bookmark_borderChristine Wunnicke: Wachs

Ein junges Mädchen, zwergenhaft verhüllt in einen Umhang, schleicht des Nachts durch Paris und verschafft sich Einlass in die Kaserne, weil sie gehört hat, dass es dort Leichen geben soll. Auch wenn sich herausstellt, dass sie hier eine Redewendung allzu wörtlich genommen hat, nimmt man hinter dem leicht grotesken Humor, der schon die Eingangsszene des Romans auszeichnet, eine starke Figurenpersönlichkeit wahr, spürt man die Ernsthaftigkeit des Mädchens, das hartnäckig seinen Plan verfolgt, Körper zu sezieren und in allen Details zu erforschen. In Christine Wunnickes neuem Roman, der in wenigen, dafür umso anschaulicheren Szenen die Lebenswege zweier Frauenfiguren im 18. Jahrhundert nachzeichnet, geht es um die Wissenschaft als Leidenschaft, um Kunst und Berufung, um Glaube und Wissen und Liebe im Angesicht der Vergänglichkeit, um den Wandel der Zeit, um die Verheißung und den Schmerz von Umbrüchen.

Das Mädchen ist Marie Biheron, die als Anatomin und Künstlerin im 18. Jahrhundert wirkte, und sie ist nicht die einzige historische Figur in diesem Roman, die ihrer Leidenschaft folgt und mit Ausdauer, Pragmatismus und Findigkeit Geschlechterrollen aufbricht, die auch im neuen Geiste der Aufklärung, der damals durch Frankreich wehte, nur wenig hinterfragt wurden. Die knapp 20 Jahre früher geborene Madeleine Basseporte, die zweite Hauptfigur, war königliche Pflanzenmalerin im Jardin du Roi und ihre verbürgte Begegnung mit Marie Biheron, deren Zeichenlehrerin sie war, wird im Roman zum Stoff einer Weiterdichtung, die uns auf pointierte, humorvolle Weise und mit einem etwas abseitigem Blick das Porträt einer Zeit großer Veränderungen auf menschlicher Ebene nahebringt.

Im zweiten Kapitel — und von da an durchgehend im Wechsel mit zeitlich weiter zurückreichenden Szenen aus dem Leben ihrer beiden Hauptfiguren –, zeigt die Autorin ihre Figur Marie um Jahrzehnte gealtert, kränklich, arm, seit vier Jahren hat sie sich in ihrer Gartenhütte verschanzt, versorgt von Edmé (eigentlich Aimé), einem kleinen Jungen, vielleicht ein Wechselbalg, vielleicht der leibliche Sohn des verarmten Schusterflickers, der inzwischen mit seiner Familie in dem Haus lebt, das früher Maries berühmtes Wachskabinett beherbergte. Es ist das Jahr 1793, die Revolution bereits Geschichte, Madeleine gestorben, doch die Welt steht noch immer Kopf, wovon sich Marie zuerst über die Zeitungen, die ihr Edmé bringt, ein Bild zu machen versucht, bis sie sich in Begleitung des Jungen, der sie im Leiterwagen hinter sich her zieht, doch nach draußen wagt und sich auf einen Streifzug durch die Straßen von Paris begibt, sich den Löchern, Leichen und dem wie eine sehr realistische Metapher funktionierenden Schatten der Guillotine aussetzt.

Jedes einzelne Kapitel dieses schmalen Romans liest sich wie eine kleine Novelle mit ihrer unerhörten Begebenheit, gleichzeitig gewinnen die Figuren und die Epoche, in der sie leben, mit jedem Kapitel an Dichte. Schon recht zu Anfang des Romans verrät die Autorin in einem eingängigen Bild die philosophische Perspektive, die ihrem Text eine besondere Färbung gibt. Die sichtbar gealterte Marie betrachtet mit ihrem noch immer präzisen Blick einer Wissenschaftlerin, der nichts entgeht und die nichts verschweigt, ihren Körper und mit besonderem Interesse ihre Hand, an deren anatomischen Veränderungen sie die Entstehung und den Lauf eines ganzen Lebens reflektiert. Geschichtsphilosophie als Körperphilosophie, das ermöglicht einen unkonventionellen Blick auf die Geschichte und die Menschen, die sich in ihr bewegt haben, und bringt uns die nur scheinbar fernen Zeiten literarisch sehr nah. So wie die Anatomin auch die unterschiedlichen Reifungsstadien der Körper erforscht, für die sie jeweils eigene Untersuchungsobjekte hat, denen sie sich je nach Interesse widmen kann, wirft auch der Roman seinen Blick auf die verschiedenen Lebensschichten seiner Figuren, nicht chronologisch, sondern von Kapitel zu Kapitel in der Zeit springend.

Während die Persönlichkeiten von Marie und Madeleine bei diesen literaturanatomischen Studien im Zentrum stehen, werden sie immer wieder auf humorvolle und entlarvende Weise mit männlichen Wissenschaftlern, Philosophen und Aufklärern wie Buffon oder Diderot kontrastiert. Madeleine zum Beispiel wird im Jahr 1734 gezeigt, als sie, die ehemalige Schülerin des königlichen Pflanzenmalers Aubriet, voll ausgebildet und talentiert, ihrerseits die Funktion der offiziellen Pflanzenmalerin im Jardin du Roi innehat — jedoch mit Abstrichen, da man dem weiblichen Geschlecht nicht die volle Verantwortung zugesteht. Daher werden alle ihre Zeichnungen, so perfekt sie auch sind, zusätzlich vom Intendanten, dem noch heute berühmten Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, kontrolliert und mit seinem Namen unterzeichnet. Indem Madeleine ihn leicht spöttisch nur Leclerc nennt, wird hier literarisch Rache geübt an der männlichen Berühmtheit, die unter dem Namen Buffon in die Geschichte eingegangen ist. Die emanzipatorische Ausgestaltung der Frauenfiguren zeigt sich auch im mühsam unterdrückten Unmut, den Madeleine verspürt, wenn sie den höheren Töchtern, die zum Zeichenunterricht zu ihr in den Jardin du Roi kommen, beibringen soll, Rosetten und Kränze zu malen, florale Muster statt naturgetreuer Abbildungen, Dekoratives ohne den wissenschaftlichen Anspruch, mit dem sie selbst arbeitet. Unter den Zeichenschülerinnen ist jedoch auch die eigenwillige Apothekerstochter Marie, die sich nicht mit Blümchenmustern abspeisen lässt und einem Kunstverständnis folgt, das auch Madeleines ästhetische Vorstellungen vor den Kopf stößt. Denn Marie seziert während dem Unterricht mit ihrem Pinselstrich die Pflanzen wie Körper, und eines Tages übergibt sie der verehrten Lehrerin eine schockierend getreue Zeichnung zweier innerer Organe, einer Leber und eines Herzens. Es ist der unkonventionelle Beginn einer Liebesbeziehung, die bis zu Madeleines Tod im Jahr 1780 halten wird.

Marie wohnt später eine Zeitlang im selben Haus wie Diderot, und Christine Wunnicke zaubert aus dieser Begegnung der beiden eine witzige geschichtsphilosophische Szene mit Tiefgang. Der etwas drollig geschilderte berühmte Philosoph flüchtet sich in seinem unstillbaren enzyklopädischen Wissensdurst und mehr noch vielleicht, um dem Trubel in der Wohnung seiner Familie für eine Weile zu entgehen, zu der aufgeweckten Wissenschaftlerin und Künstlerin, um bei ihr Anatomie zu lernen und sie um einen Artikel für seine Enzyklopädie anzubetteln. Doch Marie lehnt ab, wohl nicht zum ersten Mal: Solange sie als Frau ihren Text nicht selbst unterzeichnen kann, kommt eine Mitarbeit für sie nicht infrage. Lieber streitet sie mit Diderot über den Titel des Buches, der mehrbändigen Encyclopédie, das er doch besser Vom Irrtum nennen sollte. Auch für die so genannte Chronologische Maschine, die Diderot für einen Freund in Paris zu vermarkten versucht, eine mit Kurbeln bedienbare Maschine, die die ganze Geschichte der Menschheit enthält, hat sie einige Verbesserungsvorschläge grundsätzlicher Art, wie etwa den, auch einen Platz für die noch nicht geschriebene Geschichte der Zukunft zu schaffen. Maries geschichtsphilosophischer Ansatz bringt Komplexität in die schnell aufflammende Begeisterung ihres Freundes Diderot hinein und, ähnlich wie bei ihrer Betrachtung des menschlichen Körpers, auch Individualität und Bewegung.

Diesem hier angedeuteten Programm entsprechend gestaltet die Autorin ihren ganzen Roman, in den Armut, soziale Ungleichheit und auch die besondere Ungleichheit des weiblichen Geschlechts auf individuelle, subtilere Weise Eingang finden. So wird beiläufig, aber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erzählt, dass die Schülerinnen wegen Menstruationsschmerzen nicht zur Zeichenstunde kommen oder dass die Pflanzenmalerin Madeleine sich immer wieder gegen die verniedlichende Bezeichnung der „Blumenmalerin“ wehren muss.

Marie kommt irgendwann auf die Idee, statt der schwer zu beschaffenden Leichen Bossierwachs zu verwenden, um Körper herzustellen, die zwar künstlich sind, doch so lebensecht wirken, dass sich die Anatomie an ihnen gut praktizieren lässt. In dieser Technik verschmelzen Kunst und Wissenschaft miteinander, so wie auf andere Weise auch in der Pflanzenmalerei Madeleines. Künstlich, und doch lebensecht ist auch Christine Wunnickes neuer Roman, der ein Stück Menschheitsgeschichte aus einer anderen Perspektive erzählt, die Themen berührt und Fragen aufwirft, die ihren Strahl bis in die Zukunft unserer Gegenwart verlängert.

Bibliographische Angaben
Christine Wunnicke: Wachs, Berenberg 2025
ISBN: 9783911327039

Bildquelle
Christine Wunnicke, Wachs
© 2025 Berenberg Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderSibilla Aleramo: Eine Frau

Der Titel ist Programm. Una donna, auf deutsch Eine Frau, erstmals 1906 im italienischen Original erschienen, ist Autobiographie, ist Roman, ist vor allem aber ein Exemplum, in dem eine Frau, eine schreibende Frau, von sich und im gleichen Atemzug für andere sprechen will, für die unzähligen anderen Frauen, deren Schicksale unerzählt geblieben sind. Im gesamten Text werden konsequent keine Namen genannt, weder der der Ich-Erzählerin noch die ihrer Familie, und auch nicht die der übrigen Figuren, was umso mehr ins Auge sticht, da das Handlungskonstrukt, das dem Nachwort von Elke Heidenreich zufolge stark autobiographisch beeinflusst ist, sehr romanhafte Züge aufweist. Auch die sehr flüssig lesbare deutsche Neuübersetzung von Ingrid Ickler kann glücklicherweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen Roman handelt, der, gleichwohl schon mit einem Fuß im neuen Jahrhundert, noch dem literarischen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspringt. Den Übergang, die Schwellenzeit kann man auch stilistisch in diesem zugleich so altmodischen und so modernen Text ausmachen, vielleicht, weil er sich auch so fluide zwischen Autobiographie und Fiktion bewegt, Bekenntnis, Analyse und eine emotionale Dramatik in sich vereint und eine Seelenerforschung betreibt, die man noch romantisch nennen mag und die auf jeden Fall einen anderen Charakter hat als die Ich-Analysen der gegenwärtig viel publizierten autofiktionalen Texte.

Zuweilen kommt man sich selbst ein wenig voyeuristisch vor, so atemlos lässt sich dem Spannungsbogen der Erzählung folgen, der ein emotional aufgeladenes Ereignis nach dem anderen bereithält; es geht um Schwangerschaft, um Mutterliebe, um heimliche, um ausgebeutete und um vernachlässigte Liebe, um Liebe, die in Verachtung umschlägt, um versuchte Selbstmorde, um Vergewaltigung. Und darum, wie verbreitet, wie alltäglich diese Dramen sind, wie alltäglich auch der Schmerz, der mitunter ein Leben lang weiterbrennt. Doch wird im Text bei weitem nicht alles auserzählt, vieles wird nur angedeutet, während die Gedankenwelt der Erzählerin einen umso größeren Raum einnimmt, und allmählich auch ihr langsam zu seiner Gestalt findendes literarisches und emanzipatorisches Vorhaben, die eigene Geschichte aufzuschreiben.

Wissbegierig, lernwillig, neugierig ist die Erzählerin schon als Kind, zum Vater, einem Naturwissenschaftler, der gerne mit seiner aufgeweckten Tochter philosophische Spaziergänge unternimmt, hat sie eine enge intellektuelle Beziehung, sie bewundert ihn, während sie ihrer Mutter gegenüber, die außer ihr noch drei weitere Kinder großzieht, Distanz und allmählich auch eine leise Verachtung verspürt. Erst später begreift die Erzählerin, wie unglücklich ihre Mutter in ihrer Ehe war, in der sie ihre Neigungen, etwa zur Literatur, zur Lyrik, nicht wertgeschätzt sah, ja unterdrücken musste, und in der ihre selbstverständliche Unterordnung und absolute Abhängigkeit mit einer zunehmenden Geringschätzung und schließlich dem völligen Gestaltverlust ihrer Person einherging. Nach dem Umzug der Familie von Mailand ins sehr traditionelle Süditalien, wo sich der Vater als Fabrikdirektor beruflich neu orientieren kann, wird die Depression der Mutter auch nach außen hin sichtbar. In der speziellen Schichtung der ländlich geprägten süditalienischen Gesellschaftsstrukturen bleibt die Familie ein Fremdkörper, die Macht des Vaters über die einheimischen Fabrikarbeiter trägt ihm nicht gerade Sympathien ein, die Erzählerin muss mangels lokaler Infrastruktur ihre Schulbildung abbrechen, der Mutter gelingt es immer weniger, sich um ihre Kinder zu kümmern und auch der Vater wendet sich stillschweigend mehr und mehr von der Familie ab, verbringt seine Zeit in der Fabrik und bei seiner Geliebten. Die Mutter erleidet einen Zusammenbruch und wird schließlich aus dem instabilen Familiengefüge herausgelöst und in klinische Verwahrung gegeben.

Die sich lange Zeit hinter einer Fassade von Alltäglichkeit abspielende Familiengeschichte ist auch deshalb so wichtig für die Erzählung, da die zentrale Erkenntnis des Textes darin besteht, dass weibliche Unfreiheit und patriarchale Denkmuster immer wieder von neuem vererbt werden. Gerade mit dem existentiell erlebten Eintritt ins Muttersein entstehen die Würde der Frau antastende emotionale Zwänge, die sich als Verantwortung tarnen beziehungsweise oft kaum von Verantwortung zu unterscheiden sind. Und so widerfährt der Erzählerin, die doch als Kind und als Jugendliche so selbstbewusst und dem Leben zugewandt ist, die beginnt, ihr Denken in großer Freiheit zu entfalten, ein ganz ähnliches Schicksal wie ihrer Mutter. Sie heiratet jung, mit gerade einmal 17 Jahren, einen Angestellten in der Fabrik ihres Vaters, den sie nicht liebt und der auch sie nicht wirklich liebt, sondern eher als Objekt des Begehrens und Besitzens betrachtet. Was im Ehebett, und schon zuvor, körperlich zwischen ihnen passiert, ist von sexuellem Einverständnis oder gar sexueller Erfüllung weit entfernt. Als die Erzählerin einen Sohn bekommt, fühlt sie sich durch die Mutterliebe verwandelt, jedoch verstärkt diese zugleich ihre Unfreiheit als Ehefrau. Die Eifersucht ihres Mannes und wohl auch seine Angst vor der intellektuellen Überlegenheit seiner Frau werden zum Gefängnis für die Erzählerin, die das Haus nicht mehr ohne ihren Mann verlassen darf, der schließlich sogar das Briefpapier abzählt, mit dem sie in Kontakt zur großstädtischen, fortschrittlicheren Außenwelt der Schriftsteller und Intellektuellen tritt. Aus beruflicher Not zieht die kleine Familie nach Rom, wo die Erzählerin journalistisch tätig werden und einen neuen Freundeskreis aufbauen kann. Die ersehnte Unabhängigkeit erfüllt sich ihr aber nicht, da ihr Ehegefängnis in Rom weiterbesteht; ihr Mann übt auch dort weiter Kontrolle aus und zwingt sie schließlich, zurück nach Süditalien zu gehen. Schließlich gelingt es ihr, zu einem eigentlich unbezahlbaren Preis, der rückständigen Welt den Rücken zu kehren; als sie Mann und Kind verlässt, ist sie 25 Jahre alt.

Die Autorin selbst hat ihren Mann und ihren Sohn 1902 verlassen, lange vergeblich um das Kind gekämpft und dann 1906 ihr Buch veröffentlicht, in dem sie den langen Weg ihrer Entscheidung für die Freiheit erzählt. Sie wurde über 80 Jahre alt und führte ein umtriebiges und engagiertes Leben als Journalistin, Sozialarbeiterin, Dichterin, Liebende, ihren Sohn aber konnte sie erst viele Jahre nach ihrem Fortgang wiedersehen.

Auch wenn ihr Buch Eine Frau ein eindrückliches literarisches Zeugnis der frühen Frauenbewegung ist und, wie Elke Heidenreich im Nachwort schreibt, auch in den 1970er Jahren schon einmal ins Deutsche übersetzt wurde, stieß es bisher in Deutschland auf erstaunlich wenig Resonanz. Das Leben und das Schreiben dieser Schriftstellerin, ihre innere und äußere Revolte gegen die (süd)italienischen patriarchalen, traditionellen Strukturen schienen nach außen hin wohl zu weit von der Lebenswelt der deutschen Frauenbewegung entfernt. Zugegeben, sprachlich mag uns der Text, wenn er auch sehr gut lesbar, ja verschlingbar ist, heute stellenweise fremd erscheinen, in seiner eigenwilligen Mischung aus Pathos und Klarheit, aus Nachdenklichkeit und schockierender Direktheit. Immer wieder tauchen auch Gedankengänge auf, die etwas abrupt wieder abgebrochen werden, um die Handlung weiterzutreiben; vor allem die mystischen Passagen und die andeutungsreiche Begegnung der Erzählerin in Rom mit dem von ihr so genannten „Propheten“ können einen irritieren. Das verhindert aber keinesfalls, dass man beim Lesen ihrer sonst sehr konzisen, überlegten Sprache immer wieder ins Stutzen gerät, so nahe kommt sie einem mit ihren Gedanken und Gefühlen; immer wieder blitzen Sätze auf, die eine Frau heute genauso hätte ausdrücken können, und die vielen wunden Punkte, die sie schreibend berührt und offenlegt, die Gewissenserforschung und emotionalen Zwickmühlen, die sie beschreibt, erscheinen alles andere als verstaubt. Wenn sie etwa die Frage stellt, warum Muttersein so selbstverständlich mit Aufopferung gleichgesetzt wird, wie man als Mutter auch eine Frau bleiben kann, ja muss, für sich selbst, aber auch im Sinne eines ganzheitlicheren Daseinsverständnisses, eines anders gedachten Verständnisses von Verantwortung, das die Verwirklichung der eigenen Stärken und Vorlieben als etwas betrachtet, das man dem Leben schuldig ist, gerade auch für die Kinder, denen die Mutter ja ein Vorbild, ein Beispiel sein will. Die Erzählerin lotet ihr Gewissen, aber auch die gesellschaftlichen Ursachen für geschlechtsbezogene und soziale Ungerechtigkeiten genauestens aus; ihr gesamter Text ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die eigene Verantwortung besteht, sich selbst und den anderen gegenüber. Ist eine Mutter, die bleibt, aber unterdrückt und unaufrichtig lebt, gegen die Werte, die sie eigentlich an ihr Kind weitergeben will, einer Mutter vorzuziehen, die geht, um ihre Würde zu bewahren und Erniedrigung, Einengung, vielleicht sogar der Gewalt zu entgehen? Dafür, dass künftige Generationen von Frauen nicht mehr vor ein solches Dilemma gestellt werden, schreibt Sibilla Aleramo ihre Geschichte auf, deshalb fasst sie selbst eine unkonventionelle, mutige und schmerzhafte Entscheidung, um für die Emanzipation zu kämpfen, nicht nur übrigens für die Emanzipation der Frauen, sondern auch der benachteiligten sozialen Bevölkerungsteile Italiens; ihre Sympathie für die Arbeiterbewegung, ihr Blick auf die Armut, die Enge, das Leid der unteren Schichten geht schon aus ihrem ersten Buch deutlich hervor. Allein, um sich diesen solidarischen Impetus der Emanzipation ins Gedächtnis zu rufen, lohnt es sich, in der Lektüre von Eine Frau den Bewusstwerdungsprozess dieser zu Unrecht kaum bekannten italienischen Schriftstellerin mit- und nachzuvollziehen.

Bibliographische Angaben
Sibilla Aleramo: Eine Frau, Eisele 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich.
ISBN: 9783961611850

Bildquelle
Sibilla Aleramo, Eine Frau
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderOyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins

Auf den ersten Blick scheint es irritierend, dass eine Geschichte, die als feministische Emanzipationserzählung gefeiert wird, durchgehend aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird, der es sich in den Privilegien, die einem attraktiven jungen Lebemann in der Gesellschaft zufallen, bequem eingerichtet hat — auf (die auch emotionalen) Kosten der jeweiligen Geliebten, die der männlichen Unverbindlichkeit und Verantwortungslosigkeit erwachsen.

Dieser keinesfalls unsympathische junge Mann und Ich-Erzähler strandet, von seiner aktuellen Freundin aus der komfortablen Wohnung geworfen, während der Corona-Ausgangssperren im Haus seiner Tante, deren Mann gerade an Corona gestorben ist und die vor kurzem ein Baby auf die Welt gebracht hat. In ihrem Haus trifft er zu seiner Bestürzung aber nicht nur auf Tante und Baby, sondern auch auf eine junge Frau, die nicht nur die Geliebte seines Onkels, sondern auch eine seiner eigenen zahlreichen Eroberungen gewesen ist. Während die zwei Frauen, die das Baby mit erbitterter Kampfbereitschaft jeweils für sich beanspruchen, aus dem Blick des Erzählers wie Furien erscheinen, macht der männliche Erzähler, ohne sich dessen selbst so richtig bewusst zu werden, eine Verwandlung durch, wechselt Windeln, verzichtet auf Schlaf und übernimmt auf einmal Verantwortung für das kleine schutzlose Baby.

Der sehr kurze, sehr locker und schwarzhumorig erzählte Text erinnert allerdings eher an eine Novelle, auf keinen Fall ist er ein Roman, wie es der Klappentext verkündet. Es wird keine Lebensgeschichte erzählt, sondern eine unerhörte Begebenheit, die sich während des Lockdowns im nigerianischen Lagos ereignet, die aber im Grunde überall auf der Welt so ähnlich verlaufen könnte und die nicht ganz zeitlosen, aber auf jeden Fall exemplarischen Charakter hat.

Vor allem darf man die Erzählung nicht wortwörtlich nehmen, sie ist überspitzt, von abgründigem Witz und, getarnt durch die Perspektive des männlichen Erzählers, nur sehr subtil entlarvend. Dass man den Ich-Erzähler so vernünftig findet, so väterlich verantwortungsvoll, und die beiden Frauen hysterisch, verbittert, verantwortungslos, dass all das, was die beiden Frauen schon durchgemacht haben, ein von Corona hinweggeraffter Ehemann, ein nach der Geburt gestorbenes Baby, ein Geliebter, der gerade in dem Moment stirbt, wenn das Baby unterwegs ist, ein anderer Geliebter, der sich von vornherein aus der Verantwortung stiehlt, an den Rand der Erzählung gerückt wird, während das Aussehen der Frauen, ihr etwas verwahrlostes Erscheinungsbild, ihre sinnlichen Reize, ihre einschüchternde Mütterlichkeit, intensiv kommentiert werden, so dass man kaum umhin kann, aus dem Optischen Rückschlüsse auf die moralische Integrität zu ziehen — all das gehört ja mit zu den geschlechterstereotypischen Bildern, die man sich von der männlichen und der weiblichen Rolle macht.

Die für den männlichen Blick, den man als Leser zu übernehmen verführt ist, völlig überraschende Solidarität zweier Frauen, die sich doch bis aufs Blut anzufeinden scheinen, bringt den feministischen Subtext der Erzählung ans Licht, in der keine salomonische Vaterfigur ein weises allgültiges Urteil spricht, aber in der ein Mann entgegen jeder gesellschaftlichen Erwartung mit immer größerer Selbstverständlichkeit einen Teil der Sorgearbeit übernimmt.

Bibliographische Angaben
Oyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins, Blumenbar 2021
Aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer
ISBN: 9783351050894

Bildquelle
Oyinkan Braithwaite, Das Baby ist meins
© 2024, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderStacey Halls: Die Verlorenen

Eine ganz bezaubernde, das Herz wärmende Geschichte, deren Figuren mit viel Empathie und psychologischer Präzision gezeichnet sind, so dass man sie beim Lesen wunderbar lebendig vor Augen hat. Man bangt und hofft mit ihnen, jammert und schaudert zwischendurch auch mal, ehe man kathartisch erlöst und immer noch ein wenig atemlos die letzten Seiten erreicht.

Schon die erste Szene ist erschütternd. Hier lernen wir die eine der beiden Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen des Romans kennen: Bess Bright, eine kaum erwachsene junge Frau, die zusammen mit ihrem Vater auf dem Markt Krabben verkauft, um das tägliche Brot der Familie mehr schlecht als recht zu verdienen, und sich nun gezwungen sieht, ihr Neugeborenes in einem Findlingsheim abzugeben; wie die vielen anderen mittellosen, unverheirateten, verzweifelten Frauen um sie herum ist sie dem Los ausgeliefert, das bestimmt, welche der Kinder in der Obhut des Foundling Hospitals bleiben dürfen, einem Los, dessen als einziger Ausweg aus der materiellen Not herbeigesehntes Ergebnis der Sehnsucht ihrer noch keinen Tag alten Muttergefühle zutiefst widerspricht. Und so ist Bess auch fest entschlossen, ihr Kind zurückzuholen, sobald sie sich irgendwie in der Lage sieht, für es zu sorgen. Doch als sie ein paar Jahre später genug auf die Seite gelegt zu haben meint, um ihre Tochter auszulösen, ist das kleine Mädchen nicht mehr da. Jemand anderes hat es, so erfährt sie, nur einen Tag, nachdem sie es damals abgegeben hatte, unter ihrem Namen zu sich geholt.

Wie sich Bess nun mutig und erfinderisch auf die Suche nach ihrer Tochter begibt, wo und unter welchen Umständen sie sie ausfindig macht und welche Hindernisse sie noch überwinden, welche Abenteuer sie noch durchstehen muss, ehe Mutter und Tochter endlich in Sicherheit zusammenkommen, und welche Rolle die ganz von der Umwelt abgeschottete, allerdings deutlich besser betuchte Alexandra, die zweite Mutter und zweite Ich-Erzählerin, dabei spielt, erzählt die Autorin dramaturgisch überzeugend und fesselnd, mit viel Gespür für die kleinsten emotionalen Regungen und Gewissenskonflikte ihrer Figuren. So ist der Roman ein mitreißendes und gefühlvolles Psycho- und Sozialdrama, zum Glück jedoch ohne in melodramatisches Pathos abzugleiten, was auch daran liegt, dass die Sprache zwar eingängig ist, aber auf Floskeln verzichtet.

Ebenso werden hier einerseits auf ganz unterschiedliche Weise starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt gerückt, die aus verschiedenen Gründen am Rand der Gesellschaft stehen und gegen viele Widerstände ankämpfen müssen und die andererseits doch keine anachronistisch wirkenden self-empowerten Superheldinnen sind, sondern mit ihren Ecken und Kanten, ihren Eigenheiten und auch mit ihren düsteren Seiten Geschöpfe ihrer Zeit und ihres Milieus sind: eben die titelgebenden „Verlorenen“, womit nicht nur die Waisenkinder des übrigens historisch verbürgten Londoner Foundling Hospitals gemeint sind. Trotz des unterschwellig mitschwingenden Befreiungsmotivs bleibt die jeweilige soziale Verankerung prägend, und trotz ihrer Courage ist auch Bess auf Unterstützung und Solidarität angewiesen, im emotionalen und materiellen Sinne, die sie, mitunter von überraschender Seite, auch immer wieder erfährt.

Somit kommt man hier nicht nur in den Genuss einer sehr kurzweiligen empfindsamen Abenteuergeschichte, sondern auch in den eines historischen Romans, der einen realistischen und glaubhaften Einblick auch und vor allem in die unteren Bevölkerungsschichten im städtischen London des 18. Jahrhunderts gibt: in die harten nächtlichen Arbeitszeiten eines Fackelträgers, der so viel lieber auf dem Land Gemüse anbauen würde, zum Beispiel, oder in die körperlich herausfordernde Arbeit auf dem Markt, die in Gestalt der Krabbenverkäuferin Bess oder auch ihrer schwarzen Freundin Keziah, die Second-Hand-Kleidung verkauft, lebensnah geschildert wird.

Eine spannende Kombination von Charles Dickens mit der biblischen Geschichte vom salomonischen Urteil und ein berührendes Schmökererlebnis für spätwinterliche Stunden auf der vor Wind und Regen und den materiellen Nöten des 18. Jahrhunderts so wohltuend geschützten Couch…

Bibliographische Angaben
Stacey Halls: Die Verlorenen, Piper (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele
ISBN: 9783866124950

Bildquelle
Stacey Halls, Die Verlorenen
© 2021 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderEva Illouz: Warum Liebe endet — Eine Soziologie negativer Beziehungen

Eigentlich wollte ich ja unbedingt den gerade auch im deutschen Buchhandel erschienenen Roman Faux départ (dt. Fehlstart) der jungen französischen Autorin Marion Messina lesen, um die als neuer, weiblicher Houellebecq viel Wirbel gemacht wird. Doch dann kam mir die Soziologin Eva Illouz dazwischen, deren spannende Thesen seit einiger Zeit immer wieder auftauchen — und ich bin neugierig geworden. Vor allem, weil ihre genauen Beobachtungen über die verwandelten sexuellen und romantischen Beziehungsmuster in unserer vernetzten Gesellschaft ein ziemlich gutes Hintergrundpanorama für eine Lektüre von Faux départ darstellen könnten.

Eva Illouz, die schon in einigen richtungsweisenden Publikationen die Veränderung der romantischen Beziehungen im Kontext von Kapitalismus, Massenmedien und Konsumgesellschaft analysiert hat, setzt sich in Warum Liebe endet mit der Kehrseite der sexuellen Freiheit auseinander, untersucht das als marktlogische Konsequenz der gestiegenen Wahlfreiheit entstandene Spannungsverhältnis von Autonomie und Bindung und deckt mit scharfem Blick tradierte und neue Machtstrukturen auf, die die allseits postulierte Autonomie des modernen Menschen unterlaufen und eine tiefe emotionale Unsicherheit hervorrufen.

Die Argumentation des Textes ist dabei explizit soziologisch: Die Autorin, Professorin für Soziologie in Jerusalem und Paris, betont diesen auf die Gesamtgesellschaft gerichteten Blickwinkel und hält ihn für eine notwendige Ergänzung der psychologischen Disziplin, zumal sie deren therapeutische Herangehensweise an das emotional verunsicherte Selbst in der Moderne als dem vom Kapitalismus nicht zu trennenden Autonomiestreben inhärente und damit systemimmanente Methodik betrachtet; und schon gar nicht will sie das Feld den Optimierungs- und Lifestyle-Ratgebern überlassen, selbst Ausdruck einer technisierten Konsumlogik, die diese eher verschleiern als aufarbeiten. Eine soziologisch motivierte Analyse der Liebesbeziehungen kann im Gegensatz dazu und über Einzelfälle hinaus Aufschluss geben über das Wesen sozialer Interaktion in unserer heutigen Gesellschaft.

Aus dieser Perspektive beschreibt Eva Illouz auf absolut überzeugende, nachvollziehbare, kritische, aber keinesfalls moralisierende Weise, wie die zunehmende Sexualisierung und Technologisierung die Struktur der Beziehungen und Nicht-Beziehungen (also der scheiternden oder vermiedenen oder einseitigen oder unklaren „Beziehungen“) tiefgreifend verändern, wie die Kategorie der sozialen Klasse durch den allgemeinen und vor allem auf visuellem Feld ausgetragenen kapitalistischen Wettbewerb ersetzt worden ist („skopischer Kapitalismus“), wie die Inszenierung von „Sexyness“ Liebende in Konsumenten verwandelt, wie Wahlfreiheit und Überangebot zu unterschwelliger Machtausübung und Unverbindlichkeit führen und wie dadurch letztlich eine ontologische Ungewissheit entsteht (das Ich fühlt sich in seiner Autonomie bedroht und ist sich selbst der eigenen Gefühle und Wünsche nicht mehr sicher), die ihrerseits instabile Beziehungen begünstigt.

Für ihre wahrlich komplexe Analyse, die sich jeder Simplifizierung und voreiliger Schlüsse enthält und dennoch erstaunlich flüssig zu lesen ist, zieht die Autorin soziologische, psychologische, philosophische, aber auch wirtschaftliche Forschungsliteratur ebenso heran wie Filme, Werke der Literaturgeschichte von Trollope bis Houellebecq und technologische Anwendungen und Phänomene (Tinder, Sexting). Ein plastisches, realitätsbezogenes, differenziertes Bild heutiger (Nicht-)Beziehungen entsteht auch durch die Integration zahlreicher aufschlussreicher und vielfältiger Interviews mit Männern und Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sexueller Ausrichtung über ihre Erfahrungen und Einstellungen sexueller und emotionaler Art. Diese Kombination von konkreten, aus dem Leben gegriffenen Beispielen und der Herausarbeitung überindividueller Strukturen gesellschaftlicher Interaktion sorgt für einen großen Erkenntnisgewinn. So gelingt es der Autorin, Widersprüchliches in unseren Gefühlen und Beziehungen aufzudecken, unsichtbare Kräfte und verdeckte Asymmetrien (insbesondere in Bezug auf die Geschlechterrollen) in unserer scheinbar emanzipierten Gesellschaft zu entlarven.

Ein absolut lesenswertes Buch, das in klarer Sprache formuliert, was man so oder so ähnlich vielleicht unbewusst auch schon empfunden, aber selten so umfassend, hellsichtig und nuanciert gelesen hat.

Eva Illouz: Warum Liebe endet — Eine Soziologie negativer Beziehungen, Suhrkamp (2018)
Aus dem Englischen von Michael Adrian
ISBN: 9783518587232

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