bookmark_borderTheodora Bauer: Glühen

Das Glühen ergreift in dieser kurzen, novellenartigen Liebes- und Weltuntergangsgeschichte, in der eine unerhörte Begebenheit im Leben einer jungen Frau auf eine viel umfassendere unerhörte Begebenheit im irdischen Dasein der Menschheit verweist, nicht nur das Innenleben der Protagonistin, sondern zirkuliert so innig wie bedrohlich auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit und der mit ihr nicht unbedingt deckungsgleichen Wahrnehmung.

Die Erzählerin, deren subjektiver Wahrnehmung man einzig folgt, nennt sich Lima, wie Lisa-Marie oder wie die peruanische Hauptstadt, in der sie in einer Vergangenheit, die nur angedeutet wird, eine gescheiterte oder unerfüllte Liebe erlebt haben muss. Als Literaturwissenschaftlerin, die zu Sexualität und Begehren bei Arthur Schnitzler forscht, dem Wiener Schriftsteller des Fin de Siècle, und deren Gedanken immerzu um die literarische und gesellschaftliche Leerstelle weiblichen Begehrens kreisen, blickt sie mit einer gewissen Desillusion auf die Geschlechterverhältnisse, die jedoch eine geheime Hoffnung, vom Gegenteil überzeugt zu werden, eine etwas verzweifelte Liebessehnsucht, nicht ausschließt. Nun hat sie der Stadt den Rücken gekehrt, möchte für einige Tage in den Bergen, fernab der von Krisen gepeinigten, stressigen Zivilisation zur Ruhe und zu sich kommen, herausfinden, ob das Wahre noch immer in der Natur verborgen liegt. Sie kommt in einer abgelegenen Pension bei einer kauzigen alten Frau unter und übt sich in täglichen Wanderungen den Berg hinauf, durch den Wald und bis zu einer Wiese, auf der ein junger Mann, dessen Erscheinung sie anfangs kaum trauen mag, das Heu mäht. Sie ist fasziniert, von der körperlichen Attraktivität des Mannes ebenso wie von der aus der Zeit gefallenen Tatsache, dass er mit einem Pferd zum Heumachen kommt. Vorsichtig, langsam lässt sie sich auf ihn ein, auf die unbestreitbare Romantik der täglichen Begegnungen auf dem Berg. Doch dann ist er eines Tages nicht mehr da, und die Welt bricht zusammen.

Die Autorin Theodora Bauer tastet sich in dieser traumwandlerisch und in eindrücklichen Bildern erzählten Geschichte einer so wütenden wie verzweifelten wie abgeklärten wie romantischen Protagonistin, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst ist und sich ihr in dieser scheinbar ganz anderen, abgeschiedenen Bergwelt doch noch einmal aussetzt, an Grenzen entlang, die der Erzählung etwas Geheimnisvolles und zugleich Bedrohliches geben. Die Grenze zwischen Natur und Zivilisation wird ebenso ausgelotet wie die genauso fragile und genauso von Machtverhältnissen konturierte Grenze zwischen zwei Menschen. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt immer wieder, den jungen Mann, der sich Michael nennt, hält Lima zunächst für eine Halluzination, und auch der aufdringliche Pudel, der ihr immer wieder auflauert, erscheint in ihren Träumen ebenso wie in der Wirklichkeit. Des mephistophelischen Pudels Kern kommt sie bald auf die Schliche, bevor sie am Ende erfährt, dass er in Wahrheit ein Weibchen ist und Luzi heißt — der Teufel eine Frau, das scheint eine zwangsläufige Pointe in einer Erzählung, die es sich zum Anliegen macht, die von der Protagonistin beklagte Leerstelle des sich seiner selbst bewussten weiblichen Blicks zu füllen. Der, der von diesem Blick erfasst wird, der mit einem Engel verglichene Michael, verweist seinerseits auf eine gnostische oder christliche Aufladung der Geschichte, die die Symbolkraft einer klassischen Novelle anstrebt. Ist Michael der Gegenspieler der Pudeldame Luzi(fer) oder ist er in Wahrheit ein Todesengel? Die Erzählung läuft zielstrebig auf einen Untergang hin, auf eine Apokalypse, die sich im Einzelnen spiegelt. Ein Waldbrand wird zur Hölle, eine junge Frau erliegt ihrer Sehnsucht, sich hinzugeben — oder scheitert sie vielmehr an ihrer Angst, an ihrer Unsicherheit? Ist unser Dasein, wie wir es heute führen, gleichbedeutend mit Tod und Zerstörung? Ist es naiv, ja wahnsinnig, an die Liebe, an ein Leben im Einklang mit unserer Umwelt zu glauben? Oder zerstören wir uns letztlich selbst, wenn wir es nicht tun? Der in seiner Kürze vielschichtige Text gibt keine eindeutigen Aussagen, das Einzige, was als klar aus ihm herauszulesen ist, ist die existentielle Verbundenheit alles irdischen Daseins, von Mensch und Natur, zum Guten und zum Schlechten.

Bibliographische Angaben
Theodora Bauer: Glühen, Rowohlt Berlin 2024
ISBN: 9783737102025

Bildquelle
Theodora Bauer, Glühen
© 2024 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderMuriel Barbery: Eine Rose allein

Wie in Die Eleganz des Igels spielt die japanische Kultur, als Faszinosum und als Quelle von Poesie und Weisheit, eine bedeutende Rolle im neuen Roman der französischen Autorin Muriel Barbery. Und wie dort begegnet man auch hier wieder einer kratzbürstigen, seelisch verwundeten Protagonistin, die man sofort ins Herz schließen mag.

Rose, die nicht zufällig den Namen der schillerndsten Blume der Kulturgeschichte trägt, führt nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter in uneingestandener Trauer und Einsamkeit ein ungebundenes Leben in Paris. Nach dem Tod ihres japanischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in dieses Land. Paul, ein Vertrauter ihres Vaters, führt sie, dessen letzten Wunsch erfüllend, an verschiedene ihm zu Lebzeiten wichtige Orte: Zen-Gärten und Tempel, die eine ganz andere Sprache sprechen, der Rose anfangs mit Skepsis, nach und nach jedoch mit wachsender Neugier begegnet.

Ein zarter Roman, voll unaufdringlicher Poesie und mit einer Handvoll versehrter, eigenwilliger und liebenswerter Figuren, und eine ebenso zarte Liebesgeschichte, gelesen in der deutschen Hörbuchfassung von Elisabeth Günther, die die Hörer mit ihrer ebenfalls auf zarte Weise gestalteten Erzähl- und Figurenstimme leicht und angenehm durch die Geschichte führt.

Bibliographische Angaben
Muriel Barbery: Eine Rose allein, List Hardcover 2022
Aus dem Französischen von Norma Cassau
ISBN: 9783471360460

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2022
Gesprochen von Elisabeth Günther
ISBN: 9783957132697

Bildquelle
Muriel Barbery, Eine Rose allein
© 2022, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderFrançoise Sagan: Die dunklen Winkel des Herzens

Wie aufregend! Da entdeckt der Sohn im Nachlass ein bisher unbekanntes Romanmanuskript seiner berühmten Mutter, der französischen Schriftstellerin Françoise Sagan (1935-2004), die sich 1954 als 18-Jährige mit Bonjour tristesse auf einen Schlag einen Namen machte und von da an mit einer Vielzahl an Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern zur skandalumwitterten Bestsellerautorin wurde. Und er veröffentlicht es, zur Freude aller neugierigen Sagan-Leser, denen damit ein neuer Stoff zugänglich gemacht wird: jedoch nicht als kritische Textausgabe, sondern durchaus auch mit kleinen Eingriffen und Ergänzungen, wie er im Nachwort schreibt, im Stile und im Sinne seiner Mutter.

Doch ist diese — trotz aller Bemühungen, den Lesern einen möglichst unverfälschten und dennoch flüssig lesbaren Text zu präsentieren — zwangsläufig bruchstückhaft bleibende Veröffentlichung wirklich im Sinne der Autorin? Und der Leser?

Einiges Amüsement beschert einem der Roman auf jeden Fall, und wer Sagan kennt, wird auch einiges von ihrem unvergleichlich freimütigen, humorvollen und zugleich gefühlsbetonten Stil wiedererkennen. Um die im Zentrum der Geschichte stehende reiche Industriellenfamilie Cresson zu porträtieren, ihre zur Schau gestellte Bürgerlichkeit, die nach innen so einige „dunkle Winkel“ vergeblich zu verbergen sucht, nimmt die Schriftstellerin kein Blatt vor den Mund. Die Figuren und ihre Handlungsmotive werden mit großer Lust an böser Satire und provozierender Übertretung von Anstand und Konventionen geschildert, die immer wieder auch Raum lässt für unterschwelligere melancholische, gefühlvolle Töne.

Trotzdem wirkt alles, wenn man denn den Maßstab ihrer vollendeten Romane, etwa Aimez-vous Brahms oder das bereits erwähnte Bonjour tristesse, anlegt, hier doch noch ziemlich plakativ und nicht ganz so rund. Der Eindruck, dass man es mit einer unvollendeten Erzählung nicht nur in Bezug auf die Handlung zu tun hat, die, ehe sie sich so richtig entfalten kann, auch schon wieder unvermittelt abbricht, sondern auch in Bezug auf den stellenweise recht holprigen Stil, verlässt einen kaum während der Lektüre und macht sie entsprechend beschwerlicher, als es einzelne äußerst fesselnd und vergnüglich geschriebene Passagen darin verheißen, die dann allerdings etwas unverbunden nebeneinander zu stehen scheinen.

Dabei hat Sagan einen durchaus vielversprechenden Stoff gewählt und eine konfliktreiche Ausgangslage geschaffen, die einen gespannt in die Handlung eintauchen lässt: Ludovic Cresson, der einzige überlebende Sohn kehrt nach langwierigen, kräftezehrenden Krankenhaus- und Rehabilitierungsaufenthalten heim aufs väterliche Anwesen, wo er jedoch nicht von allen so begeistert erwartet wird, wie anzunehmen wäre. Befürchten doch alle, einen debilen und so gar nicht vorzeigbaren Invaliden zu ihrem eigenen Schaden wieder in ihre bürgerliche Mitte aufnehmen zu müssen. Doch Ludovic ist in besserer Form als vermutet, was allerdings erst als Wirklichkeit anerkannt werden kann, wenn er sich in der guten Gesellschaft von dem ihm vorauseilenden Ruf des Invaliden befreit hat.

Im Hause der Cressons hatte man sich angewöhnt, Ludovic nicht direkt anzusprechen, da der wahre Ludovic für sie gestorben war. Also redeten alle in seinem Beisein so ungeniert über ihn, als wäre er gar nicht da. Ludovics Blick schweifte dabei ohnehin stets über die Landschaft draußen vor den Fenstern.

Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens

Besonders missgestimmt ob seiner unerwarteten Rückkehr ist seine junge Frau, die übrigens jenen fatalen Autounfall überhaupt verursacht hat, der Ludovic zuerst zum Totgeglaubten, dann zum Schwerverletzten und schließlich zum scheinbar unheilbar Versehrten gemacht hat. Sie ist alles andere als erfreut, ihren Mann, den der unattraktive Ruf des Invaliden umweht, wieder in ihre verwöhnten Arme zu schließen. Sein Vater hingegen ist mehr um die Männlichkeit des Sohnes besorgt und leitet ein großes Fest in die Wege, auf dem dieser zur vollständigen Reintegration in die Gesellschaft der gesunden Bürgerlichkeit beweisen soll, dass er keine dauerhafte Beeinträchtigung davongetragen hat.

Diesen Beweis erbringt Ludovic allerdings auf ganz andere, unvorhergesehene, in sich bereits wieder skandalöse Weise. Denn während die Tochter ihn, der nach Liebe und Romantik hungert, verschmäht, findet er umso leidenschaftlichere Erfüllung bei ihrer Mutter, deren Witwentrauer sie mit einer Melancholie umweht, die sich von der Oberflächlichkeit der übrigen Gesellschaft abhebt und ein Versprechen der Innigkeit enthält, das die Grenzen der Konvention zu sprengen scheint…

Es herrschte ein umgekehrter Puritanismus, der sich Freiheit nannte und sie (Fanny, Quentins Witwe und Mutter von Ludovics Frau) sehr erstaunte, als sie ihn entdeckte, denn Quentin und auch ihr eigener Horizont hatten sie bisher davor bewahrt. Heute erschreckte sie der Gedanke einer solchen inneren Leere: die Unfähigkeit zu lieben, verbunden mit der Besessenheit, seine Liebschaften öffentlich zur Schau zu stellen.

Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens

Wer Sagan kennt und mag, für den ist das Buch ein interessanter und an vielen Stellen genüsslicher Einblick in ein weiteres Element ihres Schaffens. Wer jedoch noch nichts von ihr gelesen hat, sollte doch besser zu einem von ihr autorisierten, zu ihren Lebzeiten erschienenen Roman greifen, um ein Bild ihres köstlichen Schreibens zu bekommen, das ihr tatsächlich gerecht wird.

Bibliographische Angaben
Françoise Sagan: Die dunklen Winkel des Herzens, Ullstein (2019)
Aus dem Französischen — Les Quatre Coins du Coeur, Plon (2019) — von Waltraud Schwarze und Amelie Thoma
ISBN: 9783550200915

Bildquelle
Françoise Sagan, Die dunklen Winkel des Herzens
© 2019 Ullstein Buchverlage GmbH

bookmark_borderLeif Randt: Allegro Pastell

Man weiß nicht so recht, was man von Tanja Arnheim und Jerome Daimler, den beiden Anfang 30-jährigen Protagonisten von Allegro Pastell, einem ziemlich konsequenten Porträt der Generation der Millennials, halten soll. Irgendwie habe ich sie im Laufe der Lektürezeit, die erstaunlich kurzweilig war, doch ziemlich lieb gewonnen, aber sie nerven einen auch mit ihrer gar so abgeklärten, wenn auch nicht unsensiblen Art, mit ihrem Leben und dem der anderen umzugehen. Man könnte Leif Randt vorwerfen, zu stark an der Oberfläche zu bleiben und auch sprachlich etwas umständlich zu formulieren — doch genau dieses Sich-Abarbeiten an Oberflächen (des Stils, des Konsums, der Bildschirme, der sozialen Netzwerke, der sexuellen Beziehungen und eben auch der Kommunikation und Meta-Kommunikation) scheint das Leben wenn nicht der ganzen Generation, so doch zumindest der Protagonisten des Romans im Kern auszumachen. Insofern ist der Text in sich absolut stimmig — und vielstimmig auslegbar: ironisch, satirisch oder eben doch — als zwiespältiges Abbild seiner Figuren — der verzweifelte Versuch, Authentizität zu inszenieren.

Tanja und Jerome führen eine halbwegs feste Beziehung, legen aber Wert darauf, sich ihre Freiheiten und Freiräume zu lassen. Jeder hat seinen eigenen Freundeskreis und seine eigene Wohnung, Tanja in Berlin, Jerome im Maintal bei Frankfurt, wo er den Bungalow seiner längst geschiedenen Eltern bewohnt. Als größter Quell der Scham gilt die Verletzlichkeit, die man auf keinen Fall zulassen will. Vielmehr nährt man das eigene Selbstbild mit dem Streben nach einem gelassenen und toleranten Umgang, einer Coolness, die zugleich offen für ein gesteuertes Maß an Empfindsamkeiten ist. Auch der Rausch hat seinen Platz in einem derart abgerundeten Leben, freilich streng dosiert und kontrolliert. Gleichwohl werden im Lauf der Erzählung Risse in den solcherart gestalteten Oberflächen deutlich. So gibt Jerome etwa innerlich zu, alles andere als aufrichtig zu sein, wenn er behauptet, mit allen Exfreundinnen weiterhin in locker freundschaftlichem Kontakt zu sein, wie es vermeintlich von ihm erwartet wird. Und ist Tanja nicht weitaus tiefer getroffen als sie es für möglich gehalten hätte, als sie von Jeromes neuer Beziehung erfährt?

Zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaften ebenso wie romantische oder sexuelle Beziehungen, definieren sich in dieser Welt vor allem über Stil- und Geschmacksfragen, werden durch diese am Leben erhalten oder gehen an ihnen zugrunde — was dann recht lautlos geschieht, dem Abbruch medialer Kommunikation entsprechend, die das körperliche Zusammensein zuvor oft nicht nur ergänzte, sondern diesem gar nicht selten sogar vorgezogen wurde. Alles kreist darum, seinen eigenen Stil zu finden und zu haben, aber auch den der anderen zu tolerieren, auch wenn man ihn insgeheim belächelt, so dass das Leben aus einem quasi dialektischen Pingpongspiel eines steten Austauschs von stilbestätigenden und stilformenden Meinungen besteht.

Vor allem aber möchten Leif Randts Darsteller unserer Gegenwart ihre Freiheit, ihre Fitness, ihre Sexualität, ihren beruflichen Erfolg, ihre Partys genießen, ohne sich durch äußere oder innere Grenzen einschränken zu lassen — kurz gesagt, sie wollen eine „gute Zeit“ haben. In solche Diskurse bettet Leif Randt seine Geschichte derart engmaschig ein, dass es eigentlich unbedingt ironisch gemeint sein muss; fast jeder Satz enthält Anspielungen auf angesagte Lifestyle-Debatten und wiedererkennbare Schlagworte unserer Gesellschaft. Da die Figuren zu allem eine Meinung haben, alles bewerten, einordnen und vergleichen, investiert der Autor entsprechend viele Worte darein zu berichten, was er oder sie zu einer Sache denkt und welche Haltung er oder sie zu etwas einnimmt. Diese stilistische Umständlichkeit äußert sich formal in der Bevorzugung indirekter Rede — wörtliche Rede kommt in Form explizit kursiv hervorgehobener Dialoge deutlich seltener vor, häufiger aber in Form einer anderen Art vermittelter Kommunikation, nämlich als Austausch von Mails oder Textnachrichten über diverse Messengerdienste.

Der vermittelten Art der Kommunikation entspricht auch das neuartige Menschen- und Weltbild, das trotz ständiger Optimierungsversuche sich einer stabilen Form erst recht immer mehr entzieht. Die Persönlichkeiten setzen sich mehr aus ihren fluktuierenden, kurzlebigen Haltungen und Meinungen zusammen als aus ihrem Handeln oder ihrem Charakter. Und so ist auch das Individuum einer permanenten Bewertung ausgesetzt: Ein einzelner Satz, den es geäußert hat, eine bestimmte Reaktion oder ein Kleidungsstück können so auch eine Beziehung von Grund auf verändern.

Der Roman zeigt, dass eine derart offensiv ausgelebte Freiheit, in der Stilfragen zur existenziellen Rückversicherung mutieren, ihre Kehrseite in einem gestiegenen Druck der Selbstoptimierung findet. Denn die Coolness ist gar nicht so leicht aufrechtzuerhalten, wenn man sich zu allem noch so Banalem irgendwie verhalten muss und alles noch so Alltägliche mit dem eigenen Lebensstil in Einklang zu bringen versucht. Die angestrebte Individualität führt sich durch ihre immer perfektere Inszenierung letztlich selbst ad absurdum.

Die Protagonisten von Allegro Pastell, deren liebstes Spielzeug Smartphone und Computer sind, sind ziemlich gut darin, Authentizität zu inszenieren — doch immerhin auch feinnervig genug, eine innere Unruhe darüber zu verspüren, die den Widerspruch darin ahnen lässt.

Bibliographische Angaben
Leif Randt: Allegro Pastell, Kiepenheuer & Witsch (2020)
ISBN: 9783462053586

Bildquelle
Leif Randt, Allegro Pastell
© 2020 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

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