bookmark_borderPaula Fürstenberg: Weltalltage

Das erste, was an diesem Roman auffällt, ist seine Neigung zu Listen aller Art. Man merkt schnell, dass diese Listen, in denen fast en passant eine in ihrer Alltäglichkeit ergreifende Geschichte untergebracht ist, nicht bloß ein verspieltes Formexperiment sind, sondern dass die Autorin ihrem Stoff derart eine Gestalt verleiht, die mit dem von ihr gewählten Erzählprinzip korrespondiert. Erzählt werden soll, so benennt die Erzählerin den Beweggrund ihres Schreibens, die Geschichte von Max, ihrem besten Freund. Schreibend möchte sie herausfinden, wie es dazu kam, dass er, der gesunde und selbstsichere Part ihrer langjährigen und innigen Freundschaftsbeziehung, scheinbar aus heiterem Himmel eine Depression entwickelt hat und damit in einem verstörenden Rollentausch sie selbst, die seit der Kindheit an chronischen Schwindel- und Übelkeitssymptomen leidet, als den kranken, instabilen Part in ihrer Beziehung abgelöst hat. Halt und Orientierung in ihrem schwankenden Dasein, für das die nicht eindeutig diagnostizierbaren Schwindelattacken der Erzählerin auch eine Metapher sind (auch wenn diese sich, dazu später, vehement gegen die Verwendung von Krankheitsmetaphern ausspricht), fand sie bisher wie selbstverständlich bei Max. Und sie fand sie in einer Organisiertheit, die sie als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die als Wäscherin in einer Fabrik viele Nachtschichten hatte und, dem Alkohol zugeneigt, nicht selten weitere „Nachtschichten“ in Bars und fremden Betten einlegte, als Strategie für sich, als Selbsttechnik entwickelt hat. Nun, da der Freund als fixer Orientierungspunkt ausfällt, bleiben nur die Listen, denen sich die Erzählerin für ihren Roman mit Hingabe widmet. Der Erzählerin zufolge ist dieses Erzählprinzip, dem das Konstruktive einer rein linear-chronologisch nicht fassbaren Wirklichkeit zugrundeliegt, zunächst einmal dem Versuch entsprungen, einen Anfang zu finden, für die Geschichte von Max‘ Krankheit, für die Geschichte ihrer Freundschaft mit Max, für die ihrer eigenen Krankheit, ihres eigenen Seins in der Welt. Einen solchen Anfang von allem, das macht die Listenform rasch deutlich, gibt es aber gar nicht. Vielmehr gibt es viele Anfänge, die alle ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben und die in der Biographie der Erzählerin immer weiter zurückreichen: Aus vielen Spulen entspinnt sich so ein Roman, der trotz seiner formalen Eigenwilligkeit in einem lockeren, unterhaltsamen Ton geschrieben ist.

Das zweite, was an diesem Roman auffällt, ist, dass kein Thema, kein Diskurs, der in den Listen zur Sprache kommt, unabhängig nur für sich steht. Die Listen bilden ein Textgewebe, das die Komplexität des alltäglichen Daseins auf der Welt abbildet und zeigt, wie viele verschiedene Faktoren im „Welt-Alltag“ zusammenwirken und einander beeinflussen. Krankheit, Herkunft, Geschichte, Bildung, Sprache, Arbeit, Freundschaft — all diese „Systeme“ existieren nicht für sich, sondern sind eng miteinander verwoben. Ein Beispiel: Die Listenschreiberin und ihr Freund Max teilen ihre ostdeutsche Herkunft, beide sind sie kurz vor der Wende geboren und in einem postsozialistischen Umfeld aufgewachsen. Doch während der Listenschreiberin die sozialen Unterschiede zu ihren Altersgenossen aus dem Westen Deutschlands erst während ihres Studiums auffallen, macht sie bereits viel früher, im kleinen und keineswegs homogenen Radius ihres ostdeutschen Heimatortes die Erfahrung von Bildungs- und Klassenunterschieden. Max‘ Mutter ist Ingenieurin, ihre eigene arbeitet in einer Fabrik, beide sind alleinerziehend; andere Kinder, die Erzählerin nennt sie „Gummistiefelkinder“, haben Eltern, die sich um sie kümmern, ihnen Butterbrote schmieren und die richtigen Kleider für den nächsten Tag herauslegen, sie selbst ist schon froh, wenn ihre Mutter in der Nacht zuhause ist. Die Wandelbarkeit von begrifflich erfassten Zuschreibungen und der mit ihnen assoziierten gesellschaftlichen Strukturen zeigt sich, als die Erzählerin denselben Begriff, „Gummistiefelkinder“, später für diejenigen ihrer Kommilitonen verwendet, die in der beruhigenden Gewissheit leben, irgendwann ihr Elternhaus zu erben. Prekarität, so veranschaulicht es die Lebensgeschichte der Erzählerin, entsteht aber nicht nur durch Herkunft, sondern etwa auch durch chronische Krankheit oder die „falsche“ Berufswahl, infolge derer man sein Dasein auf einer mäßig entlohnten Halbtagsstelle als Redaktionsassistenz fristet oder einen Verlagsvertrag für ein Buch unterzeichnet, das vor der Auszahlung ungewisser Tantiemen in einem monate- oder jahrelangen, auf jeden Fall ressourcenzehrenden Prozess geschrieben werden muss. Die derart zur Romanschreiberin aufgestiegene Listenschreiberin erlebt die fortwährende Prekarität ihres Daseins ganz körperlich; ihre Schwindel- und Übelkeitsattacken, ihre „Weltall-Tage“, die Tage, an denen sie isoliert vom „Welt-Alltag“ der anderen durch eine beängstigende Schwerelosigkeit taumelt, hören mit dem Buchvertrag in der Tasche ja nicht auf, sondern sind weiterhin „Alltag“ für sie.

Die Mehrdeutigkeit des Buchtitels weist auf das dritte hin, was an diesem Text auffällt: seine Sprachkritik und sein literarisches Erforschen der Sprache insbesondere des Körpers und der Körperlichkeit. Wie es im Roman einmal heißt, interessiert sich die Erzählerin für die „Auswirkungen von Geschichte und Gesellschaft auf den Körper“. Beim Schreiben darüber stellt sie einen Mangel fest, eine traditionelle oder soziokulturelle Ausdrucksarmut, die (vermutlich nicht nur) die deutsche Sprache in Bezug auf den Körper aufweist. Zwischen medizinischem Fachjargon und populärkultureller Neigung zu klischee- und schuldbeladenen Metaphern fehle eine adäquate Sprache für den intimen Körper, den kranken Körper, den invaliden Körper:

Es müsste eine dritte Sprache für den Körper geben, sagst du, eine Sprache, die weder kalt ist wie das Fachlatein noch mit Schuldzuweisungen und Abwertungen um sich wirft wie die Umgangssprache.

Paula Fürstenberg: Weltalltage

Unzufrieden mit dem abgedroschenen Begriff der „Ärzteodyssee“ erschafft die Erzählerin so etwa den Neologismus „Sisyphee“ für ihre jahrelangen, immer wieder ergebnislosen und sehr oft unangenehmen Besuche bei allen möglichen Fachärzten.

Eng verknüpft mit der Suche nach einer angemessenen Sprache für den kranken Körper ist die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Krankheit sowie mit der Krankheit des anderen. Auch der Erzählerin kommen taktlose und unpassende Bemerkungen im Gespräch mit ihrem depressiven Freund. über die Lippen. Sie erkennt darin, selbstkritisch, auch die Grenzen ihrer eigenen Empathiefähigkeit. Und sie nimmt sich vor, in ihrem Roman das Aussehen von Max nicht zu schildern, damit der Leser keine voreiligen, vorurteilsbehafteten Schlüsse daraus zieht, sondern unvoreingenommen und frei von gesellschaftlichen Körperbewertungen auf die Figur schauen kann — nur um kurz darauf dann doch eine Beschreibung von Max‘ äußerem Erscheinungsbild in den Text zu schmuggeln: selbstkritisch, selbstironisch zugunsten einer humorvollen Differenziertheit im Blick auf das Dasein alle Dogmen, auch ihre eigenen, unterlaufend.

Das ist das vierte, was an diesem Roman auffällt: sein Ton. Sprachwitzig ist die Listenschreiberin, und sie stellt gerne eine Regel auf, nur um sie zu brechen oder gleich eine Ausnahme folgen zu lassen. Sozialkritik und Humor schließen sich nicht aus. Ohne zynisch zu werden oder die Ironie als selbstverliebte Pose wie einen Panzer vor sich herzutragen, legt die Autorin durch das Sprachrohr ihrer Erzählerin ihre schreibenden Finger auf missklingende Strukturen. Denn so sehr die fragile Körperlichkeit vom Einzelnen erlebt wird, so wenig ist ihre Ursache ausschließlich am Individuum festzumachen. Die Erzählerin wehrt sich hier vehement gegen subtile Schuldzuschreibungen, mit denen die Verantwortung für körperliche Gebrechen ebenso wie für abweichendes Verhalten auf den Einzelnen abgeschoben wird. Ihr Ehrgeiz in der Schule etwa sei nicht mit ihrer angeblichen Schüchternheit und ihrem Fleiß zu erklären, sondern mit der Verbissenheit der potentiellen ersten sozialen Aufsteigerin in ihrer Familie.

Das fünfte, was an diesem Roman auffällt, ist seine ausgeprägte Dialogizität. Die Erzählerin steht nicht nur im pointierten Dialog mit ihrem Freund Max, sondern integriert über das Verfahren einer offengelegten Intertextualität auch andere Diskursteilnehmer in ihren Text. Susan Sontag etwa, die über Krankheit als Metapher geschrieben hat, oder Siri Hustvedt, die in Die zitternde Frau über ein auf ähnliche Weise verstörendes und nicht zu diagnostizierendes Leiden reflektiert. Auch der Erzählerinnenstimme selbst wohnt eine starke Dialogizität inne; sie verkörpert ein Ich, das sich kontinuierlich mit Du anredet, was den Lesefluss in keiner Weise stört, aber eine gewisse Distanz in ein mit Körperlichkeit und Krankheit ja sehr intimes Thema hineinbringt. Die Anrede in der zweiten Person hat sich die Erzählerin übrigens von Siri Hustvedt abgeschaut, die in Die zitternde Frau auf diese Weise sprachlich die kranke von der gesunden Siri unterschied und diese miteinander in Dialog treten ließ.

Das sechste, was an diesem Roman auffällt, ist seine Beweglichkeit, seine Prozesshaftigkeit, was ja auch gut zur Form der Listen passt. Der Schreibprozess wird kontinuierlich offengelegt und in enger Verflechtung mit der Entfaltung der Geschichte mitinszeniert. Dabei wird die Frage nach der Authentizität ebenso aufgeworfen wie die der Autoren- und Persönlichkeitsrechte. Wem gehört die Geschichte, wenn die Erzählerin über das Persönlichste ihres Freundes schreibt, wenn sie sein Leben und Leiden zum Stoff ihres Buches macht? Ihre Geschichte ist auch die Geschichte eines Buhlens und Bangens um sein Einverständnis; quasi als Legitimierung schreibt sie das Gegenlesen von Max mit in die Geschichte hinein. Und sieht sich immer wieder neuen Grenzen und Grauzonen ausgesetzt; denn wie soll sie die Biographie des Freundes erzählen, ohne auch in die Biographie seiner Familienmitglieder einzutauchen? Das Erzählen zieht immer weitere Kreise, gegen die sich der ja seinerseits fiktionalisierte Max nicht wirklich zur Wehr setzen kann. In dem beweglichen, dialektischen Konstrukt, das der Roman bildet, wird seiner Kritik und seinen Vetos zwar frei- und reumütig Raum gegeben. Die Erzählerin verfasst auch sofort eine neue Textvariante, wenn ihr Freund mit der alten nicht zufrieden war. Doch das humorvolle Paradox besteht darin, dass sie die verworfene Version ja dennoch beibehält, dass all die kritisierten, abgelehnten Versuche in dem Roman, den wir lesen, enthalten sind.

Das siebte, was an dem Roman auffällt, lässt sich gleichsam als abrundende Coda an diesen diskurs- und formbewegten Roman anschließen, da es wie ein Grundthema aus allen Listen herausklingt: Dieser von großem Sprachwitz getragene Text, der einen entlarvend-provozierenden Kommentar zum gegenwärtig boomenden Genre der Autofiktion darstellt, ist auch ein großer, ein berührender Freundschaftsroman. Es geht um Empathie und ihre Grenzen, um Liebe und Solidarität auch außerhalb traditioneller Kategorien und darum, dass der größte Freundschaftsbeweis auch darin bestehen kann, Jahr für Jahr den Rettungsschwimmer aufzufrischen oder es auszuhalten, sich für eine Weile auch einmal mit dem Status eines tagsüber ignorierten und nächtlich fast erdrückten Kuscheltiers zu begnügen.

Bibliographische Angaben
Paula Fürstenberg: Weltalltage, Kiepenheuer & Witsch 2024
ISBN: 9783462003369

Bildquelle
Paula Fürstenberg, Weltalltage
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderTeju Cole: Tremor

Tunde, den man großteils als fühlenden und denkenden Protagonisten des neuen Buches von Teju Cole ausmachen kann, ist wie dieser in Lagos geboren, er ist Fotograf und unterrichtet an einer amerikanischen Universität, doch verschwindet sein Autor, so wie das Buch trotz aller biographischen Einflüsse keine Biographie ist, auch sprachlich-stilistisch hinter dieser literarischen Stimme, die ihrerseits hinter anderen Stimmen verschwindet, sich auflöst in ein vielstimmiges Textgewebe.

Wie sein Autor ist Tunde ein Intellektueller, in der doppelten Bedeutung des lateinischen Herkunftsverbs, „wahrnehmen“, „empfinden“ genauso wie „begreifen“, „verstehen“. Und vielleicht mehr noch in der ersten, sinnesnahen Bedeutung… einer, der verstehen will, und dieses Verstehen über den (Um)Weg der intensiven Wahrnehmung sucht, eine Wahrnehmung, die in diesem eher kurzen Text allerhand damit zu tun hat, mit den vielen Reizen und Impressionen, und den Gefühlen und Gedanken, die diese auslösen, klarzukommen. Das Buch bietet also viel Gedankenstoff, historische, gesellschaftliche, ethische Themen und Diskurse, die im Blick des Fotografen, zahlreichen irrlichternden optischen Reizen gleich, versinnlicht werden. Es geht um Kolonialismus, um Rassismus, um „afrikanische“ und „westliche“ Kunst und Musik, aber auch um Sozialkritik, um Tradition und Religion in Nigeria, um Krankheit, Liebe, Freundschaft, also eigentlich um das ganze Leben aus dem Blickwinkel eines Mannes, der in seiner Jugend aus Nigeria ausgewandert ist und im akademisch-künstlerischen Milieu der amerikanischen Großstädte heimisch, na ja, eben nur zum Teil heimisch geworden ist. Der Protagonist lotet Grauzonen aus, wirft Fragen auf und sucht, wieder und wieder, von Thema zu Thema, nach einer — zugleich individuell mit ihm übereinstimmenden und universell gültigen — Haltung, ein anspruchsvolles Unterfangen, das in der thematischen Sprunghaftigkeit des Textes zumindest auf Figurenebene zum Scheitern verurteilt ist.

Augenöffnend ist diese Sprunghaftigkeit aber allemal, der fotografische Blick ist sezierend und fängt auch kleinste Nuancen ein. Teju Cole arbeitet in diesem sehr visuellen, sehr oberflächenstarken Text, für den wirklich mal das inflationär gebrauchte Adjektiv „schillernd“ gut passen würde, mit der Technik der Collage, und zwar sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Perspektive. Mal taucht man über einen personalen Erzähler in Tundes Perspektive ein, mal wird ein Du angeredet, und vor allem gegen Ende des Textes, ab seinem Vortrag über Kolonialismus und Kunst, geht die Erzählung in die Ich-Perspektive über. Ein bisschen, als wäre der Autor nun vertrauter mit seiner Figur, als würde er sich noch mehr in ihr Innerstes trauen; jedoch findet der Text dann ziemlich bald ein ziemlich abruptes Ende. Dazwischen aber, im Mittelteil des Buchs werden die Reflexionen für einen Moment unterbrochen und Tundes Stimme von einer aus seiner Geburtsstadt Lagos herausklingenden Polyphonie ihrer männlichen und weiblichen, jungen und alten, aus allen Schichten stammenden Bewohner abgelöst. Hier findet ein Stück Realismus Eingang in den ansonsten sehr reflexiven Text. Motiviert ist diese Vielstimmigkeit durch einen Besuch von Tunde in Lagos, und in dieser Stadt, in der er einst zuhause war und die ihm nun fremd und vertraut zugleich vorkommt, legt er seine Kamera für eine Weile auf die Seite und hört den Menschen zu, die sich dem nur vorübergehend Verweilenden in großer Offenheit mitteilen. Sie erzählen ihm, was sie bewegt, und es entstehen Geschichten von Armut und Reichtum, von Macht und Ohnmacht, von Religion, Kult und Kultur, von Familie und Tradition. Die Sinnlichkeit der Stadt und ihrer Bewohner wird hier so greifbar, dass sie eine spannende Reibungsfläche für die Intellektualität des Besuchers und des Autors bietet, und die Stärken und Schwächen des Buches gleichermaßen offenlegt. Das erzählerische Eintauchen in das Leben der Bewohner hätte man sich auch für Tunde noch mehr gewünscht, der als Hauptfigur eines fiktional angelegten Textes etwas blass bleibt. Und dies, obwohl die Ebene des Privaten als untrennbar zum Politischen, zum Gesellschaftlichen durchaus mit dem Anspruch der Gleichrangigkeit eingeführt wird: Die kriselnde Beziehung zu seiner Frau, der Austausch mit seinen Kollegen, die Beziehung zu seinen in Lagos verbliebenen Geschwistern, die Nachricht der schweren Erkrankung einer nahestehenden Kollegin — in diesen ganzen zwischenmenschlichen Bereich hätte der Autor gerne noch tiefer eintauchen können, auch um die vielen aufgeworfenen Fragen und Themen ethischer und politischer Natur nicht nur zu streifen und fraglos sehr facettenreich von außen zu beleuchten, sondern sie darüber hinaus literarisch zu vertiefen.

Tremor ist ein fließender Dialog des Autors mit seiner Figur und der Welt, der einen stark fragmentarischen Charakter aufweist, der Autor fingiert für seine Figur Streifzüge, die sie mit weit geöffneten Augen und Sinnen unternimmt, die zugleich aber daran leidet, all die Eindrücke zu ordnen und zu verarbeiten. Das (medizinische) Phänomen des Tremors kommt nicht direkt vor, doch Tundes optische Überreizung, das migräneartige Flimmern vor seinen Augen hat etwas von einem Zittern und Beben, das die nach Orientierung suchende Figur über den medizinischen Befund hinaus charakterisiert. So ist das Buch letztlich der Versuch, Optisches in Sprache zu überführen, und zumindest mit der paradoxen Integration des vielstimmigen Mittelteils deutet sich diese dann doch als sehr literarisch zu bezeichnende Vorgehensweise im Text selbst an. Denn zwar kehrt der Fotograf Tunde aus Scheu vor der Form des Porträts ohne ein einziges Foto mit einem menschlichen Motiv aus Lagos zurück, doch bringt er in Form all der Stimmen, denen er gelauscht hat, sehr wohl menschliche Porträts mit nachhause, die in Coles Buch in die Schriftlichkeit der Literatur überführt werden.

Bibliographische Angaben
Teju Cole: Tremor, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Anna Jäger
ISBN: 9783546100656

Bildquelle
Teju Cole, Tremor
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCatherine Cusset: Janes Roman

Ein eigenwilliges Stück Literatur hat die Autorin da verfasst: auf den ersten Blick einen im amerikanischen Universitätsmilieu situierten Beziehungsroman, die Geschichte einer etwas speziellen jungen Frau und Akademikerin, die kein Glück mit den Männern zu haben scheint, ebensowenig wie in ihrer universitären Laufbahn, die am seidenen Faden einer Veröffentlichung über den französischen Schriftsteller Flaubert hängt, gegen die sich die Verlage des Landes verschworen haben. Doch das ist nur die blendende Oberfläche des Textes, in der sich immer wieder kleine Risse zeigen, um daran zu erinnern, dass das Leben einer Frau, die beruflich und erotisch gleichermaßen nach Erfüllung sucht, nicht so schwarzweiß gestrickt ist, wie es den Anschein hat — genauso wenig wie der Roman, der diesem Leben auf der Spur ist. In Cussets Text fließen viele Diskurse und Traditionslinien spielerisch ineinander, es geht um französische Literatur und amerikanische Universitätsstrukturen, um Schreiben und Geschlecht, um (fiktions)ironische Spiegelungen, um die Konstruktion und Dekonstruktion von Identitäten. Hier steht die französische Autorin, die selbst lange Jahre als Literaturdozentin in den USA gelebt und gelehrt hat, in der — über den Atlantik gespiegelten — Tradition von Paul Auster, dem Frankreich verehrenden amerikanischen Schriftsteller, der in seinen Romanen immer wieder auf gut lesbare Weise mit der Metaebene der Literatur experimentierte. Bemerkenswert ist außerdem, dass Catherine Cusset diesen Roman, der sich heute als eine vielschichtige Auseinandersetzung mit „MeToo“ lesen lässt, bereits 1999, viele Jahre bevor die überfällige Debatte von Amerika aus die Weltöffentlichkeit beschäftigte, geschrieben wurde.

Die Fiktionsironie bezieht sich schon gleich auf den Titel. Janes Roman heißt nämlich auch ein Roman in Cussets Roman, der somit aus einer äußeren und einer inneren Handlungsebene konstruiert ist; es ist der Titel eines Manuskripts, das der Protagonistin und Ich-Erzählerin Jane anonym zugestellt wird und in dem, ebenfalls in der Ich-Perspektive einer nun doppelt fiktionalisierten Jane, ihr Beziehungs- und Universitätsleben haarklein und unter Preisgabe intimster Details nacherzählt wird. In beiden Textebenen geht es um Literatur und Liebe, um intellektuelle und sexuelle Anziehung, um Illusionen und Hoffnungen, um Enttäuschung und Sehnsucht, um Frauen- und Männerbilder. Die Jane der äußeren Handlung verdächtigt nacheinander verschiedene Personen aus ihrem Umfeld, das Manuskript verfasst zu haben, und man rätselt mit ihr während einer Lektüre, in der man sich mehr und mehr in einen Krimi oder Thriller versetzt fühlt, zumal ein Überfall und gleichfalls anonyme anzügliche Botschaften an Jane die Atmosphäre zunehmend bedrohlich erscheinen lassen.

Dass man es nicht mit einem kitschigen Beziehungsroman zu tun hat, merkt man sehr schnell auch daran, dass eigentlich alle Figuren unsympathisch sind, oder zumindest unangenehme Seiten haben, Jane selbst nicht ausgenommen. Das liegt natürlich auch daran, dass das Manuskript, das Janes Leben re- oder auch dekonstruiert, durchaus etwas Manipulatives hat; die Jane der Rahmenhandlung glaubt mehr und mehr an einen im Schreiben ausgetragenen Akt der Rache. Auf diese Weise gestaltet sich die Geschichte, in der es viel um Begehren und Eifersucht geht, aber auch ambivalenter und spannender; man blickt umso kritischer auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, auf zu wenig hinterfragte Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen, gleichermaßen erotischer wie beruflicher Art. Doch Jane ist weder selbst schuld an ihren vermeintlichen Niederlagen, wie es im Manuskript teilweise suggeriert wird, noch ist sie ein passives Opfer, auch wenn sie männlicher Übergriffigkeit ausgesetzt ist und ihre literaturwissenschaftlichen Thesen plagiiert werden. Man verfolgt auch den immerwährenden inneren Kampf der Protagonistin, sich gerade nicht zur Gefangenen ihrer Angst, ihrer Scham oder traditioneller und neuer Rollenvorstellungen machen zu lassen. Es geht um die Frage, wie ein weibliches Selbstbewusstsein aussehen kann, das weder Gefühle noch Ambitionen verleugnen muss, und inwiefern ein Beharren auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auch mit einer aktivistischeren Interpretation von Engagement und Solidarität kollidieren kann. Die Debatte um Geschlechterrollen und -identitäten wird in Cussets diskursreichem Text zudem ausgedehnt von der sozialen auf eine literarisch-philosophische Problematik, unter anderem dadurch, dass die Protagonistin, die sich als Romanistin intensiv mit Flaubert auseinandersetzt, sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der von ihr postulierten verdrängten weiblichen Seite des berühmten französischen Schriftstellers auseinandersetzt.

Im Roman gibt es eine augenzwinkernde Stelle, in der sich zwei Figuren darüber unterhalten, ob Universitätsromane einfach nur schrecklich langweilig sind. Catherine Cusset beweist mit ihrer Geschichte auf jeden Fall das Gegenteil.

Bibliographische Angaben
Catherine Cusset: Janes Roman, Eisele 2024
Aus dem Französischen von Annette Meyer-Prien
ISBN: 9783961611904

Bildquelle
Catherine Cusset, Janes Roman
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderAmélie Nothomb: Das Buch der Schwestern

Während sich die Literaturkritik nicht immer einig ist über die Qualität der Texte von Amélie Nothomb, stürmt die belgische Schriftstellerin mit ihren Büchern regelmäßig nicht nur die französischsprachigen Bestsellerlisten. Und das, obwohl sie ihren Lesern immer wieder einiges zumutet, mit vielen ihrer Figuren möchte man sich nicht gerne identifizieren, und ihre oft bitterböse psychologische Dramaturgie könnte einen verstört zurücklassen, wenn man den Humor dahinter nicht erkennen würde.

Ihr neues Buch, Das Buch der Schwestern, hat, und das mag einem nicht unbekannt vorkommen, spielt die Schriftstellerin doch gerne mit Märchen und Mythen und christlichen Motiven, die Anmutung eines Märchens aus modernen Zeiten. Die eigentliche Protagonistin des Textes trägt den im Französischen sprechenden Namen Tristane (triste: „traurig“), der vielleicht auch auf den mittelalterlichen Sagenstoff des berühmten Liebespaares Tristan und Isolde verweist. Um die Liebe geht es auch im Buch der Schwestern, um ihre Macht, die egoistisch sein kann, wie die der Eltern von Tristane, Nora und Florent, die seit ihrer ersten Begegnung ein dauerverliebtes Pärchen sind, das ihre Umwelt zu ungläubigem Staunen und bösen Kommentaren verleitet. Dem sozialen Druck doch ein wenig nachgebend bekommen die beiden ein Kind, mit dem sie nicht wirklich etwas anfangen können. Bevor das Baby jedoch ein Störfaktor ihrer Zweisamkeit werden kann, wird es zurechtgewiesen und setzt von nun an alles daran, eben nicht zu stören. Es zieht sich, emotional radikal vernachlässigt, in sein Inneres zurück, wird, ohne dass die Eltern davon Notiz nehmen, hochintelligent, verhält sich stets vorbildlich und bescheiden und übernimmt immer mehr die Rolle der Fürsorgenden, die ihm selbst vorenthalten bleibt. Als mit Laetitia ein zweites Mädchen auf die Welt kommt, scheint Tristane ihre Bestimmung gefunden zu haben. Sie kümmert sich wie eine Mutter um die kleine Schwester und schenkt ihr all die Liebe und Sicherheit, die sie selbst in diesen entscheidenden Kleinkindjahren nie erfahren hat. Die beiden werden größer, andere Formen der Liebe tauchen auf, auch die zur Musik, zur Literatur, doch die zwischen den Schwestern scheint unverbrüchlich, gleichwohl auch sie zwangsläufig in Reibung mit der Welt gerät. Und mit der Tatsache, dass jeder Mensch eben doch mit individuellen Voraussetzungen ins Dasein startet, deren Nachwirkungen ein Leben lang zu spüren sein können.

Man empfindet beim Lesen große Sympathie für Tristane, auch wenn sie zweifelsohne ein sehr spezieller Charakter ist. Und auch wenn Amélie Nothomb ihre Erzählung absichtlich immer ein klein wenig über das Wahrscheinliche hinausdehnt, mit Überspitzung, Umkehrung, schwarzem Humor arbeitet. Die Psyche des Kindes, das von seinen Eltern zwar nicht gezüchtigt, doch emotional verwahrlost und, wie es in der Entwicklungspsychologie heißt, „parentifiziert“ wird, dass es also seine kindlichen Bedürfnisse nie ausleben und erfüllt sehen kann, da es die Rolle und die Verantwortung der Eltern übernommen hat, wird, wie ich finde, erzählerisch pointiert und einfach genial entfaltet. Es stimmt, Amélie Nothomb schreibt leicht, dialogreich, locker, unterhaltsam, doch darin liegt gerade auch die Kunst, im gleichen Atemzug und ohne ein überflüssiges Wort ein rührendes Märchen in eine so bitterböse wie komisch überdrehte Sozialsatire einzubetten, in der viele Grundannahmen, Klischees und auch nicht zu unterschätzende Herausforderungen im Biotop Familie und Erziehung in absurder Überspitzung vorgeführt werden. In ihrem neuen Buch kann ich jedenfalls keinen Kitsch sehen, auch wenn es so viel um Liebe geht — und um ihr Gegenteil, und auch wenn es, zumindest für die Protagonistin Tristane wie für das Waisenkind aus dem Märchen, ein, na ja, halbwegs versöhnliches Ende gibt.

Bibliographische Angaben
Amélie Nothomb: Das Buch der Schwestern
Aus dem Französischen von Brigitte Große
ISBN: 9783257072860

Bildquelle
Amélie Nothomb, Das Buch der Schwestern
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderNona Fernández: Twilight Zone

Wie kann man, ohne Sensationslust oder Voyeurismus zu schüren und ohne in Betroffenheit zu erstarren, über Folter, über Gewalt, über die Unmenschlichkeit in einem diktatorischen Regime schreiben, ihren Ursachen auf die Spur kommen und ein Stück historischer Aufarbeitung versuchen, das über die Lippenbekenntnisse offizieller Gedenktage und die Leerstellen musealer Dokumentation hinausgeht?

Nona Fernández, 1971 in Chile geboren, Schauspielerin und prämierte Autorin von Theaterstücken, Drehbüchern, Prosatexten, erlebte ihr Land quasi von Geburt an als Diktatur. In Twilight Zone schlüpft sie in eine sehr subjektive erzählerische Rolle, die ihrer eigenen Biographie entspringt, doch literarisch nach allen Regeln der Kunst darüber hinausgeht. Der Nucleus ihres Textes ist die in die Kindheit zurückreichende Erinnerung an ein eigentlich ganz durchschnittlich wirkendes Gesicht in einer Zeitung, unter dem aber der brutale Satz: „Ich habe gefoltert“ prangte. Dieses Gesicht und dieser Satz lassen die Ich-Erzählerin nicht mehr los, sie wird Journalistin und Dokumentarfilmerin und betreibt ihre ganz eigenen Recherchen zu dem Mann, Geheimagent der Pinochet-Diktatur, der zugleich als Monster und Aufklärer erscheint, der das Böse ebenso verkörpert wie den Mut der öffentlichen Reue, die ohne die juristische Unterstützung, die er erhielt, damals einem Todesurteil gleichgekommen wäre.

Um die Distanz des aufklärerischen Verstandes zu bewahren und zugleich ohne den verurteilenden Gestus des scheinbar Außenstehenden zu erforschen, wie Menschen sich in Folterer verwandeln können, und auch, um sich der ebenfalls unvorstellbaren und doch so breiten Dimension derjenigen anzunähern, die mit dem Verschwinden von Menschen aus ihrer Familie, ihrem Umkreis konfrontiert wurden, schafft Nona Fernández eine ganz eigene Textsorte, die zwischen faktenbasiertem dokumentarisch-investigativem Stil und subjektiver autobiographischer Haltung und Nähe schaffender Einbettung der Fakten variiert. Das Neben- und teilweise Ineinander vom Alltag der Fernsehserien und Schulbesuche und dem Ausnahmezustand der Entführungen und gewalttätigen Ausschreitungen, die für diese Zeit der Diktatur charakteristisch waren, führt sie uns auf diese Weise eindringlich vor Augen.

Immer wieder gesteht die Ich-Erzählerin im Verlauf des Textes, dass sie sich selbst wie eine Spionin fühlt, die ungesehen in privateste Szenen hineinschlüpft, etwa wenn sie sich ein letztes alltägliches familiäres Zusammensein ausmalt, ehe eines der Familienmitglieder für immer im Dunkel der Folterkammern verschwindet, oder wenn sie in präziser Genauigkeit von der schweißtreibenden Angst des sich auf der Flucht über die Landesgrenze befindlichen ehemaligen Folterers erzählt. Dabei bleibt sie jedoch jederzeit eine Schriftstellerin; sie schöpft mit ihrem Text das Potential der Literatur aus, die es möglich macht, sich in anderen Figuren zu spiegeln, sich in fremde Gefühle und Gedanken einzufühlen. So kann sie in das Innerste des Mannes vordringen, der gefoltert hat, sich literarisch in den Grauzonen, dem Dämmerlicht bewegen, in der „Twilight-Zone“, wie auch eine Fernsehserie hieß, die die Erzählerin sich in ihrer Kindheit gerne ansah und die in jeder Folge mit den Grenzen der Realität spielte. Wenn sie sich in die Psyche des ehemaligen Folterers einfühlt, in seine Gewissensqualen, in seine Alpträume, unterbricht Nona Fernández ihren Prosatext für kurze, aber nachhallende lyrische Passagen, eine gute Form, um sich eine ja letztlich unterstellte Gefühlswelt anzueignen und in literarische Wahrheit zu verwandeln. Das Monster wird, auch wenn viele Leerstellen bleiben, von der Autorin als ganzer Mensch mit einer Biographie erfasst, es wird aus seiner monströsen Dimension herausgelöst, ohne das Monströse der in diesem Regime verübten Taten zu verleugnen. Das Böse, so geht es aus Fernández‘ Text hervor, nimmt im Verhalten der Menschen perfideste Ausmaße an, psychisch wie physisch, und ist, wie Hannah Arendt das in Bezug auf die Verbrechen der Nazidiktatur analysierte, doch ganz häufig von einer erschreckenden Banalität — um in die Mechanismen der Gewalt hineinzugeraten, genügt es, ein Mensch zu sein, man muss nicht als Monster geboren werden.

Bibliographische Angaben
Nona Fernández: Twilight Zone, Culture Books 2024
Aus dem chilenischen Spanisch von Friederike von Criegern
ISBN: 9783959881937

Bildquelle
Nona Fernández, Twilight Zone
© 2024 CulturBooks Verlag GbR, Hamburg

bookmark_borderTheodora Bauer: Glühen

Das Glühen ergreift in dieser kurzen, novellenartigen Liebes- und Weltuntergangsgeschichte, in der eine unerhörte Begebenheit im Leben einer jungen Frau auf eine viel umfassendere unerhörte Begebenheit im irdischen Dasein der Menschheit verweist, nicht nur das Innenleben der Protagonistin, sondern zirkuliert so innig wie bedrohlich auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit und der mit ihr nicht unbedingt deckungsgleichen Wahrnehmung.

Die Erzählerin, deren subjektiver Wahrnehmung man einzig folgt, nennt sich Lima, wie Lisa-Marie oder wie die peruanische Hauptstadt, in der sie in einer Vergangenheit, die nur angedeutet wird, eine gescheiterte oder unerfüllte Liebe erlebt haben muss. Als Literaturwissenschaftlerin, die zu Sexualität und Begehren bei Arthur Schnitzler forscht, dem Wiener Schriftsteller des Fin de Siècle, und deren Gedanken immerzu um die literarische und gesellschaftliche Leerstelle weiblichen Begehrens kreisen, blickt sie mit einer gewissen Desillusion auf die Geschlechterverhältnisse, die jedoch eine geheime Hoffnung, vom Gegenteil überzeugt zu werden, eine etwas verzweifelte Liebessehnsucht, nicht ausschließt. Nun hat sie der Stadt den Rücken gekehrt, möchte für einige Tage in den Bergen, fernab der von Krisen gepeinigten, stressigen Zivilisation zur Ruhe und zu sich kommen, herausfinden, ob das Wahre noch immer in der Natur verborgen liegt. Sie kommt in einer abgelegenen Pension bei einer kauzigen alten Frau unter und übt sich in täglichen Wanderungen den Berg hinauf, durch den Wald und bis zu einer Wiese, auf der ein junger Mann, dessen Erscheinung sie anfangs kaum trauen mag, das Heu mäht. Sie ist fasziniert, von der körperlichen Attraktivität des Mannes ebenso wie von der aus der Zeit gefallenen Tatsache, dass er mit einem Pferd zum Heumachen kommt. Vorsichtig, langsam lässt sie sich auf ihn ein, auf die unbestreitbare Romantik der täglichen Begegnungen auf dem Berg. Doch dann ist er eines Tages nicht mehr da, und die Welt bricht zusammen.

Die Autorin Theodora Bauer tastet sich in dieser traumwandlerisch und in eindrücklichen Bildern erzählten Geschichte einer so wütenden wie verzweifelten wie abgeklärten wie romantischen Protagonistin, die sich ihrer Verletzlichkeit bewusst ist und sich ihr in dieser scheinbar ganz anderen, abgeschiedenen Bergwelt doch noch einmal aussetzt, an Grenzen entlang, die der Erzählung etwas Geheimnisvolles und zugleich Bedrohliches geben. Die Grenze zwischen Natur und Zivilisation wird ebenso ausgelotet wie die genauso fragile und genauso von Machtverhältnissen konturierte Grenze zwischen zwei Menschen. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt immer wieder, den jungen Mann, der sich Michael nennt, hält Lima zunächst für eine Halluzination, und auch der aufdringliche Pudel, der ihr immer wieder auflauert, erscheint in ihren Träumen ebenso wie in der Wirklichkeit. Des mephistophelischen Pudels Kern kommt sie bald auf die Schliche, bevor sie am Ende erfährt, dass er in Wahrheit ein Weibchen ist und Luzi heißt — der Teufel eine Frau, das scheint eine zwangsläufige Pointe in einer Erzählung, die es sich zum Anliegen macht, die von der Protagonistin beklagte Leerstelle des sich seiner selbst bewussten weiblichen Blicks zu füllen. Der, der von diesem Blick erfasst wird, der mit einem Engel verglichene Michael, verweist seinerseits auf eine gnostische oder christliche Aufladung der Geschichte, die die Symbolkraft einer klassischen Novelle anstrebt. Ist Michael der Gegenspieler der Pudeldame Luzi(fer) oder ist er in Wahrheit ein Todesengel? Die Erzählung läuft zielstrebig auf einen Untergang hin, auf eine Apokalypse, die sich im Einzelnen spiegelt. Ein Waldbrand wird zur Hölle, eine junge Frau erliegt ihrer Sehnsucht, sich hinzugeben — oder scheitert sie vielmehr an ihrer Angst, an ihrer Unsicherheit? Ist unser Dasein, wie wir es heute führen, gleichbedeutend mit Tod und Zerstörung? Ist es naiv, ja wahnsinnig, an die Liebe, an ein Leben im Einklang mit unserer Umwelt zu glauben? Oder zerstören wir uns letztlich selbst, wenn wir es nicht tun? Der in seiner Kürze vielschichtige Text gibt keine eindeutigen Aussagen, das Einzige, was als klar aus ihm herauszulesen ist, ist die existentielle Verbundenheit alles irdischen Daseins, von Mensch und Natur, zum Guten und zum Schlechten.

Bibliographische Angaben
Theodora Bauer: Glühen, Rowohlt Berlin 2024
ISBN: 9783737102025

Bildquelle
Theodora Bauer, Glühen
© 2024 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderSasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dass Komik von den Herrschenden am meisten gefürchtet wird und Literatur durchaus eine Waffe sein kann, darum hat Umberto Eco in Der Name der Rose eine vielsinnige Geschichte gesponnen. Sasha Filipenko, belarussischer Autor von im Vergleich zu Eco wesentlich kürzeren Romanen führt uns in Der ehemalige Sohn, der im russischen Original schon 2014 erschien, vor Augen, dass Komik und Satire in einem autoritären System vielleicht das letzte Instrument diesseits der Gewalt darstellen, um Protest auszudrücken. Oder es zumindest zu versuchen.

Die Mündlichkeit des Stils fällt einem als allererstes auf, wenn man in die in lockerem, oft spöttischem, ironischem Ton erzählte Geschichte des jungen Franzisk aus dem belarussischen Minsk eintaucht, der 1999 als eines der vielen Opfer einer Massenpanik bei einer städtischen Freizeitveranstaltung ins Koma fällt und erst zehn Jahre später wieder erwacht. Fast der ganze Text besteht aus Gesprächen, aus Monologen und Dialogen, wobei ersteren immer auch eine Dialogizität in dem Sinne innewohnt, wie sie Bachtin für die Romane Dostojewksis festgestellt hat, so dass man sich als Leser auch in den vermeintlichen Selbstgesprächen indirekt stark angesprochen oder herausgefordert fühlt. Umkehrt werden auch die Dialoge oft mit nicht gänzlich präsenten Gestalten geführt, mit Bewusstlosen, unter der Erde Begrabenen; das Motiv des Komas erstreckt sich gewissermaßen auf den ganzen Roman, eine Metapher auch für ein im autoritären Stillstand begriffenes Land. Es wird an Nebentischen gelauscht, es werden Witze gerissen, der Humor ist meistens ein eher schwarzer und vor allem sind Witz und Wirklichkeit oft gar nicht klar voneinander zu unterscheiden. Man merkt dem Roman an, dass sein Autor selbst Satiriker ist, übrigens auch Moderator und Journalist, jemand, der das Zeitgeschehen in seiner ganzen Absurdität intensiv wahrnimmt und, mit nicht zu unterschätzenden literarischen Mitteln, kritisiert.

Deutlich wird auf diese Weise nicht nur die Fassadenhaftigkeit, sondern auch die Unmenschlichkeit eines Systems, das den Einzelnen weder als demokratisches noch überhaupt als ein selbstbestimmtes Subjekt betrachtet. Nachdem Franzisk ins Koma gefallen ist, glaubt seine Babuschka — im Gegensatz zu den Ärzten und auch zum Rest der Familie — als einzige an ihn. Sie zieht mehr oder weniger in sein Krankenzimmer, das sie mit allen Mitteln und Beziehungen, die sie hatte, für ihn durchsetzen konnte, und kümmert sich rührend und energisch um den im Laufe der zehn Jahre trotz seiner Bewegungs- und Rührungslosigkeit allmählich vom Teenager zum Mann reifenden Enkel. Und tatsächlich wacht Franzisk wieder auf, etwa in der Mitte des Buches und genau einen Tag nach dem Tod seiner treuen Babuschka, als hätte er Sorge, ohne seine kämpferische Beschützerin endgültig dem Tod preisgegeben zu werden, wenn er seiner Umwelt jetzt nicht schnell zeigt, dass er noch sehr wohl am Leben ist.

Franzisks Erwachen kommt seiner Mutter, die in der Zwischenzeit den Arzt geehelicht und mit ihm einen weiteren Sohn bekommen hat, auch moralisch eher ungelegen. Und erst recht seinem neuen Stiefvater, der als deutlich opportunistisch bzw. regimetreu und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht gezeichnet wird. Immerhin hat Franzisks hellsichtige Babuschka ein wenig für ihn vorhergeplant, und auch an die Freundschaft mit seinem ehemaligen Schulfreund Stassik kann er zumindest zeitweilig wieder anknüpfen. Allmählich begreift Franzisk, was in den zehn von ihm „verschlafenen“ Jahren alles passiert bzw. gerade nicht passiert ist. Schritt für Schritt eröffnet sich ihm bei seinen Gängen durch die Stadt die ganze Absurdität des Stillstands in seinem Land. Trotzdem ist in ihm ein Gefühl der Hoffnung, des Veränderungswillens, das ihn auch an einer Massendemonstration teilnehmen lässt. Man glaubt einen Moment an eine positive, politische Wendung der Massenpanik, die ihn zehn Jahre zuvor ins Koma gebracht hatte, an literarische Gerechtigkeit; doch das Ende des Romans ist nicht utopisch, sondern düster realistisch.

Bibliographische Angaben
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, Diogenes 2021
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
ISBN: 9783257071566

Bildquelle
Sasha Filipenko, Der ehemalige Sohn
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderMichael Lentz: Heimwärts

Autofiktionale Verarbeitung von deutschen Familiengeschichten aus der Perspektive der Generation, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat, aber seine erdrückenden oder beengenden Folgen über die Eltern oder Großeltern noch zu spüren bekommt, scheint momentan wieder ein Trend auf dem Buchmarkt zu sein. Diese Texte, die sich, meist schmerzhaft, mal mit der ostdeutschen, mal mit der bundesdeutschen Gesellschaft, mit weiterwirkenden patriarchalen Machtstrukturen, mit versteckten Traumata, mit fragwürdigen Erziehungsmethoden, auseinandersetzen, sind stilistisch sehr unterschiedlich: die Spannbreite reicht von akribisch recherchierten Büchern mit vorwiegend dokumentarischem Charakter bis hin zu stark fiktionalisierten Romanen, in denen sich das erzählende Ich deutlich vom Autor abgrenzen lässt. Michael Lentz geht in Heimwärts noch einen anderen Weg, der deutlich selbstreferentielle, bisweilen poetologische Züge aufweist, das Erinnern und ihre Versprachlichung in vielen mäandernden Bildern selbst zum zentralen Gegenstand des Textes macht. Diese zugleich radikal subjektive und stark reflektierende, literarische Herangehensweise an die eigene Familiengeschichte ist einerseits bemerkenswert, andererseits führt die Gleichzeitigkeit von Innerlichkeit und poetologisch-philosophischem Anspruch in diesem Fall zu einer wohl auch bewusst herbeigeführten stilistischen Heterogenität, die intersubjektiv schwer greifbar ist, es also dem Leser nicht gerade einfach macht, der sich immer wieder entziehenden, richtungslos dahinfließenden Erzählung zu folgen, die auf einen dramaturgischen Spannungsbogen verzichtet und einen mitunter ein wenig die Orientierung verlieren lässt.

Gleichwohl ist der Text nicht ohne Struktur, die man vielleicht als diejenige des Schachtelteufels bezeichnen könnte. So wie der Erzähler schon als Kind von den Schachteln und Truhen und Regalen mit Einmachgläsern fasziniert ist, deren Inneres er im Haus der Eltern meist heimlich untersucht, erhebt er die Verschachtelung zum Prinzip seines Textes. Es ist ein Ineinander von mehreren Perspektiven, der kindlichen und der erwachsenen des Erzähler-Ichs, in die er, fast unmerklich, auch noch das Ich seines eigenen Kindes hineinschreibt; es ist auch ein Ineinander von Vorstellung und Wirklichkeit, von Halluzination und Traum, die in der Erinnerung oft kaum voneinander zu unterscheiden sind und dem Leser einen auch oft bedrückenden Einblick in die Psyche des kindlichen Erzähler-Ichs geben, die im sich erinnernden, schreibend nach Ordnung suchenden Erwachsenen weiterhin ihr „Unwesen“ treibt und der er mit den Mitteln der Sprache, der Literatur entgegenzugehen versucht — sowie in seiner, so scheint es immer wieder durch, als große Verantwortung empfundenen Rolle als Vater, als der er so ziemlich alles anders machen will als sein eigener Vater. Dass das Aufwachsen in den 60er und 70er Jahren in seiner Familie, bei seiner depressiven Mutter und seinem sich noch unmissverständlich als Patriarch verstehenden Vater von ihm zugleich als beklemmende Enge und fehlende emotionale Nähe erlebt wurde, davon sprechen die Erinnerungsbilder, die der Erzähler in vielen Variationen heraufbeschwört, eindrücklich. „Die jammernde Mutter. Der strafende Vater. Das nicht ausweichen könnende Kind.“, so heißt es im Text einmal. Der Mangel an Geborgenheit entspricht einem wiederkehrenden Missverstehen in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, und darüber hinaus in der Beziehung des Kindes mit der Welt, die sich — auch noch dem sich erinnernden Erzähler — als große Unordnung präsentiert, in der sich innen und außen nur selten miteinander in Einklang bringen lassen. Wenn die Zeit als „zunehmende Unordnung“ erlebt wird, leitet der Erzähler, schon als Kind, daraus ein Verständnis der Gegenwart ab, in der es seine Aufgabe ist, Ordnung herzustellen. Daher rührt die Bedeutung, ja die große Faszination, die Worte und Wörter, seit seiner sprachlichen Initiation des als ambivalent erlebten Lesenlernens, für den Erzähler haben. Während er in der mit der Sprache verbundenen Imaginations- und Assoziationskraft, ihrer Affinität zum Experiment, zur Gestaltung und ja, zur Anarchie, eine Form von Freiheit erfährt, die ihn aus der Enge des Elternhauses heraushebt, werden um ihn herum die Worte auch anders benutzt, als in sprachliche Klischees gehüllte Glaubenssätze und Machtinstrumente.

Indem der Erzähler kreativ mit der Sprache als Material umgeht, führt er das, was er als Kind, noch gefangen im magischen Denken, als immer auch von Furcht begleitetes emanzipatorisches Projekt begonnen hat, schreibend fort: eine ganz auf der Ebene der Sprache praktizierte Selbstsuche, eine Annäherung an die Wirklichkeit, die nicht mehr ausschließlich über eine Ordnung der Gegenwart erschließbar wird, sondern gleichfalls eine Annäherung an die Vergangenheit zur Bedingung hat. Diese Annäherung, als welche der Erzähler, und sicher auch der Autor Michael Lentz, die Erinnerung versteht, ist ein letztlich unabschließbarer, bruchstückhaft bleibender Prozess, der für ihn nur über die Sinnlichkeit der Gegenstände — als welche auch die Worte erscheinen — vorangetrieben werden kann. Der Erzähler hangelt sich an der Sprache entlang, an Ausdrücken, die er in Metaphern verwandelt und die ihm zu Erkenntnis- oder vielleicht eher Annäherungsinstrumenten werden, um die als so flüchtig wie manipulierbar wahrgenommene Erinnerung irgendwie greifen zu können. Der Text, der so sehr um Sprache kreist, übt auf einer weiteren Ebene fast permanent Sprachkritik als Erkenntniskritik, und er legt ein Misstrauen gegenüber der Erinnerung an den Tag, das nur scheinbar im Widerspruch dazu steht, dass das ganze Buch als mäandernder Erinnerungsfluss konstruiert ist. Vielmehr tritt auf diese Weise das Kippbare als das Eigentümliche der Erinnerung hervor, die sich vielleicht besser über die Sinne und Gefühle erfassen lässt als über das rationale Bewusstsein. So sind auch die Worte, gleich den Gegenständen aus der Kindheit, die wie der bunt zusammengewürfelte Inhalt einer alten Spielzeugtruhe nacheinander zum Inhalt der einzelnen Kapitel werden, mit ambivalenten Gefühlen, mit Begehren wie mit Angst, verknüpft; auch die zunehmend bedrohlich wirkende Zerstörungswut des Kindes führt den schmalen Pfad vor, auf dem der Erzähler in seiner fragil erlebten Erinnerung wandelt. Das Anarchische hat eine konstruktive und ebenso eine destruktive Seite, es schafft Freiräume und vernichtet; genauso hat die Wut eine Kehrseite, verwandelt sich in manchen Momenten in ein Empfinden von Angst und Verlorenheit.

Durch eine Art mikroskopisches Erzählen, einem Erzählen mit vielen Details und Verästelungen, wird der begrenzte Raum des Kindes, die Bedrückung und Enge, die es verspürt, sprachlich vermittelt; die Beschreibungen sind teilweise minutiös, wie mit der Lupe werden hier einzelne kleinste Szenen und Stillleben aus dem Alltag einer Familie in den 1960er Jahren vergrößert und auf fast ein bisschen unheimliche Weise verlangsamt. Diesem sezierenden Schauen wohnt immer etwas Heimliches, etwas Verbotenes inne, ein Gefühl, das den Jungen von damals im Haus seiner Eltern niemals loslassen mag. Gleichzeitig ist sein Erkundungsdrang übermächtig, akribisch wird der Inhalt einer alten Truhe mit Erinnerungsstücken der Mutter ebenso auseinandergenommen wie ein Regal mit Quittengelee im Keller oder ein Insektengefängnis; und immer wird von da aus sprachlich eine Welt aufgemacht, eine Welt der Erinnerung, der Gefühle, der Beobachtungen und der minimalen Grenzüberschreitungen. Jede dieser mikroskopischen Untersuchungen, für die der Erzähler intensiv das Stilmittel der Metapher einsetzt, zeigt, wie nahe Konstruktion und Destruktion beieinander liegen, wie sie sich in der Psyche des Kindes vermischen, das sich — gewissermaßen noch im exzessiven Lernprozess der symbolischen Formen — aus den Lexika der Erwachsenen komplizierte Wörter „stiehlt“ und das seine eigenen Rachepüppchen herstellt, um die Spannungen in der Familie zu kanalisieren und zu transformieren. Mit der Materialität der untersuchten Gegenstände, mit der Körperlichkeit seiner Metaphern führt Michael Lentz einem die schmerzhafte Körperlichkeit der Einsamkeit vor Augen, mit der sein Erzähler einen Umgang sucht, offenbart er ohne pathetische Affirmationen, einfach mit dem Mittel der Sprache, ein tief verletztes, ein angegriffenes Ich. Ein Ich, das zwischen Enge und Verlorenheit, zwischen Last und Verflüchtigung, zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit hin und herpendelt, das einerseits das Gewicht des Vererbten, des transgenerationell weitergegebenen Traumatischen, der überholten Erziehungsstile wie der alten Gegenstände als erdrückende Last verspürt, und andererseits das Verblassen der noch nicht ausreichend verstandenen oder verarbeiteten Vergangenheit wie der Gegenwart, das Unzuverlässige einer sich kontinuierlich entziehenden Erinnerung. Michael Lentz verwandelt in seinem jedoch nicht leicht zugänglichen Buch diese so subjektive wie generationelle Erfahrung in Literatur und schreibt ein mikroskopisches Kapitel der bundesdeutschen Geschichte, indem er anstelle von historischen Fakten die tieferen Schichten der Psyche erforscht und einen Einblick gibt in das Unterbewusstsein einer Generation.

Bibliographische Angaben
Michael Lentz: Heimwärts, S. Fischer Verlag 2024
ISBN: 9783103975185

Bildquelle
Michael Lentz, Heimwärts
© 2024 S. FISCHER Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderGaea Schoeters: Trophäe

Trophäe ist eine von der ersten bis zur letzten Seite so irritierende wie fesselnde Erzählung über Afrika, über die Natur, über Gerechtigkeit — und über das Sich-Entziehen dieser historisch und kulturell vielfach aufgeladenen Begriffe. In intertextueller Auseinandersetzung mit Ernest Hemingway und Joseph Conrad greift die niederländische Autorin Gaea Schoeters auch auf ein koloniales Genre zurück, der „colonial hunting literature“, in der sich männliche Abenteuergeschichten und anthropologische Erkundungen kreuzten, und erzählt von einer Jagd in Afrika, um sowohl dem Mythos Afrika als auch dem Mythos Männlichkeit und ihrer Verwobenheit mit Macht und Trieb und so manchen westlichen Moralvorstellungen auf den Grund zu gehen.

Der Jäger in dieser Geschichte ist ein Amerikaner, wie Hemingway, und erinnert in seinen ethischen Grundsätzen, mit denen er die Natur und die Jagd betrachtet, nicht wenig an den berühmten Schriftsteller, der selbst ein leidenschaftlicher Jäger war. Gaea Schoeters Jäger nennt sich auch „Hunter“, was den gleichnishaft-philosophischen Charakter der Erzählung noch unterstreicht. Er wurde schon als Kind von seinem Vater und Großvater ans Jagen herangeführt. Nun, als reicher Steuerberater und Investor mit einem Hang zur Bewahrung der letzten Reste von der Zivilisation noch nicht berührter Natur, geht er seiner Leidenschaft zur Großwildjagd in den scheinbar exotischen, aber vom Westen und der Moderne alles andere als unbeeinflussten Gefilden Afrikas nach. Er ist ein so genannter Trophäenjäger, von seinen „Big Five“ fehlt ihm nur noch ein Nashorn, das ihm nun zur Jagd angeboten wird. Doch diese Jagd nimmt ein unerwünschtes und vorzeitiges Ende, da Hunter Wilderer zuvorkommen, die das Nashorn bei ihrem Beutezug auf das Horn lebensgefährlich verwunden. Der enttäuschte Hunter bekommt jedoch ein ebenso verführerisches wie schockierendes alternatives Angebot, das man auch als Leser anfangs kaum zu begreifen wagt. Denn anstatt des Nashorns wird Hunter in Aussicht gestellt, einen jungen Afrikaner zu jagen, einen der Buschmänner, der von seiner Gruppe dafür ausgewählt und rituell vorbereitet werden soll. Das Geld, das Hunter für diese Jagd bezahlen wird, soll dem in ihrem Lebensraum arg bedrängten Naturvolk zugute kommen. Die Autorin spinnt mit dieser Menschenjagd einen in der konsequenten Fortführung bestehender „Handelsbeziehungen“ gar nicht so abwegigen Gedanken weiter und entlarvt damit die Grausamkeit, die der Natur und ihren tierischen und menschlichen Bewohnern in Afrika längst angetan wird, sowie das zerbrechliche moralische Gerüst, auf dem unser westliches Verhältnis zu dieser Region — und mehr noch: zur uns alle umfassenden Natur — gebaut ist. Mit der Trophäenjagd werden heutzutage tatsächlich Naturschutzprogramme und Bildungseinrichtungen für Ureinwohner finanziert. Und auch wenn der Kolonialismus Geschichte ist, sind seine Nachwirkungen für Natur und Menschen, ob in Gestalt fortbestehender Machtstrukturen oder der das soziale und biologische Gleichgewicht gefährdenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen, weiterhin vorhanden.

Hunter selbst, der Protagonist der Erzählung, entscheidet sich nach einigen moralischen Skrupeln für das Angebot, das ihm fair und zudem bestechend „authentisch“ erscheint. Die Vorstellung einer solch „urtümlichen“ Jagd, bei der er sein Geschick und seinen Mut unter Beweis stellen und in jungfräuliche Gefilde vordringen kann, beginnt ihn immer mehr zu faszinieren. Im Text scheint immer wieder die Erotisierung der Jagd und der mit ihr einhergehenden Macht auf. Für Hunter scheint der einzig denkbare Naturbezug die Unterwerfung zu sein, auch wenn er im gleichen Atemzug überzeugt ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch als er sich tatsächlich auf diese Menschenjagd einlässt, wird sein Glaubensgerüst nachhaltig erschüttert. Die moralische Rechtfertigung, mit der er sich als Jäger versteht, ja die Grundfesten seines Denkens und Fühlens, seines Weltbildes und all seiner Wertvorstellungen erweisen sich als unhaltbar. Er dringt mitten ins Herz der Finsternis vor, in der die Grenzen zwischen Jäger und Gejagtem, Mensch und Tier, gut und böse, Tod und Leben sich immer weiter aufzulösen drohen. Indem er, sich auf dieses Angebot einlassend, von seinem „gezähmten Denken“ in einem entscheidenden Punkt abgewichen ist, hat er, ohne sich dessen deutlicher als durch ein zunehmendes Gefühl der Bedrohung seines Ichs bewusst zu werden, die Schwelle zum „wilden Denken“ überschritten, in dem der Einzelne mit der Gruppe zu verschmelzen, sich in ihr aufzulösen beginnt. Er nimmt, ohne es ganz zu begreifen, an einem Opferritual teil, bei dem fundamental andere Regeln gelten. Das Opfer wird zugleich ausgestoßen und auserwählt, es verwandelt sich im Tod und wird heilbringend für die Gemeinschaft. Hunter ist deutlich überfordert von der von ihm erwarteten Rolle, im Grunde wird diese Jagd zu seiner eigenen Initiation in eine Welt, die fern von dem modernen Amerika ist, in dem er aufgewachsen ist.

Es ist beeindruckend, wie die Autorin auch sprachlich diese Grenzregionen für den Leser spürbar macht. Mit der Schilderung der rituellen Tänze, die diese besondere Jagd vorbereiten, beginnt für Hunter — und den Leser — der Eintritt in eine andere Erfahrungswelt, in der andere Spielregeln gelten, in eine andere Art der Wahrnehmung, die zunehmend etwas Alptraumhaftes bekommt. Je mehr die Jagd fortschreitet, desto mehr werden Hunters Gewissheiten erschüttert, desto mehr beginnt der Zweifel und das Misstrauen von ihm Besitz zu ergreifen, und schließlich gerät er in ein Delirium, in dem Kindheitserinnerungen, Rituale, Todesangst und Todessehnsucht miteinander verschmelzen. Trophäe ist ein so rasant und eindringlich erzähltes wie nachdenklich machendes Buch, in dem erzählerische Unmittelbarkeit und Einfühlung auf erweckende, aber niemals moralisierende Weise mit einer hellsichtigen Infragestellung vieler unserer Gewissheiten und Überzeugungen einhergehen, ein Buch, das uns dazu anhält, unser Verhältnis zu Afrika, zur Natur, zu unseren Gerechtigkeitsvorstellungen zu überdenken.

Bibliographische Angaben
Gaea Schoeters: Trophäe, Zsolnay 2024
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
ISBN: 9783552073883

Bildquelle
Gaea Schoeters, Trophäe
© 2024 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderAlia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

Ja, sie hat einen Namen und sie kann sprechen, sie kann sogar erstaunlich gut formulieren, reflektiert und scharfsichtig, sich ihrer selbst bewusst und manchmal fast poetisch empfindsam, wovon man auf den folgenden 240 Seiten, von denen seit den ersten Zeilen eine so faszinierende wie erschütternde Spannung ausgeht, Zeuge wird. Erstaunlich gut? Ja, denn einem einfachen Hausmädchen, das selbst als Tochter einer Arbeiterin und Hausangestellten aufgewachsen ist und vor sieben Jahren von einer Insel aus dem Süden Chiles nach Santiago de Chile gekommen ist, traut niemand eine solche Sprache zu. Genauso wie niemand auf die Idee kommt, dass auch sie eine Person ist, mit einem Namen und einer Geschichte.

Die Erzähl- oder Sprechsituation der Ich-Erzählerin Estela, der die chilenische Schriftstellerin Alia Trabucco Zerán eine literarische Stimme verleiht, ist eine existentielle. Nicht zufällig ist dem Roman wohl ein Zitat von Albert Camus vorangestellt: „Die Frage ist nur, wer wen säubert.“ (Camus, Der Fall) Die existentielle Situation ist in Estelas chilenischer Wirklichkeit untrennbar von der sozialen Situation, in die man geboren wird und die mit der existentiellen Macht des Todes im Bunde zu stehen scheint. Estela erhebt ihre Stimme, doch sie tut das in einem merkwürdig echolosen Raum, einem Gefängnis, einem Verhörzimmer. Sie wendet sich an die, die hinter dem Spiegel stehen, und mit denen die Vertreter von Justiz und Polizei genauso gemeint sein können wie wir Leser. Man erfährt gleich zu Beginn, dass sich eine Tragödie ereignet hat, das siebenjährige Mädchen der wohlhabenden Familie, für die Estela als Hausangestellte und Kindermädchen arbeitet, ist zu Tode gekommen, wie, das enthält uns die Erzählerin noch einige Zeit vor. Ebenso wie den tatsächlichen Grund, warum sie in diesem verspiegelten Verhörzimmer sitzt. So wird natürlich die Neugier des Lesers erst recht geschürt und zugleich der Finger auf die Wunde seiner von sozialen Vorurteilen angetriebenen Sensationslust gelegt. Wie kam es zu dem Tod, wie ist Estela darin verwickelt, ist sie die Schuldige?

Die Frage nach Schuld und Verantwortung entwickelt sich, ebenso wie der Hintergrund der Tragödie, die sich jedoch mehr und mehr als Tragödie des ausgebeuteten Dienstmädchens erweist, in den zahlreichen „Abschweifungen“ der Erzählerin, die von ihr jedesmal so vehement bestritten wie hervorgehoben werden und in denen sie erzählt, wie sie die sieben Jahre bei dieser an Geld reichen und Mitmenschlichkeit armen Familie erlebt hat. Wenn sie dort auch keiner expliziten physischen Übergriffigkeit ausgesetzt ist, so leidet sie doch täglich mehr unter der gleichwohl auf Ausbeutung beruhenden sozialen Hierarchie, die von Beginn an von Verachtung, Desinteresse und Arroganz geprägt ist und in die sich eine Erniedrigung nach der anderen einschleichen konnte. Allein das völlige Fehlen von Intimität, eines Rückzugortes, der seinen Namen auch verdient, verwandelt Estela in einen allzeit benutzbaren Haushaltsgegenstand. Umgekehrt wird sie selbst ganz selbstverständlich und ungefragt mit der Intimsphäre der Familie konfrontiert, sie reinigt die Unterwäsche, wischt Erbrochenes auf, sieht den Eltern ungewollt beim Sex zu und wird gezwungen nächtlichen Geständnissen des Hausherrn zuzuhören. In den Augen ihrer Dienstherren ist Estela keine Person, sondern Untergebene, Nana (Kindermädchen), Sklavin, nicht mehr wert als die streunende Straßenhündin, die Estela heimlich zum Füttern hereinlässt, so wie sie, als einzige Möglichkeit der Empörung, immer wieder subtile Akte des Ungehorsams unternimmt, um sich ihrer selbst, ihres Daseins noch irgendwie zu vergewissern. Doch schließlich bricht der Tod, die existentielle Macht schlechthin, gleich dreifach über Estelas Welt herein. Auf die absolute Sprachlosigkeit folgt der längst überfällige Bruch, ein völliges Zurückgeworfensein auf sich selbst, der Ausbruch aus der Gefangenschaft und der Beginn einer neuen. Estela nimmt am Ende an einer Demonstration gegen die soziale Ungerechtigkeit teil. Das Private, das für ein Dienstmädchen nie privat war, hat begonnen, politisch zu werden.

Wie in ihrem ersten Roman, Die Differenz, über die Verschwundenen der Pinochet-Diktatur, arbeitet Alia Trabucco Zerán auch in ihrem neuen Roman die politische und soziale Wirklichkeit ihres Heimatlandes literarisch auf. Sie findet eine Sprache, die die soziale Ungerechtigkeit und existentielle Not der ungehörten oder unterdrückten Stimmen erfahrbar macht. Mein Name ist Estela ist die sich ins Herz bohrende Anklage einer Angeklagten, die in ihren so genannten Abschweifungen gerade das Essentielle auf den Punkt bringt, die ans Licht holt, was zu oft und lange vergessen wurde. Dass es unmenschlich ist, einem Menschen, egal, welcher Herkunft und welcher sozialen Stellung, die eigene Geschichte abzusprechen.

Bibliographische Angaben
Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela, Hanser Berlin 2024
Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy
ISBN: 9783446277274

Bildquelle
Alia Trabucco Zerán, Mein Name ist Estela
© 2024 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

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