bookmark_borderJackie Thomae: Glück

Wie in ihrem letzten Roman Brüder (vgl. Rezension vom 29.7.2020) verpackt Jackie Thomae auch in ihrem neuen Roman ein gesellschaftliches Thema in eine eher szenenhaft sich entwickelnde Geschichte, die einen sehr nah an ihre Figuren heranführt, deren anschauliche Ausgestaltung eindeutig im Vordergrund steht. Ging es im Vorgängerroman, ausgehend von den Biographien zweier Halbbrüder, um den Themenkomplex Herkunft, Ostdeutschland, Migrationshintergrund, Auswanderung, kreist in Glück alles ums Frausein, das gesellschaftlich noch immer zahllose alte und neue Konfliktfelder bereithält. Es geht um Frauenkörper, Mutterschaft, Rollenbilder, um all die mit dem Frausein im 21. Jahrhundert verbundenen, individuellen wie systemischen Erwartungen, Ansprüche, Ängste und Sehnsüchte.

Zum Glück bleibt dieses sicher ambitionierte erzählerische Unterfangen nicht im Schablonenhaften stecken, was bei einem solchen Stoff und den vielen im Roman aufgeworfenen Thesen und Gegenthesen ja leicht passieren könnte. Differenziertheit erlangt die Autorin hier vor allem durch ihr Erzählen mittels Perspektivwechseln. Stück für Stück setzt sich so eine keineswegs Vollständigkeit beanspruchende gesellschaftliche Wirklichkeit zusammen, die über die für sich jeweils berechtigte, nachvollziehbare, aber einseitige Wahrnehmung jeder ihrer einzelnen Figuren hinausreicht. Ausgehend von den beiden, man muss es hervorheben, beruflich erfolgreichen und gut aussehenden Protagonistinnen, der Radiomoderatorin Marie-Claire und der frisch gewählten Bildungssenatorin Anahita, beide Ende 30 (im ersten Teil) und Anfang 40 (im zweiten) und beide mit unerfülltem Kinderwunsch, rückt die Geschichte nach und nach die Leben weiterer Frauen aus dem familiären und sozialen Umfeld der beiden ins Licht der Handlung, und gibt damit auch sehr unterschiedlichen weiblichen Biographien Raum. Denn Marie-Claire und Anahita, die sich zu Beginn der Erzählung bei der Aufzeichnung eines Podcastinterviews treffen — die bekannte Radiofrau führt ein Gespräch mit der aufstrebenden Politikerin und stellt ihr, entgegen der eigenen Gesprächsetikette, die pikante Frage nach ihrer bisher ausgebliebenen Mutterschaft –, bewegen sich ansonsten in eher entfernten sozialen Milieus: Marie-Claire ist aus der fränkischen Provinz in die Großstadt gezogen und hat dort Karriere gemacht, Anahita muss mit ihrer migrantischen Herkunft, ungeachtet des Bildungsniveaus ihrer Eltern, immer wieder als Vorzeigefrau für einen hierzulande machbaren sozialen Aufstieg herhalten. Indem auch Freundinnen, Familienmitglieder und sogar die gemeinsame Frauenärztin selbst zu personalen Erzählerstimmen werden, verschiebt sich der Blick auf die Figuren mit jeder weiteren Stimme, wird korrigiert, verändert sich. Der personale Erzählreigen hat zur Folge, dass alle Figuren mit Voranschreiten der Erzählung an Vielschichtigkeit und auch an Sympathie gewinnen, man kommt ihren Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelten sehr nahe. Wenn aus der einen Perspektive etwa ein eher abschätziger erster Blick von außen auf eine andere Figur geworfen wurde, so zeichnet der nachgereichte Blick von innen ein anderes, ergänztes Bild. Und auch das Verhalten der Protagonistinnen erscheint im Spiegel der Außenperspektiven der anderen Figuren auf sehr erfrischende Art noch einmal in einem anderen Licht.

Was den zentralen inneren Konflikt der Hauptfiguren betrifft, ihren Kinderwunsch, so nimmt im Laufe der Geschichte auch hier die Nuanciertheit zu. Einerseits zeichnet sich auf der Handlungsebene eine überindividuelle Lösung ab, nämlich die (noch in den Bereich der Fiktion gehörende) Entwicklung einer neuen Pille für Frauen vor der Menopause, mit der Eizellen im Körper für einen späteren Zeitpunkt konserviert werden können. Andererseits deutet sich an, dass eine solche Pille in der Geschichte zwar eine Art poetische Geschlechtergerechtigkeit herzustellen verspricht, aber als Allheilmittel für die individuellen Biographien der Figuren kaum infrage kommt. Anahita und Marie-Claire werden sich bewusst, dass zwischen einem persönlichen und einem sozial erwarteten Kinderwunsch, so eng der Zusammenhang ist, ein Unterschied besteht. Und jenseits einer Pille, die man nicht losgelöst von der Logik des Marktes, des Profits und der sozialen Ungleichheit betrachten kann, ist, so die vielleicht nicht gerade originelle, aber in ihrer Einfachheit auch angenehm erdende Grundaussage von Glück, die Antwort auf die Frage, welcher Lebensweg mit Glück verbunden ist, letztlich die nicht planbare, immer wieder Überraschungen bereit haltende (Lebens-) Aufgabe eines jeden Einzelnen.

Bibliographische Angaben
Jackie Thomae: Glück, Claassen 2024
ISBN: 9783546100465

Bildquelle
Jackie Thomae, Glück
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderJens Steiner: Die Ränder der Welt

Jens Steiner, der in Ameisen unterm Brennglas (vgl. Rezension vom 15.10.2020) die Schweizer Gesellschaft detail- und spielfreudig mit einer Fülle an eigenwilligen Charakteren seziert hat, bewegt sich in seinem neuen, ähnlich verrückten, aber eine Spur melancholischeren Roman weit über die Ränder der Schweiz hinaus, bis nach Patagonien im Süden und bis nach Grönland im Norden. Und er führt seine Hauptfigur, Kristian, einen Schweizer mit estnischen Wurzeln, durch ein wildbewegtes Leben, das ihn auch in symbolischerem Sinne die Ränder des Daseins streifen lässt und an Grenzen führt, die schmerzhaft sind, aber doch immer wieder Neuanfänge aufscheinen lassen.

Zu Beginn der Erzählung befindet sich der mittelalte Ich-Erzähler Kristian auf dem Weg nach Christiansø, eine kleine dänische Insel inmitten der Ostsee. Es ist eine Reise, die er mit vielen Vorbehalten angetreten hat, nachdem er einen etwas merkwürdigen Brief seines Lebensfreundes und -feindes Mikkel erhalten hatte, der ihn nach Jahren des Schweigens und der Trennung wiedersehen will. Tatsächlich wird die Reise zum Auslöser für ausufernde Erinnerungen, die den Ich-Erzähler sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal neu erleben und rekapitulieren lassen. Dieser Rückblick auf ein halbes Leben, das die Geschichte des Buches wird, ist, so überschäumend-lebendig viele der vergangenen Erlebnisse geschildert werden, zugleich von einer großen Melancholie getragen, die nicht allein der psychischen Verfasstheit des Erzählers entspringt, sondern eine Art Grundton dieses Buches ist, das nicht nur die Geschichte einzelner Figuren erzählt, sondern auch das Porträt einer ganzen Zeit malt, von den 1950ern bis heute.

Die erste Erinnerung führt zurück ins Basel der 1950er Jahre, wo Kristian als Sohn estnischer Einwanderer eher zurückgezogen und im dunklen Bewusstsein eines Fremdseins in der Welt aufwächst. Sein überzähliger Finger an der einen Hand macht ihn in den Blicken der anderen zu einem Außenseiter. Kein Wunder, dass es etwas in ihm auslöst, als Mikkel, dessen dänische Familie ebenfalls eingewandert ist, Interesse an ihm bekundet. Die beiden werden Freunde und werden es viele Jahre, ja vielleicht ein Leben lang sein, doch ist es eine bewegte, eine unstete Freundschaft, die Kristian immer wieder aus der Bahn zu werfen droht, ihn mit Enttäuschung und sogar Verrat konfrontiert. Mikkel erscheint als ein höchst unzuverlässiger Charakter, mit dem eine große Nähe möglich ist, der aber immer wieder ganz plötzlich, ohne Vorankündigung und von heute auf morgen, verschwindet, den Kontakt abbricht, um Monate später, als wäre nichts gewesen, wieder aufzutauchen. In der Schilderung dieser Freundschaft entsteht der Eindruck, als wäre die eigentliche Liebesgeschichte des Romans nicht die, die sich um die so extravagante wie zerbrechliche Grönländerin Selma dreht, die große Liebe Kristians, die er heiratet und wieder verliert (die er an Mikkel, seinen besten Freund, verliert!), sondern die nicht erotisch, aber hoch emotional erlebte Geschichte des sich Anziehens und Abstoßens der beiden Freunde Kristian und Mikkel.

Auf subtile Weise lässt die Erzählung ahnen, dass der untreue Freund vielleicht nicht die ganze Verantwortung für die Instabilität ihrer Freundschaft trägt, dass die unbestimmte Verlorenheit in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Ich-Erzähler verspürt, von anderswo kommt, vielleicht sogar weiter zurückreicht als sein eigenes Leben, dass sie, wie der überzählige Finger, auch Teil eines familiären, ja eines gesellschaftlichen Erbes sind. Symptomatisch sind das irgendwo in seinem Innern entstehende Summen, das den Ich-Erzähler schon als kleines Kind umgibt, auch ein Schwanken und Fallen, das ihn in Momenten der Verlorenheit immer wieder ganz physisch überwältigt — und das er übrigens mit einer anderen Figur, nämlich mit Selma, teilt, bei der uneindeutig bleibt, ob das Fallen als Manifestation einer Psychose oder als Sich-Aufbäumen der Freiheit gelesen werden muss.

In diesen Momenten des Fallens jedenfalls verschmelzen für die Figuren Außen- und Innenwelt, sie gelangen an die Ränder ihrer Wahrnehmung, und diese Grenzerfahrung erlebt man an manchen Stellen auch beim Lesen. Im Erzählen werden die Ränder der Welt der Fiktion aufgespürt, es wird uneindeutig, im Grunde auch unwichtig, was wirklich passiert und was imaginiert ist. Der sich erinnernde Erzähler nähert sich diesen Rändern in Form von Umrissen, von Konturen, die er seiner Erzählung gibt. Nicht zufällig ist der Roman auch ein Künstlerroman: Kristian begegnet der Skizzenhaftigkeit seines Daseins, der Welt, wie er sie erlebt, indem er impulsiv, fast zwanghaft, alles zeichnet, was ihn umgibt, ja, seine sechsfingrige künstlerisch so begabte Hand scheint hier immer wieder ein Eigenleben zu führen. In dieser Hinsicht erinnert er dann doch sehr an seinen Vater, einen Übersetzer aus dem Estnischen und großer Fabulierer, ein Spazierredner, wie es im Roman so schön heißt, der mit seinem Sohn lange Spaziergänge macht, die jedesmal zu ausufernden Rundgängen durch die Landschaften der Sprache und der (Familien-)Geschichte werden. Dieses Stromern übernimmt der Sohn auf seine Weise. Von Mikkel verlassen, verlässt auch er die Schweiz, geht nach Paris, später nach Kopenhagen, nach Italien, Argentinien. Doch dieses abenteuerliche, umherschweifende Leben entspringt weniger einer bewussten Entscheidung als der Kontingenz des menschlichen Daseins, ja es widerspricht auf den ersten Blick der großen Sehnsucht des Erzählers dazuzugehören, eine innere Heimat für sich zu finden. Jeder geographische Wechsel wird von einem Umbruch in seinem Leben ausgelöst, der ihn zum Spielball der Zeit und der Zeitgeschichte macht. Jens Steiner zeigt in diesem Roman, wie ein Einzelner in die gesellschaftlichen Wirren seiner Zeit gerät, die ihn bisweilen hinwegzufegen drohen und ihm, ohne dass er das beabsichtigt hätte, eine politische, soziale, künstlerische Haltung abverlangen, oder zumindest die fortwährende kritische Suche danach.

Um auf den Künstlerroman zurückzukommen: Kunst und Leben prallen in Die Ränder der Welt immer wieder aufeinander, sie sind nicht voneinander zu trennen und doch so schwer zu vereinbaren. Gesellschaftliche und kunstpolitische Entwicklungen seit der Nachkriegszeit spielen vielfach in die Geschichte hinein, prägen die turbulente Biographie des Erzählers, der verschiedenste Lebensentwürfe ausprobiert oder sie bei Freunden und Weggefährten veranschaulicht sieht. Es geht um das Leben als Kunstwerk, um Kunst als Sozialprojekt, um Anti-Kunst, um Nicht-Kunst, um den Verzicht auf Kunst zugunsten des sogenannten Lebens. Kristian selbst lässt sich zum Steinbildhauer ausbilden, lernt in Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Zeichner und später als Busfahrer in Patagonien. Und er begreift allmählich, dass die Kunst so wandelbar ist wie die Liebe, ein Lebensbegleiter, der sich nicht abschütteln lässt, die große Unbekannte, die einem so vertraut ist:

Ist Kunst ein Berühren der Welt, oder ist sie eine Flucht vor der Welt?
Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine große Lüge.

Jens Steiner, Die Ränder der Welt

Was den Roman über die nachdenklich stimmende Lebens- und Künstlergeschichte hinaus so lesenswert macht, ist die besondere Sprache, in der er verfasst ist. Jens Steiner schreibt eine poetische Prosa, die gleichzeitig sanft und überbordend ist. Er belebt die zahlreichen Orte, die im Roman, der ja auch ein Reiseroman ist, eine tragende Rolle spielen, indem er ein Panorama an Figuren schafft, an grotesken, schrägen, widerspenstigen Figuren, gleich ob sie sich innerhalb oder an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Der Text ist, um hier erneut ins Ausdrucksmedium der bildenden Kunst hinüberzuschweifen, wie eine mit den Farben des Expressionismus gemalte Meditation, über Liebe, Freundschaft, Familie, Kunst, wild skizziert und mit viel Liebe zum kuriosen Detail, in dem doch so viel Wahrheit steckt.

Bibliographische Angaben
Jens Steiner: Die Ränder der Welt, Hoffmann und Campe 2024
ISBN: 9783455017106

Bildquelle
Jens Steiner, Die Ränder der Welt
© 2024 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderChris Whitaker: In den Farben des Dunkels

In den Farben des Dunkels ist Krimi und Gesellschaftsroman in einem, ein sehr amerikanisches Romanepos, das nicht ganz ohne Pathos sehr viel Liebe in die Ausgestaltung der handelnden Figuren legt. Im Laufe der spannend konstruierten und die Neugier der Leser immer wieder geschickt schürenden Handlung entfaltet sich eine an Komplexität gewinnende Geschichte, die hinter den offensichtlicheren moralischen und individualpsychologischen auch gesellschaftspolitischen Fragen einen literarischen Diskussionsraum gibt.

Die Geschichte, die sich anfangs viele Seiten Zeit nimmt, anrührend die entstehende Freundschaft zweier Außenseiter, Saint und Patch, in einer Kleinstadt in den USA zu schildern, schlägt dann, schicksalsgleich, jäh um, als ein schlimmes Verbrechen geschieht. Patch beobachtet, wie ein Mädchen aus seiner Schule von einem Unbekannten angegriffen wird und geht dazwischen. Das Mädchen kann fliehen, Patch aber wird entführt und ist monatelang von der Bildfläche verschwunden. Später erfährt man, dass er die ganze Zeit in völliger Dunkelheit eingesperrt war. Seiner Freundin Saint gelingt es, ihn aus seiner Gefangenschaft zu befreien, der unbekannte Täter jedoch ergreift die Flucht. Danach ist alles anders, für den traumatisierten Jungen Patch ebenso wie für Saint, die verzweifelt an ihrer alten Freundschaft festzuhalten versucht, und auch für die gesamte Kleinstadt, die von weiteren Entführungen erschüttert wird. Patchs Version seiner Geschichte, und dies ist das zentrale psychologische Moment des Romans, glaubt niemand, alle halten seine Behauptung, nicht der einzige Gefangene gewesen zu sein, sondern den dunklen Raum mit einem Mädchen namens Grace geteilt zu haben, die ihn mit ihrer Stimme letztlich am Leben gehalten habe, für die Halluzinationen eines schwer traumatisierten Opfers. Patch wird sein Leben lang nach dieser geheimnisvollen Grace suchen und sein eigenes Leben ganz dieser Suche unterordnen, und Saint wird ihm dabei, aus Freundschaft, aus Liebe, zur Seite stehen, wird es in Kauf nehmen, dass ihre Gefühle nicht erwidert werden und dass auch ihr Leben einen ganz anderen Lauf nehmen wird.

Die private Mission wird dabei mehr und mehr eine gesellschaftliche, es geht um die Aufdeckung einer schrecklichen Serie von Mädchenmorden, die Patch und Saint auf ganz unterschiedlichen Wegen, die sich nur punktuell kreuzen, quer durch die USA führen. Gewalt an Frauen ist das zentrale Thema, das im Lauf der Handlung, im privaten und öffentlichen Raum, immer weiter ausdifferenziert wird. Ganz aus der Handlung heraus, und das ist wirklich die Stärke dieses fast ein wenig zu fesselnd geschriebenen Buches, entfalten sich weitere gesellschaftliche Dimensionen dieses Themas, Themen, die im Amerika der 1970er bis 1990er Jahre größtenteils tabuisiert wurden, es geht um ungewollte Schwangerschaften, um Abtreibungen, um Gewalt in der Ehe, um Scheidung, es geht auch um Homosexualität, um allein erziehende Väter und Mütter, und um die Abgründe der Todesstrafe.

Die meisten dieser wunden Punkte einer nach außen hin liberal auftretenden Gesellschaft werden im Roman eher skizziert, schraffiert, mehr angedeutet als auserzählt. Im Vordergrund steht das individuelle Erleben der Figuren, ihre Schicksale und ihr individueller Umgang damit. Und hier bleibt der Roman doch sehr im amerikanischen, westlichen Wunschbild des Individuums als selbstwirksamer, Schicksale schulternder und sich selbst ermächtigender aufrichtiger Charakter. Richtig handelt, wer unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen weiß, wer sich von der inneren Überzeugung tragen lässt, Courage zeigt. Und wer die Last des Schicksals ohne zu jammern trägt, dabei aber nicht resigniert, sondern sein Opferdasein in Handlungskraft verwandelt. An einigen Stellen scheint dahinter die Frage auf, wie weit ein solch resilientes und engagiertes Handeln in einem krisenhaften gesellschaftlichen Umfeld möglich ist, und welcher Preis, Einsamkeit, Isolation, Ächtung, dafür zu zahlen ist. Solidarität, Freundschaft, Liebe scheinen immer wieder auf, als Gegengift, als Leuchttürme, die dem strauchelnden Individuum im Dunkeln zurück auf den rechten Weg verhelfen können oder einfach nur zeigen, dass es auch in seinem Wahn, seiner Trauer, seiner Verzweiflung, nicht alleine ist. Das mag eine idealisierende Tendenz haben, dass es ins Kitschige gerät, wird aber durch eingebaute Unschärfen an den Rändern verhindert; Saints Liebe zu Patch etwa ist von ihrer Freundschaft nicht klar abzugrenzen, und auch bei vielen weiteren Figurenkonstellationen baut der Autor kleine Ambivalenzen ein. Patch übrigens arbeitet als Maler mit einer immer weiter reifenden Begabung daran, mit den Farben des Dunkels zu experimentieren und so die Unschärfe der Erinnerung zu überwinden, seiner eigenen an das Mädchen Grace und an alles, was sie über sich verriet, und in einem zweiten Schritt auch die ihm ganz fremder Leute, er nimmt Kontakt zu den Familien anderer Opfer auf und verwandelt in einer Art geteilter Trauerarbeit den schmerzhaften Verlust in Kunstwerke, die wiederum in die Realität übergreifen und eine wichtige Spur zur Aufklärung der Verbrechen werden.

Unschärfe und Andeutungsreichtum bekommen an manchen Stellen jedoch auch etwas Fragwürdiges, die zahlreichen historischen Katastrophen und Verbrechen, die quasi als Unterfütterung der fiktiven Handlungselemente immer wieder in die Erzählung gestreut werden, erinnern an vorbeirauschende Infoleisten im Fernsehen oder aufploppende Sensationsnachrichten im Netz. Auf fiktionaler Ebene werden etwa die Alkoholsucht von Patchs Mutter oder das Kriegstrauma seines Vaters ähnlich knapp abgehandelt. Da der Plot und das Erzeugen von Spannung letztlich klar Vorrang haben, drohen die gesellschaftspolitischen Themen an manchen Stellen in eine reißerische Katastrophenkulisse für die unbestritten aufwühlende und berührende Geschichte der Hauptfiguren zu erstarren.

Bibliographische Angaben
Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Piper, 2024
Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch
ISBN: 9783492071536

Bildquelle
Chris Whitaker, In den Farben des Dunkels
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderHelmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann

Trudi und Jacek sind ein Paar, sie sind es schon seit hundert Jahren und sie führen ganz schön scharfzüngige Wortwechsel, die zeigen, dass sie einander in ihren Stärken und Schwächen gut zu kennen scheinen. Und doch, so zeigt der Roman, scheint die Liebe auch nach Jahrhunderten ein Rätsel zu bleiben, und eine fortwährende Provokation. Was soll diese plötzliche Obsession Jaceks mit der historischen Jungfrau Jeanne d’Arc? Und wieso ist Trudi ernsthaft eifersüchtig auf eine ein halbes Jahrhundert ältere Frau? Doch während Jacek nicht von seinen Recherchen lässt und in seinen Träumen auf die Gefahr eines inneren Kontrollverlustes hin Kontakt zu Jeanne aufzunehmen versucht, geraten auch in der äußeren Welt die Dinge mehr und mehr außer Kontrolle. Ist ihnen jemand auf der Spur? Drohen sie, die Zeitreisenden, die Hüter über das Wissen, die Manipulateure des natürlichen Alterungsprozesses, enttarnt zu werden? Oder ist nun doch die Zeit gekommen, an der ihre Zeit ablaufen wird?

Helmut Kraussers Roman ist ein so ungewöhnlich wie spannend geschriebenes Experiment einer auf dem vieldimensionalen Feld der Literatur ausgetragenen Grenzüberschreitung. Das beginnt schon mit der Frage nach dem Genre. Wann das mit Jeanne begann ist ein historischer Roman, einerseits, er taucht tief in die Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts ein, entfaltet, auch im Rückgriff auf viele zeithistorische Dokumente und Stimmen, den Kosmos der Jeanne oder Jehanne d’Arc, die im Hundertjährigen Krieg für den französischen König gegen die Engländer kämpfte und später verraten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Stellenweise gewinnt der Text so geradezu dokumentarischen Charakter. Dabei belässt es der Autor jedoch nicht, vielmehr streut er von Anbeginn mit der Geschichte der fiktiven Figuren Trudi und Jacek fantastische Elemente ein, die dem scheinbar verbürgten Lauf der Geschichte ein Moment der Unsicherheit einhauchen und einem beim Lesen mehr und mehr zweifeln lassen, welche Gesetze denn noch ihre Gültigkeit haben. Kann Magie die Naturgesetze aushebeln? Birgt die vierte Dimension der Zeit geheime Kräfte, mit denen sich gar das Gesetz der menschlichen Sterblichkeit aushebeln lässt? Der Roman hat etwas Faustisches an sich, auch inhaltlich wird mit der Überschreitung von Grenzen gespielt: Im Zentrum steht das Wissen, verkörpert durch die Bibliothek, die in verschiedenen Zeiten erscheint, diesseits Moral und Ethik als eingeübter zivilisatorischer Umgang mit diesem Wissen, jenseits, eben transgressiv, das Begehren, mit diesem Wissen Macht und Unsterblichkeit zu erlangen. Oder einfach nur das Dasein in all seiner Fülle, in seiner Lust wie in seinem Schmerz, so allumfassend wie möglich zu spüren?

Ist die Zeit der Schlüssel zu diesem ersehnten Daseinsgefühl? In jedem Fall ist der Roman ein Zeitroman, der vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, der, wie die Figuren Trudi und Jacek, die Manifestationen von Wissen und Glauben und Aberglauben durch die Jahrhunderte sammelt, miteinander konfrontiert, prüft und verwirft, der, ebenfalls wie seine Figuren, die Zeit manipuliert, sie überlistet und ihr doch mit Haut und Haaren ausgeliefert ist. Doch durch das Vermischen der verschiedenen erzählerischen Ebenen, durch die Vielstimmigkeit des Textes, gelingt es ihm, die Zeit zumindest für die Dauer des Erzählens aus ihren Angeln zu heben und, dies auch über die Lesezeit hinaus, einen anderen Blick auf die Geschichte zu werfen. Denn von der berühmten Figur der Jehanne d’Arc schürft der Text weiter, bohrt er sich tiefer hinein in eine weniger erforschte Geschichte, und gelangt über den Klang des Namens und eine kleine Derrida’sche différance von Jehanne zu Jeanne, zur gleichfalls Legende gewordenen Piratin Jeanne de Belleville, die bereits ein Jahrhundert früher gelebt hat und in deren Herkunft die lautmalerische Frage des Romantitels eine Antwort zu finden beginnt. Historische Randfiguren, wie Jeannes Geschwister, ihre Mutter, deren Geliebter, werden in diesem Roman an die Oberfläche geholt, wandern durch die Geschichte und treiben ihr Unwesen. Allen voran eine Hexe, eine Schwarzmagierin, die alle Fäden der immer rasanter voranstürzenden Handlung in der Hand zu halten scheint. Und immer geht es dabei auch um die Liebe, um Begehren, und um Macht und Ohnmacht. So ist es nur stringent, wenn am Ende der Ursprung in einer aus dem Ruder gelaufenen Liebesgeschichte gefunden wird, wenn entlarvt wird, wie das Böse entsteht und sich nährt in einem frauenverachtenden, hierarchiestarren Kontext, der auf der Angst und dem Hass gegenüber Außenseitern beruht und in dem der Fremde, der Dunkelhäutige, der Behinderte und die unangepasste oder allzu selbständige Frau auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt werden.

Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Wann das mit Jeanne begann, Piper 2022
ISBN: 9783827014627

Bildquelle
Helmut Krausser, Wann das mit Jeanne begann
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

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