bookmark_borderJens Steiner: Die Ränder der Welt

Jens Steiner, der in Ameisen unterm Brennglas (vgl. Rezension vom 15.10.2020) die Schweizer Gesellschaft detail- und spielfreudig mit einer Fülle an eigenwilligen Charakteren seziert hat, bewegt sich in seinem neuen, ähnlich verrückten, aber eine Spur melancholischeren Roman weit über die Ränder der Schweiz hinaus, bis nach Patagonien im Süden und bis nach Grönland im Norden. Und er führt seine Hauptfigur, Kristian, einen Schweizer mit estnischen Wurzeln, durch ein wildbewegtes Leben, das ihn auch in symbolischerem Sinne die Ränder des Daseins streifen lässt und an Grenzen führt, die schmerzhaft sind, aber doch immer wieder Neuanfänge aufscheinen lassen.

Zu Beginn der Erzählung befindet sich der mittelalte Ich-Erzähler Kristian auf dem Weg nach Christiansø, eine kleine dänische Insel inmitten der Ostsee. Es ist eine Reise, die er mit vielen Vorbehalten angetreten hat, nachdem er einen etwas merkwürdigen Brief seines Lebensfreundes und -feindes Mikkel erhalten hatte, der ihn nach Jahren des Schweigens und der Trennung wiedersehen will. Tatsächlich wird die Reise zum Auslöser für ausufernde Erinnerungen, die den Ich-Erzähler sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal neu erleben und rekapitulieren lassen. Dieser Rückblick auf ein halbes Leben, das die Geschichte des Buches wird, ist, so überschäumend-lebendig viele der vergangenen Erlebnisse geschildert werden, zugleich von einer großen Melancholie getragen, die nicht allein der psychischen Verfasstheit des Erzählers entspringt, sondern eine Art Grundton dieses Buches ist, das nicht nur die Geschichte einzelner Figuren erzählt, sondern auch das Porträt einer ganzen Zeit malt, von den 1950ern bis heute.

Die erste Erinnerung führt zurück ins Basel der 1950er Jahre, wo Kristian als Sohn estnischer Einwanderer eher zurückgezogen und im dunklen Bewusstsein eines Fremdseins in der Welt aufwächst. Sein überzähliger Finger an der einen Hand macht ihn in den Blicken der anderen zu einem Außenseiter. Kein Wunder, dass es etwas in ihm auslöst, als Mikkel, dessen dänische Familie ebenfalls eingewandert ist, Interesse an ihm bekundet. Die beiden werden Freunde und werden es viele Jahre, ja vielleicht ein Leben lang sein, doch ist es eine bewegte, eine unstete Freundschaft, die Kristian immer wieder aus der Bahn zu werfen droht, ihn mit Enttäuschung und sogar Verrat konfrontiert. Mikkel erscheint als ein höchst unzuverlässiger Charakter, mit dem eine große Nähe möglich ist, der aber immer wieder ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und von heute auf morgen, verschwindet, den Kontakt abbricht, um Monate später, als wäre nichts gewesen, wieder aufzutauchen. In der Schilderung dieser Freundschaft entsteht der Eindruck, als wäre die eigentliche Liebesgeschichte des Romans nicht die, die sich um die so extravagante wie zerbrechliche Grönländerin Selma dreht, die große Liebe Kristians, die er heiratet und wieder verliert (die er an Mikkel, seinen besten Freund, verliert!), sondern die nicht erotisch, aber hoch emotional erlebte Geschichte des sich Anziehens und Abstoßens der beiden Freunde Kristian und Mikkel.

Auf subtile Weise lässt die Erzählung ahnen, dass der untreue Freund vielleicht nicht die ganze Verantwortung für die Instabilität ihrer Freundschaft trägt, dass die unbestimmte Verlorenheit in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Ich-Erzähler verspürt, von anderswo kommt, vielleicht sogar weiter zurückreicht als sein eigenes Leben, dass sie, wie der überzählige Finger, auch Teil eines familiären, ja eines gesellschaftlichen Erbes sind. Symptomatisch sind das irgendwo in seinem Innern entstehende Summen, das den Ich-Erzähler schon als kleines Kind umgibt, auch ein Schwanken und Fallen, das ihn in Momenten der Verlorenheit immer wieder ganz physisch überwältigt — und das er übrigens mit einer anderen Figur, nämlich mit Selma, teilt, bei der uneindeutig bleibt, ob das Fallen als Manifestation einer Psychose oder als Sich-Aufbäumen der Freiheit gelesen werden muss.

In diesen Momenten des Fallens jedenfalls verschmelzen für die Figuren Außen- und Innenwelt, sie gelangen an die Ränder ihrer Wahrnehmung, und diese Grenzerfahrung erlebt man an manchen Stellen auch beim Lesen. Im Erzählen werden die Ränder der Welt der Fiktion aufgespürt, es wird uneindeutig, im Grunde auch unwichtig, was wirklich passiert und was imaginiert ist. Der sich erinnernde Erzähler nähert sich diesen Rändern in Form von Umrissen, von Konturen, die er seiner Erzählung gibt. Nicht zufällig ist der Roman auch ein Künstlerroman: Kristian begegnet der Skizzenhaftigkeit seines Daseins, der Welt, wie er sie erlebt, indem er impulsiv, fast zwanghaft, alles zeichnet, was ihn umgibt, ja, seine sechsfingrige künstlerisch so begabte Hand scheint hier immer wieder ein Eigenleben zu führen. In dieser Hinsicht erinnert er dann doch sehr an seinen Vater, einen Übersetzer aus dem Estnischen und großer Fabulierer, ein Spazierredner, wie es im Roman so schön heißt, der mit seinem Sohn lange Spaziergänge macht, die jedesmal zu ausufernden Rundgängen durch die Landschaften der Sprache und der (Familien-)Geschichte werden. Dieses Stromern übernimmt der Sohn auf seine Weise. Von Mikkel verlassen, verlässt auch er die Schweiz, geht nach Paris, später nach Kopenhagen, nach Italien, Argentinien. Doch dieses abenteuerliche, umherschweifende Leben entspringt weniger einer bewussten Entscheidung als der Kontingenz des menschlichen Daseins, ja es widerspricht auf den ersten Blick der großen Sehnsucht des Erzählers dazuzugehören, eine innere Heimat für sich zu finden. Jeder geographische Wechsel wird von einem Umbruch in seinem Leben ausgelöst, der ihn zum Spielball der Zeit und der Zeitgeschichte macht. Jens Steiner zeigt in diesem Roman, wie ein Einzelner in die gesellschaftlichen Wirren seiner Zeit gerät, die ihn bisweilen hinwegzufegen drohen und ihm, ohne dass er das beabsichtigt hätte, eine politische, soziale, künstlerische Haltung abverlangen, oder zumindest die fortwährende kritische Suche danach.

Um auf den Künstlerroman zurückzukommen: Kunst und Leben prallen in Die Ränder der Welt immer wieder aufeinander, sie sind nicht voneinander zu trennen und doch so schwer zu vereinbaren. Gesellschaftliche und kunstpolitische Entwicklungen seit der Nachkriegszeit spielen vielfach in die Geschichte hinein, prägen die turbulente Biographie des Erzählers, der verschiedenste Lebensentwürfe ausprobiert oder sie bei Freunden und Weggefährten veranschaulicht sieht. Es geht um das Leben als Kunstwerk, um Kunst als Sozialprojekt, um Anti-Kunst, um Nicht-Kunst, um den Verzicht auf Kunst zugunsten des sogenannten Lebens. Kristian selbst lässt sich zum Steinbildhauer ausbilden, lernt in Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Zeichner und später als Busfahrer in Patagonien. Und er begreift allmählich, dass die Kunst so wandelbar ist wie die Liebe, ein Lebensbegleiter, der sich nicht abschütteln lässt, die große Unbekannte, die einem so vertraut ist:

Ist Kunst ein Berühren der Welt, oder ist sie eine Flucht vor der Welt?
Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine große Lüge.

Jens Steiner, Die Ränder der Welt

Was den Roman über die nachdenklich stimmende Lebens- und Künstlergeschichte hinaus so lesenswert macht, ist die besondere Sprache, in der er verfasst ist. Jens Steiner schreibt eine poetische Prosa, die gleichzeitig sanft und überbordend ist. Er belebt die zahlreichen Orte, die im Roman, der ja auch ein Reiseroman ist, eine tragende Rolle spielen, indem er ein Panorama an Figuren schafft, an grotesken, schrägen, widerspenstigen Figuren, gleich ob sie sich innerhalb oder an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Der Text ist, um hier erneut ins Ausdrucksmedium der bildenden Kunst hinüberzuschweifen, wie eine mit den Farben des Expressionismus gemalte Meditation, über Liebe, Freundschaft, Familie, Kunst, wild skizziert und mit viel Liebe zum kuriosen Detail, in dem doch so viel Wahrheit steckt.

Bibliographische Angaben
Jens Steiner: Die Ränder der Welt, Hoffmann und Campe 2024
ISBN: 9783455017106

Bildquelle
Jens Steiner, Die Ränder der Welt
© 2024 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

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