bookmark_borderJacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand

Und es ward Licht, „Et la lumière fut“ — der französische Originaltitel, unter dem das Buch 1953 erschien, trägt die biblische Reminiszenz noch deutlicher vor sich her als der Titel der deutschen Übersetzung, der gleichfalls Wert auf einen poetischen Klang legt. Von Beginn an ist klar: Diese Autobiographie eines Blinden, der im französischen Widerstand aktiv war, geht über einen persönlichen Erfahrungsbericht, über ein historisches Zeugnis hinaus. Was der Titel andeutet, bestätigt sich auf den ersten Seiten, die einen sofort auf eine irgendwie zarte Weise in Bann ziehen: Dieser Text ist, ohne sich hinter dem heute so verbreiteten Etikett der Autofiktion zu verstecken, zutiefst literarisch. Hier schreibt jemand, ohne sein Ich zu verfremden, voll Überschwang und Leidenschaft von seinem der radikalen Realität der Geschichte ausgesetzten Leben und von seinem Glauben, der ihn trug, auch oder gerade in der sehr weltlichen Erfahrung des Krieges. Wahrscheinlich hat diese Transzendenz, die durch das ganze Buch hindurchschimmert, etwas Altmodisches; aber sie hat zugleich auch etwas sehr Wahres. Denn die poetische Innigkeit von Lusseyrans autobiographischer Erzählung kippt eben nie ins Esoterische oder Rührselige, da ihr, das spürt man immer wieder, eine tiefe, schmerzhafte und schöne Menschlichkeit zugrunde liegt.

Beim Lesen der chronologisch erzählten Geschichte der Kindheit und jungen Erwachsenenjahre des Autors Jacques Lusseyran (1924-1971), der sie nach dem Ende des Krieges aufgeschrieben hat, taucht man nicht nur in die historisch bewegte Zeit der französischen Zwischenkriegs- und Weltkriegsjahre ein, die wir heutigen Leser ja nicht mehr selbst erlebt haben können, sondern auch in eine den allermeisten von uns auf andere Weise ebenso fremde Erfahrung des Eintritts in die innere Landschaft eines „sehenden Blinden“. Wir machen also die Erfahrung einer doppelten Alterität, die sich uns durch die mitreißende Sprache in großer Leichtigkeit vermittelt. Die Überarbeitung der Übersetzung aus den 1960er Jahren für die deutsche Neuausgabe hat sicher auch ihr Quantum zu der so flüssigen Lesbarkeit beigetragen.

Jacques Lusseyran wurde nicht als Blinder geboren. Er verlor sein Augenlicht im Alter von acht Jahren durch einen Unfall in der Schule. Und er fand es von neuem, indem er, so schildert er es, dank liebevoller Eltern und Freunde und dank seines eigenen inneren Antriebs zu einem „sehenden Blinden“ wurde. Dankbarkeit und Willenskraft erscheinen als die zwei Wesensmerkmale des Autors, die ihm, wie man heute sagen würde, zu einer besonderen Resilienz verholfen haben. Es wurde ihm möglich, seine Hilflosigkeit abzuschütteln und ein neues Sehen zu erlernen, sich auf neue Art und Weise im Dasein zu orientieren. Aus der Perspektive dieses wieder sehenden Blinden erfahren wir, wie es sich anfühlte, in den 1930er Jahren in Paris und Umgebung aufzuwachsen. Wir erfahren von seinen Freundschaften und von seiner ersten Liebe, die jedoch hinter der Innigkeit der Freundschaften, die er lebte und pflegte und die trotz der körperlichen Abhängigkeit des Blinden doch immer Freundschaften auf Augenhöhe waren, wie selbstverständlich zurückstehen musste. Etwas irritierend ist für uns heute vielleicht, dass Lusseyran anfangs trotz der, wie es scheint, gleichberechtigten Ehe seiner beiderseits berufstätigen Eltern in seinem früh begonnenen Engagement für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Möglichkeit der politischen Beteiligung von Frauen völlig außer Acht ließ. Das ändert sich später; alles andere wäre bei einer so reflektierten, lernbereiten und erfahrungsoffenen Persönlichkeit, wie sie aus dem Text hervorgeht, auch verwunderlich gewesen.

Bemerkenswert ist, dass Jacques Lusseyran den Krieg als noch größere Zäsur im Leben wahrnahm als den Verlust seines Augenlichts. Nicht nur politisch, sondern auch privat, wobei sich ab diesem Zeitpunkt der persönliche Lebensweg des Autors auch untrennbar mit dem politischen verknüpfte: Während der für die gesamte Bevölkerung als sehr belastend erlebten Besatzungszeit initiiert Lusseyran eine Widerstandsbewegung besonderer Art. Er schart eine Gruppe junger Männer um sich, die von ihm, einem blinden und ebenfalls noch sehr jungen Mann, geleitet wird, von einem jungen Mann, so schildert er es in der Rückschau, der einerseits nicht weiß, wie ihm da geschieht, und der andererseits intuitiv sehr wohl weiß, was er zu tun hat. Die Gruppe, die eine von mehreren parallel im Untergrund arbeitenden ist, entwirft erste Flugblätter zur Aufklärung der abgeschotteten Pariser Bevölkerung, bevor sie nach einiger Zeit mit anderen zusammenarbeitet, im komplexen Netz der Résistance aufgeht und sich, neben weiteren Aktionen, an einer richtigen Untergrundzeitung beteiligt, in der unter der permanenten Gefahr des Auffliegens und des Verrats über die Folterungen durch die Gestapo, die Konzentrationslager und die Judenverfolgung berichtet wird.

Dass der junge Blinde, ohne dass er sich aufgedrängt hätte, wie selbstverständlich als Anführer der Gruppe akzeptiert wird, ist, zumal in einem doch immer patriarchale Machtverhältnisse hervorkehrenden Umfeld des Krieges, schon erstaunlich. Er muss eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben, ein besonderes geistiges Charisma, das auch mit seiner Menschenkenntnis und seinem Gespür für Situationen, wie sie vielleicht aus seiner Augenblindheit erwachsen sind, zusammenhing. Auch mit seinem Gedächtnis, das verräterisches Papier ersetzte, trug er gewiss einen unschätzbaren Teil zur Untergrundkommunikation bei. Lusseyran absolvierte neben der Kräfte und Zeit beanspruchenden Untergrundtätigkeit auch noch ein Literaturstudium und spürte auch in dieser „Nebentätigkeit“ die menschenverachtenden Auswirkungen des Krieges. Denn ein Dekret des Vichy-Regimes — die Macht der nationalsozialistischen Besatzer hatte längst auch auf die so genannte freie Zone übergegriffen — verbot nun körperlich eingeschränkten Personen, zu denen auch Blinde gezählt wurden, die Ausübung bestimmter Berufe und verschloss ihnen auch den Zugang zur höheren Bildung. Durch wohlgesinnte Vertrauenspersonen gelang es Lusseyran, sein Studium fortzusetzen, doch war diese bedrohliche Erfahrung von Ausgrenzung durch die neuen politischen Machthaber nur ein erster Vorbote weiterer politischer Gewalt. Wie zahlreiche seiner Freunde und Mitstreiter im Untergrund wurde auch Lusseyran verraten und verhaftet. Er wurde Verhören unterzogen und entging nur knapp dem Tod durch Erschießen. Im Gefängnis in Fresnes war er zeitweise in Einzelhaft und wurde dann, wie so viele andere, mit dem Zug ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Von den 2000 Franzosen, die im Januar 1944 mit ihm dort ankamen, überlebten nur 30. Auch er selbst wurde unter den menschenunwürdigen Lagerbedingungen sehr krank, war dem Tode schon näher als dem Leben und erfuhr seine fast einem Wunder gleichende Genesung wie eine erneute Wiedergeburt. Aus der er wieder eine schier unglaubliche Energie zu ziehen verstand, indem er sich, auch im KZ, für Aufklärung einsetzte, Menschen um sich scharte und seinen Widerstand fortsetzte.

Die Widerstandskraft, die Lusseyran auch im psychologischen Sinne entwickelte, lässt an das berühmte Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen des österreichischen Psychiaters und Ausschwitzüberlebenden Viktor Frankl denken. Seine Widerstandskraft setzte Lusseyran aber auch ganz konkret politisch ein, in einem umfassenderen Sinne freilich als Einsatz für das Wohl der Menschen, für das höchste Gut der Menschlichkeit, für das es sich auch unter unmenschlichsten Bedingungen zu kämpfen lohnt. Seine Autobiographie knüpft daher in gewisser Hinsicht auch an die mittelalterliche, christlich geprägte literarische Tradition der chansons de geste an, mit der Schilderung der glücklichen Kindheit, der sich anschließenden Zeit des Aufwachsens als Zeit der Prüfungen, der Verwandlungen, mit der Verteidigung der Werte von Mut, Weisheit und Einsatz für die Gemeinschaft. In der Gegenwartsliteratur hat unlängst auch Anne Weber mit ihrem Versroman Annette, ein Heldinnenepos gleichfalls für eine historische Figur des französischen Widerstands, der aus der Bretagne stammenden Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, dieses uralte Genre entstaubt und auf poetische Weise reaktualisiert. Beide Bücher, das des blinden Widerstandskämpfers und das über seine weibliche Verwandte im Geiste und in der Tat, sind gerade jetzt, im Kontext von Diskriminierung, Krieg, Gewalt, so zeitlos wie aktuell.

Bibliographische Angaben
Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand, Klett-Cotta 2024
Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt [1966], überarbeitet von Tobias Scheffel
ISBN: 9783608988239

Bildquelle
Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht
© 2025 Klett-Cotta Verlag. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderCatherine Cusset: Janes Roman

Ein eigenwilliges Stück Literatur hat die Autorin da verfasst: auf den ersten Blick einen im amerikanischen Universitätsmilieu situierten Beziehungsroman, die Geschichte einer etwas speziellen jungen Frau und Akademikerin, die kein Glück mit den Männern zu haben scheint, ebensowenig wie in ihrer universitären Laufbahn, die am seidenen Faden einer Veröffentlichung über den französischen Schriftsteller Flaubert hängt, gegen die sich die Verlage des Landes verschworen haben. Doch das ist nur die blendende Oberfläche des Textes, in der sich immer wieder kleine Risse zeigen, um daran zu erinnern, dass das Leben einer Frau, die beruflich und erotisch gleichermaßen nach Erfüllung sucht, nicht so schwarzweiß gestrickt ist, wie es den Anschein hat — genauso wenig wie der Roman, der diesem Leben auf der Spur ist. In Cussets Text fließen viele Diskurse und Traditionslinien spielerisch ineinander, es geht um französische Literatur und amerikanische Universitätsstrukturen, um Schreiben und Geschlecht, um (fiktions)ironische Spiegelungen, um die Konstruktion und Dekonstruktion von Identitäten. Hier steht die französische Autorin, die selbst lange Jahre als Literaturdozentin in den USA gelebt und gelehrt hat, in der — über den Atlantik gespiegelten — Tradition von Paul Auster, dem Frankreich verehrenden amerikanischen Schriftsteller, der in seinen Romanen immer wieder auf gut lesbare Weise mit der Metaebene der Literatur experimentierte. Bemerkenswert ist außerdem, dass Catherine Cusset diesen Roman, der sich heute als eine vielschichtige Auseinandersetzung mit „MeToo“ lesen lässt, bereits 1999, viele Jahre bevor die überfällige Debatte von Amerika aus die Weltöffentlichkeit beschäftigte, geschrieben wurde.

Die Fiktionsironie bezieht sich schon gleich auf den Titel. Janes Roman heißt nämlich auch ein Roman in Cussets Roman, der somit aus einer äußeren und einer inneren Handlungsebene konstruiert ist; es ist der Titel eines Manuskripts, das der Protagonistin und Ich-Erzählerin Jane anonym zugestellt wird und in dem, ebenfalls in der Ich-Perspektive einer nun doppelt fiktionalisierten Jane, ihr Beziehungs- und Universitätsleben haarklein und unter Preisgabe intimster Details nacherzählt wird. In beiden Textebenen geht es um Literatur und Liebe, um intellektuelle und sexuelle Anziehung, um Illusionen und Hoffnungen, um Enttäuschung und Sehnsucht, um Frauen- und Männerbilder. Die Jane der äußeren Handlung verdächtigt nacheinander verschiedene Personen aus ihrem Umfeld, das Manuskript verfasst zu haben, und man rätselt mit ihr während einer Lektüre, in der man sich mehr und mehr in einen Krimi oder Thriller versetzt fühlt, zumal ein Überfall und gleichfalls anonyme anzügliche Botschaften an Jane die Atmosphäre zunehmend bedrohlich erscheinen lassen.

Dass man es nicht mit einem kitschigen Beziehungsroman zu tun hat, merkt man sehr schnell auch daran, dass eigentlich alle Figuren unsympathisch sind, oder zumindest unangenehme Seiten haben, Jane selbst nicht ausgenommen. Das liegt natürlich auch daran, dass das Manuskript, das Janes Leben re- oder auch dekonstruiert, durchaus etwas Manipulatives hat; die Jane der Rahmenhandlung glaubt mehr und mehr an einen im Schreiben ausgetragenen Akt der Rache. Auf diese Weise gestaltet sich die Geschichte, in der es viel um Begehren und Eifersucht geht, aber auch ambivalenter und spannender; man blickt umso kritischer auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, auf zu wenig hinterfragte Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen, gleichermaßen erotischer wie beruflicher Art. Doch Jane ist weder selbst schuld an ihren vermeintlichen Niederlagen, wie es im Manuskript teilweise suggeriert wird, noch ist sie ein passives Opfer, auch wenn sie männlicher Übergriffigkeit ausgesetzt ist und ihre literaturwissenschaftlichen Thesen plagiiert werden. Man verfolgt auch den immerwährenden inneren Kampf der Protagonistin, sich gerade nicht zur Gefangenen ihrer Angst, ihrer Scham oder traditioneller und neuer Rollenvorstellungen machen zu lassen. Es geht um die Frage, wie ein weibliches Selbstbewusstsein aussehen kann, das weder Gefühle noch Ambitionen verleugnen muss, und inwiefern ein Beharren auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auch mit einer aktivistischeren Interpretation von Engagement und Solidarität kollidieren kann. Die Debatte um Geschlechterrollen und -identitäten wird in Cussets diskursreichem Text zudem ausgedehnt von der sozialen auf eine literarisch-philosophische Problematik, unter anderem dadurch, dass die Protagonistin, die sich als Romanistin intensiv mit Flaubert auseinandersetzt, sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der von ihr postulierten verdrängten weiblichen Seite des berühmten französischen Schriftstellers auseinandersetzt.

Im Roman gibt es eine augenzwinkernde Stelle, in der sich zwei Figuren darüber unterhalten, ob Universitätsromane einfach nur schrecklich langweilig sind. Catherine Cusset beweist mit ihrer Geschichte auf jeden Fall das Gegenteil.

Bibliographische Angaben
Catherine Cusset: Janes Roman, Eisele 2024
Aus dem Französischen von Annette Meyer-Prien
ISBN: 9783961611904

Bildquelle
Catherine Cusset, Janes Roman
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderAmélie Nothomb: Das Buch der Schwestern

Während sich die Literaturkritik nicht immer einig ist über die Qualität der Texte von Amélie Nothomb, stürmt die belgische Schriftstellerin mit ihren Büchern regelmäßig nicht nur die französischsprachigen Bestsellerlisten. Und das, obwohl sie ihren Lesern immer wieder einiges zumutet, mit vielen ihrer Figuren möchte man sich nicht gerne identifizieren, und ihre oft bitterböse psychologische Dramaturgie könnte einen verstört zurücklassen, wenn man den Humor dahinter nicht erkennen würde.

Ihr neues Buch, Das Buch der Schwestern, hat, und das mag einem nicht unbekannt vorkommen, spielt die Schriftstellerin doch gerne mit Märchen und Mythen und christlichen Motiven, die Anmutung eines Märchens aus modernen Zeiten. Die eigentliche Protagonistin des Textes trägt den im Französischen sprechenden Namen Tristane (triste: „traurig“), der vielleicht auch auf den mittelalterlichen Sagenstoff des berühmten Liebespaares Tristan und Isolde verweist. Um die Liebe geht es auch im Buch der Schwestern, um ihre Macht, die egoistisch sein kann, wie die der Eltern von Tristane, Nora und Florent, die seit ihrer ersten Begegnung ein dauerverliebtes Pärchen sind, das ihre Umwelt zu ungläubigem Staunen und bösen Kommentaren verleitet. Dem sozialen Druck doch ein wenig nachgebend bekommen die beiden ein Kind, mit dem sie nicht wirklich etwas anfangen können. Bevor das Baby jedoch ein Störfaktor ihrer Zweisamkeit werden kann, wird es zurechtgewiesen und setzt von nun an alles daran, eben nicht zu stören. Es zieht sich, emotional radikal vernachlässigt, in sein Inneres zurück, wird, ohne dass die Eltern davon Notiz nehmen, hochintelligent, verhält sich stets vorbildlich und bescheiden und übernimmt immer mehr die Rolle der Fürsorgenden, die ihm selbst vorenthalten bleibt. Als mit Laetitia ein zweites Mädchen auf die Welt kommt, scheint Tristane ihre Bestimmung gefunden zu haben. Sie kümmert sich wie eine Mutter um die kleine Schwester und schenkt ihr all die Liebe und Sicherheit, die sie selbst in diesen entscheidenden Kleinkindjahren nie erfahren hat. Die beiden werden größer, andere Formen der Liebe tauchen auf, auch die zur Musik, zur Literatur, doch die zwischen den Schwestern scheint unverbrüchlich, gleichwohl auch sie zwangsläufig in Reibung mit der Welt gerät. Und mit der Tatsache, dass jeder Mensch eben doch mit individuellen Voraussetzungen ins Dasein startet, deren Nachwirkungen ein Leben lang zu spüren sein können.

Man empfindet beim Lesen große Sympathie für Tristane, auch wenn sie zweifelsohne ein sehr spezieller Charakter ist. Und auch wenn Amélie Nothomb ihre Erzählung absichtlich immer ein klein wenig über das Wahrscheinliche hinausdehnt, mit Überspitzung, Umkehrung, schwarzem Humor arbeitet. Die Psyche des Kindes, das von seinen Eltern zwar nicht gezüchtigt, doch emotional verwahrlost und, wie es in der Entwicklungspsychologie heißt, „parentifiziert“ wird, dass es also seine kindlichen Bedürfnisse nie ausleben und erfüllt sehen kann, da es die Rolle und die Verantwortung der Eltern übernommen hat, wird, wie ich finde, erzählerisch pointiert und einfach genial entfaltet. Es stimmt, Amélie Nothomb schreibt leicht, dialogreich, locker, unterhaltsam, doch darin liegt gerade auch die Kunst, im gleichen Atemzug und ohne ein überflüssiges Wort ein rührendes Märchen in eine so bitterböse wie komisch überdrehte Sozialsatire einzubetten, in der viele Grundannahmen, Klischees und auch nicht zu unterschätzende Herausforderungen im Biotop Familie und Erziehung in absurder Überspitzung vorgeführt werden. In ihrem neuen Buch kann ich jedenfalls keinen Kitsch sehen, auch wenn es so viel um Liebe geht — und um ihr Gegenteil, und auch wenn es, zumindest für die Protagonistin Tristane wie für das Waisenkind aus dem Märchen, ein, na ja, halbwegs versöhnliches Ende gibt.

Bibliographische Angaben
Amélie Nothomb: Das Buch der Schwestern
Aus dem Französischen von Brigitte Große
ISBN: 9783257072860

Bildquelle
Amélie Nothomb, Das Buch der Schwestern
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderMiguel Bonnefoy: Héritage

Das große Thema dieses so leichtfüßig erzählten Romans ist die Entwurzelung und der fortwährende Versuch einer mehrere Generationen umfassenden Familie, neue Wurzeln zu schlagen. Gleich auf den ersten Seiten wird geschildert, wie ein Franzose aus dem Jura Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile auswandert, eine Weinrebe im Gepäck, die er vor einem in Frankreich wütenden Schädling retten will. Es entfaltet sich eine Familiensaga, die über ein Jahrhundert und von Frankreich bis Südamerika reicht, von der Erde, aus der die Reben gerissen werden und in der sie sich neu verwurzeln sollen, bis hoch in die Lüfte, in das Reich der Flugzeugpionierinnen und der Vogelvolieren, um ein paar der wiederkehrenden Motive dieses so besonderen Romans zu nennen.

Natürlich hat man bei einer solchen Geschichte Gabriel García Marquez 100 Jahre Einsamkeit im Hinterkopf, und es findet sich auch der ein oder andere Anklang an dieses großartige Werk des Magischen Realismus. Stilistisch verbindet Miguel Bonnefoy, der 1986, als Sohn einer venezolanischen Diplomatin und eines chilenischen Aktivisten, der unter Pinochet gefoltert wurde, in Paris geboren wurde, Traditionen der lateinamerikanischen und der französischen Literatur auf eine ganz eigene Weise miteinander. Er schreibt auf Französisch und verwebt einen augenzwinkernden Magischen Realismus mit der französischen Tradition des Realismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Denken und Verhalten seiner Figuren etwa erklärt sich aus einer Kombination des Einflusses der sozialen Umstände und der genetischen Herkunft, sie sind ebenso geprägt von ihrer Umwelt wie von ihrem Elternhaus.

Trotz der teilweise sehr schweren Schicksalsschläge, die — von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis in die Folterkammern der chilenischen Diktatur — mit der Macht der historischen Willkür daherkommen, lässt sich Miguel Bonnefoy erzählerisch nicht von seinem Stoff überwältigen. Er verfällt weder dem Pathos noch einer ohnmächtigen Betroffenheit, genauso wenig wie übrigens auch seine mit großer Humanität gezeichneten Figuren, sondern führt mit einer mitunter absurd-komischen Symbolik und einer literarischen Schöpfungskraft, die sich gerade in den kleinen Details offenbart und immer wieder überraschende Wendungen bereithält, girlandenhaft durch die Geschichte der Migrationsbewegungen einer so außergewöhnlichen wie exemplarischen Familie.

Bibliographische Angaben
Miguel Bonnefoy: Héritage, Rivages 2020
ISBN: 9782743650940

Bildquelle
Miguel Bonnefoy, Héritage
© 2024, Les Editions Payot & Rivages (SAS), Paris

bookmark_borderCharlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen

Dass ein Eintauchen in die Geschichte der Botanik alles andere als eine weltabgewandte, trockene Nischenbeschäftigung für Spezialisten ist, wird einem schnell klar, wenn man in dem wunderbaren Sachbuch zu lesen beginnt, das die Journalistin Charlotte Fauve und der Botaniker Marc Jeanson gemeinsam geschrieben haben. Die stilsichere Feder der Journalistin und der große Erfahrungsschatz des Botanikers gehen eine gelungene Symbiose ein, aus der ein überaus lebendiger und anschaulicher Überblick über die Geschichte der Botanik hervorgegangen ist, in der Naturgeschichte und Kulturgeschichte kenntnis- und für den Leser erkenntnisreich miteinander verknüpft sind.

Das Gedächtnis der Welt ist eine charmante Mischung aus Erfahrungsbericht, Autobiographie und Biographie der Botanik, dessen erzählerisches Prinzip sich die Vorgehensweise der Botanik zunutze macht. So wie der Botaniker den Mikrokosmos der Pflanze studiert, um daraus Erkenntnisse über den komplexen Kosmos des Pflanzenreiches zu gewinnen, wählt auch der Text immer wieder das Anekdotische als Ausgangspunkt, von dem aus sich Rückschlüsse auf die Natur, auf die Geschichte der Menschheit, das Dasein des Lebendigen insgesamt ziehen lassen. Es ist, philosophisch gesprochen, ein sich öffnender Blick, der sich aufs Kleinste konzentriert, um offen für große Zusammenhänge zu sein. Und so erfährt man bei der Lektüre eine Menge an Kuriosem, an Staunens- und Wissenswertem, erhält Einblick in viele spannende Zusammenhänge zwischen Pflanzenleben und menschlicher Kulturgeschichte, und natürlich auch in die dem Wandel der Zeit unterworfene Arbeit des Botanikers.

Diese Arbeit, die Praxis der Botanik, schildert Marc Jeanson mit liebevollem Blick als eine zugleich bescheidene und doch so nützliche; er erzählt, wie er selbst als junger Mann das Herbarium in Paris kennenlernte, wo er sich erst einmal zurechtfinden musste:

Plötzlich war da diese wirre Ansammlung aus Papier und Pflanzen, die mir anfangs so zeitlos vorkam, fest in der Geschichte verankert, und das auch noch mit einer außerordentlichen Präzision. Das Gedächtnis der Welt bestand auch in diesen Tausend getrockneten Pflanzen, und jedes duftende Kron- oder Nebenblatt zeugte vom Fortschritt der Wissenschaft oder vom ersten Kontakt zwischen fremden Kulturen, auf Gedeih und Verderb. Mit diesen bescheidenen Gesten des jahrhundertelangen Sammelns und Pressens wurde das Herbarium zur Zeitmaschine.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Eine Zeitmaschine ist auch der Text, der der Geschichte der Botanik in mehreren Jahrhunderten nachspürt, von Forscherdrang, Ausdauer, Neugier erzählt, die leider auch immer wieder in Hybris und Ausbeutung umschlug. Der Kolonialismus war ein maßgeblicher Kontext der Entstehungsgeschichte der Botanik, die Naturforscher, die ihre gefährlichen Expeditionen nicht selten selbst mit dem Leben bezahlten, und ihre Geld und Logistik bereitstellenden Auftraggeber verfolgten sehr unterschiedliche Ziele mit der Erforschung oder aber Eroberung neuer (Pflanzen-)Welten. Michel Adanson (1727-1828) etwa, einer der berühmten und teilweise in Vergessenheit geratenen Pioniere der Botanik, arrangierte sich mit seinen Auftraggebern:

Adanson, der Diener der Wissenschaft, sitzt in der Falle: Denn denen, die die Welt erweitern wollen, dient der Universalismus nur als Vorwand und die Erfassung der Lebewesen allein dazu, die neuen Gebiete ökonomisch und symbolisch zu unterwerfen. Die Gelehrten machen gemeinsame Sache mit den Kaufleuten, und die Kaufleute mit dem Staat.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An dieser Instrumentalisierung der Botanik zu Herrschaftszwecken übte Adanson, der selbst bei den Eingeborenen lebte und ihre Sprache lernte, keine offene Kritik; er schlug aber eine bessere Behandlung der Sklaven auf den Plantagen vor und erkämpfte zumindest mit den impliziten Waffen des Gelehrten eine gewisse Offenheit für das nicht Vetraute, das Andere:

Eine andere seiner vielen Eigenarten besteht darin, dass er die lokalen Namen der von ihm entdeckten Pflanzen beibehält. Adanson hört den Schwarzen zu und besteht darauf, die Bäume nach ihren Worten zu taufen, spricht bei Papageienblättern lieber von Cadelari als von Alternanthera und bringt damit nicht wenige seiner Korrespondenten im Jardin du Roi aus der Fassung. Die kehligen Laute seiner Artennamen sind sperriger als die des Lateinischen, der Weltsprache seiner Zeit, und tragen die Fremdartigkeit bis in die Worte hinein.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Joseph Pitton de Tournefort (1656-1708) unternahm in seinem Elément de botanique eine der ersten umfangreichen Klassifizierungen der Pflanzenwelt: 10.146 Arten, sortiert nach Blütenform. Pierre Magnol (1638-1715), Intendant des Botanischen Gartens von Montpellier, war der erste, der Verwandtschaften unter den Pflanzen vermutete und den Begriff der Familie für Pflanzen mit ähnlichen Merkmalen einführte; ihm ist übrigens die Magnolie gewidmet. Carl von Linné (1707-1778) leitete mit seiner bis heute gültigen binären Nomenklatur einen Wendepunkt in der Naturgeschichte ein; von nun an bestand eine korrekte wissenschaftliche Bestimmung aus dem übergeordneten Gattungsnamen und dem Epitheton für die Art und ihre Besonderheiten. Auch seine Vorgehensweise gibt Aufschluss über das Naturverständnis der Zeit, das von einer geheimen, göttlichen Ordnung ausging, die sichtbar gemacht werden konnte, wenn man die Pflanzen als die Geschöpfe Gottes benannte und sie „in die Harmonie eines immergrünen Horts“ einordnete. Rudolf Jakob Camerarius (1665-1721) erforschte die Sexualität der Pflanzen, Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) entwickelte in seiner Flore française den Bestimmungsschlüssel, mit dem er die Botanik laientauglich machte, und begleitete die im Zuge der Revolution einsetzende Verwandlung des Pariser Jardin du Roi zum Muséum national d’histoire naturelle.

Dieser Ort der Erforschung der Pflanzenwelt in Paris hatte eine entscheidende Bedeutung in der Geschichte der Botanik schon allein dadurch, dass er eine „unausweichliche Etappe für Samen und Stecklinge [war], […] das Eingangstor, durch das all diese Arten gingen“, wie es in Das Gedächtnis der Welt heißt. „Die Blüten in unseren Gärten sind wohl das sichtbarste Erbe der botanischen Expeditionen.“ schreiben Fauve und Jeanson; in den vielen Jahrzehnten vom 16. bis ins 19. Jahrhundert gelangten von Tulpen bis zu Mammutbäumen vielfältigste Gewächse aus der ganzen Welt nach Paris und von da in die Gärtnereien und zu reichen Besitzern privater Gärten, die immer wieder auf Neuheiten erpicht waren.

Manchmal wird es im Text auch geradezu poetisch-philosophisch; es ist nicht zu überlesen, dass Jeanson seinen Beruf als Berufung versteht, und diese Begeisterung teilt er mit seinen Lesern:

Schreiben, beschreiben heißt, in das Geheimnis der Pflanze vorzudringen, den Saft zu schildern, der durch den Stiel nässt, den Nektar, der vom Stempel tropft, den Duft aufzufangen, der aus einer Blütenkrone dringt, den Schatten nachzuzeichnen, der unter der Pflanze liegt — und den Stift erst niederzulegen, wenn vor den geschlossenen Augen die Pflanze naturgetreu dasteht, ein identisches Abbild.
Wenn ein Botaniker eine Blüte schneidet, erfasst er den Moment und zugleich die Komplexität des Lebendigen.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An einer anderen Stelle wird der Vergleich von Gärtner und Botaniker zur Metapher erhoben:

Der Gärtner begleitet die Entwicklung der Pflanzen, er umhegt sie, er erhält sie am Leben. Der Botaniker dagegen schneidet die Pflanzen ab, er beobachtet sie im Tod, um sie besser im Leben situieren zu können.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Aus seinem Naturverständnis bildet der Botaniker sein Weltverständnis, was sich an den verschiedenen aufblühenden und wieder in der Versenkung verschwindenden Klassifizierungssystemen der Pflanzenreichs gut ablesen lässt:

Mit der Zeit hatten sich die Aufgaben der Sammlung verändert. Sie war nicht mehr nur eine pflanzliche Arche Noah, die sich mit der Beschreibung der Arten beschäftigte, sondern auch ein Ort zur Erforschung ihrer Evolution und der Mechanismen, nach denen sie sich auf der Erdoberfläche verteilten.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zur morphologischen Analyse tritt in der Gegenwart eine weitere Informationsquelle, die DNA, mit der ganz neue Prozesse erforscht werden können. Und doch bleibt die Dokumentation als zentrale Aufgabe bestehen, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und eine essentielle Voraussetzung für die Zukunft nicht nur der Botanik:

Seit 350 Jahren verzeichnet das Herbarium alles. Die Arten, ihre Sammler, aber auch Datum und Fundort. Mit dem Erhalt der banalsten Belege und ihrer Wiederholung verhinderten wir, dass das Zeitband riss, das sich von Fund zu Fund zieht; und nur dieses Band kann heute zuverlässig die Verwerfungen der Floren und Landschaften dokumentieren.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Und doch ist Jeansons Blick nicht frei von einer gewissen Nostalgie, einer Wehmut, die sich mit einem leisen Unbehagen vermischt:

Im 16. Jahrhundert war die Natur so beängstigend wie faszinierend, bevölkert von Ungeheuern und Chimären, denen die Herrscher dieser Welt in der Abgeschiedenheit ihrer Kuriositätenkabinette bei ihrem Kampf zusahen. Im 21. Jahrhundert ist die Wildnis bestens dokumentiert und mit einem Mausklick jederzeit zugänglich; das Mysterium ist dahin, höchstens bleibt uns noch eine Ahnung davon.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Die Ambivalenz des Fortschritts macht sich Jeanson zufolge auch in der Botanik bemerkbar, die zwar über reich ausgestattete Museumssammlungen verfüge, während die Wildnis selbst als Lebensraum der Pflanzenvielfalt, durch Urbanisierung, Entwaldung, immer weiter zurückgedrängt werde. So gehe auch der neugierige, offene Blick für das Lebendige in seiner Gesamtheit verloren:

Die Globalisierung der Pflanzen hat zu einer Art Uniformisierung der Gartenflora geführt. Es gibt keine Wildpflanzen mehr, nur durch menschliche Selektion künstlich aufgeblähte Blüten, die den ahnungslosen Spaziergänger an der Nase herumführten, ihm weismachten, ihre breiten Blütenblätter verkörperten den Gipfel der Natürlichkeit.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Natur versus technische Züchtung, Natürlichkeit versus Artifizialität, die Nostalgie von Fauve und Jeanson wirkt dennoch an keiner Stelle naiv. Der Botaniker erscheint in ihrem Buch ein wenig selbstironisch als eine aus der Zeit gefallene Spezies, deren Akribie und Selbstvergessenheit bisweilen zum Schmunzeln anregt. Wie in der Schilderung eines Forschungsaufenthaltes von Jeanson in New York, wo er seine nach Süden ausgerichtete Hochhauswohnung, einem geradezu idealen Standort für tropische Pflanzen, mit eben solchen bevölkerte:

Byron [sein New Yorker Mitbewohner] zählte eines Tages nach und kam auf 180 Arten, Unterarten und Varietäten, jede mit ihrer kleinen Gebrauchsanweisung, damit er keine Angst vor dem Gießen haben musste, wenn er das für mich übernahm. Ich fand daran nichts Besonderes, aber er würde sagen, dass es schon an Selbstverleugnung braucht, um mit einem Botaniker zusammenzuleben.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zugleich deuten die Autoren immer wieder an, dass man sich, so altmodisch und exotisch der Botaniker auch bisweilen wirken mag, von ihm doch auch etwas abschauen kann, einen bestimmten Blick auf die Welt, auf die Natur, die zu bewahren allemal erstrebenswert ist. So ist das präzise Hinschauen auf das kleineste Detail, das für den Botaniker zum Beruf gehört, vielleicht genau das, was sich in unserer beschleunigten Welt wiederzuentdecken lohnt: das Hinschauen auf die ökologische Vielfalt, auf den ganzen Makro- und Mikrokosmos der Natur, der nicht nur medienwirksame Koalas oder Eisbären bereithält, sondern aus einem ganzen Geflecht an Lebendigem besteht, das sich auch gegenseitig beeinflusst.

Die wenigsten Botaniker werden als Botaniker geboren. Erst mit der Zeit lernen sie, das Unsichtbare zu sehen. Die Tiere lenken mit ihrer Possierlichkeit die Blicke auf sich. Die Pflanzen dagegen bleiben reglos und schweigen. Dass sie so gar keine Reaktion zeigen, verweist sie auf die hinteren Plätze einer Welt, die ständig in Bewegung ist.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Auch der Antrieb und die Besessenheit des Botanikers, zu sammeln, zu systematisieren, zu erfassen, seine „Angst — vielleicht ja gar nicht zu Unrecht –, die Zwiebel könnte eines Tages verschwinden und Gott oder die Wissenschaft könnte sie dann nach seinen Aufzeichnungen rekonstruieren“, sind altbewährte soft skills, die wir für die Zukunft wieder brauchen können. Wenn, wie es bei Fauve und Jeanson heißt, „Naturforscher der alten Schule, die eine Pflanze erkennen, aber auch in ihrer Ökologie und ihrem Lebenszyklus erklären können, zunehmend zur bedrohten Art“ werden, so tragen sie mit ihrem Text ein Stück dazu bei, ihre Leser anzuhalten, ihren Blick auf das uns umgebende Lebendige zu schulen und den Wert der innehaltenden, genauen Beobachtung zu erkennen.

Bibliographische Angaben
Charlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen, Aufbau 2020
Mit Illustrationen von Nils Hoff und aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke
ISBN: 9783351034627

Bildquelle
Charlotte Fauve und Marc Jeanson, Das Gedächtnis der Welt
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderKamel Daoud: Zabor

Scheherazade erzählt, um zu überleben, Nacht für Nacht. Ismael, der Ich-Erzähler des algerischen Autors Kamel Daoud, für seine literarische Gegendarstellung von Camus‘ L’Etranger (in Meurseault, contre-enquête, 2014) auch dem deutschen Publikum bekannt, macht seinerseits die Nacht zum Tag und erzählt, um Leben zu retten. Er möchte Scheherazade sogar noch übertreffen, indem er, schreibend, erzählend, nicht sein eigenes Leben, sondern das all der anderen, die dem Tode auf irgendeine Weise nahekommen, verlängert. Doch als auf einmal sein eigener Vater, der, der ihn als kleinen Jungen zusammen mit der Mutter verstoßen hat, im Sterben liegt, gerät er in eine Krise.

Aus dieser Krise versucht sich Ismael, und hier setzt der Roman ein, wiederum mit dem Mittel der Sprache zu befreien: Er schreibt seine eigene Lebensgeschichte nieder, die Geschichte des Sohnes, der früh die Mutter verloren hat, der vom Vater, einem traditionell lebenden Schafhirten, verstoßen wird, der ungerechterweise beschuldigt wird, seinem Halbbruder Gewalt angetan zu haben, der bei der Tante aufwächst, die unverheiratet geblieben ist und halbe Tage mit dem Schauen von Telenovelas verbringt; er erzählt von seinen epileptischen Anfällen und seiner Gabe des Memorierens endlos langer Koranverse, von seiner Entdeckung französischer Romane, von seiner krächzenden Stimme, die Anlass für Spott und Häme seiner Mitschüler ist und ihn schließlich seine Erfüllung im geschriebenen Wort und der nächtlichen Dunkelheit suchen lässt. Er erzählt davon, wie es dazu kam, dass er der magische Geschichtenschreiber des Dorfes geworden ist, ein Außenseiter, den die Leute beargwöhnen und doch in ihrer Not immer wieder um Hilfe bitten. Wie sie an ihn und seine außergewöhnliche, den Tod überlistende Gabe glauben wollen.

Kamel Daoud hat für seinen Wunder wirkenden Erzähler eine Sprache gefunden, die selbst sehr an ein Märchen oder mehr noch einen Mythos erinnert. Die märchenhafte Verwandlung des armen Waisenjungen in einen Wunderheiler ist auch die eines mythischen Sündenbocks in ein magisches, die Macht des Todes bannendes Opferlamm. Wie im Mythos haben Namen eine symbolische, geradezu performative Bedeutung. Zunächst nennt sich der Ich-Erzähler Ismael, wie der erste Sohn Abrahams, der mit seiner verstoßenen Mutter Hagar in die Wüste geschickt wird. Im Koran ist Ismael auch der Sohn, der geopfert werden soll, und nimmt damit die Rolle des Opferlamms ein, die in der christlichen Bibel Isaak zugewiesen wird. Im Text werden noch zahlreiche weitere Hinweise auf das von René Girard als „Sündenbockmechanismus“ bezeichnete Bewältigungsritual traditioneller Gesellschaften gestreut, in dem der Ich-Erzähler die zentrale Funktion des Opferlammes einnimmt. Ismael hat viele Merkmale eines Außenseiters, allen voran seine mit dem Meckern einer Ziege verglichene Stimme, für die er sich schämt und die ihn, wie bereits erwähnt, einen abnormalen, dem der anderen Dorfbewohner entgegengesetzten Lebensrhythmus entwickeln lässt. Und wie von einem mythischen Sündenbock wird auch von Ismael behauptet, dass er Schuld auf sich geladen habe, nämlich die, als Kleinkind seinen Halbbruder in den Brunnen gestoßen zu haben. Ismaels Vater besitzt außerdem nicht zufällig Vieh, das er zu seinem Lebensunterhalt sowie zu rituellen Anlässen schlachtet. Es werden blutige Opferfeste geschildert, die Ismael abstoßend findet, so wie er übrigens auch die Tradition und die Religion, die in seinem Dorf noch eine wichtige Rolle spielen, mit großer Skepsis betrachtet.

Gleichwohl ist auch Ismael selbst in einer Welt aufgewachsen, in der Aberglauben, Rituale und magisches Denken das Handeln der Menschen bestimmen. Doch während die Dorfbewohner weiterhin Angst davor haben, dass das geschriebene Wort jemanden verfluchen kann, wendet der Ich-Erzähler diesen Glauben irgendwann ins Positive. Die Literatur wird zur Magie jenseits eines immer auch Gewalt und Ausschluss implizierenden Opferdenkens. Sie kann, das hat Ismael am eigenen Leib erfahren, beleben, erwecken, heilen. Warum soll sie es also nicht auch mit dem Tod aufnehmen können? Um seine Wandlung komplett zu machen, gibt sich Ismael einen neuen Namen, nachdem er seine Gabe erkannt hat. Er nennt sich von nun an Zabor. Zabor oder Zabūr ist nach der Lehre des Islam das heilige Buch, das Dawud (David) von Allah offenbart wurde, wahrscheinlich sind damit die Psalmen gemeint.

Kamel Daoud belässt es jedoch nicht bei einem der Zeit enthobenen Märchen. Seine Erzählung, das macht schon die sorgsam eingearbeitete Intertextualität deutlich, geht einen Dialog mit den großen Texten und kulturellen Traditionen der östlichen und westlichen Geschichte ein, und sie setzt sich auf komplexe Weise mit der Kolonialgeschichte Algeriens auseinander. Dem Ich-Erzähler eröffnet sich mit den Romanen, die er auf französisch liest, eine neue Welt, die Sprache der Kolonisatoren, die selbst nicht frei von Gewalt ist, bringt ihn dazu, seiner Berufung zu folgen und zu schreiben. Doch was er schreibt, das sind auf den Volksglauben zurückgehende magische Texte, so dass er eine Art Versöhnung von Altem und Neuem herbeizuschreiben imstande ist. Das gelingt ihm freilich nur, indem er selbst ein Leben im Schatten führt, in einer schmerzenden, subversiven Auflehnung gegen die immer noch vorherrschenden patriarchalen Strukturen, innerhalb derer Sexulität ein Tabu ist und Frauen unterdrückt werden. Als Sohn einer Verstoßenen liebt der Ich-Erzähler seinerseits eine Verstoßene, und führt ein Leben abseits der Norm. Doch auch die Gewalt, die Algerien als ehemalige Kolonie erlebt hat, bleibt in Kamel Daouds metapherngleich verdichtetem Mythos von der wunderwirkenden Kraft der Sprache nicht unausgesprochen. Und da Gewalt, wie es der Sündenbockmechanismus zeigt, eigentlich immer im herablassenden, furchtsamen, feindseligen Blick auf den anderen, dem die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verschlossen wird, ihren Ursprung hat, dreht Kamel Daoud in seiner Erzählung den Spieß um und lässt in einer so naheliegenden wie verblüffenden Umkehrung des Exotischen die französischen Romane, die Ismael verschlingt, als Gipfel der Faszination und des Kuriosen erscheinen.

Zabor liest sich wie ein endloser Psalm, mal lyrisch, mal bedrohlich, ein stürmisches Hohelied der Sprache, das nicht gerade eine leichte Sofalektüre ist, aber durch die Sprache den Blick und die Sinne schärft und herausfordert.

Bibliographische Angaben
Kamel Daoud: Zabor, Actes Sud 2017
ISBN: 9782330081737

Deutsche Ausgabe:
Kamel Daoud: Zabor, übersetzt von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch 2019
ISBN: 9783462052022

Bildquelle
Kamel Daoud, Zabor
© 2023 Les Editions Actes Sud, Société anonyme à directoire, Arles


bookmark_borderVictor Jestin: La chaleur

La chaleur, die Hitze, ist ein heißes, erstickendes Kammerspiel, das sich im kurzen Zeitraum von nicht einmal zwei ganzen Tagen an der so gar nicht frischen, sondern vor Hitze flirrenden Luft eines französischen Campingplatzes am Atlantik in den Landes abspielt.

Geschrieben hat das Buch der junge Autor Victor Jestin, Jahrgang 1994, der dafür in Frankreich auch schon mehrfach ausgezeichnet wurde. La chaleur ist sein Debüt, ein aus der Perspektive des 17-jährigen Léonard erzählter Jugendroman, der stilistisch und psychologisch eindrucksvoll geschrieben ist und seinen Lesern emotional einiges abverlangt. Dem Text fast wie eine Warnung vorangestellt ist ein Zitat aus Büchners Woyzeck, über dessen gleichnamige Hauptfigur im Laufe der Theaterhandlung, sinngemäß, eine andere sagt, sie sei in ihrem Wahn zum offenen Rasiermesser für die Welt um sie herum geworden.

Die Schockstarre, in die einen gleich die ersten Zeilen von La chaleur versetzen, hat nichts Rasiermesserblutiges an sich und doch lässt sie einen wie in der eigenen voyeuristischen Leserperspektive ertappt innehalten. Es wird geschildert, wie Léonard, ein Jugendlicher, der seine Sommerferien an einem Campingplatz am Meer verbringt, im Schutze der Dunkelheit beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher, Oscar, den Léonard nur flüchtig kennt, sich im trunkenen Zustand selbst tötet, wie er sich in die Seile der Schaukel eindreht, auf der er sitzt, wie er sich irgendwann nicht mehr herauswinden kann und sich so langsam, qualvoll selbst erwürgt. Wie der Leser verhält sich auch Léonard in dieser Szene wie ein Voyeur, wie gelähmt begnügt er sich damit, zuzuschauen, ja er sieht dem anderen sogar direkt in die Augen, greift aber nicht ein, tut nichts, die schreckliche Tat zu verhindern. Auch unmittelbar danach steht Léonard immer noch wie neben sich, er begreift selbst nicht, warum er das Schreckliche, warum er den Tod zugelassen, warum er nicht gehandelt hat. Was er aber begreift, ist, dass er durch seine Passivität Schuld auf sich geladen hat. Doch er handelt weiter irrational. Anstatt Hilfe zu holen oder auch einfach nur abzuhauen, vergräbt er den Leichnam des Jungen am Strand in den Dünen.

Während der ganzen Erzählung ist man kontinuierlich in den Gedanken von Léonard, erlebt alles aus seiner Sicht. Das ist schockierend, intensiv, und verwirrenderweise auch berührend, man fühlt mit ihm und ist zugleich abgestoßen von seinem (Nicht-) Verhalten. Jestin lässt uns auf diese Weise in großer Eindringlichkeit miterleben, wie Léonard den darauffolgenden Tag verbringt, die darauffolgende Nacht, und die weiteren Tage bis zu seiner Abreise. Man lernt den Jugendlichen und seine Innenwelt immer genauer kennen, erfährt, dass Léonard eigentlich alles andere als einer der feierwütigen Teenager ist, die sich auf dem Campingplatz tummeln, dass er sich auf all den Partys eher fehl am Platz fühlt und nicht so recht Anschluss zu finden vermag. Auch an jenem fatalen Abend hatte er sich früher zurückgezogen und die Einsamkeit gesucht. Man erfährt auch, wie Léonard mit seinen kleinen Geschwistern umgeht, wie er mit seinen Eltern klar kommt, wie er — aus Pflichtgefühl, aus Neugier, schlechtem Gewissen, dem Wunsch zu reden — bei Oscars Mutter vorbeischaut, und wie er sich in ein Mädchen verliebt, das am Vortag ausgerechnet mit Oscar geflirtet hatte; wie er sich, so wie Oscar in den tödlichen Seilen der Schaukel, in einer hitzigen Gedankenspirale an den toten Jungen verfängt, und wie er immer wieder Anstrengungen unternimmt, zu reden, zu beichten, und es doch nicht über sich bringt.

Die titelgebende Hitze, die natürlich symbolischen Charakter hat, macht Jestin zur sichtbaren oder besser spürbaren Begleiterin der innerlichen Turbulenzen, die Léonard durchlebt. Fast erscheint seine „Tat“ als notwendige Konsequenz der Jahr für Jahr und auch in diesem Sommer immer unerträglicher werdenden Temperaturen:

Depuis quelques étés déjà, la chaleur ne cessait de s’intensifier. Chaque année elle surgissait plus tôt, cette fois dès février, et on l’avait accueillie sans crainte, trop heureux de finir l’hiver, on avait dressé les terrasses des bars sans présager du pire. Je me demandais à compter de quel degré ce serait trop. Tout se renverserait. On fuirait ce camping comme on saute d’un appartement en flammes (…).

Schon seit einigen Sommern nahm die Hitze unablässig an Intensität zu. Jedes Jahr kam sie früher, dieses Mal schon im Februar, man hatte sie furchtlos begrüßt, freute man sich doch zu sehr, dass der Winter endlich zu Ende war, man hatte die Terrassen der Bars geöffnet, ohne das Schlimmste zu ahnen. Ich fragte mich, ab wieviel Grad der Punkt überschritten wäre. An dem sich alles umkehren würde. Man würde vom Campingplatz flüchten, so wie man aus einer brennenden Wohnung springen würde (…).

Jestin, Chaleur, S. 33, Übersetzung der Rezensentin

An diesem Kipppunkt, das ist die erzählerische Kunst des jungen französischen Autors, bewegt sich die ganze Erzählung. Die Hitze des Sommers wird zu einem flirrenden Bild für das überhitzte Verhalten auch der anderen Teenager, all der flirtenden Mädchen, der aggressiven halbstarken Jungen, des unglücklichen berauschten Oscar. Bei Léonard ist die Hitze auch ganz deutlich an ein Empfinden der Enge, der Bedrängnis im Inneren gekoppelt, so dass er bisweilen mit einer scheinbar paradoxen Gefühlskälte auf die äußere Überhitzung reagiert. Das schließt nicht aus, dass sich hinter einer solchen scheinbar emotionslosen Haltung ein sehr sensibler Junge verbirgt; seine innere Stimme, die das Geschehene, die den toten Oscar nicht aus dem Gedächtnis vertreiben kann, spricht Bände, und man leidet beim Lesen mit, erlebt seine Ohnmacht, seine Hemmungen gegenüber seinen Altersgenossen fast wie am eigenen Leib. Mit einfachen und doch immer wieder genau ins Herz treffenden Worten schildert Jestin die unbeholfenen Versuche eines introvertierten und zutiefst aufgewühlten Jungen, mit anderen in Kontakt zu treten, wie etwa mit Louis, einem anderen Teenager auf dem Campingplatz, zu dem sich eine flüchtige Freundschaft anbahnt:

J’ai voulu lui [Louis] tapoter l’épaule, lui dire un mot, faire quelque chose, mais rien n’est venu. J’ai tenté d’imaginer ce que cela faisait d’être lui en permanence, mais je n’ai pas réussi non plus.

Ich wollte ihm [Louis] auf die Schulter klopfen, ihm etwas sagen, irgendetwas tun, aber es kam nichts aus mir heraus. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, ständig in seiner Haut zu stecken, aber auch das habe ich nicht fertiggebracht.

Jestin, Chaleur, S. 67, Übersetzung der Rezensentin

Trotz der beklemmenden Hitze allerorten wird der Roman nicht gänzlich von einer düster-schweren Atmosphäre erdrückt, denn Jestin gelingt es, ohne Stilbruch auch leichtere Szenen einzubauen, kurze Einblicke in den Familienalltag zu geben oder das zarte und zugleich herausfordernde Entstehen einer Freundschaft, einer Liebe zu schildern, die das Camp nicht überdauern werden. Eine Melancholie der Zeitlichkeit liegt über allem, das Leichte und das Schwere sind nicht voneinander zu trennen, sind eng verschlungen im so eindringlich erzählten Kosmos einer jugendlichen Suche nach Liebe und Wahrheit. Victor Jestins Text ist vielleicht nicht unbedingt nur ein Jugendroman, sondern vor allem ein überzeugendes psychologisches Sommerstück, das einen Blick hinter die idyllischen Kulissen der Sandstrände wirft und in einer poetischen klaren Sprache die Desillusionierung eines schmerzhaft der Kindheit entwachsenen Teenagers erzählt, die fast als Parabel für die gegenwärtige Desillusionierung der Menschheit über sich selbst gelesen werden könnte.

C’est beau les Landes, disaient les gens. L’air est pur, il fait chaud, on a l’océan devant soi. Personne ne disait: C’est terrible, les Landes. C’est le faux calme des pins, le fracas des vagues dont on sait bien qu’elles on déjà tué, et tous ces rires et cris de jouissance mêlés en un même écho sourd […].

Wie schön die Landes sind, sagten die Leute. Die Luft dort ist klar, es ist warm, der Ozean liegt vor einem. Niemand sagte: Wie schrecklich die Landes sind. Die trügerische Ruhe der Pinien, der Lärm der Wellen, die, wie man genau weiß, schon den Tod gebracht haben, und all das Gelächter und die Schreie der Lust, die sich im selben dumpfen Echo miteinander vermengen […].

Jestin, Chaleur, S. 47, Übersetzung der Rezensentin

Bibliographische Angaben
Victor Jestin: La chaleur, Flammarion 2019
ISBN: 9782081478961
In deutscher Übersetzung von Sina de Malafosse ist Victor Jestin: Hitze 2021 bei Kein & Aber erschienen.

Bildquelle
Victor Jestin, La chaleur
© Éditions Flammarion SA, Paris



bookmark_borderMuriel Barbery: Eine Rose allein

Wie in Die Eleganz des Igels spielt die japanische Kultur, als Faszinosum und als Quelle von Poesie und Weisheit, eine bedeutende Rolle im neuen Roman der französischen Autorin Muriel Barbery. Und wie dort begegnet man auch hier wieder einer kratzbürstigen, seelisch verwundeten Protagonistin, die man sofort ins Herz schließen mag.

Rose, die nicht zufällig den Namen der schillerndsten Blume der Kulturgeschichte trägt, führt nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter in uneingestandener Trauer und Einsamkeit ein ungebundenes Leben in Paris. Nach dem Tod ihres japanischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in dieses Land. Paul, ein Vertrauter ihres Vaters, führt sie, dessen letzten Wunsch erfüllend, an verschiedene ihm zu Lebzeiten wichtige Orte: Zen-Gärten und Tempel, die eine ganz andere Sprache sprechen, der Rose anfangs mit Skepsis, nach und nach jedoch mit wachsender Neugier begegnet.

Ein zarter Roman, voll unaufdringlicher Poesie und mit einer Handvoll versehrter, eigenwilliger und liebenswerter Figuren, und eine ebenso zarte Liebesgeschichte, gelesen in der deutschen Hörbuchfassung von Elisabeth Günther, die die Hörer mit ihrer ebenfalls auf zarte Weise gestalteten Erzähl- und Figurenstimme leicht und angenehm durch die Geschichte führt.

Bibliographische Angaben
Muriel Barbery: Eine Rose allein, List Hardcover 2022
Aus dem Französischen von Norma Cassau
ISBN: 9783471360460

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2022
Gesprochen von Elisabeth Günther
ISBN: 9783957132697

Bildquelle
Muriel Barbery, Eine Rose allein
© 2022, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCamille Laurens: Es ist ein Mädchen

Es ist ein Mädchen!

Dieser kurze Satz, der Camille Laurens‘ autofiktional genannten Roman strukturiert, ihm geradezu mythisch aufgeladener Anfang und Ende (oder Neuanfang?) ist, hat vor kurzem auch in meinem Leben eine neue Bedeutung erlangt. Schicksalshaft, das ist er für mich auch, allerdings im Sinne von Wunder und Freude, Glück und Liebe; und ja, auch Sorge, welche die Liebe wohl immer begleitet. Die 1960er Jahre, in denen der Roman spielt und in denen es nicht so abwegig war, dass der Satz auch Gefühle wie Enttäuschung oder Angst auslöste, sind lange vorbei. Und doch hat mich die neue Rolle als Mutter, die ich nun zum ersten Mal in Körper und Geist und Herz erfahre, noch stärker als zuvor erwartet für Geschlechterfragen sensibilisiert, für Themen wie die inzwischen viel besprochene, aber immer noch nicht ganz anerkannte „care-Arbeit“ oder das Ringen um gleichberechtigte Partnerrollen, die auch heute gar nicht so leicht auszuhandeln sind, und einfach viele Gedanken darüber aufkommen lassen, was es, in der Familie, in der Gesellschaft, bedeutet, ein Mädchen zu sein.

Genau das befragt und hinterfragt auf intelligente, entlarvende, sprachwitzige Weise auch der in scheinbar so fernen Zeiten spielende Roman der französischen Autorin, die einen zugleich gesellschaftlichen und psychologischen Blick auf das Thema wirft. Erzähltechnisch ist die Geschichte interessant konstruiert, da die Perspektive zwischen Außen- und Innenschau, nämlich zwischen einer die Protagonistin mit einem eher ungewöhnlichen „Du“ anredenden Stimme (z.B. für die Szene der Geburt) und derjenigen einer Ich-Erzählerin wechselt. So entsteht auf wenigen Seiten und dennoch bildhaft und einprägsam die Lebensgeschichte einer Frau, die sozusagen ab ovo erzählt wird: von der Geburt, die sehr realistisch, aber durch die Du-Perspektive aus einer gewissen kritischen Distanz geschildert wird, über die Kindheit und Jugend bis zum Mutterwerden und Leben als Ehefrau. Ihr Heranwachsen vom Mädchen zur jungen Frau ist von mehreren traumatischen Erlebnissen geprägt, die jedoch in der sich jeder Dramatisierung enthaltenden Erzählung nur angedeutet werden. Erst ihre Tochter ist, am überraschenden Ende der Erzählung, in der Lage, die erlernten Konventionen umzustürzen und eine positive Identität als Mädchen anzunehmen und zu leben, für die man sich nicht schämen, aus der man sich nicht befreien muss, sondern die etwas Schönes und Richtiges und vor allem Selbstverständliches ist.

So verwandelt die Autorin ein schicksalhaftes Mädchen-Dasein vom Mythos in eine Utopie, und als Schriftstellerin und Mitglied der Académie Goncourt, die den berühmtesten französischen Literaturpreis vergibt, tut sie dies natürlich mit dem symbolischen Mittel der Sprache. Das macht diesen kurzen Text auch so lesenswert, der durchgehend mit Sprachkritik und Sprachwitz arbeitet — was für die Übersetzung eine kleine, aber bestimmt spannende Herausforderung dargestellt haben muss –, und auf diese Weise zeigt, wie wandelbar Wirklichkeitswahrnehmung und Machtpositionen sind.

Bibliographische Angaben
Camille Laurens: Es ist ein Mädchen, dtv 2022
Aus dem Französischen von Lis Künzli
ISBN 978342329016

Bildquelle
Camille Laurens, Es ist ein Mädchen
© 2022, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

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