bookmark_borderElsa Morante: La Storia

Elsa Morantes 1974 erschienener Roman, ein gewaltiges, ein poetisches, ein zutiefst menschliches Epos des 20. Jahrhunderts, das den berühmtesten des 19. Jahrhunderts in nichts nachsteht, dieser Roman, La Storia, der die große und die kleine Geschichte im Titel trägt, zeigt den ganzen Schrecken des Daseins, sein Elend, seine Brutalität, und all seine Schönheit, sein Glück, seine wilde Poesie.

Das Besondere ist, dass Elsa Morante in ihrer episch angelegten Geschichte, die sie zu Beginn der nach Jahren gegliederten Kapitel jeweils mit einer Aufzählung historischer Ereignisse geschichtlich und geschichtsphilosophisch verortet, wirklich von den „kleinen“ Leuten erzählt. Ihre Persönlichkeiten und Schicksale werden in der ganzen Materialität ihrer jeweiligen Herkunft und ihrer Lebensbedingungen in ihrer Vielschichtigkeit und Individualität ausgeleuchtet. Damit schreibt sie auch gegen die Anonymisierung der Massen an, die die politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, allen voran natürlich den Faschismus, aber auch die kommunistisch-sozialistischen Ideologien, die sie in ihrem Text mit genauso unideologisch scharfem Blick bedachte, was ihr nach Erscheinen des Romans von der italienischen Kritik übrigens noch lange Zeit vorgehalten wurde.

Elsa Morante selbst ist das Milieu, von dem sie erzählt, nicht fremd. Sie wurde 1912 im proletarischen Viertel Testaccio geboren, in dem auch ein Teil der Handlung von La Storia verortet ist. Aus Geldnot musste sie ihr Literaturstudium abbrechen und wurde Schriftstellerin und Nachhilfelehrerin; sie lernte Alberto Moravia kennen, mit dem sie bis 1962 verheiratet war, und veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, und dann ihre großen Romane.

Im Zentrum der Handlung, die in den 1940er Jahren in den eher ärmlichen Vierteln von Rom und Umgebung spielt, steht die verwitwete Grundschullehrerin Ida, die auf den ersten Seiten von einem jungen, seinerseits recht hilf- und haltlos wirkenden deutschen Soldaten auf der Durchreise vergewaltigt wird. Hier zeigt sich bereits der direkte, ungeschönte und unaufgeregte erzählerische Blick auf das Geschehen; das, was passiert ist, wird weder verharmlost noch dämonisiert, im Vordergrund steht die Notwendigkeit der Figur Ida, einen Umgang mit den ganz materiellen Konsequenzen zu finden: Sie verheimlicht ihre Schwangerschaft und arbeitet weiterhin als Lehrerin, um für sich, ihren Sohn Nino und den bald zur Welt kommenden zweiten Sohn, der Useppe genannt wird, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch nach der ebenso heimlichen Geburt wird das Kind weiter im Verborgenen gehalten, in der Wohnung sich selbst überlassen, bewacht nur von einem Hund, den Nino auf der Straße gefunden hat. Der große Bruder ist es auch, der mit Useppe die ersten heimlichen Streifzüge in die Welt unternimmt, die das Kleinkind mit allen Sinnen in sich aufzusaugen scheint. Mit Nino und Useppe hat Elsa Morante ein eindringliches literarisches Brüderpaar geschaffen. Der ungestüme, auch verführbare Nino liebt seinen kleinen Bruder, den sensiblen, mit der Kreatürlichkeit des Daseins durch einen feinen, übersinnlichen Draht verbundenen Useppe, doch seine Unstetigkeit und sein großer Freiheitsdrang bewegen ihn, den Kleineren immer wieder im Stich zu lassen. Bei einem Luftangriff auf Rom wird das ärmliche Mietshaus, in dem die kleine Familie lebt, in Schutt und Asche gelegt. Zusammen mit vielen anderen Obdachlosen stranden Ida, Nino und Useppe in einer Notunterkunft am Rande der Stadt.

Elsa Morante zeigt die Materialität des Daseins, wie es sich im Krieg offenbart, sie zeigt die Armut, den Hunger, das Elend und den Überlebenskampf, die Überlebensstrategien ihrer drei Hauptfiguren und vieler weiterer Figuren, an die sie erzählerisch ganz nah herangeht, ungeschönt und direkt, und doch literarisch verdichtet. Sie folgt auch den kleinsten Nebenfiguren, keine Figur ist ein bloßer Statist, alle sind sie Menschen mit einer eigenen Biographie, fühlende Menschen, leidende, hoffende, mit liebenswürdigen, eigensinnigen, auch grotesken Zügen. Das Auftreten einer jeden Figur und ihr Verhalten wird vielfach perspektivisch gebrochen, so dass sich ein vielschichtiges Bild ergibt. Elsa Morante arbeitet hier aber nicht mit Verfremdung, sondern mit Annäherung, mit einer Verdichtung, die jedoch nicht alles auserzählt, sondern den Figuren ihr letztes Geheimnis belässt, ihnen eine Offenheit zugesteht, in der alles möglich ist.

In diesem besonderen poetisch-realistischen Stil kann sie auch etwas in eine literarische Sprache fassen, das auf der Gratwanderung zwischen Unzugänglichkeit und Pathos sprachlich schwer einzufangen ist. Eindringlich sind mir die Szenen im Gedächtnis geblieben, in denen sie das Sterben ihrer Figuren, ihre letzten Momente, nacherzählt, sie nachdichtet und im selben Atemzug nachempfindet. Überhaupt gelingt es ihr, in diesem Buch, in dem der Krieg ja mehr als bloßes Hintergrundraunen der Handlung ist, so vom Tod zu schreiben, dass es einen auf eine nachdenklich machende, ganz leise Weise berührt, ja erschüttert. Dass sie, ohne Pathos und Exaltation, dem Schrecken des Todes so nachwirkenden Ausdruck verleihen kann, mag daran liegen, dass sie sich ihm immer wieder aus der Perspektive des unvoreingenommenen Kleinkindes oder Tieres nähert. Das Grauen des Todes und der Gewalt offenbart sich in einer Reihe von Bildern, die eher mit den Sinnen als mit dem Verstand wahrgenommen werden. So erkennt der kleine Useppe zum ersten Mal in seinem Leben den Tod im Blick eines Pferdes; er spürt ihn mehr, als dass er ihn begreift. Nach der Kapitulation betrachtet der kleine Junge an einem Zeitungsstand die Bilder von Gehängten, die er nicht versteht, nicht einordnen kann, deren unerklärliches Grauen sich ihm aber intuitiv erschließt.

Überhaupt spielt das Kreatürliche, das Unbewusste oder Vorbewusste, zum Beispiel auch in Form von Träumen, eine große Rolle in diesem Roman. Elsa Morante zeigt den Krieg und seine Auswirkungen auf einer anderen Ebene, jenseits der männlich dominierten martialischen Kampfschauplätze. An diesen weniger beleuchteten Rändern der Gesellschaft begegnen sich Tiere, Kinder und Alte, Geflüchtete und Ausgestoßene, und natürlich eine ganze Reihe unterschiedlichster Frauenfiguren. Es geht um Mutterschaft im Krieg, im Elend, in Armut, um Überforderung, Einsamkeit und auch um Solidarität, um eine nicht nur menschliche, auch kreatürliche Verbundenheit, die ihrerseits existentiellen Charakter hat und mitten in der Gewalt des Krieges ein utopisches Moment ist. Auch die Schwangerschaft wird, über das hinausgehend, was sie für Mutter und Kind ganz materiell bedeutet, in diesem Text ein literarisches Motiv, mit dem die Autorin Einzelschicksale in eine allgemeine conditio humana einbindet. Die heimliche Schwangerschaft Idas reiht sich auf diese Weise ein in weitere hochprekäre Schwangerschaften, in der Notunterkunft gebiert Karulina, eine noch sehr mädchenhafte Kindfrau, und fast zeitgleich auch eine junge Katze, die ihr einziges Junges nicht zu säugen vermag und es im Stich lässt.

Dass das Unbewusste nicht ausschließlich ein unverstellter Zugang zum Dasein ist, sondern in Form des Unterbewusstseins auch sozial geprägt sein kann, zeigt sich am Beispiel des diffusen Schuld- und Angstgefühls, das Ida als Tochter einer Jüdin verinnerlicht hat. Ida hält ihr Jüdischsein ebenso geheim, wie es schon ihre Mutter vor ihr tat, ihre Perspektive auf die in Rom lebenden und während des Krieges ins Getto gepferchten und später deportierten Juden ist eine gebrochene. Einerseits fühlt sie sich stark angezogen, sucht das Getto und seine Bewohner immer wieder auf, gleichzeitig legt sie ihre Tarnung nie ab.

Auch die männlichen Figuren, von denen die meisten Jüngeren freilich Partisanen und Soldaten sind, sind mehr als bloße Schablonen. Es wird nachgezeichnet, wie und warum sie sich bestimmten Gruppen anschließen oder sich als Einzelgänger durchzukämpfen versuchen. Dass die beiden Hauptfiguren Nino und Useppe beide vaterlos sind, lässt sich als deutliche Metapher lesen. In der Zeit des Faschismus und des Krieges gibt es nicht nur in Italien keine Väter mehr, nur selbst ernannte „Führer“. In dieser Leerstelle haben Ideologien eine große Anziehungskraft, und es entstehen Männerbilder, die Macht, Gewalt, Stärke demonstrieren. Nino, der Teenager und junge Erwachsene, schlägt mit seinem Ungestüm und seinem Drang nach Freiheit einen anderen Weg ein als der kleine Useppe, der im Krieg noch ein Kleinkind ist und ein ganz anderes Wesen hat. Doch beide werden mit den Schrecken des Krieges und dem Elend konfrontiert, sie erleben, wie auch die vielen anderen Figuren dieses dichten Romans, das Zermürbende des Krieges, das Elsa Morante so eindringlich zum Ausdruck zu bringen versteht wie den immer wieder im Kleinsten aufblitzenden Zauber des Daseins in all seiner Verletzlichkeit. Und so liest man atemlos, mit allen Sinnen, diese Erzählung von existentieller Sinnlichkeit, die ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Wirkung verloren hat.

Bibliographische Angaben
Elsa Morante: La Storia [1974], Wagenbach 2024
Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
ISBN: 9783803133656

Bildquelle
Elsa Morante, La Storia
© 2024 Verlag Klaus Wagenbach GmbH, Berlin

bookmark_borderIvy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter

Ich muss zugeben, dass ich mit diesem Buch nicht ganz warm geworden bin, wenngleich es in einem bewundernswert stringenten und originellen Ton bis zur letzten Seite durchkomponiert ist. Und wenngleich es mich jetzt, im Nachhinein, noch ganz schön weiter beschäftigt. Das Besondere: Fast der ganze Roman besteht aus Dialogen, er erinnert an ein aus den Fugen geratenes Theaterstück, ja, es scheint in gewisser Lesart wie ein Vorgriff auf etwas, was 20 Jahre später mit dem Theater des Absurden auf die Theaterbühnen kam. Beckett, Ionesco, Genet schrieben ihre Stücke ab den 1950er Jahren, Compton-Burnetts Roman, einer von insgesamt 20 Romanen, die sie im Lauf ihres Lebens verfasste, erschien im Original bereits 1935.

Aber worum geht es eigentlich? Das titelgebende Haus wird gehütet von einer wohlhabenden englischen Familie des späteren 19. Jahrhunderts. Die Handlung setzt am Weihnachtstag im Jahr 1885 ein und obwohl alles durch die radikale Konzentration auf die Dialoge und den Verzicht auf jedes zeithistorische Kolorit sehr zeitlos wirkt, ist die Welt der Figuren durchdrungen von tief verinnerlichten Moral- und Machtvorstellungen, die so auf die Spitze getrieben werden, dass sie, je vehementer die Figuren sie in ihrer Rede verteidigen, in ihrer Instabilität und Absurdität vorgeführt werden. Das Familienoberhaupt Duncan Edgeworth verkörpert in so grotesk-komischer wie grausamer Weise das sich noch immer machtvoll behauptende Patriarchat; die Frauen dominieren zwar im Redeanteil der Handlung, doch ist ihre Existenz deutlich prekärer als die der Männer, gleichwohl auch diese ihr Glück den patriarchalen Gepflogenheiten unterordnen müssen. Nacheinander verschleißt Duncan, der zwei Töchter im heiratsfähigen Alter hat, zwei Ehefrauen, erst die dritte wird ihn endlich überleben. Potentieller männlicher Erbe des Hauses ist zu Beginn Duncans Neffe Grant. Doch dann kommen Kinder auf die Welt, es werden neue Beziehungen geschlossen, gelöst und vor allem endlos besprochen von den Nachbarn und Bekannten, die pausenlos um die Familie herumschwirren und ihnen wortreich und mit viel geheuchelter Anteilnahme, die immer wieder in offene Häme umschlägt, moralische Unterstützung bezeugen.

Die Handlung, die es durchaus in sich hat: Kindsmord, Ehebruch, Erpressung, findet zwischen den Zeilen statt, oftmals auch in Leerstellen zwischen den Kapiteln. Die Theaternähe zeigt sich auch hier: Das Vergehen von Zeit wird nicht erzählt, alles spielt sich in einer kontinuierlichen Gegenwart ab, was eine dramatische Raffung zur Folge hat, in der sich die Ereignisse zu überstürzen scheinen. Da es keinen omnipräsenten Erzähler gibt, wird die Handlung ausschließlich von den Dialogen zusammengehalten, die nicht immer leicht zuzuordnen sind. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches zwar fesselnd, aber auch anstrengend ist. Ein weiterer besteht darin, dass eigentlich keine der Figuren sympathisch ist. Alle haben sie ihre Schwächen, die kühl belächelt, verheimlicht oder entlarvt werden, ohne dass jemals ein Anflug menschlicher Wärme zu spüren wäre.

Ein weiteres Merkmal der Dialoge ist ihre ausgestellte Oberflächlichkeit. Sie wirken banal und eitel, sind es im Zusammenspiel des Textes jedoch ganz und gar nicht. Vielmehr hat die Autorin sie so geschliffen und poliert, dass jede verbale Spitze, jede kleinste Übertretung laufend für Erschütterungen sorgt. Die Figuren sprechen Dinge aus, die man sich eigentlich nur im Stillen denken würde, und verpacken noch die größte Unverschämtheit in eine konventionelle, höfliche Ausdrucksweise. Ständig reden die Figuren aneinander vorbei, ob sie sich unbewusst oder absichtlich missverstehen, ist oft nicht zu unterscheiden, ebenso wenig, ob eine Aussage zynisch ist oder einfach nur schrecklich naiv. Diese Dialogtechnik, die die Autorin wirklich ziemlich genial bis zum Ende durchzieht, bewegt sich nah am Absurden und hat einige Ähnlichkeit mit den sprachlichen Mitteln, die von Beckett und Ionesco in ihren Stücken eingesetzt werden. Gesalbte Worte und höfliche Floskeln werden durch allzu direktes Nachfragen als hohle Phrasen entlarvt, Konventionen, wie etwa das Weihnachtsfest gleich zu Beginn des Romans, werden dialogreich in ihre Bestandteile zerlegt, sie werden verdinglicht, als leere Symbolik entzaubert, so dass ihre äußeren, heiligen Hüllen offen zu Tage liegen. Wie in den Stücken Genets dient die Absurdität der Rede auch dazu, Hierarchien und Machtverhältnisse zum Einsturz oder zumindest ins Wanken zu bringen. Hierarchien bestehen in Compton-Burnetts Roman zwischen männlichen und weiblichen Figuren, zwischen Familienmitgliedern und Bediensteten, und der pater familias ist wie die Kirche eine Institution, deren Autorität unter der Oberfläche langsam zu zerbröckeln beginnt und daher umso gnadenloser seine Macht ausspielt. Das gelingt ihm bis zu einem gewissen Grad, denn obwohl er nicht vor Lächerlichkeit gefeit ist, obwohl er immer wieder mit spöttischen Worten angegriffen wird, kann er doch nicht wirklich vom Sockel gestürzt werden. Der Schein ist wichtiger als das Sein, die Ehre des Hauses wichtiger als das Glück seiner Hüter, die allesamt Rollen spielen, in denen sie sich eigentlich überhaupt nicht zu Hause fühlen.

„Es ist schwer, in einer Familie vernünftig miteinander zu reden.“, heißt es an einer Stelle. Ein Haus und seine Hüter ist als Klassiker der britischen Literatur und als Text einer für die damalige Zeit unkonventionellen Autorin — Compton-Burnett wurde 1884 als eines von 12 Kindern in Middlesex geboren, schrieb zahlreiche Romane, wurde in den Adelsstand erhoben und lebte bis zu ihrem Tod 1969 in verschiedenen gleichgeschlechtlichen Beziehungen –, zu Recht und von Gregor Hens mit überzeugender stilistischer Verve ins Deutsche übersetzt worden. „Lustig“ und „vergnüglich“, wie der Roman in manchen Kritiken genannt wird, würde ich ihn jedoch nicht nennen. Immer wieder komisch, das ja, und immer wieder auch schockierend, provozierend, und letztlich auch sehr traurig.

Bibliographische Angaben
Ivy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter [engl. A House and Its Head, 1885], Die Andere Bibliothek 2024
Aus dem Englischen von Gregor Hens
ISBN: 9783847704690

Bildquelle
Ivy Compton-Burnett, Ein Haus und seine Hüter
© 2025 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderHelmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung

Den Schriftsteller Helmut Krausser habe ich erst kürzlich entdeckt, mit seinem letzten Roman Wann das mit Jeanne begann, der sich über die ansprechenden Assonanzen im Titel hinaus als sehr überraschende, unkonventionelle und bis zuletzt hochspannende Spiel-Art eines historischen Romans entpuppte (cf. Rezension vom 11.10.2024). Freundschaft und Vergeltung scheint auf den ersten Blick erzählerisch, dramaturgisch und thematisch ganz anders geartet, auch wenn wieder ein Geheimnis von krimineller Aura den Bogen über die gesamte Erzählung spannt: An einem sehr britischen Internat verschwinden in einer Silvesternacht Mitte der 1960er Jahre vier Personen spurlos, ein eigenwilliger, sich über Regeln munter hinwegsetzender Internatsschüler, sein reicher Vater, der als Geldgeber der Schule wie eine machtvolle graue Eminenz im Hintergrund wirkt, eine junge Lehrerin, die Begehrlichkeiten weckt, und die Direktorin des College. Auch Jahrzehnte später, als der Ich-Erzähler, der damals als Schüler das Internat besuchte und als Teil der Clique, oder vielleicht eher Anhängerschaft, des aufmüpfigen Mäzenatensohns eher nur am Rande in die Ereignisse involviert war, weitere Nachforschungen anstellt, bleibt der Fall voller Rätsel — eben das „Raven Hall Mystery“.

Was auf der ersten Ebene wie ein Internatsroman oder Collegeroman mit Mystery-Flair anmutet, wird erzählerisch jedoch so komponiert und gestaltet, dass die scheinbar wohlbekannte Form Risse bekommt, aus denen unerwartete neue Elemente hervortreten. Wie auch der Vorgängerroman ist Freundschaft und Vergeltung keinem bereits existierenden Genre eindeutig zuzuordnen. Vielmehr ist das Charakteristische des Textes gerade seine Stilmischung. In den Text schleicht sich, poststrukturalistisch gesprochen, eine différance ein, eine kleine Verschiebung: Aus dem College-Roman wird ein Collage-Roman. Während im ersten Teil die Zeugenschaft des Ich-Erzählers, seine tagebuchartigen subjektiven Erinnerungen an die Personen und Ereignisse im Internat im Jahr 1965 im Vordergrund stehen, kommen im nächsten größeren Abschnitt die nach dem Verschwinden angefertigten Verhörprotokolle von Lehrern, Hausmeister und anderen Zeugen oder Verdächtigen an die Reihe, in die sich der Ich-Erzähler 20 Jahre später Einblick verschaffen konnte. Noch einmal 20 Jahre später hat die Neugier des Ich-Erzählers noch immer nicht nachgelassen; der Drang, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, oder vielleicht sogar den verschwundenen Personen selbst, ist für ihn zur lebenslangen Mission geworden, zum zentralen Inhalt seines Daseins, für das er das Unverständnis, ja Missfallen seiner Frau in Kauf zu nehmen bereit ist. Man ahnt, dass sein detektivischer Forscherdrang seinen heimlichen Antrieb aus der Liebe gewinnt, wobei nicht ganz klar ist, ob aus Liebe zu der attraktiven Lehrerin, die damals verschwand, oder zu seinem damaligen Mitbewohner. Im Sinne des mimetischen, also nachahmenden Begehrens, wie es der französische Literaturwissenschaftler René Girard formulierte, wären die beiden Begehren ohnehin untrennbar verknüpft, da es über den verschwundenen Schüler und seine Lehrerin Gerüchte gab, die dieser selbst fleißig mit schürte.

Das Faustische eines Charakters, in das untrennbar das Begehren verwoben ist, scheint jedenfalls ein wiederkehrendes, allzumenschliches Thema des Autors zu sein. Ebenso wie das Spiel mit Fiktion und Realität, Erfundenem und tatsächlich Geschehenem, das vor dem Hintergrund unserer medienabhängigen Gegenwart, der im letzten Teil des Romans eine wichtige Rolle zukommt, auf die erzählerische Spitze getrieben wird. Denn während in den 1960er Jahren Gerüchte und pikante Unterstellungen noch eher durch Briefe verbreitet werden konnten, haben die neuen Medien im 21. Jahrhundert eine ganz andere Reichweite und Brisanz. Der Ich-Erzähler nutzt diese denn auch für seine Spurensuche zum „Raven Hall Mystery“. Auf den ersten Blick mit ziemlichem Erfolg: Er bekommt viele Klicks, viel Resonanz, viele neue heiße Spuren in Reaktion auf seinen Blog, den er zu den damaligen Vorfällen eingerichtet hat. Doch zugleich mit den neuen Möglichkeiten, die eine solche Internetrecherche bietet, treten auch ihre Schattenseiten zutage. Auf den Triumph, auf die Hoffnung folgt die Unsicherheit, und der Ariadne-Faden, an dem sich der Ich-Erzähler über die Jahre und Jahrzehnte an das Geheimnis heranzutasten schien, erweist sich im Spiel der Identitäten, das im Ineinander der virtuellen und wirklichen Welt entstehen kann, auf einmal als ziemlich fadenscheinig.

Freundschaft und Vergeltung ist auf der ersten Ebene ein spannender Roman über Macht und Leidenschaft und auf der zweiten eine formverspielte und medienreflektierte Erzählung über die schwere Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Täuschung, über die Manipulierbarkeit von Geschichten und die faszinierenden und fatalen Gespinste der Imagination.

Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung, Piper 2024
ISBN: 9783827014160

Bildquelle
Helmut Krausser, Freundschaft und Vergeltung
© 2025 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderJacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand

Und es ward Licht, „Et la lumière fut“ — der französische Originaltitel, unter dem das Buch 1953 erschien, trägt die biblische Reminiszenz noch deutlicher vor sich her als der Titel der deutschen Übersetzung, der gleichfalls Wert auf einen poetischen Klang legt. Von Beginn an ist klar: Diese Autobiographie eines Blinden, der im französischen Widerstand aktiv war, geht über einen persönlichen Erfahrungsbericht, über ein historisches Zeugnis hinaus. Was der Titel andeutet, bestätigt sich auf den ersten Seiten, die einen sofort auf eine irgendwie zarte Weise in Bann ziehen: Dieser Text ist, ohne sich hinter dem heute so verbreiteten Etikett der Autofiktion zu verstecken, zutiefst literarisch. Hier schreibt jemand, ohne sein Ich zu verfremden, voll Überschwang und Leidenschaft von seinem der radikalen Realität der Geschichte ausgesetzten Leben und von seinem Glauben, der ihn trug, auch oder gerade in der sehr weltlichen Erfahrung des Krieges. Wahrscheinlich hat diese Transzendenz, die durch das ganze Buch hindurchschimmert, etwas Altmodisches; aber sie hat zugleich auch etwas sehr Wahres. Denn die poetische Innigkeit von Lusseyrans autobiographischer Erzählung kippt eben nie ins Esoterische oder Rührselige, da ihr, das spürt man immer wieder, eine tiefe, schmerzhafte und schöne Menschlichkeit zugrunde liegt.

Beim Lesen der chronologisch erzählten Geschichte der Kindheit und jungen Erwachsenenjahre des Autors Jacques Lusseyran (1924-1971), der sie nach dem Ende des Krieges aufgeschrieben hat, taucht man nicht nur in die historisch bewegte Zeit der französischen Zwischenkriegs- und Weltkriegsjahre ein, die wir heutigen Leser ja nicht mehr selbst erlebt haben können, sondern auch in eine den allermeisten von uns auf andere Weise ebenso fremde Erfahrung des Eintritts in die innere Landschaft eines „sehenden Blinden“. Wir machen also die Erfahrung einer doppelten Alterität, die sich uns durch die mitreißende Sprache in großer Leichtigkeit vermittelt. Die Überarbeitung der Übersetzung aus den 1960er Jahren für die deutsche Neuausgabe hat sicher auch ihr Quantum zu der so flüssigen Lesbarkeit beigetragen.

Jacques Lusseyran wurde nicht als Blinder geboren. Er verlor sein Augenlicht im Alter von acht Jahren durch einen Unfall in der Schule. Und er fand es von neuem, indem er, so schildert er es, dank liebevoller Eltern und Freunde und dank seines eigenen inneren Antriebs zu einem „sehenden Blinden“ wurde. Dankbarkeit und Willenskraft erscheinen als die zwei Wesensmerkmale des Autors, die ihm, wie man heute sagen würde, zu einer besonderen Resilienz verholfen haben. Es wurde ihm möglich, seine Hilflosigkeit abzuschütteln und ein neues Sehen zu erlernen, sich auf neue Art und Weise im Dasein zu orientieren. Aus der Perspektive dieses wieder sehenden Blinden erfahren wir, wie es sich anfühlte, in den 1930er Jahren in Paris und Umgebung aufzuwachsen. Wir erfahren von seinen Freundschaften und von seiner ersten Liebe, die jedoch hinter der Innigkeit der Freundschaften, die er lebte und pflegte und die trotz der körperlichen Abhängigkeit des Blinden doch immer Freundschaften auf Augenhöhe waren, wie selbstverständlich zurückstehen musste. Etwas irritierend ist für uns heute vielleicht, dass Lusseyran anfangs trotz der, wie es scheint, gleichberechtigten Ehe seiner beiderseits berufstätigen Eltern in seinem früh begonnenen Engagement für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Möglichkeit der politischen Beteiligung von Frauen völlig außer Acht ließ. Das ändert sich später; alles andere wäre bei einer so reflektierten, lernbereiten und erfahrungsoffenen Persönlichkeit, wie sie aus dem Text hervorgeht, auch verwunderlich gewesen.

Bemerkenswert ist, dass Jacques Lusseyran den Krieg als noch größere Zäsur im Leben wahrnahm als den Verlust seines Augenlichts. Nicht nur politisch, sondern auch privat, wobei sich ab diesem Zeitpunkt der persönliche Lebensweg des Autors auch untrennbar mit dem politischen verknüpfte: Während der für die gesamte Bevölkerung als sehr belastend erlebten Besatzungszeit initiiert Lusseyran eine Widerstandsbewegung besonderer Art. Er schart eine Gruppe junger Männer um sich, die von ihm, einem blinden und ebenfalls noch sehr jungen Mann, geleitet wird, von einem jungen Mann, so schildert er es in der Rückschau, der einerseits nicht weiß, wie ihm da geschieht, und der andererseits intuitiv sehr wohl weiß, was er zu tun hat. Die Gruppe, die eine von mehreren parallel im Untergrund arbeitenden ist, entwirft erste Flugblätter zur Aufklärung der abgeschotteten Pariser Bevölkerung, bevor sie nach einiger Zeit mit anderen zusammenarbeitet, im komplexen Netz der Résistance aufgeht und sich, neben weiteren Aktionen, an einer richtigen Untergrundzeitung beteiligt, in der unter der permanenten Gefahr des Auffliegens und des Verrats über die Folterungen durch die Gestapo, die Konzentrationslager und die Judenverfolgung berichtet wird.

Dass der junge Blinde, ohne dass er sich aufgedrängt hätte, wie selbstverständlich als Anführer der Gruppe akzeptiert wird, ist, zumal in einem doch immer patriarchale Machtverhältnisse hervorkehrenden Umfeld des Krieges, schon erstaunlich. Er muss eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben, ein besonderes geistiges Charisma, das auch mit seiner Menschenkenntnis und seinem Gespür für Situationen, wie sie vielleicht aus seiner Augenblindheit erwachsen sind, zusammenhing. Auch mit seinem Gedächtnis, das verräterisches Papier ersetzte, trug er gewiss einen unschätzbaren Teil zur Untergrundkommunikation bei. Lusseyran absolvierte neben der Kräfte und Zeit beanspruchenden Untergrundtätigkeit auch noch ein Literaturstudium und spürte auch in dieser „Nebentätigkeit“ die menschenverachtenden Auswirkungen des Krieges. Denn ein Dekret des Vichy-Regimes — die Macht der nationalsozialistischen Besatzer hatte längst auch auf die so genannte freie Zone übergegriffen — verbot nun körperlich eingeschränkten Personen, zu denen auch Blinde gezählt wurden, die Ausübung bestimmter Berufe und verschloss ihnen auch den Zugang zur höheren Bildung. Durch wohlgesinnte Vertrauenspersonen gelang es Lusseyran, sein Studium fortzusetzen, doch war diese bedrohliche Erfahrung von Ausgrenzung durch die neuen politischen Machthaber nur ein erster Vorbote weiterer politischer Gewalt. Wie zahlreiche seiner Freunde und Mitstreiter im Untergrund wurde auch Lusseyran verraten und verhaftet. Er wurde Verhören unterzogen und entging nur knapp dem Tod durch Erschießen. Im Gefängnis in Fresnes war er zeitweise in Einzelhaft und wurde dann, wie so viele andere, mit dem Zug ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Von den 2000 Franzosen, die im Januar 1944 mit ihm dort ankamen, überlebten nur 30. Auch er selbst wurde unter den menschenunwürdigen Lagerbedingungen sehr krank, war dem Tode schon näher als dem Leben und erfuhr seine fast einem Wunder gleichende Genesung wie eine erneute Wiedergeburt. Aus der er wieder eine schier unglaubliche Energie zu ziehen verstand, indem er sich, auch im KZ, für Aufklärung einsetzte, Menschen um sich scharte und seinen Widerstand fortsetzte.

Die Widerstandskraft, die Lusseyran auch im psychologischen Sinne entwickelte, lässt an das berühmte Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen des österreichischen Psychiaters und Ausschwitzüberlebenden Viktor Frankl denken. Seine Widerstandskraft setzte Lusseyran aber auch ganz konkret politisch ein, in einem umfassenderen Sinne freilich als Einsatz für das Wohl der Menschen, für das höchste Gut der Menschlichkeit, für das es sich auch unter unmenschlichsten Bedingungen zu kämpfen lohnt. Seine Autobiographie knüpft daher in gewisser Hinsicht auch an die mittelalterliche, christlich geprägte literarische Tradition der chansons de geste an, mit der Schilderung der glücklichen Kindheit, der sich anschließenden Zeit des Aufwachsens als Zeit der Prüfungen, der Verwandlungen, mit der Verteidigung der Werte von Mut, Weisheit und Einsatz für die Gemeinschaft. In der Gegenwartsliteratur hat unlängst auch Anne Weber mit ihrem Versroman Annette, ein Heldinnenepos gleichfalls für eine historische Figur des französischen Widerstands, der aus der Bretagne stammenden Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, dieses uralte Genre entstaubt und auf poetische Weise reaktualisiert. Beide Bücher, das des blinden Widerstandskämpfers und das über seine weibliche Verwandte im Geiste und in der Tat, sind gerade jetzt, im Kontext von Diskriminierung, Krieg, Gewalt, so zeitlos wie aktuell.

Bibliographische Angaben
Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand, Klett-Cotta 2024
Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt [1966], überarbeitet von Tobias Scheffel
ISBN: 9783608988239

Bildquelle
Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht
© 2025 Klett-Cotta Verlag. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderWolf Haas: Wackelkontakt

Franz Escher ist ein Meister im Puzzeln, er macht es nicht unter 500 Teilen, am liebsten hat er 1000teilige Puzzles, deren Bildmotive Werke aus der Kunstgeschichte zeigen. Bei einem aus seiner wahrhaft umfangreichen Sammlung jedoch, der Erschaffung Adams von Michelangelo, fehlt ein Puzzleteil. Nicht etwa, weil Escher es verloren hätte, es wurde aufgrund eines, wie sich herausstellt, seriellen Herstellungsfehlers nur mit 999 Teilen geliefert. Was fehlt, ist ausgerechnet das Nichts. Das entscheidende Puzzleteil zwischen Adam und Gott, der Abstand, die Leere, ein winziges Teil, doch von tragender Bedeutung.

Wolf Haas‘ neuer Roman lässt sich als eine Variation dieses Nichts lesen. Wackelkontakt ist ein Zauberspiel mit der Fiktion, die ja auch ein Kunstwerk sein kann. Hervorgezaubert wird, wie aus dem Nichts, eine wahnsinnig spannende und unterhaltsame und witzige Geschichte.

Zu Beginn wird eine fast Beckett’sche Situation des Absurden evoziert, der Protagonist wartet — nicht auf Gott oder Godot, sondern auf den Elektriker, der einen Wackelkontakt in der Küchensteckdose beheben soll. Auch der Tod bricht unversehens herein — nicht in Gestalt eines metaphysischen Schicksals, sondern in seiner ganzen Absurdität als geradezu kläglich anmutende Folge reiner Physik. Es ist faszinierend, wie es Wolf Haas gelingt, die absurde Banalität einer alltäglichen Situation humorvoll zu fassen und zugleich, von unerwarteter Seite, gleichsam durch die Hintertür, wieder einen kleinen Schimmer metaphysischer Bedeutsamkeit hineinlugen zu lassen, der, ganz bescheiden, wie es dem absurd-weisen Humor des Autors entspricht, fortan über dem gesamten weiteren Verlauf der wendungsreichen Romanhandlung schweben wird.

Franz Escher wartet also auf den Elektriker, und das dauert, wie man das so kennt, wenn man auf den Elektriker wartet. Er liest deshalb ein Buch, genauer gesagt einen Mafiaroman, da er in diesem doch recht speziellen Genre seine zweite Leidenschaft neben Puzzles gefunden hat. Sobald Franz Escher zu lesen beginnt, verschmelzen wir Leser der Geschichte von Franz Escher gleichsam mit dem Leser Franz Escher und tauchen in die Geschichte des italienischen Ex-Mafioso Elio ein, der im Gefängnis auf seine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm wartet, ehe er seine abenteuerliche Reise in ein neues Dasein als der Deutsche Marko Steiner beginnt. So weit, so bekannt: Hier handelt es sich um die nicht ungewöhnliche Technik des Romans im Roman. Doch auch Elio befindet sich in einer quälenden Situation des Wartens, die ihrerseits absurd-komische Züge hat, und auch er liest, um diese Situation zu überbrücken, ein Buch, und zwar ein deutsches Buch über einen, der Escher heißt und auf einen Elektriker wartet. Damit ist eine weitere Treppenstufe der Fiktionsironie erreicht, auf der Wolf Haas von nun an in allmählich gesteigertem, am Ende furios rasantem Tempo, zwischen den Handlungsebenen springend, sie hinterhältig verzwirbelnd, immer weiter klettert, um am Ende… doch dazu später.

Von der pointenreichen, verblüffende Haken schlagenden Handlung soll hier gar nicht mehr verraten werden. Doch, vielleicht noch so viel: Es kommt auch eine Witwe vor, eine junge Witwe. Über das Wort stolpert der Protagonist Franz Escher, der sich als freiberuflicher Trauerredner davon eigentlich nicht aus der Fassung bringen lassen dürfte, immer wieder. Wir erfahren, dass das Wort „Witwe“ eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, bei denen die männliche Form aus der weiblichen gebildet wird, also zur Abwechslung einmal Adam aus Eva erschaffen wird, und von einem althochdeutschen Ausdruck abgeleitet ist, der „Mangel haben“ bedeutet. Der Mangel, das Fehlen, die Leere, auch hier tauchen sie wieder auf, diesmal klar mit Tod und Trauer assoziiert, der metaphysischen Grundierung einer Handlung, die sich ihrerseits permanent in einem Wackelkontakt zwischen Absurdität, Komödie und Melodram befindet.

Überhaupt ist die Sprache auch in diesem neuen Buch des gerne mit Sprache spielenden österreichischen Schriftstellers wieder sehr bedeutsam und Quell zahlreicher komisch-abseitiger Abschweifungen auch von Seiten der Protagonisten, die sich beide durch ihr fast pingelig genaues Sprachbewusstsein auszeichnen. Während Escher über die etymologische Herkunft des Wortes „Witwe“ sinniert oder sich über den aus synchronisierten Filmen übernommenen fragwürdigen deutschen Gebrauch der Wendung „Oh mein Gott“ aufregt, legt der ehemalige Mafioso eine erstaunliche Sprachbegabung an den Tag und lernt mit Engagement und in einem zweiten Schritt auch mit Fingerspitzengefühl die deutsche Sprache, um seine neue Identität glaubhaft zu verkörpern. Den derben Slang, den er sich von einem Junkie im Knast abschaut, verfeinert er später im Privatunterricht bei einer älteren deutschen Dame, um schließlich infolge eines erzwungenen Umzugs nach Österreich sich auch dieser dialektalen Variante gekonnt anzupassen.

Konstruiert ist der Roman, wie bereits angedeutet, wie ein Bild von M. C. Escher, dem niederländischen Künstler und Erschaffer optischer Täuschungen und perspektivischer Unmöglichkeiten. Berühmt ist etwa das Bild einer Treppe, die ein geschlossenes Viereck bildet und doch endlos weiter bergauf zu führen scheint, oder das zweier Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Diese unmöglichen Figuren entstehen durch klitzekleine logische bzw. perspektivische Fehler, ein winziges Detail, das das Irrationale in den Bereich der Wahrnehmung rückt, den Betrachter verwirrt und für einen Moment an die Unendlichkeit glauben lässt. In Wackelkontakt entstehen die unmöglichen Figuren auf narrativer Ebene infolge fiktionsironischer Elemente, die der Autor immer wieder einstreut. Es gibt Doppelungen, Unwahrscheinlichkeiten und kleine Verschiebungen in der Zeit, die mein Literaturwissenschaftlerherz gern mit Beispielen belegen würde, was ich mir in diesem Fall aber verkneife, um denen, die das Buch noch nicht gelesen haben, den Genuss der Überraschung zu bewahren.

Was den Roman zu einem so kurzweiligen und intelligenten Lesevergnügen macht, ist vor allen Dingen der Humor, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig wirkt: auf der Ebene der Figuren, auf der Wolf Haas wieder so eigenwillige und verstockte wie zugleich einfach liebenswürdige Charaktere erschafft, wie man sie aus seinen anderen Romanen kennt; auf der Ebene der Sprache und auf der Meta-Ebene der Fiktionsironie. So wie sich die beiden Handlungsebenen mit den verschiedenen Protagonisten auf einmal ineinander verschränken, verschränken sich in diesem Roman Absurdität und Lebensnähe untrennbar miteinander. Und am Ende dieses Zauberspiels geschehen fast noch Wunder. Die Antwort auf die conditio humana, die in der bedrohlichen Langeweile des Wartens ihre Metapher gefunden hat, ist natürlich der Griff zum Buch, das Lesen, das Eintauchen in die Bildwelten der Fiktion. Auf diese Weise, so staunt man, wird sogar der Tod überwunden — oder ist alles nur ein Zaubertrick?

Bibliographische Angaben
Wolf Haas: Wackelkontakt, Hanser 2025
ISBN: 9783446282728

Bildquelle
Wolf Haas, Wackelkontakt
© 2025 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderSteffen Kopetzky: Monschau

Große Aufregung herrschte 1962 in Monschau, einem kleinen Landkreis in der Eifel: Die Pocken, die man eigentlich aus Deutschland vertrieben glaubte, brachen aus, Monschau wurde „internationales Infektionsgebiet“. Steffen Kopetzky hat während der Corona-Pandemie aus diesem historischen Ereignis einen Roman entworfen, der eine Liebesgeschichte mit einem Stück bundesdeutscher Geschichte verbindet.

Auch wenn es sich mit der durchgehenden Situierung der Handlung in den 1960er Jahren um einen historischen Roman handelt, scheint der Aktualitätsbezug fast auf jeder Seite durch. Zwar handelte es sich bei der Pockenepidemie in der Eifel um einen lokal begrenzten Ausbruch, der aber auch schon infolge der globalen Vernetzung ausgelöst worden war. Im Roman treten Virologen und Dermatologen auf, unter ihnen ein talentierter junger Arzt namens Nikolaos Spyridakis, der aus Griechenland in die Eifel gereist ist, um bei der Eindämmung der Epidemie zu helfen. Er wird direkt im „hot spot“ eingesetzt, in den Rither-Werken in Monschau, einer großen Papierfabrik, eines der vielen an die Erben weitergegebenen Unternehmen, die in der Nachkriegszeit weiter Profite einstrichen. Dort lernt er Vera Rither kennen, die junge Firmenerbin, die der erwarteten Aufgabe, die Fabrik weiterzuführen, widerwillig gegenübersteht.

Diese Ausgangskonstellation verrät bereits, dass sich Steffen Kopetzky vor allem für die mit weitreichenden Konsequenzen verbundene Verknüpfung von Epidemie und Wirtschaft interessiert. Das bald verzweifelte Züge annehmende Krisenmanagement wird hier tatsächlich in erster Linie von Seiten des Unternehmens bestimmt, in einseitiger Rücksicht auf die internationalen Beziehungen und Absatzmärkte. Natürlich ist Vertuschung am Werke, wenn infolge der Ausbreitung der Krankheit, die einer anderen, mit Macht und Geld allein nicht einzudämmenden Logik gehorcht, die Interessen der Wirtschaft in Konflikt mit der Sicherheit der Bevölkerung treten. Kopetzky entwirft darüber hinaus ein Gesellschaftspanorama der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahren und zeigt, wie die Schatten des Krieges noch immer auf die damalige Gegenwart der Nachkriegszeit fielen. Auf Figurenebene steht die junge Generation in klarer Opposition zur alten, noch in den Krieg verstrickten Generation, von der nicht wenige weiterhin so handeln wie zuvor, opportunistisch, auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Das ungleiche Paar Nikolaos und Vera jedoch, die in Paris Journalismus studiert, und ebenso ein allzu neugieriger, nach dem Vorbild von Johannes Mario Simmel gezeichneter österreichischer Reporter, arbeiten der Vertuschung entgegen. Vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation der Epidemie bringen sie Dinge in Erfahrung und ins Rollen, von denen andere sich massiv bedroht fühlen…

All dies ereignet sich während der kurzen, anarchischen Zeit des Karnevals, die man natürlich als Metapher lesen muss. Die karnevaleske Maskierung steht für das Vertuschen, das sie zugleich enthüllt und entlarvt. Verdrängtes, Wildes in den Gefühlen und Verhaltensweisen wird zum Vorschein gebracht, die Hierarchien, die auch nach dem Krieg noch fortdauerten, erschüttert, unten und oben verkehren sich.

In der Hörfassung, gesprochen von Johann von Bülow, bekommen die sich überstürzenden Ereignisse eine zeitlupenartige Langsamkeit, die ein wenig an einen Brecht’schen Verfremdungseffekt erinnert. Von Bülow liest bedächtig und artikuliert, in einer für meinen Geschmack etwas zu gedehnten Sprechmelodie, findet aber einen charakteristischen und beim Hören gut wiedererkennbaren Duktus für jede der Figuren und beherrscht die vielfältigen Akzente und Dialekte, die im Figurenpersonal aufeinandertreffen, vom Bayerischen des Geschäftsführers der Rither-Werke über die rheinische Färbung der Eifel-Bewohner bis zum Österreichischen des Journalisten.

Ob nun gelesen oder gehört: Monschau ist ein Roman, der eine spannende und reflektierte Unterhaltung bietet, der einen kleinen historischen Zeitabschnitt aus der deutschen Geschichte am Beispiel einer fiktionalisierten Extremsituation ausleuchtet und, ohne zum Thesenroman zu erstarren, einige kleine Lichtblitze, etwa zu den Themen Krisenmanagement und Einwanderung, auch auf unsere jüngste Vergangenheit wirft.

Bibliographische Angaben
Steffen Kopetzky: Monschau, Rowohlt Taschenbuch 2022
ISBN: 9783499005671

Hörbuch: Argon Verlag AVE, 2021
Gelesen von Johann von Bülow
ISBN: 9783839818664

Bildquelle
Steffen Kopetzky, Monschau
© 2025 Rowohlt Verlag, Hamburg

bookmark_borderLeon de Winter: Stadt der Hunde

Jaap Hollander, jüdischer Arzt aus den Niederlanden, (ehemaliger) Frauenheld und Meister seines Fachs, der Neurochirurgie, reist alljährlich auf den Spuren seiner Tochter nach Israel, die dort vor inzwischen zehn Jahren verschwunden ist. Seine Frau, die längst seine Exfrau ist, fährt nicht mehr mit, er reist alleine, ein Einzelkämpfer, treu oder verblendet, der hartnäckig an das Überleben seiner Tochter glauben will. Bei seinem diesjährigen Aufenthalt bietet sich ihm eine einmalige und zugleich wahnsinnige Gelegenheit, im Gegenzug für seine chirurgischen Künste eine unglaubliche Summe Geld zu erhalten — mit der er die besten Geologen engagieren könnte, die Schichten der Höhle zu erforschen, in der seine Tochter zusammen mit ihrem Freund verschwunden ist.

Leon de Winter entwirft einen wendungsreichen, spannenden Plot, ein kurzweiliges Spiel mit verschiedenen Bewusstseinsebenen, in denen die Hauptfigur zeitweise sogar mit einem streunenden Hund kommunizieren kann und im Reich der Toten wandelt, doch hinter der Oberfläche guter Unterhaltung verbergen sich tiefere Schichten. Die Geschichte zeichnet im Grunde einen komplexeren psychologischen Verarbeitungsprozess nach. Jaap Hollander kämpft nicht nur mit dem Älterwerden und einer zunehmenden kognitiven Schwäche, was die Erinnerung an fremde Gesichter betrifft — die er sich im Rückgriff auf sein noch immer reiches Gedächtnisarchiv an Filmsequenzen über Vergleiche mit Filmschauspielern einzuprägen versucht. Ihn plagen auch Gewissensbisse verschiedener Art; angesichts der einschneidenden, auch bedrohlichen, sich überstürzenden Ereignisse drängt sich ihm eine reflektierende Rückschau auf sein bisheriges Leben auf. Von zentraler Bedeutung ist darin die Verarbeitung des Verschwindens der Tochter, es geht um Verlust und Trauer, um das langsame und schmerzhafte Sich-Eingestehen von etwas, was er lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Und schließlich geht es auch immer wieder um das Jüdischsein, dem Jaap gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand, während seine Tochter es im jungen Erwachsenenalter auf einmal zu praktizieren begann. Sie bemühte sich, als Vaterjüdin anerkannt zu werden, und war deshalb auch zu ihrer fatalen Reise nach Israel aufgebrochen.

Das Israel, in dem sich Jaap Hollander bewegt, ist das Israel kurz vor dem siebten Oktober, ein Israel mit realistischen und halluzinatorischen Elementen, sogar der israelische Premierminister und ein saudiarabischer Herrscher tauchen auf. Es ist auch ein Israel mit vielen Widersprüchen, die sich im Gegensatz der Landschaften abbilden. In der Wüste, wo die Tochter verschwunden ist, begegnet er auch zum ersten Mal dem Hund, der ihn noch lange verfolgen wird, im modernen Großstadtleben in Tel Aviv löst sich die Privatheit in Öffentlichkeit auf, man kann flanieren oder aber in der protestierenden Menge auf- oder untergehen.

Was auf den ersten Blick wie eine ganz persönliche Geschichte mit Krimi-Elementen erscheint, wie ein privater Prozess von Trauer und Verarbeitung, öffnet sich immer wieder ins Politische. Und wirft einen ebenso kritischen und selbstironischen wie einfühlsamen Blick auf seine Hauptfigur, die in ihrer verzweifelten Männlichkeit letztlich sehr menschlich wirkt.

Bibliographische Angaben
Leon de Winter: Stadt der Hunde, Diogenes 2025
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
ISBN: 9783257072815

Bildquelle
Leon de Winter, Stadt der Hunde
© 2025 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderSally Rooney: Intermezzo

Dass das Leben nicht immer geradlinig verläuft, kann man als Binsenweisheit betrachten. Und dennoch ist es eine Erfahrung, die, obwohl sie sich seit Generationen endlos wiederholt, uns Menschen immer wieder von neuem überrumpelt und deshalb natürlich auch unerschöpflichen Stoff für Romane bereithält. In Widerspruch mit der Gesellschaft, mit einer von außen oder auch selbst gesetzten Moral, mit einer wie auch immer gearteten Normalität zu geraten, ist eine oft konfliktreiche, schmerzhafte Erfahrung, die uns die Romanfiguren nicht abnehmen können. Aber wenn sie literarisch einfühlsam und überzeugend gestaltet sind, fühlt man sich beim Lesen vielleicht ein bisschen weniger allein, als wäre man im Gespräch mit einem guten Freund.

Wie in ihren früheren Romanen erzählt die irische Autorin Sally Rooney in Intermezzo einfühlsam und auch sehr packend von Anziehungskraft, von Verlangen, von Zuneigung jenseits geradliniger, gesellschaftskonformer Biographien. Im Zentrum steht diesmal aber keine Freundschaft, wie zuletzt in Schöne Welt, wo bist du (vgl. Rezension vom 8.2.2024), sondern die Beziehungsgeschichte zweier auf den ersten Blick sehr ungleicher Brüder, Ivan und Peter. Ivan ist Anfang 20, ein eher introvertierter junger Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und mit Leidenschaft und ziemlich viel Talent Schach spielt. Sein deutlicher älterer Bruder Peter ist Anfang 30, ein erfolgreicher junger Anwalt, Gutverdiener, der sich in ganz anderen gesellschaftlichen Kreisen bewegt. Die Handlung setzt ein, kurz nachdem der Vater der beiden gestorben ist. Von Beginn an legt sich der Schatten der Vergänglichkeit über die Beziehungswirren, wodurch einiges Schmerzhaftes anders, melancholischer, auch schärfer, herausgearbeitet wird, als dies in Rooneys Vorgängerromanen passiert ist. Es geht um Trauer, um Verlust, um Verletzungen, und um den Umgang damit. Denn wenngleich Ivan und Peter ein unterschiedlich inniges Verhältnis zu ihrem Vater hatten, wirft die Trauer das Leben und die Beziehungen beider Brüder ziemlich heftig durcheinander, konfrontiert sie mit sich selbst und auch miteinander, mit ihrem seit Jugendzeiten angespannten Verhältnis.

Ivan, der sehr eng mit seinem Vater war, lernt ausgerechnet in der Trauerphase eine Frau kennen, entbrennt in Liebe und muss nicht nur zwei so unterschiedliche wie intensive Gefühlszustände in sich miteinander in Einklang bringen, sondern außerdem damit umgehen, dass diese neue und so leidenschaftliche Liebe auch in anderer Hinsicht Konventionen verletzt. Margaret, so ihr Name, ist deutlich älter als er und hat sich erst vor kurzem von ihrem alkoholsüchtigen Mann getrennt. Mit großem Aufwand versuchen die Liebenden ihre Beziehung, deren Entstehen sie nicht abbremsen können und auch nicht wollen, zu verheimlichen.

Auch Ivans älterer und scheinbar so viel lebenstüchtigerer Bruder Peter hat sein Leben nicht wirklich unter Kontrolle. Seit einem Jahr ist er in einer halboffenen Beziehung mit einer deutlich jüngeren, freizügig lebenden Studentin, Naomi. Da sie einem anderen Milieu entstammt, will es Peter lange Zeit nicht wahrhaben, dass er sich ernsthaft in sie verliebt haben könnte. Die beiden tun so, als hätten sie eine rein sexuelle Beziehung, Peter unterstützt Naomi finanziell und flüchtet sich weiterhin in das Gespräch und in die lang vertraute Nähe seiner Exfreundin Sylvia. Sylvia ist seine große, nie überwundene Liebe, sie hatte vor einigen Jahren einen Unfall mit lebenslangen Verletzungen und anhaltenden Schmerzen, die ihr ein „normales“ (Liebes-)Leben unmöglich machen. Ihre Liebesbeziehung hatte Sylvia damals beendet, trotzdem macht Peter sich noch immer Hoffnungen, dass aus ihrer besonderen Freundschaft eines Tages wieder mehr werden könnte.

Ungeachtet der modern anmutenden äußeren Form der Beziehungskomplikationen, die an Eva Illouz‘ philosophische Analysen von Liebe und Verbindlichkeit im 21. Jahrhundert erinnern, ist Intermezzo im Grunde ein psychologischer Entwicklungsroman. Der Titel spielt auf eine begrenzte, entscheidende Spanne im Leben an, eine Zwischenzeit, in der vieles noch ungeklärt, unausgesprochen, unverarbeitet ist, in der die Figuren, die noch in der Luft hängen, motiviert werden, ihr Leben, wie auch immer, zu gestalten. So begreifen Ivan und Peter allmählich, dass sie nicht glücklich damit werden, wenn sie sich aus dem Weg gehen und hassen, ja, dass die an den Tag gelegte Gleichgültigkeit am Schicksal des anderen nicht ehrlich ist, und dass sie, so schwer es angesichts all der gegenseitigen Verletzungen scheint, aufeinander zugehen wollen, um all das Unausgesprochene endlich zur Sprache zu bringen. Fast schien es mir am Ende des Romans, dass trotz der wirklich innig geschilderten Liebe zwischen Ivan und Margaret die eigentliche Liebesgeschichte diejenige zwischen den beiden Brüdern ist. Von Enttäuschung bis zum Geständnis, von Unsicherheit über Ablehnung, Wut bis zur innigen Zuneigung ist die Geschichte der beiden Brüder voller Emotionen und Projektionen, die sich auf unterschiedliche Weise in den anderen Beziehungsgeschichten spiegeln, die die Autorin um diese zentrale Geschichte herum gruppiert hat.

Der dialogische Stil erinnert übrigens wieder sehr an Rooneys frühere Romane, die Form von Gesprächen mit Freunden, so der Titel ihres ersten Romans, oder wahlweise unter Brüdern oder Liebenden, ist die Ausdrucksweise, die ihr liegt und die es ihr, mit der wechselnden inneren Perspektive der verschiedenen Liebes- und Gesprächspartner, ermöglicht, nicht nur in die Innenwelt der Brüder, sondern ergänzend auch in die der mit ihnen in Beziehung stehenden Frauenfiguren einzutauchen, uns die Ängste, Sorgen, Vorbehalte, Enttäuschungen, Ausflüchte, Sehnsüchte und Wünsche ihrer Figuren so nahezubringen, als wären wir mit ihnen befreundet.

Bibliographische Angaben
Sally Rooney: Intermezzo, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Zoë Beck
ISBN: 9783546100526

Bildquelle
Sally Rooney, Intermezzo
© 2025 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderAudrey Magee: Die Kolonie

In der sehr atmosphärischen Anfangsszene des Romans lässt die irische Autorin Audrey Magee ein kurioses Bild des Aufbruchs entstehen. Ein exzentrischer englischer Maler besteht aus Authentizitätsgründen darauf, mit einem einfachen Fischerboot auf die kleine Insel überzusetzen, auf der er den Sommer verbringen will, um zu malen. Er zeigt sich vor allem besorgt um sein Gepäck, das vornehmlich aus Staffelei und Farben besteht, und trotzt, den Zeichenblock auf dem Schoß, mehr schlecht als recht den Wellen und der Seekrankheit. Dank der Erfahrung der beiden Fischer, von denen der eine nur Irisch spricht, kommen sie nach einer turbulenten Fahrt über das Meer auf der kleinen Insel an.

So wie die beschriebene Eingangsszene erinnert der ganze Roman an eine fortlaufende Gemäldebeschreibung. Wie ein Selbstkommentar werden aus der Perspektive des englischen Malers immer wieder, fast zwanghaft, Bildunterschriften eingefügt, als würde er ununterbrochen malen oder sich zumindest in seiner Umgebung so bewegen, als verwandelte er alles, was in seine Wahrnehmung tritt, in eine gemalte Szene. Genauso wie die lyrischen Kurzzeilen, die das Textbild an einigen Stellen verdichten, lösen sich diese malerischen Einsprengsel nicht aus dem Gesamttext heraus, sondern verschmelzen mit ihm. Zu dieser fließenden sprachlichen Form passt es, dass die Autorin auch viel mit inneren Monologen arbeitet, ohne scharfe Trennung zwischen Gedachtem und Geäußertem. Auch der Übergang der Figurenperspektive ist gleitend, wenngleich die Handvoll Protagonisten durchaus klar voneinander unterschieden wird, jeder Charakter konturiert gezeichnet und vielschichtig ausschraffiert.

Es gibt die irischen Inselbewohner, von denen hauptsächlich eine kleine Fischerfamilie zu den dramatis personae gehört, und die nicht-irischen Gäste oder Eindringlinge. Ein französischer Sprachwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über den Wandel und die Bedrohung der irischen Sprache verfasst, betreibt seit mehreren Jahren Feldforschung auf der kleinen irischen Insel. Als er in diesem Sommer, es ist das Jahr 1979, für seinen fünften Forschungsaufenthalt auf der Insel ankommt, ist er zu seinem Entsetzen aber nicht der einzige. Dass sich der bereits erwähnte englische Maler in diesem Sommer auch dort einquartiert hat, empfindet der französische Linguist nicht nur als eine persönliche Zumutung, sondern vor allem als eine Gefahr für den Fortbestand der irischen Sprache der Inselbewohner, die in Versuchung geführt werden, zu Kommunikationszwecken Englisch zu reden. Auch der Maler, der die Einsamkeit der Insel gesucht hat, um die Küstenlandschaft zu studieren und die Klippen zu malen — oder vielleicht auch nur, um endlich ein Bild zu schaffen, mit dem er seine Frau beeindrucken kann, eine Galeristin, die die avantgardistischere Kunst eines anderen seiner Landschaftsmalerei vorzieht –, ist alles andere als erbaut, als der Linguist in unmittelbarer Nähe zu ihm untergebracht wird. Um ungestört malen zu können, zieht er in eine baufällige Hütte direkt an der Küste. Doch auch dort, wo es weniger romantisch als ungemütlich ist, bleibt er nicht lange ungestört.

Die Streitereien zwischen den beiden Gästen auf der Insel schüren neue Konflikte, auch zwischen den Inselbewohnern, und lassen verborgene zutage treten. Porträtiert, auf mehreren Ebenen, wird in diesem Roman eine durch ein Unglück stark verkleinerte Familie von Fischern über mehrere Generationen: das Studienobjekt des französischen Linguisten, bei denen die Gäste einquartiert sind. James, der jüngste, den der Franzose, ungeachtet der Proteste des Jungen, mit der irischen Namensvariante Seamus ruft, ist zweisprachig. In der Familie spricht er Irisch, Englisch in der Schule, in der er sich als Außenseiter fühlt. Genauso wenig wohl fühlt sich James allerdings mit der Perspektive, in der Tradition seiner Vorfahren ein Fischer zu werden; er weigert sich aufs Meer hinauszufahren und fängt lieber Kaninchen. Seine Mutter ist eine schöne, noch junge Witwe, die in der Aussich lebt, irgendwann eine alte Witwe zu werden, wie ihre Mutter, James‘ Großmutter, die dem Engländer anfangs ähnlich feindselig gegenübersteht wie der Franzose, dessen linguistisches Anliegen sie als legitimeres Unterfangen auf der Insel betrachtet als die Malerei des Engländers, der sich augenscheinlich bald nicht mehr mit Landschaftsmalereien begnügt, sondern mit seinen Pinseln und Farbtuben in die Intimität der Inselbewohner einzudringen beginnt. Die Urgroßmutter von James schließlich ist diejenige, die sich ihr Irisch in Reinform bewahrt zu haben scheint. Aber auch sie versteht deutlich mehr, als es von außen den Anschein hat.

Das alles ereignet sich im Jahr 1979, als der Nordirlandkonflikt längst eine unaufhaltsame Gewaltspirale entfesselt hat. Trotz der scheinbaren Isolation der Insel ist er mehr als ein Hintergrundrauschen der Romanhandlung. In kurzen Zwischenkapiteln werden in immer rasanter erscheinender Dynamik die Morde des Jahres 1979 berichtet, die Opfer, katholisch, protestantisch, Familienväter, Kinder, alte Frauen, für einen kurzen, sachlichen und umso erschreckenderen Moment ins Licht geholt. Bezug darauf nehmen auf Handlungsebene dann gerade die Inselbewohner, die bei weitem nicht so abgeschottet sind, wie ihre Gäste es meinen oder erhoffen, die ihrerseits mit dem Egoismus der in eine größere Sache (die Kunst, die Wissenschaft) Verbohrten nur am Rande davon Kenntnis nehmen. Die Gewaltsamkeit der Kolonisierung ist denn auch das zentrale Thema des Romans, das mit den realen Anschlägen der IRA und den Vergeltungsschlägen von britisch-protestantischer Seite sein schreckliches eindimensionales Antlitz zeigt und auf der fiktionalen Handlungsebene auf subtile und vielschichtige Weise gespiegelt wird. Man erfährt, nicht zuletzt mittels der Figur des französischen Linguisten, viel über die Geschichte Irlands und Nordirlands, die die Autorin, auf eine übergeordnete Ebene der Gewalt- und Kolonisationsgeschichte abhebend, mit der Figur des Franzosen überdies mit der französischen Kolonisierung in Nordafrika in Verbindung bringt. Es geht auch viel um Sprache, die vom Zeugnis einer kulturellen Identität über ein sozial bedeutsames Kommunikationsmittel bis zum Machtinstrument der Kolonisatoren mit einer facettenreichen Spannbreite an Funktionen beladen ist.

Am spannendsten ist auf der fiktionalen Ebene in diesem Kontext auch die Beziehung zwischen dem englischen Maler und dem Inseljungen James, der ein erstaunliches natürliches Maltalent offenbart, da sie die Komplexität und Ambivalenz der (nicht nur) irischen Kolonisationsgeschichte erzählerisch überzeugend entfaltet. Über die Kunst nähern sich die beiden so ungleichen Menschen einander an, kommen ins Gespräch und entwickeln den Vorurteilen der Umgebung zum Trotz eine Beziehung, die einer Freundschaft auf Augenhöhe nahe zu kommen scheint. Doch ihre Beziehung bleibt fragil, vor allem von Seiten des Engländers getrübt und bedroht von Neid und Konkurrenzgedanken. Die winzige Künstlerkolonie, in der beide voneinander lernen, der erfahrene Maler vom frischen Blick des Jungen, der talentierte Junge vom Wissen und der Technik des Älteren, wird so doch wieder auf eine Machtkonstellation reduziert, die den einen enttäuscht, den anderen verunsichert zurücklässt.

Die Autorin lässt ihrerseits ein sehr zwielichtiges und widersprüchliches Bild von einigen ihrer Figuren beim Leser zurück. Während der Franzose, dem die irische Sprache so am Herzen liegt, als Sohn einer algerischen Mutter und eines ehemaligen französischen Soldaten mit seiner eigenen verdrängten Familiengeschichte zu kämpfen hat, die den Konflikt zwischen Kolonisator und Kolonisiertem auf kleinstem, scheinbar privatestem Raum, enthält, legt der Engländer, der mit dem Inseljungen und seiner Mutter auf verschiedene Weise in intime, auch wertschätzende Beziehungen tritt, dann doch wieder ein Verhalten an den Tag, das an das der englischen Kolonisatoren erinnert: Er eignet sich die Ideen des naiven Künstlers an und lässt ihn am Ende im Stich. So die eine Lesart, neben der weitere möglich sind, etwa in Form der Frage, was es mit authentischer Kunst auf sich hat, ob es eine solche überhaupt gibt, angesichts des Ineinanders von Traditionen und Kulturen. Was ist eine kulturelle Aneignung, was ein schnödes Plagiat? Offenbaren sich rückständige oder fortschrittliche Ansichten in der künstlerischen Form, die man wählt? Das Thema Kunst scheint mir, auch durch die äußere Form des Textes, das am tiefsten in den Roman eingewobene zu sein, mehr noch als das scheinbar im Vordergrund stehende Thema Sprache, bei dem die Autorin weniger in die Tiefe geht. Es sei denn, man betrachtet auch die Malerei als eine Sprache, als eine Art sich auszudrücken. Mit ihrem sehr in diese Sprache eintauchenden Text verwickelt die Autorin ihre lesenden Betrachter auf alle Fälle in ein inneres Streitgespräch mit ihren teils impressionistisch hingetupften, teils in ein fast barockes Licht- und Schattenspiel integrierten Figuren.

Bibliographische Angaben
Audrey Magee: Die Kolonie, Harper Collins 2025
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
ISBN: 9783312012893

Bildquelle
Audrey Magee, Die Kolonie
© 2025 Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

bookmark_borderMarkus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Jannes ist ein junger Mann, die Schulzeit ist noch nicht lange vorbei, und er ist Schäfer. Er arbeitet auf dem Hof und mit der Herde, um die sich seine Familie seit mehreren Generationen kümmert. So exotisch das im 21. Jahrhundert, in einer Gegenwart der Urbanität, der Schnelllebigkeit, der Vernetzung, klingen mag, hat es für Jannes, der auf dem Land und mit den Tieren aufgewachsen ist, zunächst eine Selbstverständlichkeit, die ihm, und hieraus zieht der Text seine Dynamik, nun schleichend abhanden zu kommen droht. Der Zweifel an dieser aus der Zeit gefallenen Daseinsform ist eines der großen Themen dieses Romans, der sich dem modernen Landleben auf komplexe Weise nähert.

Ein Schäferroman, der im 21. Jahrhundert spielt, muss natürlich mit den literarischen Traditionen, die er wachruft, brechen. Von der arkadischen Schäferidylle der antiken und barocken Literatur, von ihren loci amoeni, an denen sich heitere Liebes- und Verkleidungsspiele ereignen, sind die Weidelandschaften der Lüneburger Heide, auf die Jannes seine Schafe führt, weit entfernt. Die wohl noch zu erahnende Romantik der Heidelandschaft wird schon auf den ersten Seiten gebrochen von der unübersehbaren industriellen und militärischen Präsenz von Rheinmetall und Bundeswehr, und im Laufe der Handlung wird auch die Verklärung einer romantischen Vergangenheit, wie sie von nationalen „Heidedichtern“ wie Hermann Löns besungen wurde, in ihrer geschichtsvergessenen Verlogenheit und Verblendung enttarnt. Kein mediterraner heller Himmel lacht über einem bunten Treiben verliebter Schäfer und Schäferinnen, von Anbeginn evoziert der Autor mit seinen eindringlichen Naturbeschreibungen eine dunkle, düstere Atmosphäre, in der der Einzelne auf sich gestellt scheint. Auch wenn Vater und Sohn zu zweit unterwegs sind, begleiten Schweigen und Einsilbigkeit eine Kooperation, die in der Vertrautheit der Handgriffe und Abläufe kaum der Worte bedarf.

Jannes wird oft in der Natur gezeigt, und immer sind die Landschaftsbeschreibungen ein Spiegel der Seele, oder, etwas moderner gesprochen, der Psyche, wenngleich dieser Begriff für das, was der Autor, auch im Rückgriff auf eine umfassendere, mythische Ebene, auszudrücken versucht, wohl nicht weit genug greift. In jedem Fall spiegeln sich hier außen und innen, verschmelzen zu einem anfangs diffusen Gefühl der Verunsicherung, das Jannes zunehmend aus dem Konzept bringt und ihn schließlich dazu veranlasst, tiefer zu graben und sich und seine Familie mit der Vergangenheit zu konfrontieren.

Dabei scheint die Gegenwart schon genug Herausforderungen für die Schäferfamilie bereitzuhalten, zu der neben Jannes noch Opa Wilhelm, Mutter Sibylle und Vater Friedrich gehören, während Schwester und Onkel von Jannes dem Hof längst den Rücken gekehrt haben und Oma Erika mit Demenz im Heim betreut wird. Die geradezu mythisch aufgeladene Rückkehr des Wolfes in die deutschen Kulturlandschaften ist ein großes, die Geister und Gemüter aufreibendes Thema nicht nur für die Vieh haltende Landbevölkerung. Auch in Jannes‘ Familie sorgt sie für Divergenzen. Der Opa würde am liebsten die Herde nur noch mit dem Gewehr bewachen und kurzen Prozess mit den Wölfen machen, der Vater dagegen gibt ungefragt eine Menge Geld für kostspielige Schutzzäune und Hunde aus, und gründet einen Verein zur Mahnwache gegen Wölfe, um Politik und Öffentlichkeit wachzurütteln. Die regelrechte Obsession des Vaters, mit der er das eingebildete oder tatsächliche Näherkommen der Wölfe verfolgt, überlagert sich auf problematische Weise mit einer beginnenden Demenz, die Jannes am liebsten nicht wahrhaben möchte, für die er aber mehr und mehr Anzeichen bei seinem Vater entdeckt.

Verwoben mit der Wolfsdebatte und den ohnehin schon großen Herausforderungen des Schäferalltags im 21. Jahrhundert führt der Autor mit der wiederholten, vermutlich halluzinierten Erscheinung einer der regionalen NS-Vergangenheit entspringenden Frau noch eine weitere Konfliktebene ein, in der sich erzählerisch wiederum Traum und Geschichte, Wahn und Wirklichkeit übereinanderlegen. Jannes sieht diese Frau zum ersten Mal, nachdem er bei einer Party zu viel getrunken hatte. Doch ob wirklich der Alkohol der Auslöser seiner Panikattacke war, die sich später in einer ganz anders gearteten Stresssituation wiederholt, bleibt uneindeutig. Die diffuse Angst, die Jannes nicht mehr loslässt, greift in Form einer bewusst gestreuten Verunsicherung, was den Wirklichkeitsgehalt des Erzählten betrifft, auch auf den Leser über. Auch wenn er seine Herde nach draußen begleitet, meint Jannes immer wieder Spuren und Schatten in der Landschaft zu entdecken — der Beweis, dass er keiner Halluzination erlegen ist, oder doch Indizien für das Näherkommen der Wölfe? Tief verunsichert beginnt Jannes seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu hinterfragen und die befürchtete Demenz seines Vaters anders zu beurteilen. Indem der Autor das Brüchigwerden von Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit vorführt, unterstreicht er deren ausgeprägte Subjektivität und zeigt, wie Angst die Gefahreneinschätzung verformt und — nicht bei Jannes, der als selbstreflexiver Mensch über andere Mittel verfügt — anfällig für Ideologien und Verschwörungstheorien machen kann. Letztlich erzählt der Roman von einem Leben in der Krise, die über die Familienangelegenheiten oder die Herausforderungen einer bestimmten Berufsgruppe weit hinausreicht und die unvermeidlichen Veränderungen evoziert, die unsere gesamte gegenwärtige Gesellschaft betreffen. Die sich immer mehr in Jannes‘ Bewusstsein schleichende Erwartung einer Katastrophe, die er mit anderen Figuren des Romans teilt, die jedoch problematischere Bewältigungsstrategien dafür finden, ist im Grunde zurückzuführen auf einen anhaltenden Erschöpfungszustand, der als symptomatisch für unsere Gegenwart gelesen werden kann. Die Arbeit auf dem Hof, die immer weniger Leute stemmen müssen, und die damit verbundene steigende Verantwortung setzen Jannes spürbar unter Druck. Ein Gefühl der Auflösung macht sich breit, ein Zerbröckeln, Sich-Zersetzen, das in diesem Roman auf mehreren Ebenen literarisch durchgespielt wird.

Bezwingend ist dabei die Sprache, die Thielemann für diesen Auflösungsprozess findet. Einerseits haftet dem Text ein Realismus an, der einem den Alltag des Schäferdaseins eindrücklich vermittelt und das Geschehen in einer bestimmten Region lokalisiert. Der prosaische, kurzangebundene norddeutsche Dialekt der Dialoge findet jedoch Eingang in eine sehr sprachbewusste, lautmalerische Erzählung, deren atmosphärische Naturbeschreibungen ja bereits hervorgehoben wurden. Es ist also ein poetisch überhöhter Realismus, ein immer wieder auch verfremdeter Realismus, der bisweilen bis an die Grenze zum Surrealen, Alptraumhaften reicht. Diese sprachliche Überlagerung und Verschmelzung verschiedener Stile passt gut zur Wahrnehmungsproblematik des Romans. Sie entspricht auf kompositorischer und inhaltlicher Ebene der Überlagerung von Geschichte und Gegenwart, von Einbildung und Wirklichkeit, von Wolfsabwehr und Fremdenabwehr. Der Text ist auch ein Warnsignal, der am scheinbar so klein angelegten Beispiel eines Schäfer-Hofes im 21. Jahrhundert die wunden Punkte und Konfliktfelder unserer Gegenwart offenlegt (Stadt- und Landbevölkerung, Naturschutz und praktisches Leben im Austausch mit der Natur, Öffentlichkeitswirkung und Vermarktung, Heimatverbundenheit und Volkstümelei, Diversität und gesellschaftliche Spaltung, usw.), und er appelliert, mit der fiktiven Geschichte von Jannes‘ Familie, die sich trotz divergenter Ansichten um ein den anderen achtendes Miteinander bemüht, an den Zusammenhalt in einer auseinanderbrechenden Gesellschaft.

Bibliographische Angaben
Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner, C. H. Beck 2024
ISBN: 9783406822476

Bildquelle
Thielemann, Von Norden rollt ein Donner
© 2025 C.H.Beck oHG, München

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