bookmark_borderKamel Daoud: Zabor

Scheherazade erzählt, um zu überleben, Nacht für Nacht. Ismael, der Ich-Erzähler des algerischen Autors Kamel Daoud, für seine literarische Gegendarstellung von Camus‘ L’Etranger (in Meurseault, contre-enquête, 2014) auch dem deutschen Publikum bekannt, macht seinerseits die Nacht zum Tag und erzählt, um Leben zu retten. Er möchte Scheherazade sogar noch übertreffen, indem er, schreibend, erzählend, nicht sein eigenes Leben, sondern das all der anderen, die dem Tode auf irgendeine Weise nahekommen, verlängert. Doch als auf einmal sein eigener Vater, der, der ihn als kleinen Jungen zusammen mit der Mutter verstoßen hat, im Sterben liegt, gerät er in eine Krise.

Aus dieser Krise versucht sich Ismael, und hier setzt der Roman ein, wiederum mit dem Mittel der Sprache zu befreien: Er schreibt seine eigene Lebensgeschichte nieder, die Geschichte des Sohnes, der früh die Mutter verloren hat, der vom Vater, einem traditionell lebenden Schafhirten, verstoßen wird, der ungerechterweise beschuldigt wird, seinem Halbbruder Gewalt angetan zu haben, der bei der Tante aufwächst, die unverheiratet geblieben ist und halbe Tage mit dem Schauen von Telenovelas verbringt; er erzählt von seinen epileptischen Anfällen und seiner Gabe des Memorierens endlos langer Koranverse, von seiner Entdeckung französischer Romane, von seiner krächzenden Stimme, die Anlass für Spott und Häme seiner Mitschüler ist und ihn schließlich seine Erfüllung im geschriebenen Wort und der nächtlichen Dunkelheit suchen lässt. Er erzählt davon, wie es dazu kam, dass er der magische Geschichtenschreiber des Dorfes geworden ist, ein Außenseiter, den die Leute beargwöhnen und doch in ihrer Not immer wieder um Hilfe bitten. Wie sie an ihn und seine außergewöhnliche, den Tod überlistende Gabe glauben wollen.

Kamel Daoud hat für seinen Wunder wirkenden Erzähler eine Sprache gefunden, die selbst sehr an ein Märchen oder mehr noch einen Mythos erinnert. Die märchenhafte Verwandlung des armen Waisenjungen in einen Wunderheiler ist auch die eines mythischen Sündenbocks in ein magisches, die Macht des Todes bannendes Opferlamm. Wie im Mythos haben Namen eine symbolische, geradezu performative Bedeutung. Zunächst nennt sich der Ich-Erzähler Ismael, wie der erste Sohn Abrahams, der mit seiner verstoßenen Mutter Hagar in die Wüste geschickt wird. Im Koran ist Ismael auch der Sohn, der geopfert werden soll, und nimmt damit die Rolle des Opferlamms ein, die in der christlichen Bibel Isaak zugewiesen wird. Im Text werden noch zahlreiche weitere Hinweise auf das von René Girard als „Sündenbockmechanismus“ bezeichnete Bewältigungsritual traditioneller Gesellschaften gestreut, in dem der Ich-Erzähler die zentrale Funktion des Opferlammes einnimmt. Ismael hat viele Merkmale eines Außenseiters, allen voran seine mit dem Meckern einer Ziege verglichene Stimme, für die er sich schämt und die ihn, wie bereits erwähnt, einen abnormalen, dem der anderen Dorfbewohner entgegengesetzten Lebensrhythmus entwickeln lässt. Und wie von einem mythischen Sündenbock wird auch von Ismael behauptet, dass er Schuld auf sich geladen habe, nämlich die, als Kleinkind seinen Halbbruder in den Brunnen gestoßen zu haben. Ismaels Vater besitzt außerdem nicht zufällig Vieh, das er zu seinem Lebensunterhalt sowie zu rituellen Anlässen schlachtet. Es werden blutige Opferfeste geschildert, die Ismael abstoßend findet, so wie er übrigens auch die Tradition und die Religion, die in seinem Dorf noch eine wichtige Rolle spielen, mit großer Skepsis betrachtet.

Gleichwohl ist auch Ismael selbst in einer Welt aufgewachsen, in der Aberglauben, Rituale und magisches Denken das Handeln der Menschen bestimmen. Doch während die Dorfbewohner weiterhin Angst davor haben, dass das geschriebene Wort jemanden verfluchen kann, wendet der Ich-Erzähler diesen Glauben irgendwann ins Positive. Die Literatur wird zur Magie jenseits eines immer auch Gewalt und Ausschluss implizierenden Opferdenkens. Sie kann, das hat Ismael am eigenen Leib erfahren, beleben, erwecken, heilen. Warum soll sie es also nicht auch mit dem Tod aufnehmen können? Um seine Wandlung komplett zu machen, gibt sich Ismael einen neuen Namen, nachdem er seine Gabe erkannt hat. Er nennt sich von nun an Zabor. Zabor oder Zabūr ist nach der Lehre des Islam das heilige Buch, das Dawud (David) von Allah offenbart wurde, wahrscheinlich sind damit die Psalmen gemeint.

Kamel Daoud belässt es jedoch nicht bei einem der Zeit enthobenen Märchen. Seine Erzählung, das macht schon die sorgsam eingearbeitete Intertextualität deutlich, geht einen Dialog mit den großen Texten und kulturellen Traditionen der östlichen und westlichen Geschichte ein, und sie setzt sich auf komplexe Weise mit der Kolonialgeschichte Algeriens auseinander. Dem Ich-Erzähler eröffnet sich mit den Romanen, die er auf französisch liest, eine neue Welt, die Sprache der Kolonisatoren, die selbst nicht frei von Gewalt ist, bringt ihn dazu, seiner Berufung zu folgen und zu schreiben. Doch was er schreibt, das sind auf den Volksglauben zurückgehende magische Texte, so dass er eine Art Versöhnung von Altem und Neuem herbeizuschreiben imstande ist. Das gelingt ihm freilich nur, indem er selbst ein Leben im Schatten führt, in einer schmerzenden, subversiven Auflehnung gegen die immer noch vorherrschenden patriarchalen Strukturen, innerhalb derer Sexulität ein Tabu ist und Frauen unterdrückt werden. Als Sohn einer Verstoßenen liebt der Ich-Erzähler seinerseits eine Verstoßene, und führt ein Leben abseits der Norm. Doch auch die Gewalt, die Algerien als ehemalige Kolonie erlebt hat, bleibt in Kamel Daouds metapherngleich verdichtetem Mythos von der wunderwirkenden Kraft der Sprache nicht unausgesprochen. Und da Gewalt, wie es der Sündenbockmechanismus zeigt, eigentlich immer im herablassenden, furchtsamen, feindseligen Blick auf den anderen, dem die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verschlossen wird, ihren Ursprung hat, dreht Kamel Daoud in seiner Erzählung den Spieß um und lässt in einer so naheliegenden wie verblüffenden Umkehrung des Exotischen die französischen Romane, die Ismael verschlingt, als Gipfel der Faszination und des Kuriosen erscheinen.

Zabor liest sich wie ein endloser Psalm, mal lyrisch, mal bedrohlich, ein stürmisches Hohelied der Sprache, das nicht gerade eine leichte Sofalektüre ist, aber durch die Sprache den Blick und die Sinne schärft und herausfordert.

Bibliographische Angaben
Kamel Daoud: Zabor, Actes Sud 2017
ISBN: 9782330081737

Deutsche Ausgabe:
Kamel Daoud: Zabor, übersetzt von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch 2019
ISBN: 9783462052022

Bildquelle
Kamel Daoud, Zabor
© 2023 Les Editions Actes Sud, Société anonyme à directoire, Arles


bookmark_borderAgnete Friis: Der Sommer mit Ellen

Der Titel mag täuschen, denn es ist keine leichte Sommergeschichte, die die dänische Autorin Agnete Friis in ihrem Roman Der Sommer mit Ellen erzählt, sondern eine von Anfang bis Ende aufwühlende Erzählung, die einem beim Lesen sehr nahe, ja unter die Haut geht, wo sie dann auch ein beklemmendes Gefühl hinterlässt, das trotz des ganz zart versöhnlichen Endes noch lange anhält.

Die Hitze des Sommers — eigentlich geht es um zwei bedeutsame Sommer mit großem zeitlichen Abstand — ist demnach auch als Metapher für die schwüle, aufgeladene Atmosphäre zu verstehen, die über der ganzen Geschichte liegt, und für die drückende Last, an der Jakob, die Hauptfigur des Romans, seit seiner Kindheit zu tragen hat. Sein Leben entfaltet die Autorin in psychologischer Vielschichtigkeit und Feinnervigkeit in all seinen Schattierungen, Hoffnungen und Enttäuschungen ausgehend von zwei einschneidenden Ereignissen, zwei Erfahrungen, nach denen Jakobs Welt jeweils in Scherben liegt.

Das erste Mal hat er mit Flucht und Verdrängung reagiert, doch Jahrzehnte später wird er erneut mit der Vergangenheit konfrontiert, die sein Leben noch immer viel mehr beeinflusst, als ihm lieb ist. Seinen Kindheitstraum hat der nun über 50-Jährige zwar wahr gemacht und ist Architekt geworden, doch ist er alles andere als glücklich, seine Ehe ist dabei zu zerbrechen und zu seinen Kindern hat er kaum Kontakt.

Als sein inzwischen sehr alter Großonkel Anton ihn anruft und um Hilfe bittet, entschließt er sich daher, erst widerwillig, in die dörfliche Heimat seiner Kindheit und Jugend und auf den Hof der beiden Großonkel zurückzukehren, dem er seit jenem Sommer, als er 15 war, den Rücken gekehrt hat. Und natürlich wird die Rückkehr auch bald zu einer schmerzlichen, aber letztlich für alle notwendigen Aufarbeitung der Vergangenheit.

Gemeinsam mit Jakob taucht der Leser ein in seine immer wieder eng mit der Gegenwart verknüpften Erinnerungen an eine alles andere als unbeschwerte Kindheit. In jenem Sommer, als er den Großonkeln auf dem Hof hilft, hat seine Mutter gerade seinen Vater, einen Alkoholiker, verlassen. Der Hof ist für Jakob ein Zufluchtsort, wo er den komplizierten Schamgefühlen entgehen kann, die sein Vater in ihm hervorruft. Gleichzeitig ist Scham auch eines der beunruhigenden Gefühle, die das verwirrende Erwachsenwerden auslöst, das er am ganzen Körper spürt. Das ist aufregend, als er sich in die schöne, aber um einiges ältere Ellen verliebt, die in der Hippie-Kommune nebenan wohnt und wie er eine talentierte Zeichnerin ist. Gleichzeitig ist da eine große Unsicherheit, in Bezug auf ein unkontrolliert auftretendes körperliches Begehren ebenso wie auch auf moralische und ethische Fragen des richtigen Verhaltens, der persönlichen Verantwortung, von Schuld und Gerechtigkeit. Denn als Lise, die nicht ganz so hübsche Schwester seines Kumpels Sten verschwindet, löst ein furchtbarer Verdacht eine Kette an weiteren Ereignissen aus, die von Jakob Entscheidungen verlangen, denen er nicht gewachsen ist…

Der Roman ist überaus dicht und sehr überzeugend geschrieben, mit scharfen Beobachtungen der kollektiven Dynamiken in sozialen Gefügen, der psychologischen Irrwege, der Schuldzuweisungen und auch der fragilen Geschlechterbeziehungen, in denen erotische Anziehung schnell in ein sich verselbständigendes Machtspiel kippen kann.

Und so wie es für Jakob letztlich befreiend ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, fühlt man sich auch beim Lesen, das stellenweise richtig wehtut, am Ende um eine Erfahrung bereichert, die so nur ein tolles Buch vermitteln kann!

Bibliographische Angaben
Agnete Friis: Der Sommer mit Ellen, Eichborn (2020)
Aus dem Dänischen von Thorsten Alms
ISBN: 9783847900481

Bildquelle
Agnete Friis, Der Sommer mit Ellen
© 2020 Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

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