bookmark_borderRaphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Ein historischer Roman trifft immer dann ins Herz meiner Leseerwartung, wenn er, und das eben meistens jenseits der üblichen Genregrenzen, Geschichte in der Literatur erfahrbar und auf eine Weise begreifbar macht, die eine noch so genaue rein wissenschaftliche Beschreibung vielleicht nicht erreichen könnte. Raphaela Edelbauer ist mit ihrem Roman, der die bedrohlich flirrende Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einer vielschichtigen Fiktion erfasst, genau das gelungen. Sie verleiht der Hingerissenheit und Zerrissenheit des Endes einer Epoche, ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit, eine literarische Gestalt, die Gesellschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte vereint und dabei auch noch so spannend erzählt ist, dass ich das Buch kaum beiseite legen konnte.

Es passiert auch wirklich eine ganze Menge in diesen gerade mal ein, zwei Tagen, an denen sich die Romanhandlung in großer Dichte und Schnelligkeit abspielt: Schlägereien, Rausch- und Traumerfahrungen, zahlreiche pointierte intellektuelle Dialoge, in denen von Traumdeutung, Psychoanalyse, Suggestion über Mathematik, Philosophie bis zur Diplomatie und zur Musik viele Ebenen des kulturellen, psychischen und politischen Lebens der Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert aufgerufen und zueinander in Beziehung gesetzt werden, und nicht zuletzt auch eine turbulente Freundschaft, so intensiv und emotionsgeladen, wie die kurze Zeitspanne, in der sie entsteht. Um das zentrale Dreigespann der handelnden Personen kurz vorzustellen: Klara, eine hochbegabte Mathematikdoktorandin aus ärmlichsten Verhältnissen, Hans, ein belesener Pferdeknecht aus Tirol, der einen Tag vor Ausbruch des Krieges vom Land in die Großstadt Wien gelangt und auf den beide, die Stadt und die Doktorandin, eine so faszinierende wie einschüchternde Wirkung haben, und schließlich der aus einem reichen und adligen Elternhaus stammende Adam, der gegen den Willen seiner Eltern ganz für seine Leidenschaft, die Musik, zu leben versucht, von dem jedoch erwartet wird, dass er, der Offizierstradition seiner Familie folgend, in den Krieg zieht, sobald dazu aufgerufen wird. Diese drei entwickeln, so verschiedener Herkunft sie auch sind, in der kurzen Zeit, die ihnen beschieden ist, ein besonderes, ein eigenwilliges Band der Freundschaft. Sie begegnen sich, und diese Kontingenz begründet den philosophischen Kern der alles andere als kontingenten Romankonstruktion, bei der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, der vierten Hauptfigur, mit der alle drei eine wiederum eigene Geschichte verbindet.

In dieses spannungsreiche Beziehungsgefüge, das um viele weitere der Zeit anverwandelte Figuren ergänzt wird, webt Raphaela Edelbauer viele der explosiven neuen Gedanken und Erscheinungen, die im Jahr 1914 die althergebrachten Denk- und Verhaltensmuster erbeben lassen. Es geht um die Suffragettenbewegung, um weibliche Homosexualität, um den Machtverlust des Adels und das Erstarken neuer politischer Akteure, um neue Wirklichkeitserfahrungen, um die unheimliche Aufwertung des Unterbewusstseins, und überhaupt um einen riesigen Werteverfall oder besser um eine Umwertung aller Werte, in der ein inniger Abscheu gegenüber dem Alten und eine tief sitzende Angst vor dem Neuen gewaltsam aufeinanderprallen. Das Thema von Klaras Doktorarbeit, in der sie sich mit den „Inkommensurablen“ beschäftigt, also mit mathematischen Zahlen, die zueinander in einem irrationalen Verhältnis stehen, die kein gemeinsames Maß haben, aus dem ein reeller Zahlenwert hervorginge, lässt sich, als zentrale Metapher des Romans, auch auf die miteinander in gewaltsamer Konkurrenz stehenden Werte und moralischen Fragen übertragen. Die Masse ist gesellschaftlich eben längst nicht so homogen, wie sie dem historischen Mythos des Augusterlebnisses zufolge 1914 in einen heilbringenden Krieg gezogen sei. Vielmehr spricht allein in der Stadt Wien fast jeder eine andere Sprache, was bei weitem nicht nur an der Sprachenvielfalt des dem Untergang geweihten Vielvölkerreiches liegt. Moralisch, politisch, in jeder nur denkbaren Hinsicht wird mit einem anderen Maß gemessen, so dass die jeweiligen Vorstellungen und Überzeugungen absolut inkompatibel erscheinen: die der Alten und die der Jungen, die der Land- und die der Stadtbevölkerung, die der reichen Militärs aus Adams Elternhaus und die der Frauenrechtlerinnen, die der Nationalisten und die der Internationalen, sowie die der verschiedenen Nationalisten untereinander, und so weiter und so fort. In einer solch inkommensurablen Gesellschaft ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, sich zu verständigen; wo ein gemeinsames Maß fehlt, bleibt nur der Ausdruck der Gewalt. Die brodelnde Maßlosigkeit ist denn auch omnipräsent in diesem Roman, der mancherlei Anklang an Robert Musil, Hermann Broch und vor allem auch an Thomas Manns Zauberberg bereithält, nicht nur, weil die Fiktion schließlich im Kriegsausbruch kulminiert. Die Nervosität und Reizbarkeit der Einzelnen, die einer riskanten Dynamik der Massen in die Hände spielt, die in die Handlung integrierten wissenschaftlichen Diskurse und besonders die schlagfertigen Dialoge, die, anspielungsreich und von unterschwelligem Witz, auch beziehungsreiche inhaltliche Felder durchschreiten, machen deutlich, wo die Autorin ihre großen Vorbilder hat.

Wenn man eine moralisch-ethische Brücke in die Gegenwart schlagen mag, so kann man aus der Durchführung dieser mathematischen Metapher durchaus eine Warnung ableiten, nämlich die vor der Halsstarrigkeit ins Absolute gewendeter Überzeugungen, die religiösen Ideologien gleich, keine anderen neben sich gelten lassen. Ein solches Fehlen von Meinungspluralität wird rasch zum Quell der Gewalt, die sich erst in der Kommunikation, sodann auch in physischer Auseinandersetzung ihren zerstörerischen Ausdruck verschafft.

Der Schluss gestaltet sich im Übrigen so zwangsläufig wie überraschend. Metaebene und Handlungsebene fallen in eins, erweisen sich als geschickt angelegte Versuchsanordnung und desillusionieren sowohl den Protagonisten Hans wie den Leser. Mit der Einschränkung jedoch, dass ein fiktionsironisches Fenster für den aufmerksamen Leser offengelassen wird, durch das er ins Übersinnliche blicken darf — das keinesfalls mit dem Übernatürlichen gleichzusetzen ist, wie man in einer der anregenden Diskussionen der Figuren zuvor erfahren hat.

Bibliographische Angaben
Raphaela Edelbauer, Die Inkommensurablen, Klett-Cotta 2023
ISBN: 9783608986471

Bildquelle
Raphaela Edelbauer, Die Inkommensurablen
© 2024 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderJessie Greengrass: Was wir voneinander wissen

Ich muss zugeben, zu Beginn habe ich mit Greengrass‘ Buch, das vom Verlag als philosophischer Roman angekündigt wird, ein wenig gefremdelt: Es werden einerseits urmenschliche Themen wie Tod, Mutterschaft, Vertrauen, Krankheit, Verlust angerissen und komplexe Beziehungsfragen aufgeworfen — und diese andererseits vor allem zu Beginn mit einer auf den ersten Blick unpassend wirkenden Sachlichkeit und Zurückhaltung an Emotion erzählt, die fast wehtut.

Doch im Laufe des immer tiefer schürfenden und sich dennoch seiner Grenzen bewussten Textes wird deutlich, dass die scheinbare Kälte, mit der die Ich-Erzählerin anfangs ihr Verhältnis zur sterbenden Mutter schildert — und ebenso die immer wieder zwischengeschalteten sachlichen Berichte aus dem Arbeitsleben Röntgens, des Erfinders der X-Strahlen — nur der Schutzschild einer durch den Tod der Mutter zutiefst erschütterten und verunsicherten jungen Frau ist, die nuanciert und frei von abschließenden Urteilen einer existenziellen Verunsicherung auf den Grund geht, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen einhergeht, die immer von Verlust, von Missverständnis, von Eigenliebe bedroht sind. Die Erzählerin ist bisweilen regelrecht gelähmt von der tief sitzenden Angst, der emotionalen Verantwortung nicht gewachsen zu sein, die sich in ihrer lang hinausgezögerten Entscheidung, Mutter zu werden, ebenso manifestiert wie in der holprigen, von ungeschickten Gesten und Missverständnissen geprägten Anfangsphase ihrer Beziehung zu ihrem späteren Mann Johannes.

Der Text lässt sich beschreiben als das schwankende, mäandernde, mal schärfer fokussierende, mal unschärfer sich relativierende, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, historische Objektivität und individuelle Subjektivität überlagernde Bild eines intensiven Nachdenkens, Reflektierens, Sich-Erinnerns der Erzählerin, die versucht, sich über ihre Gefühle, Ängste und Bedürfnisse klar zu werden, indem sie zugleich in zwei Richtungen forscht. Sie erzählt ihre eigene individuelle Geschichte, die Geschichte ihrer Familie, wobei sie in vielen kleinen, aber alles andere als unbedeutenden Szenen — in denen die anfangs vermisste Empathie eben doch vorsichtig durchschimmert — die komplexen Beziehungsstrukturen auslotet, die sie mit ihrer Mutter und Großmutter sowie mit ihrer eigenen Tochter verbinden. Und sie überblendet diese Familiengeschichte mit sorgsam ausgewähltem historischen Material: der Erfindung der Röntgenstrahlen, dem Verhältnis von Sigmund Freud zu seiner jüngsten Tochter Anna, den anatomischen Studien des chirurgischen Pioniers John Hunter. Alle historischen Figuren nehmen auf ihre Weise Schmerz auf sich, um sich unter die Oberfläche zu begeben. Genau das charakterisiert auch die Vorgehensweise der Erzählerin in einem zwar etwas konstruierten, aber durchaus mutigen Text, der Verletzlichkeit, Ungewissheit und Beschwerlichkeit zulässt, der die schmerzlichen Grenzen der Tiefenbohrung einer menschlichen Psyche aufzeigt, die über ein Kratzen an der Oberfläche oft nicht hinauskommt, und der gerade dadurch zumindest ein kleines Stück zum Wesen des Nähe ersehnenden und fürchtenden Menschen vordringt.

Bibliographische Angaben
Jessie Greengrass: Was wir voneinander wissen, Kiepenheuer & Witsch (2020)
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea O’Brien
ISBN: 9783462051728

Bildquelle
Jessie Greengrass, Was wir voneinander wissen
© 2020 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderJorge Comensal: Verwandlungen

Welch groteske, absurde, witzige, wilde und zugleich tief berührende, emotionale, weise Erzählung der junge mexikanische Autor Jorge Comensal mit seinem ersten Roman aufs Papier gezaubert hat!

Ein ziemlich zerrupfter, in Schimpftiraden geübter und sehr eigenwilliger Papagei wird zum letzten Wegbegleiter eines ebenso eigenwilligen, eben noch eloquenten Rechtsanwalts und etwas dominanten Familienvaters, der durch eine bösartige Verwandlung, nämlich durch die Mutation einer Krebszelle, seine Zunge verliert, die ihm herausoperiert wird, und der, derart seiner Sprachmächtigkeit beraubt, um seine von allen Seiten angegriffene Autorität und Würde kämpft.

Darf man mit Humor, Witz und Sarkasmus eine Krebsgeschichte erzählen? Ja, unbedingt, wenn man es so macht, wie Jorge Comensal! Gerade dadurch, dass er sich mit seinem Erzählstil von der einseitigen und passiven Leidensperspektive löst, die den Patienten auf seine Krankheit reduzieren würde, wird er dem von Schrecken, Ohnmacht und Verzweiflung begleiteten unermesslichen Kraftakt des leidenden Menschen überhaupt erst gerecht, ist dieser doch nicht ausschließlich Leidender, sondern immer noch ein Mensch mit durchaus ambivalenten Seiten.

Der leidende Empörer, Ramón Martinez, der in dem vom treuen Hausmädchen Elodia sehr zum Unwillen seiner Gattin angeschleppten Papagei, den er nach dem mexikanischen Reformer und Staatsmann Benito (Juárez) nennt, ein anarchisches Sprachrohr all der Wut und des Widerstands findet, die er selbst nicht mehr oder nur noch mit äußerster Mühe und der Umständlichkeit handschriftlicher Notizen artikulieren kann, steht im Zentrum der Geschichte, als deren zweite Hauptfigur die Lacan’sche Psychoanalyse und die an Mutationen („las mutaciones“ ist auch der spanische Originaltitel) reiche Geschichte des Krebs konkurrieren.

Ramón, dessen Innenschau hauptsächlich seine verzweifelt nach Ventilen suchende Wut auf seine eigene Ohnmacht sowie auf das Verhalten der anderen, allen voran seines geldgierigen Bruders, offenbart sowie seine mehr praktischen als philosophischen Überlegungen, wie er seinem unerträglich gewordenen Leben rechtzeitig ein selbstbestimmtes Ende geben kann, ist selbst eine tragikomische Figur. Denn auch wenn er ein liebender Vater und Ehemann ist, als Anwalt für Gerechtigkeit eintritt und sein in Not geratenes Hausmädchen Elodia beschützt und unterstützt, weist er auch paternalistische Züge auf, die durch die Krankheit umso eindrucksvoller sabotiert und demontiert werden können. Er ist dadurch nicht primär als Opfer gezeichnet, sondern bleibt ein Mensch mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten, der wortwörtlich unsagbar darunter leidet, mehr und mehr seine Autonomie zu verlieren. Und so lauert hinter der zutiefst komischen Oberfläche der grotesken und absurden Szenen, die sich im Zuge des Aufbäumens gegen das Erstummen abspielen, eine abgründige Erfahrung aus den Tiefen der conditio humana: Der schlimmste Schmerz kann auch durch die palliative Medizin nicht gestillt werden, der des Bewusstseins der eigenen Ohnmacht und des eigenen Verfalls.

Daneben erzählt der Roman auch die Geschichte von Teresa, einer auf Krebspatienten spezialisierten Psychotherapeutin, die selbst eine Krebserkrankung überlebt hat und in einer vielschichtigen, nicht immer ganz eindeutigen, vielleicht zu involvierten Beziehung zu ihren Patienten steht, worüber sie mit ihrer Supervisorin ausführliche Gespräche führt, in denen sie selbst auf der Couch liegt, und die außerdem zur Linderung der seelischen Schmerzen Marihuana für ihre Patienten anbaut, von dem sie sich von Zeit zu Zeit selbst eine kleine Dosis abzweigt. Ihr jüngster Patient ist Eduardo, der als Kind an Leukämie erkrankte und längst geheilt ist, doch seine Angst vor der Krankheit durch eine extreme Phobie vor Keimen jeder Art substituiert hat, die für allerlei absurde Komplikationen in seinem Alltag sorgt, der zum permanenten Ausnahmezustand wird, und ihn in ein unüberwindliches Dilemma stürzt, als er sich in eine Kommilitonin verliebt, die mit Vorliebe an ihren Bleistiften saugt. Und schließlich ist auch der Onkologe Almada, der im Erbgut von Ramóns amputierter Zunge schon die Verheißung eines internationalen Durchbruchs in der genetischen Krebsforschung sieht, in Comensals grotesken Kosmos der Mutationen involviert.

Die Literatur vermag hier etwas, was die Realität einer Krankheitsgeschichte übertrifft und ihr dennoch auf äußerst humane Art eine tiefere Wahrheit abtrotzt: im Angesicht des Schlimmsten herzhaft zu lachen und das nicht aus Bosheit oder Unwissen, sondern im vollen Bewusstsein des menschlichen Schicksals.

Bibliographische Angaben
Jorge Comensal: Verwandlungen, Rowohlt (2019)
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
ISBN: 9783498025410

Bildquelle
Jorge Comensal, Verwandlungen
© 2019 Rowohlt Verlag

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