Trudi und Jacek sind ein Paar, sie sind es schon seit hundert Jahren und sie führen ganz schön scharfzüngige Wortwechsel, die zeigen, dass sie einander in ihren Stärken und Schwächen gut zu kennen scheinen. Und doch, so zeigt der Roman, scheint die Liebe auch nach Jahrhunderten ein Rätsel zu bleiben, und eine fortwährende Provokation. Was soll diese plötzliche Obsession Jaceks mit der historischen Jungfrau Jeanne d’Arc? Und wieso ist Trudi ernsthaft eifersüchtig auf eine ein halbes Jahrhundert ältere Frau? Doch während Jacek nicht von seinen Recherchen lässt und in seinen Träumen auf die Gefahr eines inneren Kontrollverlustes hin Kontakt zu Jeanne aufzunehmen versucht, geraten auch in der äußeren Welt die Dinge mehr und mehr außer Kontrolle. Ist ihnen jemand auf der Spur? Drohen sie, die Zeitreisenden, die Hüter über das Wissen, die Manipulateure des natürlichen Alterungsprozesses, enttarnt zu werden? Oder ist nun doch die Zeit gekommen, an der ihre Zeit ablaufen wird?
Helmut Kraussers Roman ist ein so ungewöhnlich wie spannend geschriebenes Experiment einer auf dem vieldimensionalen Feld der Literatur ausgetragenen Grenzüberschreitung. Das beginnt schon mit der Frage nach dem Genre. Wann das mit Jeanne begann ist ein historischer Roman, einerseits, er taucht tief in die Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts ein, entfaltet, auch im Rückgriff auf viele zeithistorische Dokumente und Stimmen, den Kosmos der Jeanne oder Jehanne d’Arc, die im Hundertjährigen Krieg für den französischen König gegen die Engländer kämpfte und später verraten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Stellenweise gewinnt der Text so geradezu dokumentarischen Charakter. Dabei belässt es der Autor jedoch nicht, vielmehr streut er von Anbeginn mit der Geschichte der fiktiven Figuren Trudi und Jacek fantastische Elemente ein, die dem scheinbar verbürgten Lauf der Geschichte ein Moment der Unsicherheit einhauchen und einem beim Lesen mehr und mehr zweifeln lassen, welche Gesetze denn noch ihre Gültigkeit haben. Kann Magie die Naturgesetze aushebeln? Birgt die vierte Dimension der Zeit geheime Kräfte, mit denen sich gar das Gesetz der menschlichen Sterblichkeit aushebeln lässt? Der Roman hat etwas Faustisches an sich, auch inhaltlich wird mit der Überschreitung von Grenzen gespielt: Im Zentrum steht das Wissen, verkörpert durch die Bibliothek, die in verschiedenen Zeiten erscheint, diesseits Moral und Ethik als eingeübter zivilisatorischer Umgang mit diesem Wissen, jenseits, eben transgressiv, das Begehren, mit diesem Wissen Macht und Unsterblichkeit zu erlangen. Oder einfach nur das Dasein in all seiner Fülle, in seiner Lust wie in seinem Schmerz, so allumfassend wie möglich zu spüren?
Ist die Zeit der Schlüssel zu diesem ersehnten Daseinsgefühl? In jedem Fall ist der Roman ein Zeitroman, der vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, der, wie die Figuren Trudi und Jacek, die Manifestationen von Wissen und Glauben und Aberglauben durch die Jahrhunderte sammelt, miteinander konfrontiert, prüft und verwirft, der, ebenfalls wie seine Figuren, die Zeit manipuliert, sie überlistet und ihr doch mit Haut und Haaren ausgeliefert ist. Doch durch das Vermischen der verschiedenen erzählerischen Ebenen, durch die Vielstimmigkeit des Textes, gelingt es ihm, die Zeit zumindest für die Dauer des Erzählens aus ihren Angeln zu heben und, dies auch über die Lesezeit hinaus, einen anderen Blick auf die Geschichte zu werfen. Denn von der berühmten Figur der Jehanne d’Arc schürft der Text weiter, bohrt er sich tiefer hinein in eine weniger erforschte Geschichte, und gelangt über den Klang des Namens und eine kleine Derrida’sche différance von Jehanne zu Jeanne, zur gleichfalls Legende gewordenen Piratin Jeanne de Belleville, die bereits ein Jahrhundert früher gelebt hat und in deren Herkunft die lautmalerische Frage des Romantitels eine Antwort zu finden beginnt. Historische Randfiguren, wie Jeannes Geschwister, ihre Mutter, deren Geliebter, werden in diesem Roman an die Oberfläche geholt, wandern durch die Geschichte und treiben ihr Unwesen. Allen voran eine Hexe, eine Schwarzmagierin, die alle Fäden der immer rasanter voranstürzenden Handlung in der Hand zu halten scheint. Und immer geht es dabei auch um die Liebe, um Begehren, und um Macht und Ohnmacht. So ist es nur stringent, wenn am Ende der Ursprung in einer aus dem Ruder gelaufenen Liebesgeschichte gefunden wird, wenn entlarvt wird, wie das Böse entsteht und sich nährt in einem frauenverachtenden, hierarchiestarren Kontext, der auf der Angst und dem Hass gegenüber Außenseitern beruht und in dem der Fremde, der Dunkelhäutige, der Behinderte und die unangepasste oder allzu selbständige Frau auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt werden.
Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann, Piper 2022
ISBN: 9783827014627
Bildquelle
Helmut Krausser, Wann das mit Jeanne begann
© 2024 Piper Verlag GmbH, München