Beziehung, in der sie keine emotionale Erfüllung findet.

Ausbeuterisch erscheinen fast eher die makroökonomischen Strukturen, der sich die meisten Menschen freilich allzu bereitwillig fügen. Messina erwähnt die „Gelbwesten“ mit keiner Silbe, ebenso wenig treten irgendwelche Rechts- oder Linkspopulisten auf; doch umso eindringlicher gelingt es ihr, am persönlichen und berührenden Schicksal zweier junger Menschen zu illustrieren, inwiefern sich hinter sozialen Ungleichheiten Machtstrukturen verbergen, die über eine stigmatisierte Klasse hinausreichen. Im Gedächtnis haften bleiben in diesem Kontext auch Aurélies Bewerbungsgespräch und die Beschreibungen ihres Arbeitsalltags als Messehostess. Die Einstellungsprozedur ist so aufwendig, als handelte es sich um einen hochkarätigen Posten, wo doch die Entlohnung und damit der Wert der Arbeitskraft hier in keinem Verhältnis etwa zur verlangten Ausbildung stehen; die ständige Verfügbarkeit und der mobile Einsatz an weit entlegenen Orten der Großstadt stehen im Kontrast zur niedrigen Bezahlung, die Aurélie nicht einmal für Essen, Kleidung und Wohnung ausreicht. Dennoch ist die Konkurrenz selbst im niedrig entlohnten und doch so benötigten Dienstleistungssektor riesig.

Avant les gens allaient à la messe, maintenant ils vont au travail, exécuter des gestes, des rituels, prononcer toujours les mêmes phrases. Ils en sortent épuisés et rassurés. (…) Rien n’angoisse plus que le chômage.

Früher gingen die Menschen in die Kirche, jetzt gehen sie in die Arbeit und führen bestimmte Gesten und Rituale aus, sprechen immer wieder dieselben Sätze. Um dann erschöpft und beruhigt nach Hause zu gehen. (…) Nichts macht mehr Angst als die Arbeitslosigkeit.

Faux départ, S. 194 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Am Ende des Romans ist Aurélie gerade mal 20 Jahre alt, hat aber bereits so viele desillusionierende Erfahrungen gemacht, dass sie nun eine Entscheidung trifft, die vielleicht zum ersten Mal so frei ist, wie es eben geht.

Bibliographische Angaben
Marion Messina: Faux départ, J’ai lu (2018)
ISBN: 9782290164907

Zur deutschen Ausgabe im Carl Hanser Verlag:



Bildquelle
Marion Messina, Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderEdna O’Brien: Das Mädchen

Die irische Schriftstellerin Edna O’Brien, die in ihren mit Preisen ausgezeichneten Romanen immer wieder Mädchen und jungen Frauen eine Stimme gibt, fühlt sich in ihrem neuesten Roman in das tragisch-mythische und zugleich auf schrecklichen realen Begebenheiten beruhende Schicksal eines fiktiven nigerianischen Schulmädchens ein, das von der islamistischen Sekte Boko Haram entführt wird.

Verschleppt ins Lager der Milizionäre, das tief im Urwald verborgen liegt, wird das junge Mädchen, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, zum Opfer brutalster männlicher Gewalt und macht schier Unerträgliches durch. Sie wird versklavt, erniedrigt, vergewaltigt, und bringt dennoch fast übermenschliche Kräfte auf, als sich die Gelegenheit ergibt, mit ihrer kleinen Tochter aus der Gefangenschaft zu fliehen.

In der Flucht durch den Wald setzt sich der Überlebenskampf des Mädchens fort, das den symbolisch aufgeladenen Namen der Muttergottes, Maryam, trägt. Die gemeinsam mit ihr und dem Baby geflüchtete Freundin stirbt an einem Schlangenbiss. Trauma, Schock, Hunger, Fieber führen die mit der Mutterrolle überforderte Maryam ins Delirium. Sie wird von muslimischen Nomadenfrauen gefunden und liebevoll umsorgt, doch als der Gemeinschaft deswegen Gewalt angedroht wird, müssen Maryam und ihr Baby weiterziehen. Doch auch als sie endlich die Großstadt erreicht, medizinisch versorgt wird und ihre Mutter wiedersieht, ist der Kampf noch lang nicht zuende. Als „Dschihadi-Ehefrau“ und „Buschfrau“ ebenso geschmäht wie bemitleidet trägt sie das Stigma des Gewaltopfers. Während sich die Regierung mit ihrer „Rettung“ schmückt, wird ihr das Baby weggenommen, und bei ihrer Mutter findet sie ebensowenig Trost wie in ihrem von Angst und Tod erschütterten Dorf. Erst als Maryam wirklich jede Hoffnung verloren hat, deutet sich ein Rettungsschimmer an…

Die Autorin, die für ihre Geschichte intensiv vor Ort recherchiert hat und auf sehr lebendige Weise viele weitere Lebens- und Leidensgeschichten, aber auch nigerianische Mythen, Feste und Rituale, in ihren Text integriert, führt ihre Ich-Erzählerin und damit auch ihre Leser immer wieder an die Grenze des Erträglichen. Doch steht im Zentrum der Geschichte trotz allem nicht die Gewalt, sondern der Widerstand gegen sie und die Menschlichkeit. So wird die blutjunge Marienfigur Maryam, in der sich die tatsächlichen Gewalterfahrungen vieler nigerianischer Mädchen symbolisch verdichten, im Raum der Fiktion zu einer Legende, mit der sich ihre Opferrolle überwinden lässt.

Ein aufwühlendes und sehr authentisches Buch, das uns im weit entfernten Europa ein von Gewalt und Konflikten erschüttertes, aber auch an Traditionen und Geschichten reiches Land ein Stück näherbringt.

Bibliographische Angaben
Edna O’Brien: Das Mädchen, Hoffmann und Campe (2020)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
ISBN: 9783455008265

Bildquelle
Edna O’Brien, Das Mädchen
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

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