bookmark_borderStacey Halls: Die Verlorenen

Eine ganz bezaubernde, das Herz wärmende Geschichte, deren Figuren mit viel Empathie und psychologischer Präzision gezeichnet sind, so dass man sie beim Lesen wunderbar lebendig vor Augen hat. Man bangt und hofft mit ihnen, jammert und schaudert zwischendurch auch mal, ehe man kathartisch erlöst und immer noch ein wenig atemlos die letzten Seiten erreicht.

Schon die erste Szene ist erschütternd. Hier lernen wir die eine der beiden Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen des Romans kennen: Bess Bright, eine kaum erwachsene junge Frau, die zusammen mit ihrem Vater auf dem Markt Krabben verkauft, um das tägliche Brot der Familie mehr schlecht als recht zu verdienen, und sich nun gezwungen sieht, ihr Neugeborenes in einem Findlingsheim abzugeben; wie die vielen anderen mittellosen, unverheirateten, verzweifelten Frauen um sie herum ist sie dem Los ausgeliefert, das bestimmt, welche der Kinder in der Obhut des Foundling Hospitals bleiben dürfen, einem Los, dessen als einziger Ausweg aus der materiellen Not herbeigesehntes Ergebnis der Sehnsucht ihrer noch keinen Tag alten Muttergefühle zutiefst widerspricht. Und so ist Bess auch fest entschlossen, ihr Kind zurückzuholen, sobald sie sich irgendwie in der Lage sieht, für es zu sorgen. Doch als sie ein paar Jahre später genug auf die Seite gelegt zu haben meint, um ihre Tochter auszulösen, ist das kleine Mädchen nicht mehr da. Jemand anderes hat es, so erfährt sie, nur einen Tag, nachdem sie es damals abgegeben hatte, unter ihrem Namen zu sich geholt.

Wie sich Bess nun mutig und erfinderisch auf die Suche nach ihrer Tochter begibt, wo und unter welchen Umständen sie sie ausfindig macht und welche Hindernisse sie noch überwinden, welche Abenteuer sie noch durchstehen muss, ehe Mutter und Tochter endlich in Sicherheit zusammenkommen, und welche Rolle die ganz von der Umwelt abgeschottete, allerdings deutlich besser betuchte Alexandra, die zweite Mutter und zweite Ich-Erzählerin, dabei spielt, erzählt die Autorin dramaturgisch überzeugend und fesselnd, mit viel Gespür für die kleinsten emotionalen Regungen und Gewissenskonflikte ihrer Figuren. So ist der Roman ein mitreißendes und gefühlvolles Psycho- und Sozialdrama, zum Glück jedoch ohne in melodramatisches Pathos abzugleiten, was auch daran liegt, dass die Sprache zwar eingängig ist, aber auf Floskeln verzichtet.

Ebenso werden hier einerseits auf ganz unterschiedliche Weise starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt gerückt, die aus verschiedenen Gründen am Rand der Gesellschaft stehen und gegen viele Widerstände ankämpfen müssen und die andererseits doch keine anachronistisch wirkenden self-empowerten Superheldinnen sind, sondern mit ihren Ecken und Kanten, ihren Eigenheiten und auch mit ihren düsteren Seiten Geschöpfe ihrer Zeit und ihres Milieus sind: eben die titelgebenden „Verlorenen“, womit nicht nur die Waisenkinder des übrigens historisch verbürgten Londoner Foundling Hospitals gemeint sind. Trotz des unterschwellig mitschwingenden Befreiungsmotivs bleibt die jeweilige soziale Verankerung prägend, und trotz ihrer Courage ist auch Bess auf Unterstützung und Solidarität angewiesen, im emotionalen und materiellen Sinne, die sie, mitunter von überraschender Seite, auch immer wieder erfährt.

Somit kommt man hier nicht nur in den Genuss einer sehr kurzweiligen empfindsamen Abenteuergeschichte, sondern auch in den eines historischen Romans, der einen realistischen und glaubhaften Einblick auch und vor allem in die unteren Bevölkerungsschichten im städtischen London des 18. Jahrhunderts gibt: in die harten nächtlichen Arbeitszeiten eines Fackelträgers, der so viel lieber auf dem Land Gemüse anbauen würde, zum Beispiel, oder in die körperlich herausfordernde Arbeit auf dem Markt, die in Gestalt der Krabbenverkäuferin Bess oder auch ihrer schwarzen Freundin Keziah, die Second-Hand-Kleidung verkauft, lebensnah geschildert wird.

Eine spannende Kombination von Charles Dickens mit der biblischen Geschichte vom salomonischen Urteil und ein berührendes Schmökererlebnis für spätwinterliche Stunden auf der vor Wind und Regen und den materiellen Nöten des 18. Jahrhunderts so wohltuend geschützten Couch…

Bibliographische Angaben
Stacey Halls: Die Verlorenen, Piper (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele
ISBN: 9783866124950

Bildquelle
Stacey Halls, Die Verlorenen
© 2021 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderChristine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein historischer Roman der besonderen Art aus der amüsant eigenwilligen Feder der Autorin, die ihre erst sorgsam recherchierten Figuren und Stoffe dann gerne parodistischen, fast grotesken Kontexten aussetzt.

Hier treffen zwei Figuren aus Welten, die nicht unterschiedlicher sein könnten, aufeinander, und das an einem Ort — einer indischen Insel namens Elephanta — an dem beide nur durch Zufall gestrandet sind: der deutsche Mathematiker Carsten Niebuhr, der letzte am Leben verbliebene Teilnehmer einer europäischen Forschungsexpedition, der sich zum wiederholten Mal im Sumpffieberdelirium dem Tode nähert, und der persische Astronom — und Meistererzähler — Musa al-Lahuri. Die beiden verständigen sich, mit vielerlei Missverständnissen und doch großer Intensität, in vielen verschiedenen Sprachen, und diese Sprachverwirrung und Thematisierung der manchmal erstaunlicherweise auch gelingenden, oft aber scheiternden Kommunikation ist das eigentliche Thema des Buches. Denn zur Verständigung braucht es mehr als die Beherrschung eines linguistischen Systems. Wenn der kulturelle Hintergrund dem anderen unbegreiflich ist, wenn selbst die Sterne, zu denen alle gleichermaßen hinaufschauen, unterschiedliche Bezeichnungen und Bedeutungen haben, ist es schwer, dem anderen zu erklären, was man eigentlich fühlt und denkt und vorhat. Wobei es, etwa angesichts des Todes, zwischen den beiden Protagonisten des Romans ab und an Momente gibt, in denen ein zwischenmenschliches Einfühlen und Verstehen aufblitzt, das im Kontext einer ansonsten häufig absurd anmutenden Begegnung sehr berührend wirkt. Die Autorin wählt somit einen ungewöhnlichen und erhellenden Blickwinkel auf eine die Weltgeschichte bis heute beeinflussende Entwicklung, indem sie den europäischen Forscherdrang auf tragikomische Weise zeigt und seine ignorante Überheblichkeit, aber auch seine optimistische Naivität und Neugier beleuchtet.

Am Ende schließt sich ein Kreis, wird die Erzählung an ihren Anfang zurückgeführt und ironisch in der Fiktion, im Erzählen an sich verankert. Dieses Erzählen, in dem sich nicht nur Musa als Meister erweist — auch Carsten Niebuhr schreibt zurück in der Heimat seine Erlebnisse in der Ferne nieder — trägt stets auch die Lüge, das Ausschmücken, das Erfinden in sich: für die einen ein Ärgernis, für die anderen der besondere Reiz. Und ist nicht auch die Wissenschaft an Erzählungen und situationsbedingte, weltanschauliche Fragestellungen gebunden?

Christine Wunnicke jedenfalls relativiert und hinterfragt in ihrem Roman auf unterhaltsame und provozierende Weise unseren Blick auf die Welt und auf den anderen.

Bibliographische Angaben
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand, Berenberg 2020
ISBN 9783946334767

Bildquelle
Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand
© 2020 Berenberg Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderNiklas Natt och Dag: 1794

Eine innige Liebesgeschichte, ein teuflisches Verbrechen, eine ganze Palette korrupter Seelen und eine Handvoll Getriebener mit dem Herz am rechten Fleck: Der schwedische Autor legt erneut einen ambitionierten Geschichtskrimi vor, der sich durch seine intensiven Milieu- und Charakterschilderungen von der Flut der oft schablonenhaften historischen Romane abhebt, die man in den einschlägigen Regalen der Buchhandlungen findet. Es sollte ihn aber nur zur Hand nehmen, wer keine Scheu davor hat, dem Dämonischen im Menschen zu begegnen.

Denn ähnlich schonungslos wie im Vorgänger 1793 — den man im Übrigen nicht unbedingt gelesen haben muss, die Geschichte ist trotz verschiedentlicher Anspielungen in sich abgeschlossen — erzählt der Autor in dem ein Jahr später spielenden 1794 eine weitere brutale Verbrechensgeschichte, die er in verschiedenen und allesamt fast hoffnungslos verdorbenen Milieus in und um Stockholm spielen lässt und die diesmal auch ins schwedische Kolonialreich führt. Der nur auf den ersten Blick exotische koloniale Exkurs bringt dabei wie ein überscharfer Spiegel die Triebhaftigkeit und Gewaltneigung der Menschen zum Vorschein, die Natt och Dag in der gesamten schwedischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausmachen will. Nach dem Tod des Königs ist diese durch die verheerenden Erschütterungen des schwedisch-russischen Krieges sowie durch die Intrigen der Mächtigen zutiefst verunsichert. Krieg, Armut und Instabilität haben ihre Spuren in Körper und Seele der Menschen hinterlassen.

So auch im Fall des einarmigen Häschers und Kriegsveteranen Cardell, der schon in 1793 in einer spannungsreichen Mischung aus Desillusion und Gerechtigkeitssinn ermittelt hat und nun erneut einer teuflischen Intrige auf der Spur ist. Mehr oder weniger zuverlässig an seiner Seite ein von Dämonen geplagter junger Mann namens Winge — dessen aus 1793 bekannter Namensvetter doch eigentlich von der Schwindsucht dahingerafft wurde… Das Rätsel klärt sich schnell, doch die sich aus ihren Biographien und persönlichen Erfahrungen heraus entwickelte Motivation der beiden hart gezeichneten Kämpfer für die Menschlichkeit machen m. E. die Stärke des Romans aus, der sich ansonsten zu sehr auf einen vor Klischees nicht völlig gefeiten Kriminalplot stützt.

Mehr als die neu eingeführten Täter und Opfer, mit denen der Autor den Boden der eigentlich durch die intensive historische Vorarbeit angestrebte Glaubwürdigkeit zugunsten effektheischerischer Gewaltorgien verlässt, berührt und erschüttert einen das freilich auch ins Extrem gesteigerte Schicksal von Anna Stina, die der Leser aus 1793 kennt und deren Mut und bedingungslose Mutterliebe in einem erst lose, dann enger verknüpften Erzählstrang geschildert werden, der auf dramaturgisch überzeugende Weise einige sozialhistorische Details vermittelt, etwa in Gestalt einer alten Hebamme oder einer verwilderten jungen Frau, die sich aus einer für sie bedrohlichen Gesellschaft in den Schutzraum der Natur zurückgezogen hat.

Fesselnd geschrieben ist 1794 auf jeden Fall, wenngleich bisweilen auf Kosten der Subtilität. Die vielen Seiten lesen sich im Fluge, Entsetzen schließt Unterhaltung nicht aus. Auf poetische Gerechtigkeit wartet man jedoch vergebens, gegen die Verruchtheit der Gesellschaft hat der Einzelne keine Chance und auch einem noch so couragierten Opfer macht die teuflische Konstruktion des Handlungsgefüges einen Strich durch die Rechnung. Das Böse entfaltet seine Macht auch noch nach seinem Untergang — so will es der Autor, so will es sein desillusionierter Blick auf die conditio humana.

Bibliographische Angaben
Niklas Natt och Dag: 1794, Piper (2020)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Leena Flegler
ISBN: 9783492061940

Bildquelle
Niklas Natt och Dag, 1794
© 2020 Piper Verlag Gmbh, München

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