bookmark_borderOyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins

Auf den ersten Blick scheint es irritierend, dass eine Geschichte, die als feministische Emanzipationserzählung gefeiert wird, durchgehend aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird, der es sich in den Privilegien, die einem attraktiven jungen Lebemann in der Gesellschaft zufallen, bequem eingerichtet hat — auf (die auch emotionalen) Kosten der jeweiligen Geliebten, die der männlichen Unverbindlichkeit und Verantwortungslosigkeit erwachsen.

Dieser keinesfalls unsympathische junge Mann und Ich-Erzähler strandet, von seiner aktuellen Freundin aus der komfortablen Wohnung geworfen, während der Corona-Ausgangssperren im Haus seiner Tante, deren Mann gerade an Corona gestorben ist und die vor kurzem ein Baby auf die Welt gebracht hat. In ihrem Haus trifft er zu seiner Bestürzung aber nicht nur auf Tante und Baby, sondern auch auf eine junge Frau, die nicht nur die Geliebte seines Onkels, sondern auch eine seiner eigenen zahlreichen Eroberungen gewesen ist. Während die zwei Frauen, die das Baby mit erbitterter Kampfbereitschaft jeweils für sich beanspruchen, aus dem Blick des Erzählers wie Furien erscheinen, macht der männliche Erzähler, ohne sich dessen selbst so richtig bewusst zu werden, eine Verwandlung durch, wechselt Windeln, verzichtet auf Schlaf und übernimmt auf einmal Verantwortung für das kleine schutzlose Baby.

Der sehr kurze, sehr locker und schwarzhumorig erzählte Text erinnert allerdings eher an eine Novelle, auf keinen Fall ist er ein Roman, wie es der Klappentext verkündet. Es wird keine Lebensgeschichte erzählt, sondern eine unerhörte Begebenheit, die sich während des Lockdowns im nigerianischen Lagos ereignet, die aber im Grunde überall auf der Welt so ähnlich verlaufen könnte und die nicht ganz zeitlosen, aber auf jeden Fall exemplarischen Charakter hat.

Vor allem darf man die Erzählung nicht wortwörtlich nehmen, sie ist überspitzt, von abgründigem Witz und, getarnt durch die Perspektive des männlichen Erzählers, nur sehr subtil entlarvend. Dass man den Ich-Erzähler so vernünftig findet, so väterlich verantwortungsvoll, und die beiden Frauen hysterisch, verbittert, verantwortungslos, dass all das, was die beiden Frauen schon durchgemacht haben, ein von Corona hinweggeraffter Ehemann, ein nach der Geburt gestorbenes Baby, ein Geliebter, der gerade in dem Moment stirbt, wenn das Baby unterwegs ist, ein anderer Geliebter, der sich von vornherein aus der Verantwortung stiehlt, an den Rand der Erzählung gerückt wird, während das Aussehen der Frauen, ihr etwas verwahrlostes Erscheinungsbild, ihre sinnlichen Reize, ihre einschüchternde Mütterlichkeit, intensiv kommentiert werden, so dass man kaum umhin kann, aus dem Optischen Rückschlüsse auf die moralische Integrität zu ziehen — all das gehört ja mit zu den geschlechterstereotypischen Bildern, die man sich von der männlichen und der weiblichen Rolle macht.

Die für den männlichen Blick, den man als Leser zu übernehmen verführt ist, völlig überraschende Solidarität zweier Frauen, die sich doch bis aufs Blut anzufeinden scheinen, bringt den feministischen Subtext der Erzählung ans Licht, in der keine salomonische Vaterfigur ein weises allgültiges Urteil spricht, aber in der ein Mann entgegen jeder gesellschaftlichen Erwartung mit immer größerer Selbstverständlichkeit einen Teil der Sorgearbeit übernimmt.

Bibliographische Angaben
Oyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins, Blumenbar 2021
Aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer
ISBN: 9783351050894

Bildquelle
Oyinkan Braithwaite, Das Baby ist meins
© 2024, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderDaniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Während Sylvie Schenk ihren autofiktionalen Roman Maman (vgl. Rezension vom 12.3.2023) erst schreiben konnte oder wollte, nachdem ihre Mutter gestorben war, geht Daniela Dröschers Erzählerin in dem gleichfalls autofiktionalen Roman Lügen über meine Mutter immer wieder ins Gespräch mit ihrer Mutter. Die Themen, die mit dem Nachdenken über das Leben der eigenen Mutter verbunden werden, auf das die erwachsenen Töchter einen neuen Blick zu werfen versuchen, fragend, suchend, korrigierend, sind in beiden Texten sehr ähnliche. Es geht um Frauen- und Rollenbilder und um Machtverhältnisse, um Dynamiken innerhalb von Familien und, insbesondere bei Daniela Dröscher, den Einfluss des Blicks von außen, der Familienmitglieder, der Gesellschaft, auf die eigenen Werturteile und Verhaltensweisen. Freilich gehört Daniela Dröscher einer anderen Generation an als Sylvie Schenk, deren Mutter zwei Weltkriege erlebte. Die historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen sind in den 1980er Jahren, in denen Lügen über meine Mutter spielt, andere, auch für Frauen, die Mütter sind; von Gleichheit in der Rollenverteilung ist man aber immer noch weit entfernt, die Kategorie Geschlecht wird auch in der Zeit, in der die Erzählerin aufwächst, von einer hierarchischen Struktur bestimmt, deren Auswirkungen auf Körper und Psyche Daniela Dröscher in ihrem Roman auf zugleich schonungslose und einfühlende Weise nachspürt.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die die vier Jahre von 1983 bis 1986 umfassen, während denen die Erzählerin im Grundschulalter ist. Die erzählte Zeit beschränkt sich also auf einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben von Mutter und Tochter, doch auch wenn nicht ab ovo erzählt wird, hat der Text in seinen fiktionalen Passagen durchaus die Anmutung eines den Leser mit sich ziehenden Romans. Die Autorin nimmt hier die Perspektive der Tochter als kleines Mädchen ein, das mit einem frischen, noch weitgehend vorurteilsfreien Blick auf das schaut, was in ihrer Familie passiert, auf ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, auf das ganze kleine Dorf im Hunsrück, in dem sie ihre Kinderjahre verbringt. Dieser Kinderblick hebt, gerade weil er die Hintergründe nicht erfasst, sondern in kindlicher Ehrlichkeit das kundtut, was sichtbar ist, die Willkür des väterlichen Umgangs mit der Mutter umso klarer hervor, die absurde Logik, mit der der Vater das Körpergewicht der Mutter für das Stocken seiner eigenen beruflichen Karriere verantwortlich macht, das Ausmaß des psychischen Drucks, den er ausübt, wenn er seine Ehefrau immer wieder zu Diäten und zur peinlichen Kontrolle mit der Waage zwingt. Aus dem Subtext der Erzählung geht hervor, dass sich hinter der Fixierung auf den als zu dick verurteilten weiblichen Körper vielschichtige andere Konflikte zwischen den Eheleuten verbergen, etwa die unterschiedliche Herkunft; der Vater ist in einer kleinbürgerlich-ländlichen Familie im Westen aufgewachsen, die Mutter stammt aus Schlesien, ihre Eltern sind in der Nachkriegszeit zu Geld gekommen. So verschmelzen verschiedene Brennpunkte der Ungleichheit, Geschlechterrollen, Herkunft, Finanzen zu einem konfliktreichen Herd, in dessen schwelender Glut, nicht zuletzt, da auch die Mutter wieder eine Arbeit aufnimmt, mit der sie zeitweise besser verdient als ihr Mann, unterbewusst permanent in einem verletzungsreichen Kampf um Machtstrukturen und Würde gerungen wird.

In diese fiktionale Erzählung aus Sicht der Tochter schiebt sich in kürzeren, kursiv gesetzten Passagen zwischen den Kapiteln immer wieder die reflektierende, einordnende Stimme der erwachsenen Tochter, die Schriftstellerin geworden ist und in ihrer eigenen Biographie und in der ihrer Mutter nach Spuren sucht, mit denen sich das Erlebte des Kindes nachträglich neu sortieren und bewerten lässt. Diese kritische Wahrnehmung der erwachsenen Tochter greift im Übrigen auch in den aus der Perspektive des Kindes erzählten Text ein, in dem nämlich immer wieder bestimmte Redewendungen und klischeehafte Ausdrücke kursiv gesetzt werden, die das Kind unbewusst und unhinterfragt aus dem Wortschatz der Erwachsenen übernommen hat und die bereits wertend verwendet werden. Durch den Kursivdruck wird deutlich, wie viele Stereotype die Sprache durchziehen und in welchem Maße man von den Ansichten der Familie und der Gesellschaft geprägt wird. So sieht die kleine Tochter ihre Mutter beim gemeinsamen Schwimmbadbesucht mit dem unbewusst übernommenen Blick des Vaters und empfindet eine eigentlich ganz unangebrachte Scham; ihr Vater wiederum betrachtet seine Frau mit dem Blick der Gesellschaft der 1970er und 80er Jahre, deren Ideal eines schlanken, sportlichen Körpers er verinnerlicht hat.

Lügen über meine Mutter ist ein scharfsichtiger und trotz der analytischen Tiefenschärfe auch mit Wärme erzählter Text, nicht zuletzt auch eine Hommage, oder, um mir hier eine Wortneuschöpfung zu erlauben, eine Femmage an die Mutter, die, so geht es indirekt aus dem Text, der das Gegenteil einer Idealisierung ist, hervor, eine starke, bewundernswerte Frau war, die ihre Kinder und die eigene an Alzheimer erkrankte Mutter versorgte, Geld verdiente, nach der fixen Idee ihres Mannes maßgeblich den Hausbau unterstützte und schließlich auch noch ein Pflegekind aufnahm.

Bibliographische Angaben
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter, Kiepenheuer & Witsch 2022
ISBN: 9783462001990

Bildquelle
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderTerézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens

Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Jane Eyre sind absolute Klassiker, deren Titelheldinnen mit ihren unvergesslichen Namen wie Leuchtsterne am Himmel der Literaturgeschichte prangen. Terézia Moras Titelfigur Muna hätte vielleicht das Zeug dazu, diese Tradition über den Text hinaus funkelnder Romannamen fortzusetzen, von denen es genügt, sie auszusprechen, um sofort das Bild einer ganzen Welt entstehen zu lassen, in der sich diese Figuren bewegen, in der sie leiden und lieben, scheitern und jubilieren. Die eigenwillige und tragische Strahlkraft dazu hätte Muna allemal. Muna, diese Figur, die ganz unserer Gegenwart entspringt, ein blühender Charakter dieser Zeit, die gerade im Vergehen ist, dem Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert; noch in der DDR geboren und aufgewachsen, nähert sie sich erwachsen werdend unserer Gegenwart. Die Autorin hat angekündigt, Muna eine Triologie zu widmen, diesmal mit einer weiblichen Hauptfigur, nachdem sie mit Darius Kopp zuvor eine männliche Figur ins Zentrum dreier zusammenhängender Romane gestellt hatte; die Schwelle zum 21. Jahrhundert wird also gewiss in den versprochenen folgenden Romanen überschritten werden.

Muna oder Die Hälfte des Lebens ist, gleichwohl der Text sich auf die Biogaphie nur einer Figur, eben derjenigen Munas, konzentriert, ein Gesellschaftsroman, der sich zu einem großen Teil im Prekariat des Medien- und Wissenschaftsbereichs ereignet, in dem die keineswegs unbegabte junge Frau bald nach ihrem Abitur gestrandet ist. Terézia Mora erzählt auch die Vorgeschichte, Munas Kindheit und Jugend, die sie bereits in prekär zu nennenden Verhältnissen verbracht hat und denen sie mit dem Elan und der Chuzpe einer willensstarken Jugendlichen zu entkommen versucht. Als Heranwachsende muss sie mit dem frühen Krebstod des Vaters und mit einer emotional unzuverlässigen Mutter klarkommen, einer Theaterschauspielerin, deren Stern längst erloschen ist und die das Entrinnen von beruflichem Glanz und Schönheit in einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Tabletten ertränkt. Als Muna für eine Zeitung und dann für einen Verlag arbeiten darf, wenn auch nur als schlecht bezahlte, aber umso engagiertere Praktikantin, sieht sie hier, im Schreiben, eine Tür nach draußen offenstehen. Gleichzeitig nimmt sie ein Studium auf, lernt neben dem Kulturbereich auch das Wissenschaftsmilieu kennen und bekommt bald am eigenen Leib zu spüren, dass trotz ihrer unterschiedlichen Klientele beide Milieus auf ähnliche Weise so hoffnungmachend wie desillusionierend sind. Während Muna zwischen der Verlagsarbeit und der Universität pendelt, wird sie in einem weiterhin hierarchisch dominierten Umfeld immer wieder ausgenutzt; ob freiwillig oder unfreiwillig, da verschwimmen die Grenzen. Und es sind zwar oft, aber bei weitem nicht nur Männer, die sich ihre unterlegene Position im beruflichen Kontext zunutze machen. Das Gerangel um Erfolg, um Gesehenwerden, Anerkennung und der Belohnung mit einer soliden, gut bezahlten Stelle macht die darin Mitspielenden zu Tieren, die mit dem ständigen Druck mehr oder weniger gut zurechtkommen.

Am Beispiel der Hauptfigur Muna, die einem in all ihrer Widersprüchlichkeit ganz nahe gebracht wird — sie ist schön und sie ist unsicher, sie ist intelligent und sie ist unerfahren –, wird spürbar, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein, in der Öffentlichkeit und im Privaten. Munas Verletzlichkeit springt einem immer wieder ins Auge, ja, geht aus der Sprache des Textes selbst hervor, der ganz aus ihrer Perspektive erzählt wird. Gleichzeitig verwandelt sie ihre Verletzlichkeit, die nicht nur, aber eben doch sehr viel mit ihrer Weiblichkeit zu tun hat, immer wieder in Stärke. Ihre Wirkung auf andere ist schillernd: mal aufreizend, mal provokativ, mal naiv, mal manipulativ. All dies sind Zuschreibungen, die Munas inneres Fühlen und Denken verfehlen, aber doch in gewissem Grade beeinflussen und formen. Unscheinbar ist sie jedenfalls nicht, doch der Grund, weshalb sie auffällt, unterscheidet sich oft himmelweit von dem, was sie sich eigentlich vorgestellt oder erhofft hat, und ruft zudem Gefühle auf den Plan, die einem Miteinander auf Augenhöhe im Weg stehen.

Vor diesem Hintergrund kann die „romantische“ Beziehung von Muna und Magnus, die im Mittelpunkt der Handlung steht und ihr Dreh- und Angelpunkt wird, ihre fatale Dynamik entwickeln. Muna lernt den deutlich älteren Magnus, einen Fotografen und Französischlehrer, bei einem Praktikum kennen. Von Anfang an ist sie fasziniert von ihm, und von Anfang an tritt er als ein kurzangebundener, misanthropischer Mensch auf. Er ist ein unverbindlicher, sich entziehender Charakter, ein Mann, der nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet und jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt, der sich, wie Muna bei ihren hartnäckigen und doch erfolglosen Nachforschungen erfährt, in den Westen abgesetzt hat, um dort seine akademische Laufbahn in Gang zu bringen. Nach sieben langen Jahren, in denen Muna ihn nicht vergessen kann, taucht er plötzlich wieder auf, und die ungleiche Beziehung zwischen ihnen nimmt ihren zerstörerischen Lauf.

Das Besondere und besonders Fesselnde ist die Art, wie dieser amour fou sich stilistisch und kompositorisch im Text entfaltet. Alles wird aus Munas Perspektive wiedergegeben, deren Blick ein so radikal subjektiver wie um Aufrichtigkeit bemühter ist. Ihre manischen Phasen, ihr selbstzerstörerisches Verhalten werden ausschließlich aus der Sicht der davon Betroffenen selbst erzählt. Das Neben- und Ineinander ihrer im Schreiben gesuchten Wahrhaftigkeit und ihrer emotionalen Verblendung ist hochspannend zu lesen, und es ist beeindruckend, wie diese erzählerische Unmittelbarkeit doch wieder erzählerisch vermittelt wird. Terézia Mora, deren experimentellen Umgang mit Sprache, mit Text man zum Beispiel auch aus dem Roman Das Ungeheuer kennt, in dem ein Paralleltext im Fußnotenbereich der Seiten die eigentliche Erzählung begleitet und in neuem Licht erscheinen lässt, arbeitet hierfür diesmal auch mit Klammern und Einschüben. So entsteht ein Text, der sich immer wieder selbst korrigiert, mit der Diskrepanz und Bedingtheit von Innen und Außen spielt und das Zweifeln und Sehnen, Denken und unaufhörliche Hinterfragen einer zugleich starken und schwachen, rebellischen und unterwürfigen, berechnenden und naiven, zielstrebigen und schwankenden, eben nicht auf eine einfache Formel zu bringenden Hauptfigur abzubilden vermag.

Nicht nur Muna selbst übrigens, sondern auch die zahlreichen anderen Figuren, denen sie begegnet, sind zum Großteil gebrochene, geschädigte Charaktere, zumindest aber Menschen, deren Hoffnungen und Pläne Kompromisse mit der Wirklichkeit eingehen mussten. Manchmal verbergen sie sich hinter einer strahlenden Fassade, manchmal sind die Risse schon deutlich nach außen hin sichtbar. Doch die Gewalttätigkeit, die nicht selten dahinter lauert, überrascht die junge Muna mehr als einmal. Für den Leser ist sie schockierend, gerade weil sie sich so scheinbar logisch aus den Handlungen heraus entfaltet.

Bibliographische Angaben
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens, Luchterhand 2023
ISBN: 9783630874968

Bildquelle
Terézia Mora, Muna oder Die Hälfte des Lebens
© 2024 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

bookmark_borderMieko Kawakami: Brüste und Eier

Für mich ist Brüste und Eier die literarische Überraschungssensation aus Japan! Mit jeder Seite hat mich das Buch, bei dem natürlich zuerst der auffällig-amüsante Titel ins Auge sticht, thematisch und stilistisch mehr fasziniert.

Der Roman bebildert eine ganze Palette tradierter und neuer, provozierender und miteinander kollidierender weiblicher Rollenbilder, die Mieko Kawakami, die Autorin, im Laufe der Handlung in ihrem ganz eigenen Stil aus den verschiedenen sehr lebensecht gezeichneten Figuren herausarbeitet. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Gesellschaftsportät, das alle so unterschiedlich gearteten Lebensentwürfe und die Individuen, die dahinter stehen, zugleich ernst nimmt und doch immer wieder auch mit einem humoristischen, entlarvenden Blick bedenkt. Es geht — und hier kann man sich ganz wunderbar mit den Figuren identifizieren — um die tastende, experimentierende, sich vergleichende Suche nach einem Ort für das (v.a. weibliche) Ich in der Gesellschaft.

Dabei ist der Roman alles andere als ein Selbstfindungsratgeber oder ein so genannter „Frauenroman“, er gerät auch nicht in die Nähe eines feministischen Manifests oder eines Thesenromans, sondern er bleibt auf jeder Seite richtig gute fiktionale Literatur, ein polyvalenter Text, der relevante soziale und allgemeinmenschliche Fragen aufwirft und sie in eine spannende Geschichte einbettet.

Los geht diese mit dem titelgebenden ersten Teil, der auf einer Novelle basiert, für die Kawakami 2008 bereits den wichtigsten japanischen Literaturpreis bekam. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Natsuko, einer 30-jährigen Schriftstellerin aus armen Verhältnissen, die noch nichts veröffentlicht hat und sich mit verschiedenen Jobs in der Großstadt Tokyo über Wasser hält. Im Sommer, in dem die Geschichte beginnt, bekommt sie Besuch aus ihrer Heimat Osaka: von ihrer älteren Schwester Makiko, die mit ihrem alternden Körper hadert und von der Idee besessen ist, sich in Tokyo die Brüste vergrößern zu lassen, und deren junger Tochter Midoriko, die den Beginn ihrer Pubertät wie einen Schock durchlebt und seit kurzem aufgehört hat, mit ihrer Mutter zu sprechen. Stattdessen kommuniziert sie, soweit nötig, über ein Notizbuch. In ein weiteres Buch schreibt sie ihre Tagebucheinträge, die im Text mit abgedruckt werden. Sie verraten die Empörung und Verunsicherung, ja die Verzweiflung, mit der Midoriko ihre hormonelle Veränderung vom Kind zur Frau und die damit verbundenen genderspezifischen Zuschreibungen beobachtet. Beim Wiedersehen eines Spielzeugroboters, in den kleine Kinder zum Spaß hineinschlüpfen können, gewinnt ihre Erinnerung an ein solches Erlebnis in ihrer eigenen Kindheit plötzlich eine ganz neue, erschreckende Dimension:

Die Hand bewegt sich. Die Beine bewegen sich auch. Komisch, wenn man, ohne zu wissen, wie es geht, einzelne Teile bewegen kann. Ich bin plötzlich in meinem Körper, und der Körper verändert sich, ständig und ohne mein Zutun. Warum kann mir das nicht einfach egal sein? Der Körper verändert sich weiter. Das ist düster. Diese Düsternis füllt meine Augen, am liebsten würde ich sie zumachen. Aber ich habe Angst, dass ich sie dann nicht mehr aufmachen kann. Meine Augen quälen mich.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I, Eintrag Midoriko

Das Verhältnis Midorikos zu ihrer Mutter ist nicht nur dadurch gestört, dass sie entsetzt über die geplante Schönheitsoperation ihrer Mutter ist, die sie als einen verheerenden Eingriff in die ohnehin beunruhigende weibliche Körperlichkeit empfindet, sondern auch durch ein sozial bedingtes Gefühl der Ohnmacht, hilflos zusehen zu müssen, wie ihre Mutter sich als billige Arbeitskraft in einem Nachtclub ausbeuten lässt, um sich und ihrer Tochter gerade so ein bescheidenes Leben zu ermöglichen.

Natsuko beobachtet die sich zuspitzende und schließlich kathartisch entladende Anspannung zwischen Mutter und Tochter, und macht sich — und hier deutet sich bereits die Schriftstellerin an, die sie im Begriff ist zu werden — ihre eigenen Gedanken über die tieferen Ursachen der Krise:

Oje, dachte ich, den beiden fehlen die Worte. Mir fehlten in dem Moment natürlich auch die Worte. Worte, Worte, wiederholte ich im Geist, aber sagen konnte ich nichts.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I

Die Suche nach Worten, ihre kontextuelle Einordnung und Gewichtung sowie ihre folgenreiche, sich mitunter verselbständigende Wirkung setzt sich auch im zweiten Teil des Romans fort, der etwa ein Jahrzehnt später spielt. Natsuko hat inzwischen recht erfolgreich einen Roman veröffentlicht und arbeitet an einem zweiten, mit dem sie jedoch nicht wirklich gut vorankommt. Die Berufswelt drängt sich nun in den Vordergrund, während im ersten Teil Familie und Herkunft im Zentrum standen. Natsuko trifft sich mit ihrer Agentin, mit Kolleginnen, geht leicht befremdet zu Autorenlesungen, schreibt Essays und denkt eher lustlos über die Weiterentwicklung ihres Romankonzepts nach. Doch unversehens ergreift ein neues Thema Besitz von ihr, schiebt sich mit einem immer nachdrücklicheren Kinderwunsch das Thema der familiären Gestaltung des eigenen Lebens nach vorne, und auch das Thema der eigenen Herkunft lässt sich in diesem Zusammenhang nurmehr schwer verdrängen.

So besucht die inzwischen Ende 30-jährige, allein lebende Natsuko Vorträge und Diskussionsrunden zum Thema Samenspende, wo sie den gleichaltrigen Jun Aizawa kennenlernt, der sich als Betroffener engagiert: Mit einer Samenspende gezeugt, ist er seit langem vergeblich auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Es entwickelt sich zunächst etwas holprig und dann doch ganz behutsam eine Freundschaft zwischen den beiden; Jun und Natsuko kommen sich emotional näher, doch Natsukos Asexualität und Juns als traumatisch empfundene Vaterlosigkeit stellen so einige Hürden bereit, in denen sich persönliche Ängste und gesellschaftliche Tabus zu scheinbarer Unüberwindlichkeit auftürmen.

Die beiden Romanteile erscheinen auf den ersten Blick fast wie zwei eigenständige Geschichten, die sich aber dann sehr stimmig zu einem romanesken Gesamtwerk fügen, verbunden durch die Stimme der Ich-Erzählerin, für die die junge japanische Autorin einen sehr überzeugenden, eigenwilligen und zugleich sympathischen Stil gefunden hat. Denn Natsuko stellt sich permanent infrage, sie lebt ihr Leben reflektiert, beobachtet und sinniert, wie sie sich und ihre Bedürfnisse im Verhältnis zur Gesellschaft, zur Familie, zu den Kollegen und Freunden positionieren soll. Sie macht schmerzhafte Erfahrungen, leidet unter großen Unsicherheiten und Zweifeln, erlebt aber auch intensiv die schönen Momente und durchlebt sehr bewusst die immer wieder an die Oberfläche drängenden Erinnerungen an ihre früh verstorbene Mutter und ihre Großmutter.

Da sich die Handlung an den so vielfältigen Fragen der Weiblichkeit entzündet, steht die Frage nach dem Selbstverständnis der Frau, ihrer Unterdrückung und den in Japan noch immer einflussreichen starren Rollenbildern im Spannungsfeld mit den immer größeren Möglichkeiten der Technik sowie mit generellen Erwartungen und Ansprüchen wie körperlicher Schönheit und Mutterschaft. Ohnehin ein komplexes Gefilde wird es, so zeigt die Autorin anschaulich, umso komplizierter, wenn man in irgendeiner Form aus der Rolle fällt, wie die asexuelle Erzählerin Natsuko, die auch ohne eheliche, sexuelle Bindung ein Kind großziehen möchte.

Über die Form des Dialogs, den Kawakami meisterlich beherrscht, lernt man auf fast beiläufige, aber zugleich sehr direkte und intensive Weise eine Vielzahl verschiedener hauptsächlich weiblicher Biographien kennen. Die Charaktere, die in den Gesprächen, aber auch durch die feinen Beobachtungen der Ich-Erzählerin ganz rund und plastisch hervortreten, haben alle ihre ganz eigene Geschichte, ihre eigene Haltung, und verfolgen, auch wenn das Schicksal mit voller Wucht zugeschlagen hat, doch mehr oder weniger hartnäckig ihren eigenen Weg, der jedoch für jede ein ganz anderer ist.

In Beziehungsfragen genauso wie bei der Frage, ob man sich dafür oder dagegen entscheidet, ein Kind zu bekommen, gibt es keine allgemeine Richtlinie. Und man kann so viele rationale Abwägungen vornehmen, wie man will, letztlich ist es eine Entscheidung, die jede Frau, jeder Mensch immer von neuem für sich treffen muss und die immer auch ein Sprung ins Ungewisse ist, wie es gegenwärtig etwa auch die amerikanische Philosophin L.A. Paul in ihrer Forschung zu Rationalität und Mutterschaft skizziert (vgl. Dies.: Was können wir wissen, bevor wir uns entscheiden? Von Kinderwünschen und Vernunftgründen, Reclam 2020). Und das erahnt nach vielen Gesprächen, Enttäuschungen und Ermutigungen auch die Romanfigur Natsuko immer deutlicher und trifft deshalb am Ende des Romans tatsächlich eine Entscheidung — eine Entscheidung, die ihre eigene ist, und zugleich das Spiel des Lebens, des Zufalls, der Begegnung zulässt…

So vielstimmig hier ein komplexes Thema behandelt wird, so faszinierend ist die écriture, der stilistische Ton der Autorin, der von einem tiefen, anschaulichen und sehr flüssig lesbaren Realismus geprägt ist, sich jedoch manchmal leicht satirisch zuspitzt und mitunter ins Surreale, ins Traumhaft-Psychologische gleitet, poetisch ins Innenleben der Erzählerin eintaucht und insgesamt eine unvergleichlich fesselnde Erzählung hervorbringt, die lang und intensiv in einem nachklingt, ob man nun aus Japan kommt oder aus einem anderen Land, ob man sich über einen Kinderwunsch den Kopf zerbricht oder unsicher in seinem Körper fühlt. Die Entscheidung, den Roman zu lesen, ist in jedem Fall ein Wagnis, das ich unbedingt empfehle einzugehen!

Bibliographische Angaben
Mieko Kawakami: Brüste und Eier, DuMont 2020
Aus dem Japanischen übersetzt von Katja Busson
ISBN: 9783832170431

Bildquelle
Mieko Kawakami, Brüste und Eier
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

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