bookmark_borderDrago Jančar: Als die Welt enstand

Drago Jančar erdichtet in einem mythisch aufgeladenen und doch sehr diesseitigen und geschichtsbewussten Buch den biblischen Mythos von David neu, bringt ihn variantenreich und getragen von einer kraftvollen poetischen Stimme im Jugoslawien der Nachkriegszeit zur erzählerischen Entfaltung. In der so unscheinbaren wie traurigen und zeitlosen Geschichte der schönen jungen Helena, genannt Lena oder Lenca, die ins Haus gegenüber von Danijel einzieht, dem zum Zeitpunkt der Geschichte jugendlichen Erzähler, die sich zuerst in den etwas grobschlächtig und einfältig wirkenden, aber handwerklich begabten Pepi verliebt, dann in den vagabundierenden Frauenhelden Ljubo, sowie in den diese Liebesintrige umwirkenden Geschichten ihrer Nachbarn verwirklicht sich zum wohl xten Mal seit der Entstehung der Welt die Geschichte von David und Goliath, die auch die von David und Batseba ist. Es geht um Gewalt und Begehren, um Gut und Böse, um Ressentiment und Zugehörigkeit, um Kindheit und verlorene Illusionen, um Neuanfänge und alte Wunden.

Der Erzähler Danijel, am Ende des zweiten Weltkriegs geboren, kennt den Krieg nur aus den Erzählungen der Erwachsenen, liest aber überall in Maribor seine Spuren, die sich tief in die Stadt und ihre Bewohner eingegraben haben. Auch wenn die ehemaligen Partisanen mit ihrem Helden Tito die Nazis aus dem jetzt Jugoslawien genannten Land verjagt haben, was die Männer, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind, in vielen trunkenen und immer wieder ausartenden Nächten zu feiern versuchen, ist kein Frieden eingekehrt. Die Gewalt des Krieges dauert fort, unverarbeitete Traumata und Ressentiments, zum Beispiel gegen die deutschslowenischen Bewohner der Stadt, kochen immer wieder hoch, es brodeln die Konflikte zwischen Nachbarn, zwischen denen, die an Gott und jenen, die an den Kommunismus glauben, zwischen und innerhalb der Familien. Auch in Danijels Familie gibt es solche explosiven Stellen, die immer dann nach außen sichtbar werden, wenn der Vater wieder zu viel Wein trinkt und die Mutter erwägt, ob sie mit dem Sohn besser über Nacht zu ihrer Schwester flüchten soll.

Auffällig ist an Danijels Erzählung, dass sie doppelt indirekt und zugleich stark ich-aufgeladen ist, die Erzählperspektive ist gewissermaßen gebrochen und hält noch einen zweiten, versteckten, erst ganz am Ende kurz auftretenden oder besser aufblitzenden Erzähler im Hintergrund bereit; oft wird die Ezählung eingeleitet mit „Danijel erzählte,…“, worauf lange Passagen in der Ich-Form folgen. Zwischendurch spricht jedoch auch der versteckte Erzähler, über den man nur mutmaßen kann, dass er ein Freund oder Schüler — oder Chronist — Danijels ist, der dessen Erinnerungen Jahrzehnte später zur Aufzeichnung bringt. Mit Danijel als Erzähler hat es nämlich noch eine weitere Bewandtnis. Sein Name verweist auch auf eine Figur und ein Buch der Bibel, auf den apokalyptischen Seher und Traumdeuter Daniel, als welcher auch Jančars Danijel auftritt, mit einem kindlichen, aber dadurch auch unvoreingenommeneren Blick. Dieser Bezug fügt sich gut in die ohnehin stark biblisch aufgeladene Atmosphäre des Romans. Auch der titelgebende Satz „Als die Welt entstand“ lässt sich lesen als Verweis auf das zyklisch sich wiederholende mythische Geschehen auf Erden, auf das Schicksalhafte, Unausweichliche, auf den Tod und auch die Gewalt, die sich immer wieder wie eine unheimliche Energie entlädt. Alles Religiöse ist in Titos Jugoslawien zwar verpönt, aber doch nicht vollkommen aus dem Leben zu tilgen. Auch für Danijel, den seine Mutter gegen den Willen des Vaters hat taufen lassen und als Jugendlichen weiter heimlich zu den Kapuzinern schickt, ist Pater Aloisius mit seinen Geschichten aus der Bibel eine wichtige, wenn auch ambivalente Bezugsperson.

Einen noch größeren Einfluss hat vielleicht die zweite Bezugsperson Danijels außerhalb der Familie, nämlich Professor Fabjan, der dem neugierigen Jungen mit seinem Globus die Welt erklärt und ihm auch vom Himmlischen das Sichtbare und gleichermaßen Faszinierende begreiflich macht, die Wolkenformationen, in deren Anblick sich Danijel so gerne versenkt, allein in Gedanken für sich oder in Gesellschaft seiner Freundin Vasilka. Denn Danijel möchte die Welt um ihn herum begreifen, die ihm immer wieder so unverständlich erscheint, so seltsam und widersprüchlich, wie im Verhalten der Erwachsenen, so faszinierend und auch grausam, wie in seinen Träumen. In Danijels überwältigter Kinderseele spiegelt sich der Zustand der Welt nach dem Krieg, so dass seine eigene Suche nach einem moralischen Kompass fantastisch apokalyptische Züge annimmt. „Als die Welt entstand“ verweist nämlich auch auf das, das was jeder Mensch erlebt, auf das millionen- und milliardenfach sich wiederholende Entstehen und Reifen und Begreifen des Schmerzlichen und des Schönen in der Welt, das mit dem Zeitpunkt der Geburt beginnt und sich bis zum Tod nicht aufhalten lässt. So beginnt Danijel in der Bewegung zwischen Höllenfahrt und Himmelsflug, die Ewigkeit und Endlichkeit des Lebens spüren.

Schließlich erzählt der Autor in diesem Buch auch eine Geschichte des Verschwindens, das verschiedene Formen annehmen kann. So viele Figuren aus dem Text, die für Danijels Welt der Kindheit und Jugend bedeutsam sind, verschwinden nach und nach: Professor Fabjan, der vielleicht nach Patagonien ausgewandert ist oder doch eher nach Sibirien verbannt oder inhaftiert wurde, wie der Autor selbst es war, der Bruder, der sich in eine weitere Davidsfigur verwandelt und sich als solche nach kurzem Auftritt wieder verliert, Lena, die ins Gefängnis geht und danach nicht mehr dieselbe ist; auch der invalide deutsche Nachbar verschwindet eines Tages von heute auf morgen mit seiner ganzer Familie, auch Vasilka und mit ihr ein erstes zartes, im Entstehen befindliches Liebesgefühl, und auch der Vater, der, durch einen Schlaganfall nun auch körperlich versehrt, aus Danijels Leben und ins ferne Kurhaus verschwindet.

Drago Jančar hat ein eindringliches Buch geschrieben, dessen poetisch-realistischer Ton bisweilen an Robert Seethalers Romane über einfache und gebeutelte Lebensschicksale erinnert, um dann für Momente in einer traumgleichen Opulenz apokalyptischer Visionen aufzubranden.

Bibliographische Angaben
Drago Jančar: Als die Welt entstand, Zsolnay 2023
ISBN: 9783552073586

Bildquelle

Drago Jančar, Als die Welt enstand
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderMichael Martens: Im Brand der Welten

Ivo  Andrić — Ein Europäisches Leben

Selten habe ich eine solch spannende, auf ausnahmslos jeder Seite fesselnde Biographie gelesen, die noch dazu in ihrer historischen Fundierung und quellenkritischen Differenziertheit absolut beeindruckend ist!

Dieses Buch soll weder ein Denkmal errichten noch ein Denkmal stürzen. Es ist der Versuch, sich einem Menschen und seiner Zeit zu nähern.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 465

So definiert der Autor Michael Martens, der als politischer Korrespondent selbst viele Jahre im (süd)osteuropäischen Ausland verbracht hat, sein rundum erreichtes biographisches Anliegen im Nachwort seines Buches, dessen erzählerische und wissensvermittelnde Leistung auf knapp 500 Seiten nie nachlässt. Dass dem Niederschreiben intensive Recherchen vorausgegangen sind — u.a. diplomatische Akten, Zeitzeugenberichte, Andrićs Notizbücher und natürlich sein umfangreiches literarisches Werk –, macht sich in der Qualität des Textes bemerkbar, der zugleich nie überfrachtet wirkt.

Natürlich sind das Leben und das zur Weltliteratur gehörende Werk des 1892 im heutigen Bosnien als katholischer Kroate — und formal sogar noch als osmanischer Staatsbürger — im Habsburgerreich geborenen Ivo Andrić, der 1961 den Literaturnobelpreis bekam und als jugoslawischer Spitzendiplomat Karriere machte, für sich schon ein schillernder Stoff. Doch Im Brand der Welten ist nicht nur die Biographie einer ohne jeden Zweifel spannenden intellektuellen Persönlichkeit, sondern ebenso die historische Biographie eines ganzen Jahrhunderts, des 20., und eines ganzen Kontinents, Europas.

In der Zeitspanne von 1892 bis 1975, in der Andrić gelebt hat, wurde Europa mehrfach grundlegend erschüttert, und Andrić, der im Laufe seines Lebens so unterschiedlichen historischen Figuren wie den Attentätern von Sarajevo, Hitler oder Picasso persönlich begegnete, stand als Zeit- und Augenzeuge oft mitten im turbulenten Weltgeschehen. Seine Biographie belegt anschaulich, dass die scheinbar randständige Region, aus der er stammte, in Wahrheit zum Kerngebiet der historischen Wendepunkte Europas im 20. Jahrhundert gehörte.

Kurz vor Andrićs Geburt war seine Heimat dem Habsburgerreich einverleibt worden, ohne jedoch die Spuren der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft auszulöschen, die die Region weiterhin prägten. Der Vater verschwindet früh, seine alleinerziehende Mutter vertraut das Kleinkind Onkel und Tante in Višegrad an, der Stadt, in der die berühmte Brücke über die Drina führt, um in einer der unter österreichisch-ungarischer Verwaltung neu entstandenen Fabriken das wenige Geld zum Leben zu erwirtschaften. Der Strukturwandel geht indes nur schleppend voran, das Kompetenzgerangel zwischen den konkurrierenden Monarchen blockiert viele Projekte wie den Eisenbahnbau, natürlich stets auf Kosten der Randregionen. Der junge Andrić, der fürs Gymnasium nach Sarajevo geht und später in Zagreb, Wien und Krakau studiert, empfindet eine tiefe Abneigung gegen die Herrschaft der Doppelmonarchie und engagiert sich — freilich mehr intellektuell — für ein von den Habsburgern unabhängiges vereintes Jugoslawien. Dafür tritt er auch der Bewegung „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“) bei, aus deren revolutionärsten Mitgliedern die späteren Attentäter des österreichischen Kronprinzen hervorgehen. Mit dem Attentat, das den Ersten Weltkrieg auslöst, hat Andrić selbst zwar nichts zu tun, trotzdem muss er — vielleicht verdächtig wegen eines frühen politischen Gedichts oder wegen seiner Jugendfreundschaft mit einem der Attentäter — für ein knappes Jahr ins Gefängnis.

Nach dem Krieg tritt Andrić in den Dienst des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen ein. In Belgrad bekommt er einen Posten im Außenministerium und wird bald darauf als Diplomat nach Rom gesandt. Dort verfolgt er Mussolinis Aufstieg aus nächster Nähe und verfasst, natürlich zunächst unter Pseudonym, einige faschismuskritische Essays, die zu den wenigen deutlich geäußerten politischen Stellungnahmen Andrićs gehören. Es folgen Stationen in Bukarest, Triest, Graz, wo er die für den diplomatischen Dienst verlangte Dissertation nachholt, Marseille und Madrid, wo er begeistert die Kunst und das Leben Goyas studiert und im kunstpoetischen Gespräch mit Goya niederschreibt. Nach Aufenthalten in Brüssel und Genf kehrt er nach Belgrad zurück, wo sich die großserbische Monarchie inzwischen in eine Diktatur verwandelt hat und sich von oppositionellen Unabhängigkeitskämpfern bedroht sieht. Tatsächlich wird König Aleksandar 1934 in Marseille ermordet. Andrićs Karriere ist davon nicht betroffen, vielmehr steigt er im Außenministerium weiter auf, bis er 1939 als außerordentlicher Gesandter in Hitlers Berlin kommt.

In Berlin muss Andrić aber mit vielen Menschen Umgang pflegen, die er verachtet — und dabei auch eine moralische Gratwanderung vollziehen. (…) Es überrascht nicht, dass der Schriftsteller Andrić in Berlin fast gänzlich hinter dem Diplomaten verschwindet.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 222

Doch alle diplomatischen Winkelzüge, von denen Andrić selbst im Übrigen mehr und mehr aufgrund der sich auch in Jugoslawien zuspitzenden Lage — es wird um Saloniki geschachert, serbische Offiziere putschen gegen Prinzregent Paul — ausgeschlossen wird, was ihm nach dem Krieg zugute kommen wird, können nicht verhindern, dass Hitler 1941 dem jugoslawischen Königreich den Krieg erklärt. Von 1941 bis 1944 hält sich Andrić zum Großteil im besetzten Belgrad auf. Hier entstehen nun in einem unermüdlichen Schaffensprozess seine großen Romane, die ihn später weltberühmt machen: Wesire und Konsuln, Die Brücke über die Drina und Das Fräulein. An Weltruhm denkt er beim Schreiben jedoch sicherlich nicht:

Die Arbeitswut ist eine Überlebensstrategie. (…) Andrić klammert sich an das Schreiben, um nicht zu verzweifeln. Sein Schreiben ist existenziell. Er schreibt ins Nichts hinein. Er weiß nicht, ob seine Manuskripte am nächsten Tag bei einem Bombenangriff verbrennen oder bei einer Razzia beschlagnahmt werden. Er ahnt nicht, ob nicht schon in der Nacht die Gestapo an seine Tür klopfen und ihn mitnehmen wird. Er weiß nicht einmal, ob es je wieder einen Staat geben wird, in dem er veröffentlichen kann. (…) Der Krieg ist zugleich die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Andrić seine großen Werke überhaupt schreiben kann.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 268

Trotz eingehender Schilderungen all der weltbewegenden historischen Ereignisse kommt der Schriftsteller Andrić in der Biogaphie nicht zu kurz; vielmehr geht Martens auch intensiv auf die charakteristischen Merkmale seiner Literatur ein, die u.a. von Essays über große epische Romane bis hin zur kürzeren Form der Erzählung reichen. Martens nennt Andrić einen „genaue(n) psychologische(n) Beobachter, der trotz der konservativen Form seiner Texte ein moderner Erzähler ist“ (S. 155), seine psychologischen Skizzen „meisterliche Portraits von Menschentypen, die jeder kennt“ (S. 277). Die unermüdliche Fleißarbeit des Schriftstellers, der Stunden, Tage, Wochen in Archiven verbringt, um Material zu sammeln, das er teilweise erst Jahrzehnte später literarisch verwendet, wird ebenso hervorgehoben wie sein Talent, das Gesammelte poetisch zu verdichten. Außerdem tauche bei Andrić, lange bevor daraus ein europäisches Konfliktthema wurde, die Frage auf, „ob Orient und Okzident, ob Europa und der Islam miteinander existieren können oder nicht“ (S. 279). Zugleich sei jedoch „Andrićs Bosnien eine literarische Privatlandschaft, ein mythisch überhöhter Kontinent“ (S. 280), weswegen weder die spätere Instrumentalisierung noch die Verdammung seines Werks der vielschichtigen und sich einseitigen Zuschreibungen entziehenden Literatur des Schriftstellers gerecht werde. Andrić habe unabhängig von religiösen Zugehörigkeiten „schlicht kein sonderlich positives Bild, wie Menschen, die Macht haben, mit jenen Menschen umgehen, die keine haben“. (S. 281) Im Übrigen hat Andrić selbst immer wieder betont, dass seine Texte, auch wenn sie in der Vergangenheit spielten, keine historischen Romane seien:

Die Vergangenheit zu beschreiben heißt nicht, vor der Gegenwart zu fliehen, sondern nur, einen bestimmten Blickwinkel der großen menschlichen Wirklichkeit zu beschreiben, welche die Vergangenheit und die Gegenwart und die Zukunft umfasst und alles, was in ihnen ist — menschliche Leben und Taten und ihre Träume und Gedanken.

Ivo Andrić, zit. nach Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 411

Der Zweite Weltkrieg ist verheerend, ganz besonders auch für Jugoslawien, wo die deutschen Besatzer sogenannte Sühnelager einrichten, in denen sie für jeden Getöteten aus ihren Reihen blutige Rache an ihren jugoslawischen Geiseln nehmen, wo die Shoa 60000 von 75000 Juden das Leben kostet und wo schließlich auch noch ein schrecklicher Bürgerkrieg ausbricht, in dem sich kroatische Ustaše („Aufständische“), serbische Tschetniks und kommunistische Partisanen gewaltsam bekämpfen:

(In Bosnien) ist die Hölle auf Erden entstanden, in der jeder jeden bekämpft. Das ist Teil der Strategie der Besatzer. (…) Im Schatten der von den Besatzern verübten Verbrechen bricht in Jugoslawien ein Bürgerkrieg aus, dem mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 239

Nach der deutschen Niederlage übernehmen die Partisanen unter Tito die Macht in Jugoslawien, Massenmorde finden statt und auch Andrić bangt um Leben und Freiheit, wird aber verschont und von nun an als literarisches Aushängeschild des kommunistischen Jugoslawiens in das neue Regime integriert. Andrić akzeptiert den Kommunismus, so wie er zuvor die serbische monarchische Diktatur akzeptiert hat, als „notwendiges Übel, das dem Jugoslawismus das Überleben sichert“ (S. 310). Er passt sich an, arrangiert sich und es vollzieht sich die verblüffende „Metamorphose des einstigen königlichen Gesandten Andrić zu Genosse Ivo“ (S. 311). 1961 erhält er den Nobelpreis, zu einem Zeitpunkt, als das gemäßigt auftretende kommunistische Jugoslawien international Anerkennung findet, zieht sich jedoch mit dem Alter mehr und mehr von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen zurück. Mit seiner Frau Milica Babić, die er erst spät geheiratet hat, verbringt er bis zu ihrem Tod viel Zeit an der Küste in Herceg Novi, schreibt Erzählungen und stürzt sich, als sie stirbt, ein letztes Mal in die schriftstellerische Arbeit an zwei monumentalen Projekten, den „von lauter Migranten, Flüchtlingen, Entwurzelten“ (S. 402) bevölkerten Roman Omer Pascha Latas, über dessen historisches Vorbild der Biograph Martens übrigens einen vortrefflichen geschichtlichen Abriss gibt, sowie sein stilistisch modernstes Werk mit dem Titel Wegzeichen, „Anti-Tagebuch“ und „poetische Summe eines Lebens“ (S. 426).

Im Brand der Welten ist eine ungemein bereichernde und lebendig erzählte Geschichtsstunde, die einen das Europa des 20. Jahrhunderts aus einer weniger vertrauten Perspektive, nämlich der Südosteuropas, betrachten lässt. Historische Ereignisse, Zusammenhänge, Konflikte, die einem durchaus bekannt sind, werden hier noch einmal aus einem unbekannten und überaus erkenntnisreichen Blickwinkel heraus erzählt.

Ebenso faszinierend ist, wie behutsam sich Martens der immer wieder sich entziehenden Persönlichkeit Andrićs annähert, die man als Leser von Seite zu Seite besser kennenlernt, obwohl der Biograph sich jeder vorschnellen Einschätzung enthält und alle Gerüchte, Meinungen und Urteile über den Autor prüft, gegeneinander abwägt, revidiert, verfeinert. Es entsteht das Bild eines schwer greifbaren, da eher zurückgezogenen Charakters, der nach außen hin ein durchaus gefälliges, weltgewandtes Auftreten hatte und entsprechend große Anerkennung in seiner Funktion als Diplomat fand, die ihm allerdings auch als willkommene Fassade zu dienen schien, hinter der er seine persönlichen, intimen Gedanken und Gefühle verborgen halten konnte. Das schlug sich auch in seinem literarischen Werk nieder, aus dem er seine eigene Person genauso wie konkrete Anspielungen auf seine Gegenwart heraushalten wollte, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass es bis heute zeitlose Gültigkeit besitzt und gut lesbar ist. So schreibt Martens über sein vielleicht persönlichstes, da auf lebenslangen Tagebucheinträgen beruhendes Werk Wegzeichen:

Die Genese der literarischen Miniaturen soll nicht erkennbar sein, Rückschlüsse auf ihre Entstehung, auf die Beziehungen zwischen seinen Gedanken und einzelnen Lebensetappen will Andrić nicht zulassen. Er will sich im Text auflösen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 426

Dieses extreme Streben nach Privatheit, nach einer Trennung von persönlicher Meinung und öffentlicher Anpassung, was freilich auch Andrićs Doppelrolle als Diplomat bzw. politischer Vertreter und Schriftsteller geschuldet war, deren Kombination ihm einen großen Spagat abverlangt haben musste, hatte zur Folge, dass Außen und Innen gerade in Bezug auf die politischen Regime, mit denen er sich immer wieder arrangierte, oftmals ziemlich weit auseinanderklafften. Martens schreibt von einem Zerfallen in einen „Nacht-Andrić und einen Tag-Andrić“ (S. 232). So ist es nicht erstaunlich, dass hier auch der Vorwurf des Opportunismus im Raum stehen bleibt, wenngleich Martens betont, dass Andrić konsequent das Schreiben über die Politik gestellt habe und seinem einzigen politischen Ideal, dem vereinten Jugoslawien, ein Leben lang treu blieb, auch wenn das bedeutete, so unterschiedliche Regime wie Monarchie und Kommunismus zu unterstützen.

Ein weiterer Vorwurf, den Martens diskutiert und entkräftet, ist der von Andrićs angeblicher Islamfeindlichkeit, der einer einseitigen Auslegung von seiner sich der Tagespolitik stets entziehenden Literatur entspringt, jedoch zu großen Missverständnissen und zu einer fatalen Instrumentalisierung im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre führte.

Martens Biographie ist eine Bereicherung für jeden (literatur)geschichtlich interessierten Leser und eine inspirierende Motivation, in ein vielfältiges und geradezu klassisches literarisches Werk einzutauchen, das gemeinhin weit weniger bekannt ist als etwa die qualitativ vergleichbaren Texte französisch- oder englischsprachiger Autoren. Ich jedenfalls habe mir sofort die Erzählung Der verdammte Hof besorgt, in der Andrić mit mehrfach verschachtelten Erzählebenen spielt und einmal mehr den in die Vergangenheit zurückreichenden bosnischen und osmanischen Schauplatz nicht als folkloristische Kulisse, sondern als Ort zeitloser menschlicher Fragen und Konflikte verwendet, die sich in diesem Fall — die Erzählung wurde 1954 veröffentlicht — wohl auch, aber eben nicht ausschließlich, als versteckte Kritik am kommunistischen Regime lesen lassen. Und wessen Interesse für den „Nacht-Andrić“ nach der Lektüre geweckt wurde, der kann sich auf eine deutsche Textausgabe mit Auszügen aus den in schlaflosen Nächten gefüllten Notizbüchern freuen, die im Herbst unter dem Titel Insomnia — Nachtgedanken in der Übersetzung des Biographen erscheinen. Ich bin schon überaus gespannt!

Michael Martens: Im Brand der Welten — Ivo Andrić — Ein Europäisches Leben, Zsolnay (2019)
ISBN: 9783552059603

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