bookmark_borderChristine Wunnicke: Wachs

Ein junges Mädchen, zwergenhaft verhüllt in einen Umhang, schleicht des Nachts durch Paris und verschafft sich Einlass in die Kaserne, weil sie gehört hat, dass es dort Leichen geben soll. Auch wenn sich herausstellt, dass sie hier eine Redewendung allzu wörtlich genommen hat, nimmt man hinter dem leicht grotesken Humor, der schon die Eingangsszene des Romans auszeichnet, eine starke Figurenpersönlichkeit wahr, spürt man die Ernsthaftigkeit des Mädchens, das hartnäckig seinen Plan verfolgt, Körper zu sezieren und in allen Details zu erforschen. In Christine Wunnickes neuem Roman, der in wenigen, dafür umso anschaulicheren Szenen die Lebenswege zweier Frauenfiguren im 18. Jahrhundert nachzeichnet, geht es um die Wissenschaft als Leidenschaft, um Kunst und Berufung, um Glaube und Wissen und Liebe im Angesicht der Vergänglichkeit, um den Wandel der Zeit, um die Verheißung und den Schmerz von Umbrüchen.

Das Mädchen ist Marie Biheron, die als Anatomin und Künstlerin im 18. Jahrhundert wirkte, und sie ist nicht die einzige historische Figur in diesem Roman, die ihrer Leidenschaft folgt und mit Ausdauer, Pragmatismus und Findigkeit Geschlechterrollen aufbricht, die auch im neuen Geiste der Aufklärung, der damals durch Frankreich wehte, nur wenig hinterfragt wurden. Die knapp 20 Jahre früher geborene Madeleine Basseporte, die zweite Hauptfigur, war königliche Pflanzenmalerin im Jardin du Roi und ihre verbürgte Begegnung mit Marie Biheron, deren Zeichenlehrerin sie war, wird im Roman zum Stoff einer Weiterdichtung, die uns auf pointierte, humorvolle Weise und mit einem etwas abseitigem Blick das Porträt einer Zeit großer Veränderungen auf menschlicher Ebene nahebringt.

Im zweiten Kapitel — und von da an durchgehend im Wechsel mit zeitlich weiter zurückreichenden Szenen aus dem Leben ihrer beiden Hauptfiguren –, zeigt die Autorin ihre Figur Marie um Jahrzehnte gealtert, kränklich, arm, seit vier Jahren hat sie sich in ihrer Gartenhütte verschanzt, versorgt von Edmé (eigentlich Aimé), einem kleinen Jungen, vielleicht ein Wechselbalg, vielleicht der leibliche Sohn des verarmten Schusterflickers, der inzwischen mit seiner Familie in dem Haus lebt, das früher Maries berühmtes Wachskabinett beherbergte. Es ist das Jahr 1793, die Revolution bereits Geschichte, Madeleine gestorben, doch die Welt steht noch immer Kopf, wovon sich Marie zuerst über die Zeitungen, die ihr Edmé bringt, ein Bild zu machen versucht, bis sie sich in Begleitung des Jungen, der sie im Leiterwagen hinter sich her zieht, doch nach draußen wagt und sich auf einen Streifzug durch die Straßen von Paris begibt, sich den Löchern, Leichen und dem wie eine sehr realistische Metapher funktionierenden Schatten der Guillotine aussetzt.

Jedes einzelne Kapitel dieses schmalen Romans liest sich wie eine kleine Novelle mit ihrer unerhörten Begebenheit, gleichzeitig gewinnen die Figuren und die Epoche, in der sie leben, mit jedem Kapitel an Dichte. Schon recht zu Anfang des Romans verrät die Autorin in einem eingängigen Bild die philosophische Perspektive, die ihrem Text eine besondere Färbung gibt. Die sichtbar gealterte Marie betrachtet mit ihrem noch immer präzisen Blick einer Wissenschaftlerin, der nichts entgeht und die nichts verschweigt, ihren Körper und mit besonderem Interesse ihre Hand, an deren anatomischen Veränderungen sie die Entstehung und den Lauf eines ganzen Lebens reflektiert. Geschichtsphilosophie als Körperphilosophie, das ermöglicht einen unkonventionellen Blick auf die Geschichte und die Menschen, die sich in ihr bewegt haben, und bringt uns die nur scheinbar fernen Zeiten literarisch sehr nah. So wie die Anatomin auch die unterschiedlichen Reifungsstadien der Körper erforscht, für die sie jeweils eigene Untersuchungsobjekte hat, denen sie sich je nach Interesse widmen kann, wirft auch der Roman seinen Blick auf die verschiedenen Lebensschichten seiner Figuren, nicht chronologisch, sondern von Kapitel zu Kapitel in der Zeit springend.

Während die Persönlichkeiten von Marie und Madeleine bei diesen literaturanatomischen Studien im Zentrum stehen, werden sie immer wieder auf humorvolle und entlarvende Weise mit männlichen Wissenschaftlern, Philosophen und Aufklärern wie Buffon oder Diderot kontrastiert. Madeleine zum Beispiel wird im Jahr 1734 gezeigt, als sie, die ehemalige Schülerin des königlichen Pflanzenmalers Aubriet, voll ausgebildet und talentiert, ihrerseits die Funktion der offiziellen Pflanzenmalerin im Jardin du Roi innehat — jedoch mit Abstrichen, da man dem weiblichen Geschlecht nicht die volle Verantwortung zugesteht. Daher werden alle ihre Zeichnungen, so perfekt sie auch sind, zusätzlich vom Intendanten, dem noch heute berühmten Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, kontrolliert und mit seinem Namen unterzeichnet. Indem Madeleine ihn leicht spöttisch nur Leclerc nennt, wird hier literarisch Rache geübt an der männlichen Berühmtheit, die unter dem Namen Buffon in die Geschichte eingegangen ist. Die emanzipatorische Ausgestaltung der Frauenfiguren zeigt sich auch im mühsam unterdrückten Unmut, den Madeleine verspürt, wenn sie den höheren Töchtern, die zum Zeichenunterricht zu ihr in den Jardin du Roi kommen, beibringen soll, Rosetten und Kränze zu malen, florale Muster statt naturgetreuer Abbildungen, Dekoratives ohne den wissenschaftlichen Anspruch, mit dem sie selbst arbeitet. Unter den Zeichenschülerinnen ist jedoch auch die eigenwillige Apothekerstochter Marie, die sich nicht mit Blümchenmustern abspeisen lässt und einem Kunstverständnis folgt, das auch Madeleines ästhetische Vorstellungen vor den Kopf stößt. Denn Marie seziert während dem Unterricht mit ihrem Pinselstrich die Pflanzen wie Körper, und eines Tages übergibt sie der verehrten Lehrerin eine schockierend getreue Zeichnung zweier innerer Organe, einer Leber und eines Herzens. Es ist der unkonventionelle Beginn einer Liebesbeziehung, die bis zu Madeleines Tod im Jahr 1780 halten wird.

Marie wohnt später eine Zeitlang im selben Haus wie Diderot, und Christine Wunnicke zaubert aus dieser Begegnung der beiden eine witzige geschichtsphilosophische Szene mit Tiefgang. Der etwas drollig geschilderte berühmte Philosoph flüchtet sich in seinem unstillbaren enzyklopädischen Wissensdurst und mehr noch vielleicht, um dem Trubel in der Wohnung seiner Familie für eine Weile zu entgehen, zu der aufgeweckten Wissenschaftlerin und Künstlerin, um bei ihr Anatomie zu lernen und sie um einen Artikel für seine Enzyklopädie anzubetteln. Doch Marie lehnt ab, wohl nicht zum ersten Mal: Solange sie als Frau ihren Text nicht selbst unterzeichnen kann, kommt eine Mitarbeit für sie nicht infrage. Lieber streitet sie mit Diderot über den Titel des Buches, der mehrbändigen Encyclopédie, das er doch besser Vom Irrtum nennen sollte. Auch für die so genannte Chronologische Maschine, die Diderot für einen Freund in Paris zu vermarkten versucht, eine mit Kurbeln bedienbare Maschine, die die ganze Geschichte der Menschheit enthält, hat sie einige Verbesserungsvorschläge grundsätzlicher Art, wie etwa den, auch einen Platz für die noch nicht geschriebene Geschichte der Zukunft zu schaffen. Maries geschichtsphilosophischer Ansatz bringt Komplexität in die schnell aufflammende Begeisterung ihres Freundes Diderot hinein und, ähnlich wie bei ihrer Betrachtung des menschlichen Körpers, auch Individualität und Bewegung.

Diesem hier angedeuteten Programm entsprechend gestaltet die Autorin ihren ganzen Roman, in den Armut, soziale Ungleichheit und auch die besondere Ungleichheit des weiblichen Geschlechts auf individuelle, subtilere Weise Eingang finden. So wird beiläufig, aber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erzählt, dass die Schülerinnen wegen Menstruationsschmerzen nicht zur Zeichenstunde kommen oder dass die Pflanzenmalerin Madeleine sich immer wieder gegen die verniedlichende Bezeichnung der „Blumenmalerin“ wehren muss.

Marie kommt irgendwann auf die Idee, statt der schwer zu beschaffenden Leichen Bossierwachs zu verwenden, um Körper herzustellen, die zwar künstlich sind, doch so lebensecht wirken, dass sich die Anatomie an ihnen gut praktizieren lässt. In dieser Technik verschmelzen Kunst und Wissenschaft miteinander, so wie auf andere Weise auch in der Pflanzenmalerei Madeleines. Künstlich, und doch lebensecht ist auch Christine Wunnickes neuer Roman, der ein Stück Menschheitsgeschichte aus einer anderen Perspektive erzählt, die Themen berührt und Fragen aufwirft, die ihren Strahl bis in die Zukunft unserer Gegenwart verlängert.

Bibliographische Angaben
Christine Wunnicke: Wachs, Berenberg 2025
ISBN: 9783911327039

Bildquelle
Christine Wunnicke, Wachs
© 2025 Berenberg Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderStacey Halls: Die Verlorenen

Eine ganz bezaubernde, das Herz wärmende Geschichte, deren Figuren mit viel Empathie und psychologischer Präzision gezeichnet sind, so dass man sie beim Lesen wunderbar lebendig vor Augen hat. Man bangt und hofft mit ihnen, jammert und schaudert zwischendurch auch mal, ehe man kathartisch erlöst und immer noch ein wenig atemlos die letzten Seiten erreicht.

Schon die erste Szene ist erschütternd. Hier lernen wir die eine der beiden Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen des Romans kennen: Bess Bright, eine kaum erwachsene junge Frau, die zusammen mit ihrem Vater auf dem Markt Krabben verkauft, um das tägliche Brot der Familie mehr schlecht als recht zu verdienen, und sich nun gezwungen sieht, ihr Neugeborenes in einem Findlingsheim abzugeben; wie die vielen anderen mittellosen, unverheirateten, verzweifelten Frauen um sie herum ist sie dem Los ausgeliefert, das bestimmt, welche der Kinder in der Obhut des Foundling Hospitals bleiben dürfen, einem Los, dessen als einziger Ausweg aus der materiellen Not herbeigesehntes Ergebnis der Sehnsucht ihrer noch keinen Tag alten Muttergefühle zutiefst widerspricht. Und so ist Bess auch fest entschlossen, ihr Kind zurückzuholen, sobald sie sich irgendwie in der Lage sieht, für es zu sorgen. Doch als sie ein paar Jahre später genug auf die Seite gelegt zu haben meint, um ihre Tochter auszulösen, ist das kleine Mädchen nicht mehr da. Jemand anderes hat es, so erfährt sie, nur einen Tag, nachdem sie es damals abgegeben hatte, unter ihrem Namen zu sich geholt.

Wie sich Bess nun mutig und erfinderisch auf die Suche nach ihrer Tochter begibt, wo und unter welchen Umständen sie sie ausfindig macht und welche Hindernisse sie noch überwinden, welche Abenteuer sie noch durchstehen muss, ehe Mutter und Tochter endlich in Sicherheit zusammenkommen, und welche Rolle die ganz von der Umwelt abgeschottete, allerdings deutlich besser betuchte Alexandra, die zweite Mutter und zweite Ich-Erzählerin, dabei spielt, erzählt die Autorin dramaturgisch überzeugend und fesselnd, mit viel Gespür für die kleinsten emotionalen Regungen und Gewissenskonflikte ihrer Figuren. So ist der Roman ein mitreißendes und gefühlvolles Psycho- und Sozialdrama, zum Glück jedoch ohne in melodramatisches Pathos abzugleiten, was auch daran liegt, dass die Sprache zwar eingängig ist, aber auf Floskeln verzichtet.

Ebenso werden hier einerseits auf ganz unterschiedliche Weise starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt gerückt, die aus verschiedenen Gründen am Rand der Gesellschaft stehen und gegen viele Widerstände ankämpfen müssen und die andererseits doch keine anachronistisch wirkenden self-empowerten Superheldinnen sind, sondern mit ihren Ecken und Kanten, ihren Eigenheiten und auch mit ihren düsteren Seiten Geschöpfe ihrer Zeit und ihres Milieus sind: eben die titelgebenden „Verlorenen“, womit nicht nur die Waisenkinder des übrigens historisch verbürgten Londoner Foundling Hospitals gemeint sind. Trotz des unterschwellig mitschwingenden Befreiungsmotivs bleibt die jeweilige soziale Verankerung prägend, und trotz ihrer Courage ist auch Bess auf Unterstützung und Solidarität angewiesen, im emotionalen und materiellen Sinne, die sie, mitunter von überraschender Seite, auch immer wieder erfährt.

Somit kommt man hier nicht nur in den Genuss einer sehr kurzweiligen empfindsamen Abenteuergeschichte, sondern auch in den eines historischen Romans, der einen realistischen und glaubhaften Einblick auch und vor allem in die unteren Bevölkerungsschichten im städtischen London des 18. Jahrhunderts gibt: in die harten nächtlichen Arbeitszeiten eines Fackelträgers, der so viel lieber auf dem Land Gemüse anbauen würde, zum Beispiel, oder in die körperlich herausfordernde Arbeit auf dem Markt, die in Gestalt der Krabbenverkäuferin Bess oder auch ihrer schwarzen Freundin Keziah, die Second-Hand-Kleidung verkauft, lebensnah geschildert wird.

Eine spannende Kombination von Charles Dickens mit der biblischen Geschichte vom salomonischen Urteil und ein berührendes Schmökererlebnis für spätwinterliche Stunden auf der vor Wind und Regen und den materiellen Nöten des 18. Jahrhunderts so wohltuend geschützten Couch…

Bibliographische Angaben
Stacey Halls: Die Verlorenen, Piper (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele
ISBN: 9783866124950

Bildquelle
Stacey Halls, Die Verlorenen
© 2021 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderChristine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein historischer Roman der besonderen Art aus der amüsant eigenwilligen Feder der Autorin, die ihre erst sorgsam recherchierten Figuren und Stoffe dann gerne parodistischen, fast grotesken Kontexten aussetzt.

Hier treffen zwei Figuren aus Welten, die nicht unterschiedlicher sein könnten, aufeinander, und das an einem Ort — einer indischen Insel namens Elephanta — an dem beide nur durch Zufall gestrandet sind: der deutsche Mathematiker Carsten Niebuhr, der letzte am Leben verbliebene Teilnehmer einer europäischen Forschungsexpedition, der sich zum wiederholten Mal im Sumpffieberdelirium dem Tode nähert, und der persische Astronom — und Meistererzähler — Musa al-Lahuri. Die beiden verständigen sich, mit vielerlei Missverständnissen und doch großer Intensität, in vielen verschiedenen Sprachen, und diese Sprachverwirrung und Thematisierung der manchmal erstaunlicherweise auch gelingenden, oft aber scheiternden Kommunikation ist das eigentliche Thema des Buches. Denn zur Verständigung braucht es mehr als die Beherrschung eines linguistischen Systems. Wenn der kulturelle Hintergrund dem anderen unbegreiflich ist, wenn selbst die Sterne, zu denen alle gleichermaßen hinaufschauen, unterschiedliche Bezeichnungen und Bedeutungen haben, ist es schwer, dem anderen zu erklären, was man eigentlich fühlt und denkt und vorhat. Wobei es, etwa angesichts des Todes, zwischen den beiden Protagonisten des Romans ab und an Momente gibt, in denen ein zwischenmenschliches Einfühlen und Verstehen aufblitzt, das im Kontext einer ansonsten häufig absurd anmutenden Begegnung sehr berührend wirkt. Die Autorin wählt somit einen ungewöhnlichen und erhellenden Blickwinkel auf eine die Weltgeschichte bis heute beeinflussende Entwicklung, indem sie den europäischen Forscherdrang auf tragikomische Weise zeigt und seine ignorante Überheblichkeit, aber auch seine optimistische Naivität und Neugier beleuchtet.

Am Ende schließt sich ein Kreis, wird die Erzählung an ihren Anfang zurückgeführt und ironisch in der Fiktion, im Erzählen an sich verankert. Dieses Erzählen, in dem sich nicht nur Musa als Meister erweist — auch Carsten Niebuhr schreibt zurück in der Heimat seine Erlebnisse in der Ferne nieder — trägt stets auch die Lüge, das Ausschmücken, das Erfinden in sich: für die einen ein Ärgernis, für die anderen der besondere Reiz. Und ist nicht auch die Wissenschaft an Erzählungen und situationsbedingte, weltanschauliche Fragestellungen gebunden?

Christine Wunnicke jedenfalls relativiert und hinterfragt in ihrem Roman auf unterhaltsame und provozierende Weise unseren Blick auf die Welt und auf den anderen.

Bibliographische Angaben
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand, Berenberg 2020
ISBN 9783946334767

Bildquelle
Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand
© 2020 Berenberg Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderNiklas Natt och Dag: 1794

Eine innige Liebesgeschichte, ein teuflisches Verbrechen, eine ganze Palette korrupter Seelen und eine Handvoll Getriebener mit dem Herz am rechten Fleck: Der schwedische Autor legt erneut einen ambitionierten Geschichtskrimi vor, der sich durch seine intensiven Milieu- und Charakterschilderungen von der Flut der oft schablonenhaften historischen Romane abhebt, die man in den einschlägigen Regalen der Buchhandlungen findet. Es sollte ihn aber nur zur Hand nehmen, wer keine Scheu davor hat, dem Dämonischen im Menschen zu begegnen.

Denn ähnlich schonungslos wie im Vorgänger 1793 — den man im Übrigen nicht unbedingt gelesen haben muss, die Geschichte ist trotz verschiedentlicher Anspielungen in sich abgeschlossen — erzählt der Autor in dem ein Jahr später spielenden 1794 eine weitere brutale Verbrechensgeschichte, die er in verschiedenen und allesamt fast hoffnungslos verdorbenen Milieus in und um Stockholm spielen lässt und die diesmal auch ins schwedische Kolonialreich führt. Der nur auf den ersten Blick exotische koloniale Exkurs bringt dabei wie ein überscharfer Spiegel die Triebhaftigkeit und Gewaltneigung der Menschen zum Vorschein, die Natt och Dag in der gesamten schwedischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausmachen will. Nach dem Tod des Königs ist diese durch die verheerenden Erschütterungen des schwedisch-russischen Krieges sowie durch die Intrigen der Mächtigen zutiefst verunsichert. Krieg, Armut und Instabilität haben ihre Spuren in Körper und Seele der Menschen hinterlassen.

So auch im Fall des einarmigen Häschers und Kriegsveteranen Cardell, der schon in 1793 in einer spannungsreichen Mischung aus Desillusion und Gerechtigkeitssinn ermittelt hat und nun erneut einer teuflischen Intrige auf der Spur ist. Mehr oder weniger zuverlässig an seiner Seite ein von Dämonen geplagter junger Mann namens Winge — dessen aus 1793 bekannter Namensvetter doch eigentlich von der Schwindsucht dahingerafft wurde… Das Rätsel klärt sich schnell, doch die sich aus ihren Biographien und persönlichen Erfahrungen heraus entwickelte Motivation der beiden hart gezeichneten Kämpfer für die Menschlichkeit machen m. E. die Stärke des Romans aus, der sich ansonsten zu sehr auf einen vor Klischees nicht völlig gefeiten Kriminalplot stützt.

Mehr als die neu eingeführten Täter und Opfer, mit denen der Autor den Boden der eigentlich durch die intensive historische Vorarbeit angestrebte Glaubwürdigkeit zugunsten effektheischerischer Gewaltorgien verlässt, berührt und erschüttert einen das freilich auch ins Extrem gesteigerte Schicksal von Anna Stina, die der Leser aus 1793 kennt und deren Mut und bedingungslose Mutterliebe in einem erst lose, dann enger verknüpften Erzählstrang geschildert werden, der auf dramaturgisch überzeugende Weise einige sozialhistorische Details vermittelt, etwa in Gestalt einer alten Hebamme oder einer verwilderten jungen Frau, die sich aus einer für sie bedrohlichen Gesellschaft in den Schutzraum der Natur zurückgezogen hat.

Fesselnd geschrieben ist 1794 auf jeden Fall, wenngleich bisweilen auf Kosten der Subtilität. Die vielen Seiten lesen sich im Fluge, Entsetzen schließt Unterhaltung nicht aus. Auf poetische Gerechtigkeit wartet man jedoch vergebens, gegen die Verruchtheit der Gesellschaft hat der Einzelne keine Chance und auch einem noch so couragierten Opfer macht die teuflische Konstruktion des Handlungsgefüges einen Strich durch die Rechnung. Das Böse entfaltet seine Macht auch noch nach seinem Untergang — so will es der Autor, so will es sein desillusionierter Blick auf die conditio humana.

Bibliographische Angaben
Niklas Natt och Dag: 1794, Piper (2020)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Leena Flegler
ISBN: 9783492061940

Bildquelle
Niklas Natt och Dag, 1794
© 2020 Piper Verlag Gmbh, München

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