bookmark_borderClare Chambers: Scheue Wesen

Vögel sind scheue Wesen, Tiere, die Freiheit brauchen, wenn man sie zeichnen will, muss man sie vorher lange beobachten und ihre Bewegungen und Regungen studieren, aus der Ferne, mit gebührendem Abstand, um sie nicht zu erschrecken. Auch unter Menschen gibt es scheue Wesen, die britische Autorin Clare Chambers macht in ihrem neuen Roman (mindestens) eines davon zur Hauptfigur: William Tapping, ein zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart in den 1960er Jahren nicht mehr ganz junger Mann, der jahrelang ohne Wissen der Nachbarn und der Behörden im Haus seiner nach und nach verstorbenen Tanten lebte und dessen Lieblingsbeschäftigung, der er in diesem merkwürdigen, nicht hinterfragten Gefängnis nachging, das Zeichnen von Vögeln ist.

Clare Chambers, die schon einige Romane in England publiziert hatte, bevor sie mit Kleine Freuden auch in Deutschland einen Überraschungserfolg hatte, hat mit ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman Scheue Wesen einen einfühlsamen, spannend konstruierten und auch stilistisch überzeugenden Text geschrieben, den man geradezu verschlingen mag, hinter dessen Unterhaltungs- und Spannungspotential aber weitere Schichten zutage treten, die der scheinbaren Leichtigkeit Kontur und Tiefe geben und mehrere Lesarten zulassen. So ist Scheue Wesen erstens lesbar als Geschichte über die tröstende Kraft der Kunst. Die zweite (oder eigentlich erste) Hauptfigur des Textes ist denn auch die Kunsttherapeutin Helen Hansford, sie steht im Zentrum der Geschichte, die in den 1960er Jahren in England spielt. Eine zweite Ebene wird mit Helens Arbeitsplatz eingeführt, an dem sich die verschiedenen Fäden der Geschichte kreuzen: Es ist auch ein Roman über die Entwicklung der Psychiatrie und ihrer verschiedenen Leitbilder und Methoden von den 1930er bis in die 1960er Jahre. Und drittens kann man den Roman auch mit einem feministischen Blick als die Geschichte einer sich behauptenden und sich selbst-bewusst zur Gesellschaft und zum Leben ins Verhältnis setzenden Frau lesen: Helen ist eine selbständige, viel reflektierende Frau, die seit einiger Zeit eine leidenschaftliche, aber auch sehr eingeschränkte heimliche Liebesbeziehung mit einem Psychiater der Londoner Klinik hat, an der sie arbeitet. Während sie bisher ihr als unkonventionell und frei betrachtetes Leben genoss und es immer wieder auch gegen ihre Familie verteidigte, schleichen sich nun Zweifel ein, die auf entwicklungspsychologischer Ebene die Handlung vorantreiben.

Als Helen dem zunächst stummen, ein wenig verwahrlosten Mann, der als William Tapping identifiziert werden kann, im Rahmen ihrer Arbeit in der Klinik begegnet, in die er nach seinem überraschenden Auffinden gebracht wird, ist sie beeindruckt von seiner künstlerischen Begabung, die alles in den Schatten stellt, was sie sonst bei den von ihr betreuten Patienten erlebt. Die Begegnung mit ihm ist ein Schlüsselmoment in der Geschichte, in der daraufhin in mehrfacher Hinsicht die Weichen neu gestellt werden. Helen setzt alles daran, Williams Geheimnis auf die Spur zu kommen, um ihn aus seiner Stummheit zu lösen und ihm aus der Psychiatrie heraus wieder ins Leben zurückzuhelfen. Je mehr sie sich William nähert, je mehr sie sich sein Vertrauen erarbeiten kann und durch zusätzliche private Recherchen seine Geschichte zu rekonstruieren beginnt, desto mehr stellt sie jedoch auch ihr eigenes Leben, ihre Beziehungen, ihre Gefühle und Werte, infrage. Als zweites Schlüsselmoment kommt hier die psychische Krise ihrer Teenager-Nichte Lorraine hinzu, für die Helen eine wichtige Bezugsperson ist und deren aufkeimende Liebe zum Zeichnen Helen zu fördern versucht. Auch Lorraine gehört, so merkt man bald, zur Gattung der scheuen Wesen. Als sie nach einem Zusammenbruch in die Klinik kommt, die sie zunächst gar nicht mehr verlassen mag, trifft auch sie auf William, dessen Zeichentalent sie bewundert, und auf Dr. Gil Rudden, den Psychiater und heimlichen Geliebten ihrer Tante.

Während die emotionalen Verwicklungen in der Erzählgegenwart ihren Lauf nehmen, entfaltet sich in eingeschobenen und immer weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Kapiteln auch die Geschichte Williams, der über 20 Jahre lang mehr oder weniger eingesperrt im Haus seiner Familie gelebt hat. Seine Lebensgeschichte wird nun in Rückblenden, die bis in die 1930er Jahre gehen, nach und nach aufgerollt, soll aber hier natürlich nicht verraten werden. Nur soviel sei verraten: Es lohnt sich sehr, es lesend herauszufinden.

Bibliographische Angaben
Clare Chambers: Scheue Wesen, Eisele 2024
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
ISBN: 9783961611966

Bildquelle
Clare Chambers, Scheue Wesen
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderNora Bossong: Reichskanzlerplatz

Nora Bossong nähert sich in ihrem Roman einer heute — vielleicht auf Kosten tieferer Einsichten — allgemein dämonisierten historischen Figur, der von ihr mit viel literarischem Gespür fiktionalisierten Magda Goebbels (1901-1945), die im Nationalsozialismus zur Vorzeigemutter des Regimes wurde, dem sie am Ende nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder opferte. Ihre monströse Tat kommt im Roman nicht bzw. nur im Nachwort zur Sprache, es geht der Autorin an keiner Stelle um ein wie auch immer geartetes Faszinosum des Bösen, sondern darum, den psychologischen und historischen Nährboden zu beleuchten, auf dem das Böse schließlich möglich wird.

Da das Erkenntnisinteresse in diesem Roman auf der psychologischen und historischen Entwicklung liegt, nimmt den weit größeren Raum daher die Zeit der 1920er Jahre ein, als Magda Goebbels noch gar nicht Magda Goebbels hieß, sondern unter anderem mit dem Industriellen Günther Quandt verheiratet war. Und sie ist im Übrigen auch nicht einmal die Hauptfigur des zwar historischen, aber eben nicht einschlägig biographischen Romans, sondern eine im Hintergrund freilich omnipräsente Nebenfigur, die manchmal kurz ins Licht der Erzählung tritt, um jedesmal wieder im Schatten des Nicht-Weiter-Erzählten zu verschwinden. Nora Bossong gerät somit nicht in die Gefahr, ihre Figur zu romantisieren, sie löst das ethische Dilemma von literarischer Einfühlung und Distanznahme, indem sie eine andere, fiktive Figur zum Ich-Erzähler macht, dessen Lebensgeschichte mal intensiver, mal flüchtiger mit derjenigen der späteren Magda Goebbels in Berührung tritt: Hans Kesselbach begegnet ihr zum ersten Mal bei den Quandts, als der sehr gebildeten, sehr schönen und sehr jungen Stiefmutter seines Mitschülers Hellmut Quandt. Verliebt ist er jedoch, wie er bald begreift, nicht in die faszinierende junge Frau, sondern in Hellmut, in einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur allseits geächtet und daher verheimlicht wurde, sondern noch als Verbrechen galt. Nach Hellmuts frühem Tod 1927 setzt Hans dessen Affäre mit seiner Stiefmutter Magda gewissermaßen fort, für einige Zeit wird er Magdas Liebhaber, bis sie dann in den Bann des damaligen NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels gerät. Über die inneren Konflikte und unverwirklichten Sehnsüchte hinaus, die den jugendlichen Ich-Erzähler quälen, ist Hans Kesselbach eine wirklich sehr gut erzählte Figur, komplex, ambivalent, man fühlt mit ihm, ohne all seine Entscheidungen gutzuheißen, die er unter wahrlich herausfordernden historischen Umständen fällt. Nora Bossong arbeitet an ihm die Grauzone, in der sich die Figur bewegt, sehr nuanciert heraus, was dank der Möglichkeit ihrer romanhaften Individualisierung überhaupt erst möglich wird. Seine inneren Widersprüche treten im Laufe der Handlung immer wieder nach außen, dem nationalsozialistischen Gedankengut steht er mit großer Skepsis und Abneigung gegenüber, macht sich aber trotzdem des Mitläufertums schuldig, und ist gleichzeitig wegen seiner Homosexualität selbst ein potentielles Opfer des neuen Regimes.

Der Roman wäre nicht so gut, wenn er sich nicht über diese individuelle Geschichte hinaus auf vielschichtige Weise auf eine höhere, historische Ebene öffnen würde. Mit der Verwebung der historisch belegten Geschichte der Familiendynastie Quandt in die fiktive Geschichte des Ich-Erzählers etwa gewinnt der Opportunismus, den man der Liebschaft eines Schwulen mit einer angesehenen Frau unterstellen mag, eine ganz andere Dimension, die die folgenreiche Verstrickung deutscher Unternehmer in den Nationalsozialismus problematisiert.

Indem Nora Bossong den jungen Ich-Erzähler in diese ihm sehr fremde Welt der Industriellenfamilie eintauchen lässt, nähert sie sich erzählerisch auch der jungen Magda, die mit ihrer Heirat des Firmenchefs ihrerseits von außen und unten in diese Welt der Reichen und Mächtigen Eingang gefunden hat, sich in ihr jedoch wie selbstverständlich bewegt. Die Gabe der Anpassung scheint ihr im Unterschied zu Hans, der sich im Laufe seines Lebens immer wieder wie ein Fremdkörper fühlt, in die Wiege gelegt. Während der heimlichen Liebschaft von Magda mit ihrem Stiefsohn Hellmut, für die Ausflüge zu dritt mit dem Schulfreund Hans ein willkommenes Alibi sind, kommt man ihr sehr nahe, dringt in der konsequent äußerlich bleibenden Perspektive aber nie bis in ihr Innerstes vor, das sich die Autorin wohlweislich vorenthält.

Der Roman möchte keine eindeutigen Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen: Wie konnte jemand, der so gebildet war, der den Feinsinn der Kunst und der Literatur schätzte, eine solche Entwicklung durchlaufen wie Magda Goebbels? Was war charakterlich in ihr angelegt, wo begann die moralische, politische Verirrung? War ihr Weg vorgezeichnet oder hätte sie sich auch ganz anders entscheiden können? Im Roman erscheint sie als eine Frau voller Ambivalenzen: zwischen Idealismus und Anpassung, Intelligenz und Verbohrtheit, Abgrund und Prominenz. Ihre Schönheit, ihre Kühle, ihre Bildung, ihr Wille etwas zu bedeuten, das Leben auszuschöpfen, bewegten sich auf einem dünnen Grat, von dem aus sie in übersteigerten sozialen Ehrgeiz, in Narzissmus und Fanatismus zu kippen drohten. Auch das unmerkliche Hinübergleiten eines gesunden Selbsterhaltungstriebs in einen rücksichtslosen Aufstiegswillen, die nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, lässt Nora Bossong in ihrem Roman anklingen, etwa wenn Magda ihren reichen Exmann mit kompromittierenden Briefen erpresst, um nach der Scheidung nicht nur das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Harald, sondern auch eine stattliche Abfindung zu bekommen, zu der ihre repräsentative Wohnung am Titel gebenden Reichskanzlerplatz gehört.

Welche Rolle spielte die Geschichte, spielten die politischen Verwerfungen? War ihre Radikalisierung vorgezeichnet? War es auch ihr Scheitern, ihr Absturz am Ende, der sich unter der Oberfläche schon länger anzudeuten schien? Konnten ihre Anstrengungen, als überhöhte Mutterfigur und Ehefrau einen Schein zu wahren, der der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach, irgendwann nur noch mit Alkohol und Selbstbetrug aufrechterhalten werden? Das Verstörende daran ist vor allem, wie wir in Nora Bossongs Roman erfahren, dass Magda Goebbels, die später so sehr die „arische“ Ideologie propagierte, selbst als junges Mädchen Fluchterfahrungen machte, dass sie einen jüdischen Stiefvater hatte und einen jüdischen Jugendfreund; auch das ist Teil ihrer Biographie. Und so schreibt Nora Bossong bzw. ihr Ich-Erzähler Hans Kesselbach, sehr philosophisch, an einer Stelle: „man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ Diese Wahrheit, die dem Roman zugrundeliegt, oder vielleicht: die sich aus ihm entwickelt, gilt im Übrigen für beide Figuren, für den fiktiven Ich-Erzähler ebenso wie für die fiktionalisierte Magda Goebbels. Man kann der Geschichte nicht ausweichen, aber man kann sich vielleicht doch auf verschiedene Weise zu ihr verhalten.

Reichskanzlerplatz ist ein nachdenklicher, fein erzählter Roman mit vielen Zwischentönen und das Porträt einer Zeit und der sich in ihr Verhaltenden. Im Raum der Literatur verfügt Nora Bossong über andere Mittel als die historische Dokumentation, und diese schöpft sie aus, mit einer auch stilistisch überzeugenden Zurückhaltung, die sich der Grenzen und der Möglichkeiten der literarischen Fiktionalisierung gleichermaßen bewusst ist.

Bibliographische Angaben
Nora Bossong: Reichskanzlerplatz, Suhrkamp 2024
ISBN: 9783518431900

Bildquelle
Nora Bossong, Reichskanzlerplatz
© 2024 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderDana von Suffrin: Nochmal von vorne

Dass der Tod eines Elternteils die familiäre Vergangenheit reflektieren und ehemals Unbegriffenes, nicht in Begriffe Gefasstes, an die Textoberfläche holt, ist kein neues, aber ein immer noch stark wirkendes literarisches Motiv. In Dana von Suffrins so schmerzhaftem wie schwarzhumorigem Roman Nochmal von vorne löst der Tod des Vaters von Rosa in der Erzählerin und Tochter einen wahrhaften Erinnerungsstrom aus, der in langen Satzkaskaden ein interessantes Textgebilde entstehen lässt.

Der Roman gleicht einer Familienaufstellung. In überraschend lockerem Ton, der wie ein transparentes Tuch über eine nicht wirklich unterdrückte Emotionalität geworfen wird, taucht er ein in die vielschichtige Psychologie eines familiären Beziehungsgeflechts. Die Haltung der Erzählerin bewegt sich dabei auf einem feinen, nie ganz ausgependelten Grat zwischen Nähe und Distanz, zwischen Lachen und Weinen, Spott und Getroffensein. Hinter den wechselnden Tonlagen von grotesk, traurig, berührend, hoffnungsvoll, bedauernd verbirgt sich, so merkt man es beim Lesen, ein kaum eingestandenes Bedürfnis nach Liebe und Verbundenheit. Die Geschichte der israelisch-deutsch-jüdischen Familie, in der Rosa aufgewachsen ist, ist eine Geschichte der sich immer wieder in Streitereien Luft machenden Lebensenttäuschungen. Ihre Mutter hatte für ihre Familie einst ihre geisteswissenschaftliche Laufbahn abgebrochen, ihr Vater ging einer seiner wissenschaftlichen Ausbildung in Israel nicht gerecht werdenden Tätigkeit als Laborchemiker nach, Geldsorgen nagten an ihm. Es ist auch eine Geschichte des Verlassens, des Kontaktabbruchs, des Verschwindens, die Mutter verlässt gleich zweimal die Familie, erst ihre Herkunftsfamilie, später die, die sie mit ihrem Mann Mordechai gegründet hat. Und ihr gleich tut es ihre Tochter Nadja, Rosas Schwester, die als Teenagerin rebelliert, weil sie es zuhause nicht mehr aushalten mag. Rosa, die Erzählerin, scheint in ihrer selbstkritisch eingestandenen Harmoniesucht die einzige in der Familie zu sein, die nicht von ihr loskommt, die es nicht übers Herz bringt, den Vater im Stich zu lassen, die trotz allen Spotts und aller (Selbst-)Ironie von einer tiefen Sehnsucht nach Zusammenhalt in der Familie getragen wird, darunter leidet und alle Schattierungen von Hoffnung, Frust, Wut, Trauer durchlebt.

In Dana von Suffrins jüdisch-deutscher Familiengeschichte ist die mit dem Klischee brechende Meta-Ebene in die Geschichte selbst mit eingebaut. Gerade der offene Einblick in den freilich literarisch überformten individuellen Alltag einer deutsch-jüdischen Familie zeigt jedoch, dass man um das Thema Geschichte kaum herumkommt. Bei Rosas Eltern wird sie sogar nacheinander zentraler Anziehungs- und Konfliktpunkt. Denn wenngleich die Verarbeitung der Vergangenheit für beide eine wichtige Rolle spielt, sind Art und Gegenstand der Verarbeitung doch ziemlich unterschiedlich. Rosas aus katholischem Hause stammende Mutter hat Soziologie und Geschichte studiert, sich in Reibung mit ihrer Herkunftsfamilie intensiv, fast obsessiv mit der nazideutschen Geschichte beschäftigt, mit deren Aufarbeitung sie sich derart identifiziert, dass ihre eigene Eheschließung mit einem israelischen Juden den Anklang eines politischen Projekts bekommt — das in der Praxis des Lebens zum Scheitern verurteilt ist, denn Familie ist alles andere als ein theoretisches Projekt. Rosas Vater hingegen, der selbst in Israel geboren und sozialisiert wurde, hat zwar den von den Eltern geerbten auffälligen Akzent eines Ostjuden, möchte aber nichts lieber, als die aufgewühlte Vergangenheit hinter sich zu lassen, und sehnt sich nach Normalität, nach Anpassung, nach einem geordneten, unaufgeregten Familienleben in München, das ihm nicht wirklich gegönnt ist.

Schließlich wirft der gleichermaßen psychologisch wie geschichtsbewusst angelegte Roman auch noch die Frage auf, inwieweit Familie, und zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt, psychologisch erklärt werden kann. Und wie einflussreich bzw. wie begrenzt die Rolle der Geschichte und des gesellschaftlichen Umfelds ist. Struktur konkurriert hier, letztlich unentschieden, mit Psychologie, beiderseits erweisen sie sich als unzureichende Erklärungsmodelle. Welche Ängste, welche Gefühle, welche Traumata sind tradiert, werden intergenerationell weitergegeben? Was sind neue gesellschaftliche Herausforderungen, mit denen individuell umgegangen werden muss? Dass diese Fragen angestoßen werden, aber letztlich offen bleiben, ist die Stärke dieses Familienromans, der vielleicht nur eine Wahrheit über Familie postuliert: dass es extrem schwer ist, von ihr loszukommen.

Bibliographische Angaben
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne, Kiepenheuer&Witsch 2024
ISBN: 9783462002973

Bildquelle
Dana von Suffrin, Nochmal von vorne
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderHan Kang: Die Vegetarierin

Auch wenn der Nobelpreis in der Regel für ein ganzes literarisches Werk verliehen wird, ist es doch oft ein einzelnes Buch aus diesem Werk, das den Ausschlag gibt. Da ich von der südkoreanischen Schriftstellerin, seit diesem Jahr Nobelpreisträgerin, bisher nur den Roman Deine kalten Hände (2020) kannte, und ihn als eindrücklichen Kunst- und Körperroman in Erinnerung habe, war ich nun besonders neugierig auf den Roman, der sie 2016 ins Licht internationaler Bekanntheit rückte: Die Vegetarierin. Und ja, der Text ist faszinierend, kunstvoll, schlicht, mit nicht einmal 200 Seiten eher kurz, und doch werden in ihm ganz verschiedenartige Konfliktfelder miteinander verwoben, oder: ineinander verschlungen. Es geht um Gesellschaftsstrukturen, um Familienbeziehungen, um Kunst, Körper, Essen und Sexualität, um Scham und Begierde, um Zwänge und Angst, um Freiheit und Ausbruch. Die Vegetarierin ist ein Roman, der aus der Sphäre äußerster Intimität heraus ganz unmerklich eine politische Dimension gewinnt.

Was mich aber von Anfang an gefesselt hat, ist der ungewöhnliche Umgang mit Perspektiven. Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt, die fast für sich stehen könnten, und jedesmal wechselt die Erzählperspektive. Spannenderweise ist der einzige Ich-Erzähler derjenige, der letztlich der unsympathischste und farbloseste Charakter bleibt: der sich mechanisch in die Konventionen fügende, ambitions- und leidenschaftslose Ehemann von Yong-Hie, der „Vegetarierin“, die selbst die Protagonistin und das allseits verstörende Zentrum des Romans ist. Die Erzähler aller drei Teile kreisen um sie, die übrigens kaum etwas sagt, da das, was sie sagt, ihre Träume, ja doch nicht ernst genommen wird; alle werfen einen neuen Blick auf sie, versuchen sie mit ihrem Blick einzufangen, was aber nie gelingt, da sie sich, in fließender Veränderung begriffen, jeder äußeren, jeder menschlichen Vereinnahmung entzieht.

Im ersten Teil erfährt man aus der Perspektive des Ehemanns, wie seine unauffällige, fügsame Frau von heute auf morgen aus dem Rahmen fällt, indem sie jegliches Fleisch aus ihrem Haushalt verbannt und zur Vegetarierin wird. Von ihrer Familie wird das ebenso wie von den Arbeitskollegen ihres Mannes als Provokation empfunden. Was sie dazu bewogen hat, ihre Alpträume, die womöglich in Erlebnisse der Kindheit zurückreichen, aber auch archetypischen Charakter haben und die in kursiv gesetzten tagebuchartigen Einschüben von Yong-Hie in der Ich-Form erzählt werden, werden von niemandem ernst genommen. Ihre stille Weigerung führt schließlich auf einem Familientreffen zur Eskalation.

Im zweiten Teil wird Yong-Hies unkonventionelles Verhalten zur Ebene der Kunst in Beziehung gesetzt, welche ja der gesellschaftliche Ort ist, an dem der Bruch von Konventionen geduldet oder sogar erwartet wird. Erzählt wird diesmal aus der personalen Perspektive ihres Schwagers, des Mannes ihrer Schwester, der Maler und Videokünstler ist, jedoch seit Jahren nicht wirklich vorankommt in seinen künstlerischen Bemühungen. In der Vegetarierin erkennt er nun plötzlich unentdeckte Leidenschaft, Triebe, Wünsche, die ihm zu ungeahnter künstlerischer Inspiration verhelfen. Auf einmal tut sich ein neuer schöpferischer Raum für ihn auf, in dem Lust und Kreativität miteinander verschmelzen. Hier zeigt sich Han Kangs Kunstfertigkeit, Ambivalenzen in unauflösbare Ambiguitäten zu verwandeln. Der Blick des Schwagers ist auf eine Weise ebenso vereinnahmend wie der der anderen Familienmitglieder, doch zugleich ist er der einzige, der wirklich versucht, Yong-Hie zu verstehen. Während die Vegetarierin von den anderen als krank oder wahnsinnig betrachtet wird, als mitleiderregend oder abstoßend, sieht er sie als einzigartiges und begehrenswertes Geschöpf. Natürlich macht sie sein Künstlerblick, der zugleich ein Männerblick ist, wiederum zum Objekt. Doch löst er sie heraus aus den Erwartungen der Gesellschaft, schafft gemeinsam mit ihr einen Raum, in dem sie ihr Menschsein, in dem sie sich nicht mehr zuhause fühlt, momenteweise ablegen, überwinden kann. Er bemalt ihren Körper mit Pflanzen, im Kunstwerk vollzieht sich ihre Pflanzwerdung, nach der sie sich mehr und mehr sehnt, als sie miteinander schlafen, ist es kein fleischlicher, sondern ein pflanzlicher Akt. Es ist eine abgründige, ungewöhnliche Liebesgeschichte, die Han Kang hier erzählt, die mit dem Ende des Kapitels freilich auch selbst ein jähes Ende findet. Und doch bleibt eine gewisse Sympathie für diesen getriebenen, unglücklichen Mann und seine so perverse wie aufrichtige Begierde und Zuneigung für eine Frau, über deren körperliche und seelische Bedürfnisse jeder hinweggehen zu dürfen meint.

Anstoß erregt die Vegetarierin ja vor allem dadurch, dass sie sich freigemacht hat von jeglicher Scham, dass sie ganz selbstverständlich und in größter Natürlichkeit und Unaufgeregtheit die Konventionen bricht. Sie schämt sich nicht, aber sie ist auch nicht schamlos, was andere von ihr denken, spielt schlicht für sie keine Rolle mehr, sie hat aufgehört sich anzupassen, und gerade in ihrem Sie-selbst-Sein eckt sie an, empört und erschreckt die anderen, die sich, unbewusst, durch sie beschämt fühlen, da sie den Finger auf die wunden Stellen der Gesellschaft legt. Diese stille und radikale Form des Protests bewirkt bei manchen der Figuren eine Wandlung im Denken, oder erst einmal im Fühlen und Wahrnehmen, wenn sie bereit sind, sich ein Stück weit zu öffnen und über Tradition und Konvention hinwegzusetzen. Das ist nicht nur bei dem Künstler-Schwager so, sondern auch bei seiner Frau, der Schwester Yong-Hies, aus deren Perspektive der dritte und letzte Teil des Romans erzählt wird. Ihre Wandlung vollzieht sich unterschwellig über einen längeren Zeitraum, und wird ihr erst klar, als ihr die psychisch Kranken, die sie bei den Psychiatriebesuchen bei ihrer Schwester sieht, die inzwischen komplett die Nahrungsaufnahme verweigert, vertrauter erscheinen als die scheinbar normalen Menschen auf der Straße. In diesem dritten Teil regt der Text noch einmal dazu an, über Begriffe wie normal und asozial, gesund und krank zu reflektieren. Was ist asozial, dass man kein Fleisch ist, keinen BH trägt, sich mit Blumen bemalt und im Einverständnis Sex hat — oder dass man seine Tochter schlägt, ihr mit List oder gewaltsam Essen aufzwingt, sie in einer Anstalt verwahrt? Kann und darf man einen Menschen vor sich selbst beschützen? Und hier wird der Roman eben doch politisch, wirft er Fragen über die Verfügbarkeit über den eigenen Körper auf, über einengende patriarchale Strukturen, über Freiheit und Mündigkeit und Selbstbestimmung.

Die Vegetarierin ist in ihrer widerspenstigen Sanftheit auf jeden Fall eine im Gedächtnis bleibende literarische Figur, eine Frau, die sich nicht beirren lässt und radikal den Weg weitergeht, den andere sich nicht trauen, in letzter Konsequenz zu gehen. So wenig sie sich den Erwartungen der anderen fügt, die sich ihr Verhalten nicht erklären können, so widerständig ist auch der Text gegenüber einer eindeutigen Lesart. Der Interpretationsspielraum reicht von der Geschichte einer Essstörung über das Psychogramm einer Gesellschaft bis hin zur Utopie einer posthumanen Welt. Den Text psychologisch zu lesen scheint genauso schlüssig oder unschlüssig, wie seine gesellschaftskritische, philosophische oder existentielle Ebene in den Vordergrund zu heben. Mal fühlt man sich an Foucaults Gedanken zur modernen Psychiatrie, zu Macht und Wahnsinn erinnert, mal meint man eher in die religiösen Naturvorstellungen des Buddhismus versetzt zu werden. Sprachlich entspricht diesem unaufdringlichen Assoziationsreichtum ein klares und schnörkelloses und doch nicht unpoetisches Erzählen. Der Text lebt auch von seinem behutsam eingesetzten Gebrauch der Metapher, es sind einprägsame, auch gewaltsame (Körper-)Bilder, wie etwa aus den Augen tretendes Blut. Und natürlich spielt die Allegorie der Pflanzen eine zentrale Rolle. Letztlich ist es die Sprache, die im Raum der Fiktion den Körper als Kunstwerk hervorbringen und ihn auch wieder zerstören kann. Han Kang ist eine Künstlerin, die aus dem Material der Sprache einen vieldeutigen Raum schafft, der fasziniert und verstört.

Bibliographische Angaben
Han Kang: Die Vegetarierin, Aufbau 2017
ISBN: 9783746633336

Bildquelle
Han Kang, Die Vegetarierin
© 2024 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderFranz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal

Wie man locker und leicht und doch alles andere als achtlos das als Teil gegenwärtiger Identitäts- und Gesellschaftsdebatten oft moralisch überfrachtete Thema Transgender in Literatur verwandelt, können wir ausgerechnet, jawohl, und eigentlich sollte das auch nicht überraschen, in einem Kinderbuch lesen. Die Wiener Autorin und Übersetzerin Franz Orghandl hat für ihr wunderbares Buch Der Katze ist es ganz egal, in dem der kleine Leo eines Morgens beschließt, sich von nun an Jennifer zu nennen, was in seinem Umfeld einiges an Verwirrung und Aufregung auslöst, 2021 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis bekommen. Das Hörbuch dazu erschien ebenfalls 2021, gesprochen von Verena Noll in einem herzerfrischenden und zugleich erwärmend komischen Wienerisch und in einem natürlichen Erzählton, der Humor und Mitgefühl auf feine, unaufdringliche Weise transportiert und der aus dem Text hervorgehenden erzählerischen Haltung eins zu eins entspricht.

Denn die Geschichte regt immer wieder zum Schmunzeln an. So ist die erste Reaktion auf Leos Ankündigung, von nun an Jennifer zu heißen, nicht etwa: ,so heißen doch nur Mädchen‘, sondern: ,Jennifer, so heißt doch niemand mehr‘. Und so subtil in der Erzählung der Wechsel in der Bezeichnung zwischen „er“ (Leo) und „sie“ (Jennifer) stattfindet, so unauffällig kommt auch manche Überraschung daher, zum Beispiel die, dass plötzlich ausgerechnet der Opa die Eltern im Gebrauch des Personalpronomens für sein Enkelkind korrigiert („Sie!“).

Schön ist auch, wie vielfältig und lebensnah die Reaktionen auf den Namens- und Geschlechtswechsel erzählt werden, es ist weder eine super „woke“ heile Welt noch ein schrecklich intolerantes böses Umfeld, in dem sich Leo bzw. Jennifer bewegt. Mama, Papa, Opa, Oma, Lehrerin, Freunde und Freundinnen, alle müssen sie auf eine Art und Weise feste, klischeehafte Vorstellungen überwinden, das ist oft sehr komisch, manchmal aber auch schmerzhaft. Letztlich ist die Botschaft dieses zum Glück gerade nicht das Vermitteln einer Botschaft ins Zentrum stellenden Buches, dass es jeder Mensch (und bestimmt auch die Katze) wert ist, dass man hinter die Oberfläche schaut, dass Freundschaft und Zusammenhalt wichtiger sind als das äußerliche Erscheinungsbild. Ohne zu politisieren oder zu moralisieren macht der Text nicht nur den ohnehin vielleicht unvoreingenommeneren Kindern, sondern auch ihren vor- oder mitlesenden Eltern klar, wie wichtig es ist, dass man die Gefühle, den Charakter und auch die manchmal vielleicht nicht sofort nachvollziehbaren Eigenheiten des anderen als zu ihm gehörig anerkennt. Und er tut dies auf sehr unterhaltsame Weise, mit viel Witz und Humanismus.

Bibliogaphische Angaben
Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal, Klett Kinderbuch 2020
Illustriert von Theresa Strozyk
ISBN: 9783954702312

Hörbuch: Hörbuchverlag BUCHFUNK 2021
Gesprochen von Verena Noll
ISBN: 9783868476002

Ab 9 Jahren

Bildquelle
Franz Orghandl, Der Katze ist es ganz egal
© 2024 Klett Kinderbuch Verlag GmbH, Leipzig

bookmark_borderJackie Thomae: Glück

Wie in ihrem letzten Roman Brüder (vgl. Rezension vom 29.7.2020) verpackt Jackie Thomae auch in ihrem neuen Roman ein gesellschaftliches Thema in eine eher szenenhaft sich entwickelnde Geschichte, die einen sehr nah an ihre Figuren heranführt, deren anschauliche Ausgestaltung eindeutig im Vordergrund steht. Ging es im Vorgängerroman, ausgehend von den Biographien zweier Halbbrüder, um den Themenkomplex Herkunft, Ostdeutschland, Migrationshintergrund, Auswanderung, kreist in Glück alles ums Frausein, das gesellschaftlich noch immer zahllose alte und neue Konfliktfelder bereithält. Es geht um Frauenkörper, Mutterschaft, Rollenbilder, um all die mit dem Frausein im 21. Jahrhundert verbundenen, individuellen wie systemischen Erwartungen, Ansprüche, Ängste und Sehnsüchte.

Zum Glück bleibt dieses sicher ambitionierte erzählerische Unterfangen nicht im Schablonenhaften stecken, was bei einem solchen Stoff und den vielen im Roman aufgeworfenen Thesen und Gegenthesen ja leicht passieren könnte. Differenziertheit erlangt die Autorin hier vor allem durch ihr Erzählen mittels Perspektivwechseln. Stück für Stück setzt sich so eine keineswegs Vollständigkeit beanspruchende gesellschaftliche Wirklichkeit zusammen, die über die für sich jeweils berechtigte, nachvollziehbare, aber einseitige Wahrnehmung jeder ihrer einzelnen Figuren hinausreicht. Ausgehend von den beiden, man muss es hervorheben, beruflich erfolgreichen und gut aussehenden Protagonistinnen, der Radiomoderatorin Marie-Claire und der frisch gewählten Bildungssenatorin Anahita, beide Ende 30 (im ersten Teil) und Anfang 40 (im zweiten) und beide mit unerfülltem Kinderwunsch, rückt die Geschichte nach und nach die Leben weiterer Frauen aus dem familiären und sozialen Umfeld der beiden ins Licht der Handlung, und gibt damit auch sehr unterschiedlichen weiblichen Biographien Raum. Denn Marie-Claire und Anahita, die sich zu Beginn der Erzählung bei der Aufzeichnung eines Podcastinterviews treffen — die bekannte Radiofrau führt ein Gespräch mit der aufstrebenden Politikerin und stellt ihr, entgegen der eigenen Gesprächsetikette, die pikante Frage nach ihrer bisher ausgebliebenen Mutterschaft –, bewegen sich ansonsten in eher entfernten sozialen Milieus: Marie-Claire ist aus der fränkischen Provinz in die Großstadt gezogen und hat dort Karriere gemacht, Anahita muss mit ihrer migrantischen Herkunft, ungeachtet des Bildungsniveaus ihrer Eltern, immer wieder als Vorzeigefrau für einen hierzulande machbaren sozialen Aufstieg herhalten. Indem auch Freundinnen, Familienmitglieder und sogar die gemeinsame Frauenärztin selbst zu personalen Erzählerstimmen werden, verschiebt sich der Blick auf die Figuren mit jeder weiteren Stimme, wird korrigiert, verändert sich. Der personale Erzählreigen hat zur Folge, dass alle Figuren mit Voranschreiten der Erzählung an Vielschichtigkeit und auch an Sympathie gewinnen, man kommt ihren Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelten sehr nahe. Wenn aus der einen Perspektive etwa ein eher abschätziger erster Blick von außen auf eine andere Figur geworfen wurde, so zeichnet der nachgereichte Blick von innen ein anderes, ergänztes Bild. Und auch das Verhalten der Protagonistinnen erscheint im Spiegel der Außenperspektiven der anderen Figuren auf sehr erfrischende Art noch einmal in einem anderen Licht.

Was den zentralen inneren Konflikt der Hauptfiguren betrifft, ihren Kinderwunsch, so nimmt im Laufe der Geschichte auch hier die Nuanciertheit zu. Einerseits zeichnet sich auf der Handlungsebene eine überindividuelle Lösung ab, nämlich die (noch in den Bereich der Fiktion gehörende) Entwicklung einer neuen Pille für Frauen vor der Menopause, mit der Eizellen im Körper für einen späteren Zeitpunkt konserviert werden können. Andererseits deutet sich an, dass eine solche Pille in der Geschichte zwar eine Art poetische Geschlechtergerechtigkeit herzustellen verspricht, aber als Allheilmittel für die individuellen Biographien der Figuren kaum infrage kommt. Anahita und Marie-Claire werden sich bewusst, dass zwischen einem persönlichen und einem sozial erwarteten Kinderwunsch, so eng der Zusammenhang ist, ein Unterschied besteht. Und jenseits einer Pille, die man nicht losgelöst von der Logik des Marktes, des Profits und der sozialen Ungleichheit betrachten kann, ist, so die vielleicht nicht gerade originelle, aber in ihrer Einfachheit auch angenehm erdende Grundaussage von Glück, die Antwort auf die Frage, welcher Lebensweg mit Glück verbunden ist, letztlich die nicht planbare, immer wieder Überraschungen bereit haltende (Lebens-) Aufgabe eines jeden Einzelnen.

Bibliographische Angaben
Jackie Thomae: Glück, Claassen 2024
ISBN: 9783546100465

Bildquelle
Jackie Thomae, Glück
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderJens Steiner: Die Ränder der Welt

Jens Steiner, der in Ameisen unterm Brennglas (vgl. Rezension vom 15.10.2020) die Schweizer Gesellschaft detail- und spielfreudig mit einer Fülle an eigenwilligen Charakteren seziert hat, bewegt sich in seinem neuen, ähnlich verrückten, aber eine Spur melancholischeren Roman weit über die Ränder der Schweiz hinaus, bis nach Patagonien im Süden und bis nach Grönland im Norden. Und er führt seine Hauptfigur, Kristian, einen Schweizer mit estnischen Wurzeln, durch ein wildbewegtes Leben, das ihn auch in symbolischerem Sinne die Ränder des Daseins streifen lässt und an Grenzen führt, die schmerzhaft sind, aber doch immer wieder Neuanfänge aufscheinen lassen.

Zu Beginn der Erzählung befindet sich der mittelalte Ich-Erzähler Kristian auf dem Weg nach Christiansø, eine kleine dänische Insel inmitten der Ostsee. Es ist eine Reise, die er mit vielen Vorbehalten angetreten hat, nachdem er einen etwas merkwürdigen Brief seines Lebensfreundes und -feindes Mikkel erhalten hatte, der ihn nach Jahren des Schweigens und der Trennung wiedersehen will. Tatsächlich wird die Reise zum Auslöser für ausufernde Erinnerungen, die den Ich-Erzähler sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal neu erleben und rekapitulieren lassen. Dieser Rückblick auf ein halbes Leben, das die Geschichte des Buches wird, ist, so überschäumend-lebendig viele der vergangenen Erlebnisse geschildert werden, zugleich von einer großen Melancholie getragen, die nicht allein der psychischen Verfasstheit des Erzählers entspringt, sondern eine Art Grundton dieses Buches ist, das nicht nur die Geschichte einzelner Figuren erzählt, sondern auch das Porträt einer ganzen Zeit malt, von den 1950ern bis heute.

Die erste Erinnerung führt zurück ins Basel der 1950er Jahre, wo Kristian als Sohn estnischer Einwanderer eher zurückgezogen und im dunklen Bewusstsein eines Fremdseins in der Welt aufwächst. Sein überzähliger Finger an der einen Hand macht ihn in den Blicken der anderen zu einem Außenseiter. Kein Wunder, dass es etwas in ihm auslöst, als Mikkel, dessen dänische Familie ebenfalls eingewandert ist, Interesse an ihm bekundet. Die beiden werden Freunde und werden es viele Jahre, ja vielleicht ein Leben lang sein, doch ist es eine bewegte, eine unstete Freundschaft, die Kristian immer wieder aus der Bahn zu werfen droht, ihn mit Enttäuschung und sogar Verrat konfrontiert. Mikkel erscheint als ein höchst unzuverlässiger Charakter, mit dem eine große Nähe möglich ist, der aber immer wieder ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und von heute auf morgen, verschwindet, den Kontakt abbricht, um Monate später, als wäre nichts gewesen, wieder aufzutauchen. In der Schilderung dieser Freundschaft entsteht der Eindruck, als wäre die eigentliche Liebesgeschichte des Romans nicht die, die sich um die so extravagante wie zerbrechliche Grönländerin Selma dreht, die große Liebe Kristians, die er heiratet und wieder verliert (die er an Mikkel, seinen besten Freund, verliert!), sondern die nicht erotisch, aber hoch emotional erlebte Geschichte des sich Anziehens und Abstoßens der beiden Freunde Kristian und Mikkel.

Auf subtile Weise lässt die Erzählung ahnen, dass der untreue Freund vielleicht nicht die ganze Verantwortung für die Instabilität ihrer Freundschaft trägt, dass die unbestimmte Verlorenheit in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Ich-Erzähler verspürt, von anderswo kommt, vielleicht sogar weiter zurückreicht als sein eigenes Leben, dass sie, wie der überzählige Finger, auch Teil eines familiären, ja eines gesellschaftlichen Erbes sind. Symptomatisch sind das irgendwo in seinem Innern entstehende Summen, das den Ich-Erzähler schon als kleines Kind umgibt, auch ein Schwanken und Fallen, das ihn in Momenten der Verlorenheit immer wieder ganz physisch überwältigt — und das er übrigens mit einer anderen Figur, nämlich mit Selma, teilt, bei der uneindeutig bleibt, ob das Fallen als Manifestation einer Psychose oder als Sich-Aufbäumen der Freiheit gelesen werden muss.

In diesen Momenten des Fallens jedenfalls verschmelzen für die Figuren Außen- und Innenwelt, sie gelangen an die Ränder ihrer Wahrnehmung, und diese Grenzerfahrung erlebt man an manchen Stellen auch beim Lesen. Im Erzählen werden die Ränder der Welt der Fiktion aufgespürt, es wird uneindeutig, im Grunde auch unwichtig, was wirklich passiert und was imaginiert ist. Der sich erinnernde Erzähler nähert sich diesen Rändern in Form von Umrissen, von Konturen, die er seiner Erzählung gibt. Nicht zufällig ist der Roman auch ein Künstlerroman: Kristian begegnet der Skizzenhaftigkeit seines Daseins, der Welt, wie er sie erlebt, indem er impulsiv, fast zwanghaft, alles zeichnet, was ihn umgibt, ja, seine sechsfingrige künstlerisch so begabte Hand scheint hier immer wieder ein Eigenleben zu führen. In dieser Hinsicht erinnert er dann doch sehr an seinen Vater, einen Übersetzer aus dem Estnischen und großer Fabulierer, ein Spazierredner, wie es im Roman so schön heißt, der mit seinem Sohn lange Spaziergänge macht, die jedesmal zu ausufernden Rundgängen durch die Landschaften der Sprache und der (Familien-)Geschichte werden. Dieses Stromern übernimmt der Sohn auf seine Weise. Von Mikkel verlassen, verlässt auch er die Schweiz, geht nach Paris, später nach Kopenhagen, nach Italien, Argentinien. Doch dieses abenteuerliche, umherschweifende Leben entspringt weniger einer bewussten Entscheidung als der Kontingenz des menschlichen Daseins, ja es widerspricht auf den ersten Blick der großen Sehnsucht des Erzählers dazuzugehören, eine innere Heimat für sich zu finden. Jeder geographische Wechsel wird von einem Umbruch in seinem Leben ausgelöst, der ihn zum Spielball der Zeit und der Zeitgeschichte macht. Jens Steiner zeigt in diesem Roman, wie ein Einzelner in die gesellschaftlichen Wirren seiner Zeit gerät, die ihn bisweilen hinwegzufegen drohen und ihm, ohne dass er das beabsichtigt hätte, eine politische, soziale, künstlerische Haltung abverlangen, oder zumindest die fortwährende kritische Suche danach.

Um auf den Künstlerroman zurückzukommen: Kunst und Leben prallen in Die Ränder der Welt immer wieder aufeinander, sie sind nicht voneinander zu trennen und doch so schwer zu vereinbaren. Gesellschaftliche und kunstpolitische Entwicklungen seit der Nachkriegszeit spielen vielfach in die Geschichte hinein, prägen die turbulente Biographie des Erzählers, der verschiedenste Lebensentwürfe ausprobiert oder sie bei Freunden und Weggefährten veranschaulicht sieht. Es geht um das Leben als Kunstwerk, um Kunst als Sozialprojekt, um Anti-Kunst, um Nicht-Kunst, um den Verzicht auf Kunst zugunsten des sogenannten Lebens. Kristian selbst lässt sich zum Steinbildhauer ausbilden, lernt in Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Zeichner und später als Busfahrer in Patagonien. Und er begreift allmählich, dass die Kunst so wandelbar ist wie die Liebe, ein Lebensbegleiter, der sich nicht abschütteln lässt, die große Unbekannte, die einem so vertraut ist:

Ist Kunst ein Berühren der Welt, oder ist sie eine Flucht vor der Welt?
Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine große Lüge.

Jens Steiner, Die Ränder der Welt

Was den Roman über die nachdenklich stimmende Lebens- und Künstlergeschichte hinaus so lesenswert macht, ist die besondere Sprache, in der er verfasst ist. Jens Steiner schreibt eine poetische Prosa, die gleichzeitig sanft und überbordend ist. Er belebt die zahlreichen Orte, die im Roman, der ja auch ein Reiseroman ist, eine tragende Rolle spielen, indem er ein Panorama an Figuren schafft, an grotesken, schrägen, widerspenstigen Figuren, gleich ob sie sich innerhalb oder an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Der Text ist, um hier erneut ins Ausdrucksmedium der bildenden Kunst hinüberzuschweifen, wie eine mit den Farben des Expressionismus gemalte Meditation, über Liebe, Freundschaft, Familie, Kunst, wild skizziert und mit viel Liebe zum kuriosen Detail, in dem doch so viel Wahrheit steckt.

Bibliographische Angaben
Jens Steiner: Die Ränder der Welt, Hoffmann und Campe 2024
ISBN: 9783455017106

Bildquelle
Jens Steiner, Die Ränder der Welt
© 2024 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderChris Whitaker: In den Farben des Dunkels

In den Farben des Dunkels ist Krimi und Gesellschaftsroman in einem, ein sehr amerikanisches Romanepos, das nicht ganz ohne Pathos sehr viel Liebe in die Ausgestaltung der handelnden Figuren legt. Im Laufe der spannend konstruierten und die Neugier der Leser immer wieder geschickt schürenden Handlung entfaltet sich eine an Komplexität gewinnende Geschichte, die hinter den offensichtlicheren moralischen und individualpsychologischen auch gesellschaftspolitischen Fragen einen literarischen Diskussionsraum gibt.

Die Geschichte, die sich anfangs viele Seiten Zeit nimmt, anrührend die entstehende Freundschaft zweier Außenseiter, Saint und Patch, in einer Kleinstadt in den USA zu schildern, schlägt dann, schicksalsgleich, jäh um, als ein schlimmes Verbrechen geschieht. Patch beobachtet, wie ein Mädchen aus seiner Schule von einem Unbekannten angegriffen wird und geht dazwischen. Das Mädchen kann fliehen, Patch aber wird entführt und ist monatelang von der Bildfläche verschwunden. Später erfährt man, dass er die ganze Zeit in völliger Dunkelheit eingesperrt war. Seiner Freundin Saint gelingt es, ihn aus seiner Gefangenschaft zu befreien, der unbekannte Täter jedoch ergreift die Flucht. Danach ist alles anders, für den traumatisierten Jungen Patch ebenso wie für Saint, die verzweifelt an ihrer alten Freundschaft festzuhalten versucht, und auch für die gesamte Kleinstadt, die von weiteren Entführungen erschüttert wird. Patchs Version seiner Geschichte, und dies ist das zentrale psychologische Moment des Romans, glaubt niemand, alle halten seine Behauptung, nicht der einzige Gefangene gewesen zu sein, sondern den dunklen Raum mit einem Mädchen namens Grace geteilt zu haben, die ihn mit ihrer Stimme letztlich am Leben gehalten habe, für die Halluzinationen eines schwer traumatisierten Opfers. Patch wird sein Leben lang nach dieser geheimnisvollen Grace suchen und sein eigenes Leben ganz dieser Suche unterordnen, und Saint wird ihm dabei, aus Freundschaft, aus Liebe, zur Seite stehen, wird es in Kauf nehmen, dass ihre Gefühle nicht erwidert werden und dass auch ihr Leben einen ganz anderen Lauf nehmen wird.

Die private Mission wird dabei mehr und mehr eine gesellschaftliche, es geht um die Aufdeckung einer schrecklichen Serie von Mädchenmorden, die Patch und Saint auf ganz unterschiedlichen Wegen, die sich nur punktuell kreuzen, quer durch die USA führen. Gewalt an Frauen ist das zentrale Thema, das im Lauf der Handlung, im privaten und öffentlichen Raum, immer weiter ausdifferenziert wird. Ganz aus der Handlung heraus, und das ist wirklich die Stärke dieses fast ein wenig zu fesselnd geschriebenen Buches, entfalten sich weitere gesellschaftliche Dimensionen dieses Themas, Themen, die im Amerika der 1970er bis 1990er Jahre größtenteils tabuisiert wurden, es geht um ungewollte Schwangerschaften, um Abtreibungen, um Gewalt in der Ehe, um Scheidung, es geht auch um Homosexualität, um allein erziehende Väter und Mütter, und um die Abgründe der Todesstrafe.

Die meisten dieser wunden Punkte einer nach außen hin liberal auftretenden Gesellschaft werden im Roman eher skizziert, schraffiert, mehr angedeutet als auserzählt. Im Vordergrund steht das individuelle Erleben der Figuren, ihre Schicksale und ihr individueller Umgang damit. Und hier bleibt der Roman doch sehr im amerikanischen, westlichen Wunschbild des Individuums als selbstwirksamer, Schicksale schulternder und sich selbst ermächtigender aufrichtiger Charakter. Richtig handelt, wer unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen weiß, wer sich von der inneren Überzeugung tragen lässt, Courage zeigt. Und wer die Last des Schicksals ohne zu jammern trägt, dabei aber nicht resigniert, sondern sein Opferdasein in Handlungskraft verwandelt. An einigen Stellen scheint dahinter die Frage auf, wie weit ein solch resilientes und engagiertes Handeln in einem krisenhaften gesellschaftlichen Umfeld möglich ist, und welcher Preis, Einsamkeit, Isolation, Ächtung, dafür zu zahlen ist. Solidarität, Freundschaft, Liebe scheinen immer wieder auf, als Gegengift, als Leuchttürme, die dem strauchelnden Individuum im Dunkeln zurück auf den rechten Weg verhelfen können oder einfach nur zeigen, dass es auch in seinem Wahn, seiner Trauer, seiner Verzweiflung, nicht alleine ist. Das mag eine idealisierende Tendenz haben, dass es ins Kitschige gerät, wird aber durch eingebaute Unschärfen an den Rändern verhindert; Saints Liebe zu Patch etwa ist von ihrer Freundschaft nicht klar abzugrenzen, und auch bei vielen weiteren Figurenkonstellationen baut der Autor kleine Ambivalenzen ein. Patch übrigens arbeitet als Maler mit einer immer weiter reifenden Begabung daran, mit den Farben des Dunkels zu experimentieren und so die Unschärfe der Erinnerung zu überwinden, seiner eigenen an das Mädchen Grace und an alles, was sie über sich verriet, und in einem zweiten Schritt auch die ihm ganz fremder Leute, er nimmt Kontakt zu den Familien anderer Opfer auf und verwandelt in einer Art geteilter Trauerarbeit den schmerzhaften Verlust in Kunstwerke, die wiederum in die Realität übergreifen und eine wichtige Spur zur Aufklärung der Verbrechen werden.

Unschärfe und Andeutungsreichtum bekommen an manchen Stellen jedoch auch etwas Fragwürdiges, die zahlreichen historischen Katastrophen und Verbrechen, die quasi als Unterfütterung der fiktiven Handlungselemente immer wieder in die Erzählung gestreut werden, erinnern an vorbeirauschende Infoleisten im Fernsehen oder aufploppende Sensationsnachrichten im Netz. Auf fiktionaler Ebene werden etwa die Alkoholsucht von Patchs Mutter oder das Kriegstrauma seines Vaters ähnlich knapp abgehandelt. Da der Plot und das Erzeugen von Spannung letztlich klar Vorrang haben, drohen die gesellschaftspolitischen Themen an manchen Stellen in eine reißerische Katastrophenkulisse für die unbestritten aufwühlende und berührende Geschichte der Hauptfiguren zu erstarren.

Bibliographische Angaben
Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Piper, 2024
Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch
ISBN: 9783492071536

Bildquelle
Chris Whitaker, In den Farben des Dunkels
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderHelmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann

Trudi und Jacek sind ein Paar, sie sind es schon seit hundert Jahren und sie führen ganz schön scharfzüngige Wortwechsel, die zeigen, dass sie einander in ihren Stärken und Schwächen gut zu kennen scheinen. Und doch, so zeigt der Roman, scheint die Liebe auch nach Jahrhunderten ein Rätsel zu bleiben, und eine fortwährende Provokation. Was soll diese plötzliche Obsession Jaceks mit der historischen Jungfrau Jeanne d’Arc? Und wieso ist Trudi ernsthaft eifersüchtig auf eine ein halbes Jahrhundert ältere Frau? Doch während Jacek nicht von seinen Recherchen lässt und in seinen Träumen auf die Gefahr eines inneren Kontrollverlustes hin Kontakt zu Jeanne aufzunehmen versucht, geraten auch in der äußeren Welt die Dinge mehr und mehr außer Kontrolle. Ist ihnen jemand auf der Spur? Drohen sie, die Zeitreisenden, die Hüter über das Wissen, die Manipulateure des natürlichen Alterungsprozesses, enttarnt zu werden? Oder ist nun doch die Zeit gekommen, an der ihre Zeit ablaufen wird?

Helmut Kraussers Roman ist ein so ungewöhnlich wie spannend geschriebenes Experiment einer auf dem vieldimensionalen Feld der Literatur ausgetragenen Grenzüberschreitung. Das beginnt schon mit der Frage nach dem Genre. Wann das mit Jeanne begann ist ein historischer Roman, einerseits, er taucht tief in die Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts ein, entfaltet, auch im Rückgriff auf viele zeithistorische Dokumente und Stimmen, den Kosmos der Jeanne oder Jehanne d’Arc, die im Hundertjährigen Krieg für den französischen König gegen die Engländer kämpfte und später verraten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Stellenweise gewinnt der Text so geradezu dokumentarischen Charakter. Dabei belässt es der Autor jedoch nicht, vielmehr streut er von Anbeginn mit der Geschichte der fiktiven Figuren Trudi und Jacek fantastische Elemente ein, die dem scheinbar verbürgten Lauf der Geschichte ein Moment der Unsicherheit einhauchen und einem beim Lesen mehr und mehr zweifeln lassen, welche Gesetze denn noch ihre Gültigkeit haben. Kann Magie die Naturgesetze aushebeln? Birgt die vierte Dimension der Zeit geheime Kräfte, mit denen sich gar das Gesetz der menschlichen Sterblichkeit aushebeln lässt? Der Roman hat etwas Faustisches an sich, auch inhaltlich wird mit der Überschreitung von Grenzen gespielt: Im Zentrum steht das Wissen, verkörpert durch die Bibliothek, die in verschiedenen Zeiten erscheint, diesseits Moral und Ethik als eingeübter zivilisatorischer Umgang mit diesem Wissen, jenseits, eben transgressiv, das Begehren, mit diesem Wissen Macht und Unsterblichkeit zu erlangen. Oder einfach nur das Dasein in all seiner Fülle, in seiner Lust wie in seinem Schmerz, so allumfassend wie möglich zu spüren?

Ist die Zeit der Schlüssel zu diesem ersehnten Daseinsgefühl? In jedem Fall ist der Roman ein Zeitroman, der vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, der, wie die Figuren Trudi und Jacek, die Manifestationen von Wissen und Glauben und Aberglauben durch die Jahrhunderte sammelt, miteinander konfrontiert, prüft und verwirft, der, ebenfalls wie seine Figuren, die Zeit manipuliert, sie überlistet und ihr doch mit Haut und Haaren ausgeliefert ist. Doch durch das Vermischen der verschiedenen erzählerischen Ebenen, durch die Vielstimmigkeit des Textes, gelingt es ihm, die Zeit zumindest für die Dauer des Erzählens aus ihren Angeln zu heben und, dies auch über die Lesezeit hinaus, einen anderen Blick auf die Geschichte zu werfen. Denn von der berühmten Figur der Jehanne d’Arc schürft der Text weiter, bohrt er sich tiefer hinein in eine weniger erforschte Geschichte, und gelangt über den Klang des Namens und eine kleine Derrida’sche différance von Jehanne zu Jeanne, zur gleichfalls Legende gewordenen Piratin Jeanne de Belleville, die bereits ein Jahrhundert früher gelebt hat und in deren Herkunft die lautmalerische Frage des Romantitels eine Antwort zu finden beginnt. Historische Randfiguren, wie Jeannes Geschwister, ihre Mutter, deren Geliebter, werden in diesem Roman an die Oberfläche geholt, wandern durch die Geschichte und treiben ihr Unwesen. Allen voran eine Hexe, eine Schwarzmagierin, die alle Fäden der immer rasanter voranstürzenden Handlung in der Hand zu halten scheint. Und immer geht es dabei auch um die Liebe, um Begehren, und um Macht und Ohnmacht. So ist es nur stringent, wenn am Ende der Ursprung in einer aus dem Ruder gelaufenen Liebesgeschichte gefunden wird, wenn entlarvt wird, wie das Böse entsteht und sich nährt in einem frauenverachtenden, hierarchiestarren Kontext, der auf der Angst und dem Hass gegenüber Außenseitern beruht und in dem der Fremde, der Dunkelhäutige, der Behinderte und die unangepasste oder allzu selbständige Frau auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt werden.

Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann, Piper 2022
ISBN: 9783827014627

Bildquelle
Helmut Krausser, Wann das mit Jeanne begann
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderDiego Valverde Villena: Feuerzungen

Feuerzungen… der Titel ruft viele Assoziationen hervor, das Sinnliche, Körperliche, Elementare, Verzehrende einer Liebesleidenschaft ebenso wie das Mystische, Spirituelle, Geistige des biblischen Pfingstwunders, das ja auch als großes Sprachereignis geschildert wird. In Diego Valverde Villenas Gedichtband spielt all das mit hinein, er ist eine Feier der Liebe wie der Worte, und aus jeder Zeile geht hervor, dass eine Sprache ohne Sinnlichkeit für den Dichter nicht vorstellbar ist.

Diego Valverde Villena, 1967 als Sohn einer Bolivianerin und eines Spaniers in Peru geboren, hat schon zahlreiche Gedichtbände in seiner spanischen Mutter- und Vatersprache veröffentlicht. Feuerzungen ist eine Zusammenstellung von insgesamt 75 Gedichten, die hier nun zum ersten Mal auf deutsch erscheinen, in einer nah am Original entlanggeführten Übersetzung von Harry Oberländer, die eine schöne Brücke von der linksseitig abgedruckten spanischen Fassung zur deutschen Fassung auf der rechten Seite schlägt. Auch wenn man des Spanischen nicht oder nur wenig mächtig ist, lässt sich so der Originalklang erahnen und der ursprüngliche Ton Vers für Vers nachvollziehen.

Valverde Villena reiht sich mit seinen Gedichten in die große Tradition der Liebeslyrik ein, und er macht aus dieser Intertextualität keinen Hehl. Im Vorwort, das er diesem Band gewidmet hat, liest man von der Bedeutung der mittelalterlichen Gattung des Minnesangs für sein Werk, Walther von der Vogelweides Lieder „ebener“, also erfüllter Liebe von gleich zu gleich werden in ihrer Heiterkeit geradezu zum Programm erhoben, sein „tandaradei“ zum mystischen Zauberspruch einer dem Leben und der Liebe zugewandten Haltung. Auch in Valverde Villenas Gedichten selbst findet sich immer wieder eine spielerische Hervorkehrung der Traditionslinien, die vom Mittelalter über Renaissance und Barock bis in die Gegenwart reichen. Die Feuerzungen versammeln vor allem kurze und auch einige Kürzestgedichte, die alle in luftig-leichtem Gewand daherkommen und zugleich assoziations- und bedeutungsreich sind; in wenigen Zeilen durchquert das lyrische Ich Zeiten und Länder, schweift vom All zum Körper, und umgekehrt, lässt den Makrokosmos der Sterne aufblitzen, um zum Mikrokosmos winziger Insekten zu gelangen.

Eine Handvoll Einzeiler sind darunter, die den verdichteten, mit Traditionen spielenden Stil besonders eindrücklich veranschaulichen. In „Ungehorsam des Schlafs“ scheint mit der Antithese das Petrarchistische der Liebesqualen des lyrischen Ich auf, der seine Liebste nicht vergessen kann, nur um es im selben Atemzug zu unterlaufen: Hier erscheint das hartnäckige Traumbild der Einen, die es dem lyrischen Ich verwehrt, sich Anderen (im Plural!) zuzuwenden:

Ungehorsam des Schlafs
Quiero soñar con otras, y apareces tú
Träumen möchte ich von Anderen, und Du erscheinst

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Ein weiteres Kürzestgedicht, „Mund“, vermilzt die Ebenen der Sinnlichkeit und der Transzendenz zu einem unauflösbaren, den Widerspruch in sich tragenden, christlich-barbarischen Bild:

Mund
Tu boca es una planta carnívora que se ha hecho carne
Dein Mund ist eine fleischfressende Fleisch gewordene Pflanze

Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

In den Gedichten dieses Bandes, auch in den etwas längeren, werden immer wieder die seit Petrarcas Canzoniere in den Lyrikkanon eingegangenen Metaphern der Schmerzliebe aufgerufen, nicht ohne sie zugleich aus den ja inzwischen nicht mehr allzu festen Angeln einer in sich schon vielgestaltigen Tradition zu lösen und in Bewegung zu versetzen. So etwa, wenn einem topischen Gegensatz wie dem von Feuer und Schnee eine Vergänglichkeit eingeschrieben wird, in der sich die lyrischen Traditionen kreuzen: wenn die Glut der romantischen Begegnungen zum Schnee vom letzten Jahr wird, leuchtet neben der barocken vanitas mit der Metro und dem Nahverkehrszug auch die Flüchtigkeit der Großstadt auf, wie sie bei Charles Baudelaire, dem Dichter der Moderne, zum ersten Mal poetisch erfahrbar wurde. Auch aus dem sinnlichen Bildmaterial der Mythologie und der Märchen schöpft Valverde Villena in seinen Gedichten, um es — zu neuer Form zerfließend wie das Wachs in Odysseus‘ Ohren, das in den Feuerzungen dem zersetzenden Gesang der Sirenen nicht standzuhalten vermag, nicht standhalten will? — zu variieren, zu verfremden, in andere Kontexte zu setzen. Auch sprachlich-stilistisch scheint die Tradition der Liebeslyrik vielerorts in Valverde Villenas Gedichten auf, die bereits erwähnten zum Topos gewordenen Antithesen spielen eine Rolle, und auch an die barocke Erscheinungsform des Conceptismo, der mit einfachem Vokabular und Wortspielen nach Witz und Doppelsinnigkeit strebt, erinnern viele seiner luftig-sinnliche Pointen schlagenden Verse.

Mystik, Religion, heilige Liebe

Soy un cirio encendido por tus ojos
¿A quién miraré si no?
Ich bin eine Kerze entzündet durch deinen Blick
Wen schaue ich an wenn nicht?


Diego Valverde Villena: Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Das Schauen ist in fast allen Gedichten zentral, die Augen werden, wie in den hier aufgeführten Anfangsversen eines Gedichts mit dem Titel „Liturgie“, zu Akteuren der Liebe. Dabei vermischen sich die Sphären des Heiligen und des Erotischen, werden ununterscheidbar. Was in früheren Zeiten Blasphemie genannt worden wäre, lässt sich in Valverde Villenas zeitgenössischen Gedichten eher als eine moderne Transzendenzerfahrung beschreiben. Seine liebsten Vorbilder scheinen jedenfalls gerade die Dichter zu sein, die das Lebendige feiern und die auf diese Weise mitunter auch provoziert haben, von der sinnenfreudigen griechischen Mythologie über die schon erwähnte „ebene“ Minne Vogelweides, den katalanischen Dichter Ausías March (14. Jh.), der die Idealisierung des Weiblichen in seiner erneuerten Troubadourlyrik über Bord warf, über John Donne (17. Jh.) bis hin zu Dylan Thomas (20. Jh.). Für eine Sakralisierung des Erotischen nach dem Vorbild John Donnes etwa gibt es in den Feuerzungen viele Beispiele: „Deine Augen sind die Schrift Gottes“ und „Nackt betrete ich deinen nackten Altar“, um nur ein paar Verse aus dem dreifaltigen Minizyklus mit dem Titel „Ikonen (I), (II) und (III)“ zu zitieren. Mit dem immer wieder in den Gedichten der Feuerzungen aufleuchtenden Motivkreis der Religion und auch des Mystischen verbindet sich, und das ist das Aufregende, ein sich von der Tradition wieder freimachender neuer, unerwarteter Blick, der auch ein Aufblitzen der Offenbarung, des Geheimnisses, der Liebe sein kann, drei Begriffe, die bei Valverde Villena miteinander verschmelzen, um, wie das flüssig gewordene Wachs des Odysseus, immer neue Gestalt anzunehmen. Wie die Erotik eine sakrale Ebene erhält, wird auch das Mystische vom schreibenden Ich als eine zutiefst körperliche Erfahrung erlebt. Und so gibt es noch Wunder in den zugleich sehr in der Gegenwart verankerten Gedichten, wenn diese Wunder auch andere, neue Erscheinungsformen wählen. In „Beim Verlassen der Messe“ etwa findet die Epiphanie ganz unerwartet außerhalb des sakralen Raumes, mitten im Leben, statt.

Das wandernde Muttermal — die Feuerzungen des Körpers

Deshalb spielt auch Körperliches eine große Rolle in den Feuerzungen: Haut und Hände, Lippen, Wimpern, all die Körper-Topoi, die man aus der Tradition der Liebeslyrik kennt, und auch Körperteile, die seltener darin vorkommen, wie Fingernägel und Muttermale, verselbständigen sich, schlagen irgendwann im Wechsel der meist kurzen Verse einen unerwarteten Weg ein. Am schönsten zeigt sich das vielleicht in dem Gedicht „Muttermale“, in dem sich das liebende Ich darüber empört, dass die Muttermale auf dem Körper der Geliebten nicht an derselben Stelle bleiben. Sie scheinen zu wandern, jeden Tag an einer anderen Stelle aufzutauchen — wandernde Muttermale, Quell der Faszination und der Verunsicherung. Mit dieser in Bewegung gesetzten Körpermetapher wendet Valverde Villena eine tradierte Motivik um, gewinnt ihr eine neue Bedeutung ab, lenkt den Blick auf die Instabilität, das Wankelmütige, Spielerische einer Liebesbeziehung, während das Muttermal, ähnlich wie eine Narbe, ehedem als in die Haut eingeschriebenes und damit zuverlässiges, unverrückbares Zeichen des Schicksals gelesen wurde.

Dass die Annäherung zweier Liebender ein Wagnis ist, das es sich jedoch einzugehen lohnt, geht aus den Gedichten immer wieder hervor, der Körper der Liebenden ist Territorium ebenso für Schmerz und für Hingabe, für Verachtung und für Verschmelzung, Empfindlichkeit wird zur Voraussetzung der Empfindsamkeit oder vielleicht besser des Empfindens als solchem. Eine erotische Berührung wird etwa mit der Invasion eines Heeres von Insekten verglichen, das traditionelle Kipp-Motiv von Eroberung und Überwältigung experimentierfreudig variiert. Trotz der Feuerzungen, die in den Körpern wühlen, ist hier keine dominante Männlichkeit zu spüren, diese erscheint oft eher in jungenhafter Hilflosigkeit und Offenheit, jedoch ohne die Geliebte deshalb zur Domina zu stilisieren. Auch sie ist ein Körper, der sich spürt, ein Sparringspartner, ein Gegenüber, das sich im Anderen erfährt. In dem in wenigen Versen neu erzählten Märchen „Der Prinz auf der Erbse“ werden die Geschlechterrollen sogar ganz umgekehrt.

Der Dichter als Übersetzer — die Feuerzungen der Sprache

Die für den Titel gewählte Metapher der Feuerzungen lässt sich, wie schon angedeutet, nicht bloß als Körpermetapher lesen, ist nicht bloß Ausdruck der sinnlich erfahrenen Liebesleidenschaft, sondern verweist hier ganz klar auch auf das Pfingstwunder der Apostelgeschichte. So wie auf einmal jeder die Offenbarung durch die geistgeflügelten Zungen der Apostel in seiner eigenen Muttersprache hören und verstehen kann, wird auch der Dichter der Feuerzungen zum Übersetzer und Zeichendeuter für seine Leser. Das ist im Text immer wieder spürbar, fast programmatisch im Gedicht „Der Regen in Cherrapunji“, in dem der Regen als göttliches Zeichen gedeutet wird („Als hätte der scharfe Finger Gottes / das Herz der Wolken aufgerissen“), sich dann zur Tinte der Schreibkraft (des Dichters) wandelt, mit der dieser wiederum dem Schicksal Gestalt verleihen kann. Auch im Gedicht „Betende Polinnen“, in dem in wenigen Versen ein anspielungsreiches Netz aus Körperlichkeit, Mythologie, Mysterium und Liebe gewoben wird, zeigt Valverde Villena, wie man allein mit Sprache auf den ersten Blick ganz einfache Bilder evozieren kann, die im Kontext des Gedichts und des ganzen Gedichtbandes mehrsinnig zu leuchten beginnen.

Sus ojos lenguas de fuego

Entregadas al misterio
Su cuerpo se vuelve hostie

Existe la comunión
por una tercera especie

Ihre Augen Feuerzungen

Dem Mysterium hingegeben
wandelt sich ihr Leib zur Hostie

Es gibt die Kommunion
auf eine dritte Weise.


Diego Valverde Villena: „Betende Polinnen“, aus den Feuerzungen, deutsche Übersetzung von Harry Oberländer

Valverde Villena sieht seine Aufgabe als Dichter darin, ein Bild von einem Kontext in einen anderen zu übersetzen, als Vermittler zwischen Lateinamerikanischem und Europäischem ebenso wie zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen mystischer und weltlicher Liebeslyrik. Er geht dabei vor wie ein Kerzengießer, verschmilzt das Wachs, das Odysseus sich in die Ohren stopft, um der gefährlichen Erotik der Sirenen nicht zu erliegen, mit dem heiligen Wachs der Kerzen, die die polnischen Kirchgängerinnen entzünden und mit dem profanen Wachs der Ohrstöpsel seines lyrischen Ichs. Mit der sinnlichen Beredsamkeit der Zungen des Heiligen Geists offenbaren die Sprachbilder seiner Gedichte einem ein universales Gefühl des existentiellen Wagnisses der Liebe, die mystische Vollendung in der Wunde, der Verletzung, der Sinnlichkeit.

Bibliographische Angaben
Diego Valverde Villena: Feuerzungen, Edition Faust 2024
Aus dem Spanischen übertragen von
ISBN: 9783949774263

Bildquelle
Diego Valverde Villena, Feuerzungen
© 2024 Edition Faust in der Faust Kultur GmbH, Frankfurt am Main

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