Wie in ihrem letzten Roman Brüder (vgl. Rezension vom 29.7.2020) verpackt Jackie Thomae auch in ihrem neuen Roman ein gesellschaftliches Thema in eine eher szenenhaft sich entwickelnde Geschichte, die einen sehr nah an ihre Figuren heranführt, deren anschauliche Ausgestaltung eindeutig im Vordergrund steht. Ging es im Vorgängerroman, ausgehend von den Biographien zweier Halbbrüder, um den Themenkomplex Herkunft, Ostdeutschland, Migrationshintergrund, Auswanderung, kreist in Glück alles ums Frausein, das gesellschaftlich noch immer zahllose alte und neue Konfliktfelder bereithält. Es geht um Frauenkörper, Mutterschaft, Rollenbilder, um all die mit dem Frausein im 21. Jahrhundert verbundenen, individuellen wie systemischen Erwartungen, Ansprüche, Ängste und Sehnsüchte.
Zum Glück bleibt dieses sicher ambitionierte erzählerische Unterfangen nicht im Schablonenhaften stecken, was bei einem solchen Stoff und den vielen im Roman aufgeworfenen Thesen und Gegenthesen ja leicht passieren könnte. Differenziertheit erlangt die Autorin hier vor allem durch ihr Erzählen mittels Perspektivwechseln. Stück für Stück setzt sich so eine keineswegs Vollständigkeit beanspruchende gesellschaftliche Wirklichkeit zusammen, die über die für sich jeweils berechtigte, nachvollziehbare, aber einseitige Wahrnehmung jeder ihrer einzelnen Figuren hinausreicht. Ausgehend von den beiden, man muss es hervorheben, beruflich erfolgreichen und gut aussehenden Protagonistinnen, der Radiomoderatorin Marie-Claire und der frisch gewählten Bildungssenatorin Anahita, beide Ende 30 (im ersten Teil) und Anfang 40 (im zweiten) und beide mit unerfülltem Kinderwunsch, rückt die Geschichte nach und nach die Leben weiterer Frauen aus dem familiären und sozialen Umfeld der beiden ins Licht der Handlung, und gibt damit auch sehr unterschiedlichen weiblichen Biographien Raum. Denn Marie-Claire und Anahita, die sich zu Beginn der Erzählung bei der Aufzeichnung eines Podcastinterviews treffen — die bekannte Radiofrau führt ein Gespräch mit der aufstrebenden Politikerin und stellt ihr, entgegen der eigenen Gesprächsetikette, die pikante Frage nach ihrer bisher ausgebliebenen Mutterschaft –, bewegen sich ansonsten in eher entfernten sozialen Milieus: Marie-Claire ist aus der fränkischen Provinz in die Großstadt gezogen und hat dort Karriere gemacht, Anahita muss mit ihrer migrantischen Herkunft, ungeachtet des Bildungsniveaus ihrer Eltern, immer wieder als Vorzeigefrau für einen hierzulande machbaren sozialen Aufstieg herhalten. Indem auch Freundinnen, Familienmitglieder und sogar die gemeinsame Frauenärztin selbst zu personalen Erzählerstimmen werden, verschiebt sich der Blick auf die Figuren mit jeder weiteren Stimme, wird korrigiert, verändert sich. Der personale Erzählreigen hat zur Folge, dass alle Figuren mit Voranschreiten der Erzählung an Vielschichtigkeit und auch an Sympathie gewinnen, man kommt ihren Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelten sehr nahe. Wenn aus der einen Perspektive etwa ein eher abschätziger erster Blick von außen auf eine andere Figur geworfen wurde, so zeichnet der nachgereichte Blick von innen ein anderes, ergänztes Bild. Und auch das Verhalten der Protagonistinnen erscheint im Spiegel der Außenperspektiven der anderen Figuren auf sehr erfrischende Art noch einmal in einem anderen Licht.
Was den zentralen inneren Konflikt der Hauptfiguren betrifft, ihren Kinderwunsch, so nimmt im Laufe der Geschichte auch hier die Nuanciertheit zu. Einerseits zeichnet sich auf der Handlungsebene eine überindividuelle Lösung ab, nämlich die (noch in den Bereich der Fiktion gehörende) Entwicklung einer neuen Pille für Frauen vor der Menopause, mit der Eizellen im Körper für einen späteren Zeitpunkt konserviert werden können. Andererseits deutet sich an, dass eine solche Pille in der Geschichte zwar eine Art poetische Geschlechtergerechtigkeit herzustellen verspricht, aber als Allheilmittel für die individuellen Biographien der Figuren kaum infrage kommt. Anahita und Marie-Claire werden sich bewusst, dass zwischen einem persönlichen und einem sozial erwarteten Kinderwunsch, so eng der Zusammenhang ist, ein Unterschied besteht. Und jenseits einer Pille, die man nicht losgelöst von der Logik des Marktes, des Profits und der sozialen Ungleichheit betrachten kann, ist, so die vielleicht nicht gerade originelle, aber in ihrer Einfachheit auch angenehm erdende Grundaussage von Glück, die Antwort auf die Frage, welcher Lebensweg mit Glück verbunden ist, letztlich die nicht planbare, immer wieder Überraschungen bereit haltende (Lebens-) Aufgabe eines jeden Einzelnen.
Bibliographische Angaben
Jackie Thomae: Glück, Claassen 2024
ISBN: 9783546100465
Bildquelle
Jackie Thomae, Glück
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