bookmark_borderZeruya Shalev: Schicksal

Sie könnten Mutter und Tochter sein: Atara, auf die 50 zugehend, Mutter von zwei gerade erwachsenen Kindern, die mit ihrem zweiten Ehemann in Haifa wohnt und denkmalgeschützte Häuser restauriert, und Rachel, eine 90jährige ehemalige Widerstandskämpferin gegen die britischen Besatzer in Israel, die in Jerusalem wohnt und zu ihren beiden längst erwachsenen Söhnen ein kompliziertes Verhältnis hat. Die beiden könnten Mutter und Tochter sein, aber das Schicksal hat es anders gewollt.

Trotzdem sind die beiden Frauen, ohne es zu wissen, seit langem miteinander verbunden, über einen Mann namens Menachem, kurz Meno: Meno ist Ataras Vater, zu dem diese eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung hatte, und er war Rachels große Liebe, ihr Freund und Schicksalsgefährte im gemeinsamen Untergrundkampf, mit dem sie für ein kurzes Jahr verheiratet war, bevor sie die Ehe wieder lösten, schmerzhaft getrennt durch eine als übergroß empfundene Verantwortung für ein tragisches Verhängnis, das der Zufall zum Schicksal gemacht hat, zu einem Schicksal, das Meno nicht ertrug.

Nach Menos Tod begegnen sich die beiden Frauen und kommen sich näher, doch ihre Annäherung ist ein schwieriger Prozess, geprägt von Ängsten und Vorbehalten, aber auch von Neugier und dem Wunsch endlich zu verstehen. Bis das Schicksal mitten in diesem sensiblen Prozess der Annäherung und Aufarbeitung erneut zuschlägt.

Das mag nach Stoff für einen pathetischen Familien- und Beziehungroman klingen, ist aber ganz wunderbar geschrieben, bewegend und einfühlsam, ohne Kitsch und künstliches Drama. Vor allem bekommt man viel mit von der Geschichte und Gesellschaft Israels, dieses so besonderen Landes, von den Flüchtlingen und Exilanten, der Besatzung, der Siedlungspolitik, dem orthodoxen Judentum, dem Militärdienst.

Shalevs Roman ist aber auch eine Charakterstudie, sie geht in ihrem dicht gewobenen Text dem menschlichen Verhalten in Krisensituationen auf den Grund, und sie spürt den subtilen, unterschwelligen Gefühlsschwankungen und Komplikationen im ganz alltäglichen und doch verwickelten Familienleben nach. Ganz nah kommt einem besonders Atara, die jüngere der beiden Frauen, deren Vorstellungs- und Gefühlswelt in vielen Nuancen geschildert wird; man merkt, dass sie, ihr Arbeits-, Ehe- und Familienleben, der Autorin noch näher ist als die Greisin Rachel, deren Vergangenheit schon Teil der israelischen Geschichte ist.

Im Hörbuch erlebt man die Gedanken und Gefühle der beiden Frauen, die im Wechsel zu Wort kommen, dank der beiden tollen Sprecherstimmen von Maria Schrader und Eva Meckbach ganz intensiv. Gerade Ataras turbulentes Innenleben — ihre Selbstkritik, ihre Liebe, ihre Wut –, das immer wieder von bedachteren Momenten und Gedanken abgelöst wird, ist fesselnd zu hören und Ergebnis einer guten Regie — und einer beeindruckenden Buchvorlage!

Bibliographische Angaben
Zeruya Shalev: Schicksal, Piper 2022
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
ISBN: 9783492319294

Hörbuch: Hörbuch Hamburg HHV GmbH 2022
Gesprochen von Maria Schrader und Eva Meckbach
ISBN: 9783869524801

Bildquelle
Zeruya Shalev, Schicksal
© 2022 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderSylvie Schenk: Maman

Die berühmteste Maman der Literaturgeschichte findet sich wohl bei Marcel Proust, der den jeden Abend so sehnsüchtig erwarteten und ob seiner Vergänglichkeit gefürchteten mütterlichen Gutenachtkuss zum emotionalen Zentrum der verlorenen Kindheit seines Erzählers macht. Die Beziehung zur Mutter, die bei Proust, zwischen Liebesbedürfnis und Sich-Entziehen, auch ein Grundmuster des gesamten Romanwerks darstellt, scheint überhaupt ein wiederkehrendes Thema der Literatur zu sein, auch Simone de Beauvoir oder Annie Ernaux haben zum Beispiel inspirierende literarische Texte aus diesem ursprünglich ja zutiefst biographischen Stoff gemacht. Auffällig ist dabei der Zusammenhang zwischen dem Tod der Mutter und der Motivation zum Schreiben — Gleiches gilt auch für Sylvie Schenk und ihren neuen Roman Maman.

Das Verhältnis der schon lange in Deutschland lebenden französischen Autorin zu ihrer Mutter war ein vielleicht noch ambivalenteres; im Gegensatz zu Prousts Erzähler schildert sie keine Erinnerungen an vergleichbare intime Momente mit ihrer in Romangestalt verwandelten Maman. Dieses Fehlen von Warmherzigkeit und Innigkeit in der Beziehung zu ihrer Mutter, die immerhin fünf Kinder großgezogen hat, wird, so lese ich den Text, zum Antrieb der Autorin für ihr Schreiben. Sylvie Schenks Erzählerin schreibt erkundend, erkundet schreibend die Vergangenheit ihrer Familie und ihr Nachwirken auf die Gegenwart. Sie streift das Leben, die gescheiterten Beziehungen und die Mutterschaft ihrer Schwestern, vor allem aber rekonstruiert sie das Leben ihrer Mutter, Renée, und ihrer Großmutter, Cécile. Dabei stößt sie auf viele Leerstellen, zum einen, weil sie, wie es das nur zum Teil selbstverantwortete Schicksal der meisten Kinder ist, nicht rechtzeitig danach gefragt hat, zum anderen war ihre Mutter aber auch alles andere als gesprächig in Bezug auf die Vergangenheit und sich selbst. Noch weniger Worte hatte die Mutter ihrer Mutter, die unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war. So ist es fast folgerichtig, dass Sylvie Schenk nicht in ihrer Muttersprache schreibt, in ihrer französischen „langue maternelle“, als ob es für diese Geschichte gar keine solche gibt.

Genauso folgerichtig ist es, dass dieses Buch, dass die Geschichte ihrer Familie erzählt, nur bedingt dem Genre der Autofiktion angehört, nämlich nur mit besonderem Fokus auf das Element der Fiktion. Die Erzählerin lässt mehrfach verschiedene Versionen oder Interpretationen zu, am deutlichsten im Falle der vermuteten kurzen Liebesaffäre ihrer Mutter während der Kriegsjahre, infolge derer sie ihren Verlobungsring verpfändet hatte und vorübergehend vor ihrer Ehe und Familie geflüchtet war. Verschiedene kursierende Gerüchte werden skizziert oder angedeutet, von denen sich die Autorin zwar bewusst für eine Version, die ihr für ihre Fiktion am geeignetsten erscheint, entscheidet, ihr Vorgehen aber zugleich offenlegt. Ihre Rekonstruktion der Vergangenheit ist letztlich eine fiktive, und es entsteht ein sehr lebendiger Text, romanesk, mitreißend, und zugleich einordnend und reflektierend, so dass trotz der schicksalsreichen Lebensgeschichte(n) an keiner Stelle Rührseligkeit aufkommt, sehr wohl aber Mitgefühl.

Ihre Mutter Renée, auf französisch die „Wiedergeborene“, wurde in Lyon als Tochter einer einfachen Arbeiterin geboren, die als Zubrot wohl auch ihren Körper verkaufte und infolge ihrer dritten Geburt noch im Krankenhaus starb. Die kleine Waise wuchs die ersten sechs Jahre ihres Lebens unter wie man heute sagen würde traumatischen Bedingungen auf. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, ein Paar auf dem Land, das seinen Sohn im Krieg verloren hatte, nahm Renée gegen Geld bei sich auf. Allem Anschein nach, das heißt, der spärlichen Aktenlage zufolge, wurde sie dort vernachlässigt, ausgebeutet und wohl auch misshandelt und missbraucht, ehe sie zurück nach Lyon kam, zu Pflegeeltern, die sie, als das gesetzlich möglich war, auch adoptierten. Die plötzliche, bis dahin unbekannte Zuwendung und Liebe, die sie von ihren neuen Eltern bekommt, kann das kleine Mädchen, emotional überfordert, gar nicht richtig einordnen; auch in der Schule und mit ihren Mitschülern tut sie sich schwer. Sie heiratet jung, bekommt insgesamt fünf Kinder, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, und scheint erst ein wenig Erleichterung in ihrem Leben zu verspüren, als die ehelichen Pflichten nach der Geburt des letzten Kindes an Bedeutung verlieren.

Sylvie Schenk zeichnet das Leben ihrer Mutter als das einer Frau, einer Gattin, einer Mutter nach, und dabei öffnet sich die traurige individuelle Geschichte Renées auf einen größeren Horizont von weiblichen Daseinsformen, deren Vielfalt auch die Frage nach dem Grad der Schicksalshaftigkeit, der historischen und gesellschaftlichen Gebundenheit, und der Freiheit, des individuellen Spielraums, aufkommen lässt. So wie sich auch Schenks Roman nur als eine Lesart, eine Annäherung an das Leben der Mutter versteht. Vor allem soll die Geschichte der Mutter keine Opfergeschichte werden, als Protagonistin von Schenks Roman wird sie weder verurteilt noch freigesprochen.

Einnehmend sind besonders Sprache und Stil, in dem die Autorin ihren Text verfasst hat; dass sie nicht in ihrer französischen Muttersprache schreibt, verleiht ihr ein anderes Gespür für die Sprache und ihre Wendungen, wie man das im Übrigen immer wieder bei Schriftstellern beobachten kann — die Dramatiker des absurden Theaters, Beckett, Ionesco, und ihre sprachlichen Dekonstruktionen fallen einem hier sofort ein. So weit geht Sylvie Schenk freilich nicht, aber ihr offener, direkter, unverklemmter, jugendlich sprudelnder Stil, der trotzdem sensibel und feinsinnig ist, machen Maman zu einem mehr als lesenswerten Text.

Bibliographische Angaben
Sylvie Schenk: Maman, Hanser 2023
ISBN: 9783446276239

Bildquelle
Schenk, Maman
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderAyelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Die größte Unbekannte in unserem Leben sind unsere Kinder“, so eine Romanfigur in Ayelet Gundar-Goshens aufwühlendem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“. Elternschaft ist, wenn auch nicht das einzige, so doch das in meinen Augen zentrale Thema dieses vielschichtigen Textes, der Familien- und Gesellschaftsroman ist und stark mit Spannungselementen arbeitet. Die israelische Autorin, die auch als Psychologin tätig ist, erforscht hier auf literarische Weise das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in vielen Variationen.

Erzählt wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive der israelischen Jüdin Lilach Schuster, Mutter des Teenagers Adam und Ehefrau von Michael, mit dem sie als junge Frau aus Israel in die USA ausgewandert ist. Man erhält einen intimen Einblick in ihr Leben als Familie sowie in Lilachs Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Wertvorstellungen — als Frau, als Mutter, als Ausgewanderte. So erfährt man, dass sie damals mit ihrem Mann die gemeinsame Heimat verließ, weil dieser ein überzeugendes Jobangebot in Amerika bekommen hatte; Lilach hingegen gab ihren eigenen Beruf auf und arbeitet nun mehr oder weniger ehrenamtlich als Kulturbeauftragte in einem Altenheim – das Thema der sozialen Rollen scheint im ganzen Roman immer wieder durch. Mit dem Ortswechsel war für sie aber auch die Hoffnung auf ein friedlicheres Leben verbunden, darauf, das eigene Kind fern der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten aufwachsen zu sehen. Umso größer ist der Schock, als — und hier setzt die Romanhandlung ein — ihr scheinbar so beschauliches und weltoffenes Palo Alto im Silicon Valley von einem Anschlag auf eine Synagoge erschüttert wird. Und der Täter ist ausgerechnet ein Schwarzer. Kurz darauf stirbt ein schwarzer Junge auf einer Party, auf der auch Lilachs Sohn Adam zugegen war. Als wenn das nicht ohnehin schon das Leben der jüdischen Familie in Aufruhr versetzen würde, drängt sich der Ich-Erzählerin mehr und mehr ein schrecklicher Verdacht auf: Hat ihr Junge, ihr geliebtes Kind, ihr Sohn, der heftige Prügel von tierquälenden Altersgenossen eingesteckt hat, um einem kleinen unansehlichen Straßenhund das Leben zu retten, etwas mit dem Tod seines schwarzen Mitschülers zu tun?

Der Roman ist ein hörbares Echo auf Antisemitismus und Black Live Matters, doch er enthält sich jeder vereinfachenden Eindeutigkeit, dringt vielmehr tief und mit psychologischem Feinsinn in die widersprüchlichen und nicht weniger gewaltsamen Grauzonen der in unserer Zeit fortwährend schwelenden gesellschaftlichen Konflikte ein. Wer ist Opfer, wer ist Täter — ohne etwas zu verharmlosen, zeigt die Autorin mit ihrer Geschichte, dass beide Begriffe fließend und ungenau sind, ohne klare Linien. Dass das nicht leicht zu akzeptieren ist, wird an ihren Romanfiguren deutlich; Adams Vater Michael, der wie seine Frau durchaus sympathisch gezeichnet ist, sein Vatersein auf seine Weise ebenso ernst nimmt wie Lilach ihr Muttersein, vertritt die Meinung, jeder sei entweder Täter oder Opfer und bleibe dies ein Leben lang, weshalb er seinen Sohn, der im Kindergarten von anderen Kindern malträtiert wird, dazu erziehen will, sich zu behaupten und lieber selbst zu schlagen als sich schlagen zu lassen. Diese Weltsicht ist ihrerseits das Ergebnis von Michaels eigener Biographie, seiner Herkunft und sicher auch der Prägung durch das kollektive Trauma seiner jüdischen Vergangenheit. Doch Adam lässt sich nicht so einfach verbiegen, er ist ein zurückgezogener Junge, der lieber Schach spielt und in seinem eigenem Chemielabor experimentiert als Sport zu machen oder Partys zu feiern, und der auch in der High School gemobbt wird. Bis der Anschlag auf die Synagoge passiert, bis er auf Drängen seines Vaters an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt, der von dem fast rattenfängerhaft charismatischen Israeli Uri geleitet wird, und bis kurz darauf sein schwarzer Mitschüler stirbt…

Die Erzählperspektive der Mutter Lilach ist sehr überzeugend gestaltet. Sie ist diejenige, die nach der Wahrheit sucht, die, auch wenn es weh tut, Fragen stellt, Indizien nachgeht und auf ihr Bauchgefühl hört, die Gedanken und Spuren zu folgen wagt, denen man als Mutter eigentlich nicht folgen möchte. Vor allem versucht sie, in all den aufwühlenden Ereignissen ein Mensch zu bleiben, mitfühlend und im Wissen darum, dass auch sie nicht frei von Irrtümern ist. Auch die anderen Charaktere sind lebendig und plastisch dargestellt, wobei das Interesse der Autorin vor allem auf dem sozialem Gefüge liegt, das sie gekonnt aus den individuellen Geschichten der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander aufscheinen lässt.

Gruppenzugehörigkeiten sind im Amerika von heute, in dem der Roman spielt, als gesellschaftliche Diskurse natürlich omnipräsent und prägen auch das Selbstverständnis und das zwischenmenschliche Verhalten der Figuren, werden zugleich aber in ihrer Neigung zur Reduktion und zur Pauschalisierung hinterfragt. Auch der damit eng zusammenhängende Täter-/Opferdiskurs wird auf vielschichtige Weise und, genauso wie das Thema der Elternschaft, in verschiedenen Konstellationen aufgegriffen und durchgespielt. So sind die beiden Opfergruppen, „die Juden“ und „die Schwarzen“ in den beiden kurz aufeinander folgenden Gewalthandlungen nacheinander und wechselweise „Opfer“ und „Täter“. Die Anführungszeichen verraten es — auch diese Zusammenfassung wäre zu kurz gegriffen.

Der Roman, der in der Hörbuchfassung von Milena Karas (synchron)filmreif gesprochen wird, löst vieles bei seinem Leser aus, Mitgefühl, Empörung, Bestürzung, Erkenntnis, aber auf keinen Fall die Anmaßung eines endgültigen oder einziggültigen Urteils. Ein fesselndes Porträt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und eine einfühlsame und intelligente Analyse der komplexen Zusammenhänge von Biographien, Diskursen und eigenem Handeln.

Bibliographische Angaben
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert, Kein & Aber 2021
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 9783036958491 [Taschenbuch: Kein & Aber 2022, ISBN: 9783036961477]

Hörbuch: Argon Verlag AVE GmbH 2021
Gesprochen von Milena Karas
ISBN: 9783839819364

Bildquelle

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert
© 2022 Kein & Aber AG, Zürich, Berlin

bookmark_borderKatja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Mit der Geschichte „Vielleicht Esther“ gewann Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2014 erschien der Text in einem um weitere Geschichten erweiterten Buch mit demselben Titel, 2022 ein von Meike Rötzer gelesenes Hörbuch. Die Autorin geht darin auf Spurensuche, recherchiert in ihrer eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte und taucht auf eine zugleich sehr persönliche, essayistische und dokumentarische Weise tief in die Vergangenheit der Sowjetunion und eigentlich ganz Europas ein. 

In den aufeinander folgenden Geschichten rekonstruiert Katja Petrowskaja das Leben, die Schicksale vieler verschiedener Verwandter mütterlicher- und väterlicherseits, doch tut sie das nicht als epische Erzählerin einer Familiensaga, sondern als Suchende, Fragende, als eine, die begreifen will, was sich immer wieder als nicht begreifbar herausstellt, die die zahlreichen Leerstellen der Vergangenheit zu ergründen sucht, und diese, wo dies nicht möglich ist, auch als solche belässt, anstatt sie fiktional zu füllen. Denn trotz ihrer emsigen Recherchearbeit, ihrer Reisen nach Warschau, Kiew und Mauthausen, verbirgt sich die Wahrheit ihrer eigenen Familiengeschichte und genauso auch der Geschichte im Großen, der Geschichte der Juden, der Menschen im 20. Jahrhundert, immer wieder hinter Unklarheiten und Widersprüchen. Oder ist die Wahrheit manchmal nichts anderes als Unklarheit und Widersprüchlichkeit?

Es entsteht ein immer dichter gewebtes Netz von Geschichten, das sich der auch dem Leser oder Hörer manchmal labyrinthisch anmutenden Vergangenheit mit einzelnen Ariadnefäden nähert und das mit Absicht unvollständig bleibt, endlos weiter gewebt werden könnte und trotzdem exemplarisch ist.

Ausgangspunkt der Erzählungen ist dabei jedesmal die Gegenwart, der Besuch in Archiven, Gedenkstätten, ein Telefonat mit einer Holocaustüberlebenden in Amerika.
Verknüpft sind nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die verschiedenen Länder und Sprachen, und mit ihnen die Schicksale der Menschen.

Ganz bewusst schreibt die Autorin auch nicht in ihrer Muttersprache, eine Möglichkeit, nicht mit dem eigenen Thema zu verschmelzen oder von ihm überwältigt zu werden. So wird auch die Sprache selbst, die Sprache angesichts von Unaussprechlichem, Gegenstand des Textes, Gegenstand der Aufarbeitung und Annäherung. Hinterfragt werden darüber hinaus auch die Zahlen, welche die Geschichte nicht angemessen („angemessen“, auch ein Wort, über das sie reflektiert) darstellen kann: Wurden in Babyn Jar 100.000 oder 200.000 Menschen umgebracht, gab es also ein Babyn Jar oder zwei? Der menschlichen Absurdität dieser historischen Frage antwortet Petrowskaja mit ihrem Buch, indem sie mit ihren Geschichten den abstrakten Zahlen ein Gesicht gibt.

Dafür findet sie, und das macht ihren Text so besonders, einen Erzählton zwischen Involviertheit und Dokumentation, zwischen Betroffenheit und sachlicher Aufarbeitung, ein Ton, den die Sprecherin gut einzufangen versteht. Die Erzählung, die auch humorvolle Stellen hat, ist berührend und an einigen Stellen erschütternd, ohne dass oder gerade weil sie nicht dramatisiert, sondern emotionale Nähe und kritische Distanz in ihr Hand in Hand gehen.

Bibliographische Angaben
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther, Suhrkamp 2014
ISBN: 9783518424049

Hörbuch:
Der Audio Verlag 2022
Gelesen von Meike Rötzer
ISBN: 9783742426352

Bildquelle
Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderMuriel Barbery: Eine Rose allein

Wie in Die Eleganz des Igels spielt die japanische Kultur, als Faszinosum und als Quelle von Poesie und Weisheit, eine bedeutende Rolle im neuen Roman der französischen Autorin Muriel Barbery. Und wie dort begegnet man auch hier wieder einer kratzbürstigen, seelisch verwundeten Protagonistin, die man sofort ins Herz schließen mag.

Rose, die nicht zufällig den Namen der schillerndsten Blume der Kulturgeschichte trägt, führt nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter in uneingestandener Trauer und Einsamkeit ein ungebundenes Leben in Paris. Nach dem Tod ihres japanischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in dieses Land. Paul, ein Vertrauter ihres Vaters, führt sie, dessen letzten Wunsch erfüllend, an verschiedene ihm zu Lebzeiten wichtige Orte: Zen-Gärten und Tempel, die eine ganz andere Sprache sprechen, der Rose anfangs mit Skepsis, nach und nach jedoch mit wachsender Neugier begegnet.

Ein zarter Roman, voll unaufdringlicher Poesie und mit einer Handvoll versehrter, eigenwilliger und liebenswerter Figuren, und eine ebenso zarte Liebesgeschichte, gelesen in der deutschen Hörbuchfassung von Elisabeth Günther, die die Hörer mit ihrer ebenfalls auf zarte Weise gestalteten Erzähl- und Figurenstimme leicht und angenehm durch die Geschichte führt.

Bibliographische Angaben
Muriel Barbery: Eine Rose allein, List Hardcover 2022
Aus dem Französischen von Norma Cassau
ISBN: 9783471360460

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2022
Gesprochen von Elisabeth Günther
ISBN: 9783957132697

Bildquelle
Muriel Barbery, Eine Rose allein
© 2022, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCamille Laurens: Es ist ein Mädchen

Es ist ein Mädchen!

Dieser kurze Satz, der Camille Laurens‘ autofiktional genannten Roman strukturiert, ihm geradezu mythisch aufgeladener Anfang und Ende (oder Neuanfang?) ist, hat vor kurzem auch in meinem Leben eine neue Bedeutung erlangt. Schicksalshaft, das ist er für mich auch, allerdings im Sinne von Wunder und Freude, Glück und Liebe; und ja, auch Sorge, welche die Liebe wohl immer begleitet. Die 1960er Jahre, in denen der Roman spielt und in denen es nicht so abwegig war, dass der Satz auch Gefühle wie Enttäuschung oder Angst auslöste, sind lange vorbei. Und doch hat mich die neue Rolle als Mutter, die ich nun zum ersten Mal in Körper und Geist und Herz erfahre, noch stärker als zuvor erwartet für Geschlechterfragen sensibilisiert, für Themen wie die inzwischen viel besprochene, aber immer noch nicht ganz anerkannte „care-Arbeit“ oder das Ringen um gleichberechtigte Partnerrollen, die auch heute gar nicht so leicht auszuhandeln sind, und einfach viele Gedanken darüber aufkommen lassen, was es, in der Familie, in der Gesellschaft, bedeutet, ein Mädchen zu sein.

Genau das befragt und hinterfragt auf intelligente, entlarvende, sprachwitzige Weise auch der in scheinbar so fernen Zeiten spielende Roman der französischen Autorin, die einen zugleich gesellschaftlichen und psychologischen Blick auf das Thema wirft. Erzähltechnisch ist die Geschichte interessant konstruiert, da die Perspektive zwischen Außen- und Innenschau, nämlich zwischen einer die Protagonistin mit einem eher ungewöhnlichen „Du“ anredenden Stimme (z.B. für die Szene der Geburt) und derjenigen einer Ich-Erzählerin wechselt. So entsteht auf wenigen Seiten und dennoch bildhaft und einprägsam die Lebensgeschichte einer Frau, die sozusagen ab ovo erzählt wird: von der Geburt, die sehr realistisch, aber durch die Du-Perspektive aus einer gewissen kritischen Distanz geschildert wird, über die Kindheit und Jugend bis zum Mutterwerden und Leben als Ehefrau. Ihr Heranwachsen vom Mädchen zur jungen Frau ist von mehreren traumatischen Erlebnissen geprägt, die jedoch in der sich jeder Dramatisierung enthaltenden Erzählung nur angedeutet werden. Erst ihre Tochter ist, am überraschenden Ende der Erzählung, in der Lage, die erlernten Konventionen umzustürzen und eine positive Identität als Mädchen anzunehmen und zu leben, für die man sich nicht schämen, aus der man sich nicht befreien muss, sondern die etwas Schönes und Richtiges und vor allem Selbstverständliches ist.

So verwandelt die Autorin ein schicksalhaftes Mädchen-Dasein vom Mythos in eine Utopie, und als Schriftstellerin und Mitglied der Académie Goncourt, die den berühmtesten französischen Literaturpreis vergibt, tut sie dies natürlich mit dem symbolischen Mittel der Sprache. Das macht diesen kurzen Text auch so lesenswert, der durchgehend mit Sprachkritik und Sprachwitz arbeitet — was für die Übersetzung eine kleine, aber bestimmt spannende Herausforderung dargestellt haben muss –, und auf diese Weise zeigt, wie wandelbar Wirklichkeitswahrnehmung und Machtpositionen sind.

Bibliographische Angaben
Camille Laurens: Es ist ein Mädchen, dtv 2022
Aus dem Französischen von Lis Künzli
ISBN 978342329016

Bildquelle
Camille Laurens, Es ist ein Mädchen
© 2022, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderAnja Jonuleit: Das letzte Bild

1970 wird eine Frau im norwegischen Isdal unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden, vieles deutet darauf hin, dass sie ermordet wurde, doch der Fall wird nie geklärt, geschweige denn die Identität der Frau gelüftet. Spekuliert wurde viel: War sie eine sowjetische Agentin oder bewegte sie sich als bindungslose Prostituierte am Rande der Gesellschaft? Erst vor ein paar Jahren haben neuere technische Untersuchungen ergeben, dass die noch recht junge Frau wohl aus dem Raum Nürnberg stammte und einige Zeit in Frankreich gelebt haben musste. Doch was sie nach Norwegen und in den Tod geführt hat, bleibt weiterhin ein großes Rätsel.

In diese mysteriöse und spekulative Leerstelle hinein stößt die Autorin mit ihrem neuen Roman, in dem sie auf der Grundlage einer intensiven Recherche zu dem realen Fall eine emotional bewegende und intelligent gestaltete Geschichte entspinnt, wie sie sich damals ereignet haben könnte. Dabei schlägt sie einen erzählerisch überzeugenden Bogen von Deutschland, Belgien und Frankreich über Italien bis nach Norwegen sowie von der (Nach-)Kriegszeit bis heute. Und so wie die Autorin mit detektivischem Spürsinn den Fall der Isdalfrau rekonstruiert und neu konstruiert, arbeitet sich auch ihre Hauptfigur aus der Gegenwart, die Biographin Eva, die sich in Jonuleits Fiktion als Nichte der Isdalfrau herausstellt, mit Staunen, Schmerz und Hartnäckigkeit in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie hinein, von der sie so einiges nichts ahnte. Und als Leser wird man auch mit so mancher Wunde der deutschen und europäischen Geschichte konfrontiert, es geht um Kollaboration, um Vereine wie den Lebensborn, der sich während des Krieges die Not der Mütter zunutze machte und „arischen“ Kriterien entsprechende Kinder in nationalsozialistische Obhut nahm, und es geht auch um Verdrängung, um die Bedeutung, den Schmerz und auch um die Verfälschung von Erinnerung.

Auch wenn die Fiktion natürlich nicht wenig aus dem Melodram schöpft, mit getrennten Zwillingen, Waisenkindern und einem von Männern ausgenutzten jungen Mädchen, so ist sie doch von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd und stimmig erzählt und hält mit den beiden weiblichen Protagonistinnen von damals und heute auch zwei engagierte und findige Frauenfiguren bereit, deren Spuren durch Europa man fasziniert und mit Neugier folgen mag.

Bibliographische Angaben
Anja Jonuleit: Das letzte Bild, dtv (2021)
ISBN: 9783423282819

Bildquelle
Anja Jonuleit, Das letzte Bild
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderAngela Lehner: Vater unser

Es dauert nicht lang, bis man als Leser ahnt, dass man ausgerechnet von der Autoritätsperson des Romans, nämlich der Erzählerstimme, ziemlich geschickt in die Irre geführt wird. Die durch die Ich-Perspektive suggerierte Identifikation und ein im Erzählkontext durch Unstimmigkeiten erzeugtes Misstrauen in eine ohnehin charakterlich schwer zu fassende, psychisch labile und provozierende Hauptfigur kommen sich immer wieder in die Quere und geben den spannungsreichen Ton des Romans an, der sekundenschnell vom Witzigen ins Schockierende wechseln kann.

„Na gut“, sag ich und seufze, „ich hab also eine Kindergartenklasse erschossen. Sie wissen schon“, sag ich, „mit einer Pistole.“

Angela Lehner, Vater unser, S. 31

Unzuverlässiges Erzählen gibt es im Grunde schon so lange wie den Roman selbst, auch Cervantes‘ Don Quijote, Apuleius‘ Lucius oder Diderots Jacques ist nicht recht zu trauen, wenn sie ihre Version der Wirklichkeit schildern und so das Fingieren, das dem Erzählen generisch innewohnt, erst recht herausstellen. Und wer gilt in unserer modernen Gesellschaft als unzuverlässiger als eine in ihrer Wahrnehmung gestörte Patientin der Psychiatrie? Angela Lehners Ich-Erzählerin Eva Gruber, die sich schon als Kind von ihren Klassenkameraden anhören musste, dass sie Lügen erzähle, scheint auch als Psychiatrieinsassin Ende 20 einer gut, aber nicht wasserdicht getarnten dichterischen Fantasie zu frönen, die vehementer noch als von Platon traditionell wohl von der katholischen Kirche verdammt wird, welch letztere im Debütroman der Österreicherin eine latent unterdrückerische Funktion einnimmt.

Die keinesfalls auf den Mund gefallene Eva wird zu Beginn der Geschichte also in die Psychiatrie gebracht, weil sie eine Kindergartenklasse erschossen hat — oder dies immerhin behauptet getan zu haben. So ganz zu trauen ist ihrer Aussage nicht. Ähnlich ins Schwanken gerät bald auch der Wahrheitsgehalt der Bemerkungen, die Eva in der Therapiesitzung bei dem ihr zugeteilten Psychiater Doktor Korb wie beiläufig fallen lässt: dass nämlich ihr Vater sich umgebracht habe und ihre Mutter auch tot sei. Stattet die Mutter später doch Eva und ihrem ebenfalls therapeutisch behandelten, schwer traumatisierten Bruder mehrere Besuche in der Psychiatrie ab. Und warum hegt Eva den innigen Wunsch, ihren bereits toten Vater, der nach der Scheidung ihrer Eltern angeblich mit einer neuen Familie zusammenlebe, (nochmals) umzubringen? Es ist beeindruckend und stellenweise richtig unheimlich zu lesen, wie die Autorin dieses zerstörerische Lügenkonstrukt, das sich Eva, natürlich auch zum Selbstschutz ihrer verletzten Psyche, aus verschiedenen Fragmenten der Wirklichkeit und der Fantasie zusammengestrickt hat, in einem ganz lockeren Erzählstil darbietet, der moderat angereichert ist mit einer in deutschen Ohren immer irgendwie lässig wirkenden österreichischen Umgangssprache.

Die Therapiesitzungen, die vor allem im ersten, mit „Vater“ übertitelten, der drei Teile des Romans durch die zugespitzten Dialoge von Therapeut und Patientin eine satirisch-provokative Atmosphäre schaffen, ebenso wie die scharf beobachteten und entlarvenden Szenen menschlicher Verhaltensweisen, die Eva im Psychiatriealltag erlebt, wechseln sich ab mit einzelnen, unzusammenhängenden Erinnerungen, von denen uns die Erzählerin im Präteritum berichtet und in denen ihr gespielt lässiges Auftreten als vorlaute Patientin von einem brüchigeren, verletzlicheren Ich der Vergangenheit abgelöst wird. Doktor Korb, der Eva die Genugtuung einer eindeutigen Diagnose, die leicht von ihr auszuhebeln wäre, nicht geben mag, attestiert seiner Patientin zumindest eine ins Narzisstische gehende Widersprüchlichkeit, die sich in ihren hochgestochenen Ansprüchen an andere zeigt, die sie selbst jedoch nicht erfüllen kann oder mag. Tatsächlich rührt die Unzuverlässigkeit der Protagonistin von einer immer wieder zu Tage tretenden und Verwirrung stiftenden Diskrepanz her, die ihre Wahrnehmung ebenso betrifft wie ihren moralischen Kompass.

Trotz ihrer entlarvenden Beobachtungsgabe und manipulativen Art hat Eva jedoch die Situation längst nicht so im Griff, wie sie sich das in ihrem seit der Kindheit konstruierten Selbstbild vorstellt. Ihre Verdrehungen der Wahrheit sind vor allem ein Schutzpanzer, hinter ihren coolen und dreisten Bemerkungen verbergen sich eine Verletzung und Verwahrlosung, und auch eine Überforderung, die sie sich selbst nicht eingesteht. Gegen eine ernsthafte Aufarbeitung der auf welche Weise auch immer verheerenden Familiengeschichte sträubt sie sich vehement. Selbst wenn sie einen Missbrauch durch den Vater andeutet, zieht sie ihn an anderer Stelle wieder in Zweifel. Gewiss ist nur, dass sowohl sie als auch ihr Bruder in der Kindheit großen Zumutungen ausgesetzt waren, das Bild eines depressiven, alkoholkranken Vaters scheint auf und das einer Mutter, die in ihrer Überforderung ihre Tochter in eine Verantwortung zu drängen schien, die diese ihrerseits überforderte. Zum Vater leuchtet in Evas Erinnerungen immer wieder eine deutlich engere Bindung des Kindes als zur Mutter auf, entsprechend gewaltig entfaltet sich später auch ihr Hass auf ihn, der die Familie angeblich verlassen hat. Oder hat er noch Schlimmeres getan, so schlimm, dass Eva nicht anders konnte, als es zu verdrängen?

Unser Geschwür ist der Vater. Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren. Der Vater kriecht uns den Rachen herauf, wenn wir uns verschlucken. Nein, das innere Kind heilen zu wollen ist Blödsinn. Rache ist die Wurzel alles Guten, Rache stellt das Gleichgewicht wieder her.

Angela Lehner, Vater unser, S. 162

Immerhin benennt Eva den Vater eindeutig als Ursache für das Leid ihres Bruders Bernhard. Mit ungelenken und übergriffigen Aktionen versucht sie in der Psychiatrie daher auch eine Annäherung an ihren Bruder, der an einer schweren Anorexie leidet, mit Infusionen am Leben gehalten wird, und seine plötzlich in der Psychiatrie auftauchende Schwester — wohl nicht zu Unrecht — als existentielle Gefahr einschätzt, der es sich dann aber doch nicht wirklich erwehren kann. Als die ja ihrerseits nicht gerade stabile Eva ihren Plan, den Bruder auf ihre Weise zu therapieren, in die Tat umsetzt, beginnt ein Abenteuer, das kaum gut ausgehen kann…

Je deutlicher die Unsicherheitsstellen in der Familiengeschichte von Eva und Bernhard zutage treten, desto klarer wird, dass sich hinter der Figur des Vaters, wie es schon der Titel nahelegt, nicht nur eine individuelle angeknackste Biographie verbirgt, sondern weiter verzweigte paternalistische Strukturen, die auch das Heimatdorf der beiden in Kärnten dominierten. Immer wieder ist die Rede von Gemeinschaften, die auf dem Prinzip des Ausschlusses basieren, von den anderen im Dorf, die über die Familie redeten, oder von anderen Kindern, die Eva nicht mitspielen ließen. Besonders eindrücklich wirkt die kontrastive Schilderung der zwei Dorfpfarrer, die Evas Kindheit geprägt haben. Während der erste eine Art wohlwollender Väterlichkeit praktizierte, unterband der ihm nachfolgende und schon in seinem Auftreten teuflisch wirkende Pfarrer jede Aufmüpfigkeit von Seiten der Kinder, indem er seine strafende Autorität mit einer auf Exklusion zielenden Sündenbockmethode sicherte: Wer sich seinem Willen nicht beugte, wurde von ihm und der ganzen Schulklasse ausgelacht, was Eva als weitaus schlimmer und erniedrigender als eine körperliche Züchtigung in Erinnerung hat. Das Lachen spielt auch in anderen Situationen eine wichtige Rolle, als Kind lachte sie gemeinsam mit dem Vater, um ihre im Nachhinein lächerlich erscheinende Angst abzubauen, und auch mit Doktor Korb gibt es einen Moment, in dem sich die Spannung in einem gemeinsamen Lachen auflöst. So erscheint das insgesamt deutlich symbolisch aufgeladene Lachen im einen Moment dämonisch, im anderen befreiend und bringt über seine soziale Funktion hinausgehend das Element des Blasphemischen und Satanischen in einen auch sonst mit christlicher Motivik angereicherten Roman, der in Umberto Ecos reaktionärer Klosterwelt wohl ziemlich sicher auch einer Vergiftung anheimgefallen wäre.

Und so wie einem beim Lesen immer wieder das Lachen im Halse stecken bleibt, bewegt sich auch der übrigens äußerst kurzweilige Text stets an der Kippe zwischen witzig und tragisch: ein Borderliner, wie seine ziemlich überdrehte und doch immer wieder auch faszinierende Erzählerin Eva.

Bibliographische Angaben
Angela Lehner: Vater unser, Hanser Berlin (2019)
ISBN: 9783446262591

Bildquelle
Angela Lehner, Vater unser
© 2019, Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderSteve Sem-Sandberg: Der Sturm

Der skandinavische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg setzt sich in seinen Romanen (z.B. Die Erwählten oder Die Elenden von Łódź, und ganz neu erschienen: W über das historische Vorbild von Büchners Woyzeck) gerne auf eine ganz besondere Art mit der Geschichte auseinander. Vergangenheits- und Erinnerungsarbeit strukturieren auch den 2019 auf Deutsch erschienenen Roman Der Sturm. Er setzt ein mit einer Rückkehr wider besseres Wissen, und dieses anfangs noch unklare Gefühl der Bedrohung bleibt bis zum Ende des stimmungsvollen Romans erhalten.

Es ist der Ich-Erzähler, Andreas Lehman, selbst, der dieses Gefühl immer weiter nährt. Trotzdem kann er nicht anders, als nach dem Tod seines Ziehvaters Johannes auf die Insel zurückzukehren, auf der er aufgewachsen ist. Während er im sogenannten Gelben Haus, in dem er mit seiner Schwester Minna von Johannes aufgenommen worden war, als ihre Eltern verschwanden, den Nachlass sichtet, hat er den Eindruck, dabei von so manch zwielichtigen Inselgeschöpfen feindselig beäugt zu werden. Zugleich kommen, je länger er sich auf der Insel aufhält, immer drängendere, wenngleich zunächst recht unzusammenhängende Erinnerungen hoch. Sem-Sandberg gestaltet sie sinnlich und verstörend, szenisch dicht und doch bruchstückhaft, wie kleine klärende Risse in einem Nebelfeld, die wieder neue Rätsel aufwerfen.

Da tritt uns seine rebellische große Schwester ganz lebendig und als schwer fassbares, widersprüchliches Wesen entgegen, das den kleinen, die Schwester fast devot-voyeuristisch bewundernden Bruder in grenzwertige, demütigende Streiche hineinzog. Eher schemenhaft nehmen die amerikanischen Eltern der beiden Kontur an, die angeblich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, und deren in die Zeit des Krieges zurückreichende Verbindung zur Insel der Ich-Erzähler erst nach und nach auf die Spur kommt. Die dominierende Figur wird in Andreas Erinnerung aber der alte Kaufmann, der einst fast die ganze Insel besaß und idealistische Pläne für sie ersann, nach dem Krieg jedoch den Hass der Bewohner auf sich zog. Er erinnert nicht zufällig an Shakespeares Inselkönig Prospero aus dem Stück, das denselben Titel trägt wie Sem-Sandbergs Roman. Natur und Metapher, Natur und Mythos sind in diesem Text nämlich eng verwoben. So ereignet sich auch kein Sturm im meteorologischen Sinne während der Romanhandlung, Schneeschauer und dichte winterliche Nebelfelder, von den Bewohnern der Insel „Bleiche“ genannt, jedoch umso häufiger. Ja letztere sind gewissermaßen Grundstimmung und Kompositionsprinzip dieses so eindringlichen und suggestiven Romans, der einen auf schmerzhafte Weise in Bann schlägt und vor allem mit seiner Sprachpoesie verzaubert wie Prospero seine gestrandeten Übeltäter.

Tatsächlich verrät gerade die Ambivalenz, die dieser Shakespeareschen Figur innewohnt, einiges über sein Alter ego Kaufmann im Roman, der sich vom Idealisten und philanthropischen Träumer zum Kollaborateur und schließlich zum Sündenbock für die Inselbewohner wandelt. Während Kaufmann vor dem Krieg auf der Insel eine erste Kolonie in Form eines sozialutopischen Falanstère wohl nach dem Vorbild Charles Fouriers begründete, in der er neue Anbaumethoden anwandte, verstieg er sich mit seinen landwirtschaftlichen und biologischen Feldforschungen während des Krieges womöglich bis hin zu Menschenexperimenten — so der Verdacht, der sich Andreas bei seinen Nachforschungen in der Vergangenheit immer mehr aufdrängt.

Doch der Autor lässt uns absichtlich im Ungewissen darüber, was tatsächlich passiert ist. Wie in Shakespeares Stück überlagern sich Traum und Wirklichkeit und verweisen sehr oft auf die metaphorische Struktur des Unterbewusstseins. Das weiße Pferd, das Andreas wiederholt beim Träumen beobachtet, scheint mir hier ein zentrales Motiv zu sein, wie ein Hinweis auf die poetische Anlage des Romans. Harmlos wird das Geschehen dadurch nicht, im Gegenteil kippen Sehnsucht, Schönheit und Traumhaftes immer wieder um in eine fast mythische Gewalt, als würde ein Fluch auf der Insel liegen. Gut und böse gehen ineinander über, sind fluide Kategorien, und das Monströse lauert eben nicht nur im optisch Furchteinflößenden, auch wenn dieses wunderbar zum Sündenbock taugt. Auch dem Erzähler selbst ist nicht recht zu trauen: Was entspringt seiner Fantasie, seinem Schmerz, seiner Kränkung, einer Verletzung, was ist echte Erinnerung oder rationale Erkenntnis, was Unterstellung, Hoffnung, Fiktion oder gar Wahn?

Gar nicht traumhaft, sondern schmerzhaft real ist jedoch der Griff der Vergangenheit nach der Gegenwart, der nicht durch einen mythischen Fluch, sondern durch die Ängste und Aggressionen der Menschen ausgelöst wird. Warum setzt sich die Gewalt, die während der Besatzungszeit verübt wurde, über die Generationen hinweg fort, warum hören die Anfeindungen nicht auf? In Sem-Sandbergs Text deutet sich eine Erklärung an:

[Ich begreife] mit einem Mal, dass der Niedergang nicht so sehr eine Folge der auf der Insel herrschenden Inzucht war, […] sondern dass einfach alle in sich selbst feststeckten und es der Stummheit und dem Schweigen am Ende gelungen war, jeden nur möglichen Ausgang zu versperren. Oder war es etwa so, dass man schwieg, weil man einfach nicht zu reden vermochte, denn wenn man das, was man wusste, in Worte fasste, würde man auch den eigenen passiven Anteil am Geschehen eingestehen müssen und somit auch die eigene Schuld daran, dass alles immer so weitergehen konnte, ohne dass jemand etwas sagte oder auch nur die geringste Anstrengung unternahm, um die Sache ans Licht zu bringen, das aber wäre einfach zu viel gewesen. Dann schon besser, dass Kaufmann für alles die Verantwortung bekam, schließlich war er ja doch nicht ganz richtig im Kopf.

Sem-Sandberg, Der Sturm, S. 192

Sem-Sandberg entlässt seine Figuren anders als Shakespeare in seinem Stück nicht durch einen Zaubertrick aus der Verantwortung ihres Schweigens, ihrer Schuld, ihrer Gewalt. Und doch bricht beim Lesen immer wieder etwas Leuchtendes herein, kann man sich, wie beim Zusammensetzen eines alten Puzzles, von dem einige Teile für immer verloren gegangen und andere durch strahlendere neue ersetzt worden sind, dem Sog der sich immer wieder entziehenden, aber intensiven, magischen Geschichte kaum entziehen. So gewährt die Lektüre dem mutigen Leser einen schockierenden und betörenden Einblick in die schillernde Komplexität des menschlichen Seins und Handelns.

Bibliographische Angaben
Steve Sem-Sandberg: Der Sturm, Klett-Cotta (2019)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek
ISBN: 9783608981209

Bildquelle
Steve Sem-Sandberg, Der Sturm
© 2019 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderShida Bazyar: Drei Kameradinnen

Ausgehend von einem „fait divers“, einem Brand in einem Mietshaus, in den ihre Freundin aus Kindheitstagen verwickelt sein soll, entwirft die Autorin mit der Stimme ihrer Ich-Erzählerin Kasih eine ebenso provozierende wie berührende Empörungserzählung über Diskriminierung, rechte Gewalt und das stigmatisierende Bewusstsein einer „anderen“ Herkunft, das nicht nur die so genannten privilegierten Teile der Gesellschaft mit ihren unhinterfragten Vorurteilen verinnerlicht haben, sondern auch diejenigen, die als „andere“ in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind. Denn die drei Protagonistinnen, die drei Freundinnen Kasih, Saya und Hani, betrachten sich immer auch in diesem gesellschaftlichen Spiegel, ob sie sich nun dagegen auflehnen, ihn vorausschauend antizipieren oder — und das gelingt der Autorin mit diesem intelligent konstruierten, vielschichtigen Roman — seine Funktionsweise entlarven.

So ist die Freundschaft der drei jungen Frauen, die im gleichen Wohnviertel am sozialen Rand einer größeren deutschen Stadt aufgewachsen sind, deren kulturell-geographische Herkunft uns die Autorin jedoch absichtlich vorenthält, zugleich eine Kameradschaft, der Titel spielt wohl nicht zufällig auf ein Buch von Erich Maria Remarque über drei Freunde und Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg an. Bazyars Kameradinnen halten auf keineswegs reibungslose, aber umso intensivere Weise in einer anderen Art von Krieg zueinander, der seine böseste Fratze in den NSU-Morden zeigt, deren Nachwirkung im Roman eine wichtige Rolle spielt.

Dass dieser Roman so gelungen ist, liegt in meinen Augen an seiner ausdrücklichen Subjektivität, die zum einen aus wunderbar lebendigen und eigenwilligen Figuren besteht, die aus „Personen mit Migrationshintergrund“ Menschen mit ganz individuellen Lebensgeschichten, Prägungen und Gefühlen macht, vor denen sich dann so manche geteilte unangenehme Erfahrung umso schockierender abhebt. Zum anderen entsteht auf diese Weise ein literarischer Ton, der Betroffenheit und (Selbst-)Ironie, Empörung und Humor zusammenführt und so das Kunststück vollbringt, gerade im Gewand der provozierenden Beschimpfung des fingierten privilegierten deutschen Lesers ohne Migrationshintergrund einer nur polarisierenden und moralisierenden Vereinfachung zu entgehen. Denn die Erzählung will gar nicht fair sein, die Erzählerin stellt ihre Voreingenommenheit und die ihrer Freundinnen bewusst zur Schau, der Diskriminierungsvorwurf ist schnell zur Hand und wird auch in vielen subtilen kleinen Beispielen quasi empirisch belegt, aber im literarischen Subtext werden einzelne Vorfälle zwar nicht relativiert, aber doch aus einem zu einfachen Polarisierungsmuster befreit, und damit das vorschnelle Urteilen über andere entlarvt. Die Dialoge sind oft hitzig, emotionale Gefechte, und je nach Perspektive und Einfühlung erscheinen die Verhaltensweisen der anderen und selbst die eigenen Gefühle oder Ansichten in einem anderen Licht.

Ich saß dann irgendwann schon wieder auf einer Bank und sah den Tanzenden zu, das hat ja auch was, einfach eine Beobachterin zu sein, auch wenn ich, sobald ich selbst auf der Tanzfläche bin, allen Beobachtern irgendeine Perversion unterstelle.

Shida Bazyar, Drei Kameradinnen

Was Kasih hier an sich beobachtet, die Abhängigkeit von der Perspektive, die man jeweils einnimmt, charakterisiert die Erzählung insgesamt, die auf geschickte uns sehr lesenswerte Weise damit spielt und uns so auch dazu anstößt, den Platz, den wir anderen in der Gesellschaft zuschreiben und auch den, den wir selbst in ihr einnehmen, zu hinterfragen.

Bibliographische Angaben
Shida Bazyar: Drei Kameradinnen, Kiepenheuer&Witsch (2021)
ISBN: 9783462052763

Bildquelle
Shida Bazyar, Drei Kameradinnen
© 2021 Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

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