bookmark_borderSibilla Aleramo: Eine Frau

Der Titel ist Programm. Una donna, auf deutsch Eine Frau, erstmals 1906 im italienischen Original erschienen, ist Autobiographie, ist Roman, ist vor allem aber ein Exemplum, in dem eine Frau, eine schreibende Frau, von sich und im gleichen Atemzug für andere sprechen will, für die unzähligen anderen Frauen, deren Schicksale unerzählt geblieben sind. Im gesamten Text werden konsequent keine Namen genannt, weder der der Ich-Erzählerin noch die ihrer Familie, und auch nicht die der übrigen Figuren, was umso mehr ins Auge sticht, da das Handlungskonstrukt, das dem Nachwort von Elke Heidenreich zufolge stark autobiographisch beeinflusst ist, sehr romanhafte Züge aufweist. Auch die sehr flüssig lesbare deutsche Neuübersetzung von Ingrid Ickler kann glücklicherweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen Roman handelt, der, gleichwohl schon mit einem Fuß im neuen Jahrhundert, noch dem literarischen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts entspringt. Den Übergang, die Schwellenzeit kann man auch stilistisch in diesem zugleich so altmodischen und so modernen Text ausmachen, vielleicht, weil er sich auch so fluide zwischen Autobiographie und Fiktion bewegt, Bekenntnis, Analyse und eine emotionale Dramatik in sich vereint und eine Seelenerforschung betreibt, die man noch romantisch nennen mag und die auf jeden Fall einen anderen Charakter hat als die Ich-Analysen der gegenwärtig viel publizierten autofiktionalen Texte.

Zuweilen kommt man sich selbst ein wenig voyeuristisch vor, so atemlos lässt sich dem Spannungsbogen der Erzählung folgen, der ein emotional aufgeladenes Ereignis nach dem anderen bereithält; es geht um Schwangerschaft, um Mutterliebe, um heimliche, um ausgebeutete und um vernachlässigte Liebe, um Liebe, die in Verachtung umschlägt, um versuchte Selbstmorde, um Vergewaltigung. Und darum, wie verbreitet, wie alltäglich diese Dramen sind, wie alltäglich auch der Schmerz, der mitunter ein Leben lang weiterbrennt. Doch wird im Text bei weitem nicht alles auserzählt, vieles wird nur angedeutet, während die Gedankenwelt der Erzählerin einen umso größeren Raum einnimmt, und allmählich auch ihr langsam zu seiner Gestalt findendes literarisches und emanzipatorisches Vorhaben, die eigene Geschichte aufzuschreiben.

Wissbegierig, lernwillig, neugierig ist die Erzählerin schon als Kind, zum Vater, einem Naturwissenschaftler, der gerne mit seiner aufgeweckten Tochter philosophische Spaziergänge unternimmt, hat sie eine enge intellektuelle Beziehung, sie bewundert ihn, während sie ihrer Mutter gegenüber, die außer ihr noch drei weitere Kinder großzieht, Distanz und allmählich auch eine leise Verachtung verspürt. Erst später begreift die Erzählerin, wie unglücklich ihre Mutter in ihrer Ehe war, in der sie ihre Neigungen, etwa zur Literatur, zur Lyrik, nicht wertgeschätzt sah, ja unterdrücken musste, und in der ihre selbstverständliche Unterordnung und absolute Abhängigkeit mit einer zunehmenden Geringschätzung und schließlich dem völligen Gestaltverlust ihrer Person einherging. Nach dem Umzug der Familie von Mailand ins sehr traditionelle Süditalien, wo sich der Vater als Fabrikdirektor beruflich neu orientieren kann, wird die Depression der Mutter auch nach außen hin sichtbar. In der speziellen Schichtung der ländlich geprägten süditalienischen Gesellschaftsstrukturen bleibt die Familie ein Fremdkörper, die Macht des Vaters über die einheimischen Fabrikarbeiter trägt ihm nicht gerade Sympathien ein, die Erzählerin muss mangels lokaler Infrastruktur ihre Schulbildung abbrechen, der Mutter gelingt es immer weniger, sich um ihre Kinder zu kümmern und auch der Vater wendet sich stillschweigend mehr und mehr von der Familie ab, verbringt seine Zeit in der Fabrik und bei seiner Geliebten. Die Mutter erleidet einen Zusammenbruch und wird schließlich aus dem instabilen Familiengefüge herausgelöst und in klinische Verwahrung gegeben.

Die sich lange Zeit hinter einer Fassade von Alltäglichkeit abspielende Familiengeschichte ist auch deshalb so wichtig für die Erzählung, da die zentrale Erkenntnis des Textes darin besteht, dass weibliche Unfreiheit und patriarchale Denkmuster immer wieder von neuem vererbt werden. Gerade mit dem existentiell erlebten Eintritt ins Muttersein entstehen die Würde der Frau antastende emotionale Zwänge, die sich als Verantwortung tarnen beziehungsweise oft kaum von Verantwortung zu unterscheiden sind. Und so widerfährt der Erzählerin, die doch als Kind und als Jugendliche so selbstbewusst und dem Leben zugewandt ist, die beginnt, ihr Denken in großer Freiheit zu entfalten, ein ganz ähnliches Schicksal wie ihrer Mutter. Sie heiratet jung, mit gerade einmal 17 Jahren, einen Angestellten in der Fabrik ihres Vaters, den sie nicht liebt und der auch sie nicht wirklich liebt, sondern eher als Objekt des Begehrens und Besitzens betrachtet. Was im Ehebett, und schon zuvor, körperlich zwischen ihnen passiert, ist von sexuellem Einverständnis oder gar sexueller Erfüllung weit entfernt. Als die Erzählerin einen Sohn bekommt, fühlt sie sich durch die Mutterliebe verwandelt, jedoch verstärkt diese zugleich ihre Unfreiheit als Ehefrau. Die Eifersucht ihres Mannes und wohl auch seine Angst vor der intellektuellen Überlegenheit seiner Frau werden zum Gefängnis für die Erzählerin, die das Haus nicht mehr ohne ihren Mann verlassen darf, der schließlich sogar das Briefpapier abzählt, mit dem sie in Kontakt zur großstädtischen, fortschrittlicheren Außenwelt der Schriftsteller und Intellektuellen tritt. Aus beruflicher Not zieht die kleine Familie nach Rom, wo die Erzählerin journalistisch tätig werden und einen neuen Freundeskreis aufbauen kann. Die ersehnte Unabhängigkeit erfüllt sich ihr aber nicht, da ihr Ehegefängnis in Rom weiterbesteht; ihr Mann übt auch dort weiter Kontrolle aus und zwingt sie schließlich, zurück nach Süditalien zu gehen. Schließlich gelingt es ihr, zu einem eigentlich unbezahlbaren Preis, der rückständigen Welt den Rücken zu kehren; als sie Mann und Kind verlässt, ist sie 25 Jahre alt.

Die Autorin selbst hat ihren Mann und ihren Sohn 1902 verlassen, lange vergeblich um das Kind gekämpft und dann 1906 ihr Buch veröffentlicht, in dem sie den langen Weg ihrer Entscheidung für die Freiheit erzählt. Sie wurde über 80 Jahre alt und führte ein umtriebiges und engagiertes Leben als Journalistin, Sozialarbeiterin, Dichterin, Liebende, ihren Sohn aber konnte sie erst viele Jahre nach ihrem Fortgang wiedersehen.

Auch wenn ihr Buch Eine Frau ein eindrückliches literarisches Zeugnis der frühen Frauenbewegung ist und, wie Elke Heidenreich im Nachwort schreibt, auch in den 1970er Jahren schon einmal ins Deutsche übersetzt wurde, stieß es bisher in Deutschland auf erstaunlich wenig Resonanz. Das Leben und das Schreiben dieser Schriftstellerin, ihre innere und äußere Revolte gegen die (süd)italienischen patriarchalen, traditionellen Strukturen schienen nach außen hin wohl zu weit von der Lebenswelt der deutschen Frauenbewegung entfernt. Zugegeben, sprachlich mag uns der Text, wenn er auch sehr gut lesbar, ja verschlingbar ist, heute stellenweise fremd erscheinen, in seiner eigenwilligen Mischung aus Pathos und Klarheit, aus Nachdenklichkeit und schockierender Direktheit. Immer wieder tauchen auch Gedankengänge auf, die etwas abrupt wieder abgebrochen werden, um die Handlung weiterzutreiben; vor allem die mystischen Passagen und die andeutungsreiche Begegnung der Erzählerin in Rom mit dem von ihr so genannten „Propheten“ können einen irritieren. Das verhindert aber keinesfalls, dass man beim Lesen ihrer sonst sehr konzisen, überlegten Sprache immer wieder ins Stutzen gerät, so nahe kommt sie einem mit ihren Gedanken und Gefühlen; immer wieder blitzen Sätze auf, die eine Frau heute genauso hätte ausdrücken können, und die vielen wunden Punkte, die sie schreibend berührt und offenlegt, die Gewissenserforschung und emotionalen Zwickmühlen, die sie beschreibt, erscheinen alles andere als verstaubt. Wenn sie etwa die Frage stellt, warum Muttersein so selbstverständlich mit Aufopferung gleichgesetzt wird, wie man als Mutter auch eine Frau bleiben kann, ja muss, für sich selbst, aber auch im Sinne eines ganzheitlicheren Daseinsverständnisses, eines anders gedachten Verständnisses von Verantwortung, das die Verwirklichung der eigenen Stärken und Vorlieben als etwas betrachtet, das man dem Leben schuldig ist, gerade auch für die Kinder, denen die Mutter ja ein Vorbild, ein Beispiel sein will. Die Erzählerin lotet ihr Gewissen, aber auch die gesellschaftlichen Ursachen für geschlechtsbezogene und soziale Ungerechtigkeiten genauestens aus; ihr gesamter Text ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die eigene Verantwortung besteht, sich selbst und den anderen gegenüber. Ist eine Mutter, die bleibt, aber unterdrückt und unaufrichtig lebt, gegen die Werte, die sie eigentlich an ihr Kind weitergeben will, einer Mutter vorzuziehen, die geht, um ihre Würde zu bewahren und Erniedrigung, Einengung, vielleicht sogar der Gewalt zu entgehen? Dafür, dass künftige Generationen von Frauen nicht mehr vor ein solches Dilemma gestellt werden, schreibt Sibilla Aleramo ihre Geschichte auf, deshalb fasst sie selbst eine unkonventionelle, mutige und schmerzhafte Entscheidung, um für die Emanzipation zu kämpfen, nicht nur übrigens für die Emanzipation der Frauen, sondern auch der benachteiligten sozialen Bevölkerungsteile Italiens; ihre Sympathie für die Arbeiterbewegung, ihr Blick auf die Armut, die Enge, das Leid der unteren Schichten geht schon aus ihrem ersten Buch deutlich hervor. Allein, um sich diesen solidarischen Impetus der Emanzipation ins Gedächtnis zu rufen, lohnt es sich, in der Lektüre von Eine Frau den Bewusstwerdungsprozess dieser zu Unrecht kaum bekannten italienischen Schriftstellerin mit- und nachzuvollziehen.

Bibliographische Angaben
Sibilla Aleramo: Eine Frau, Eisele 2024
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich.
ISBN: 9783961611850

Bildquelle
Sibilla Aleramo, Eine Frau
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderJemma Wayne: Der silberne Elefant

Die britische Journalistin und Autorin Jemma Wayne erzählt in ihrem beeindruckenden ersten Roman gleich drei weibliche Lebensgeschichten, die sie zu einem stimmigen Gesamtwerk verknüpft. Sie schreibt mit einem feinen Gespür für das psychologische Detail und die verschlungenen und alles andere als eindeutigen Pfade der menschlichen Emotionen, mit einem entlarvenden Blick auf ihre Figuren, der kritisch ist und doch zugleich von großer Empathie getragen wird.

Denn das, wonach sich die drei so unterschiedlichen Frauen — die schwerkranke Witwe Lynn, die mit Lynns Sohn verlobte junge Vera und die aus Ruanda geflohene Emilienne –, die abwechselnd und in verschiedenen Konstellationen im Zentrum der Erzählung stehen, alle sehnen, was sie aufreibt und woran sie zu scheitern drohen, gründet letztlich bei jeder in den fundamentalen menschlichen Bedürfnissen von Freiheit und Geborgenheit. Jede Einzelne von ihnen sucht auf ihre Weise einen Platz in einer Welt, die genug Widerstände, Schmerz und Leid bereithält, dass man an ihnen zugrunde gehen könnte. Dass Waynes Protagonistinnen das nicht tun, liegt auch daran, dass sie letztlich trotz allen Bewusstseins einer Abhängigkeit von äußeren Umständen und trotz Phasen tiefster Verzweiflung und zermürbender Selbstkritik doch unermüdlich daran arbeiten, ihre eigene Geschichte mitzugestalten. Dabei ist der „room for one’s own“, den sich eine jede auf ihre Weise schafft, jedoch nur eine Etappe auf dem Weg zu einer hier ganz weit gefassten Form von Emanzipation. Denn ganz auf sich selbst zurückgeworfen gerät man schnell in einen Teufelskreis aus zerstörerischen Grübeleien, ist man den erlebten Verletzungen, Traumata und auch den eigenen Fehlern schonungslos ausgesetzt. Alle drei sind Einzelkämpferinnen, denen das Risiko der eigenen Verwundbarkeit näher ist als ihre Nächsten und die in einem mehr als holprigen Miteinander erst allmählich begreifen, dass ein Gegenüber, dem man vertrauen kann, unverzichtbar ist. So besteht die große Herausforderung darin, erst wieder neu zu lernen, sich einem anderen zu öffnen und zu vertrauen. Die Autorin zeigt diesen für alle überaus schwierigen Prozess auf eine glaubhafte und ganz wunderbare Weise, die einen auch immer wieder schmunzeln lässt.

Doch wer sind die drei Frauen, die sich hinter den Namen Vera, Lynn und Emilienne bzw. Emily verbergen? Ohne zu viel von der Geschichte vorwegzunehmen, kann man Vera als eine schöne, aber innerlich zerrissene, von ihrem Gewissen zerriebene und um ihr fragiles frisches Liebesglück bangende junge Frau beschreiben, die seit kurzem mit dem sehr gläubigen, streng christlich lebenden Luke liiert ist — eine aus moderner, aufgeklärter Sicht etwas ungewöhnliche Beziehung, die Vera jedoch geradezu als himmlische Rettung aus einer Vergangenheit betrachtet, in der sie einen folgenschweren Fehler begangen hat. Ihr Charakter ist ein bisschen nach dem biblischen Vorbild einer Maria Magdalena angelegt, die nach einer ausschweifenden Jugend nun eine moralische Kehrtwende unternimmt und sich mit aufrichtigem, aber immer wieder auch von Rückschlägen geplagten Einsatz zum Glauben hinzuwenden versucht. Zu dieser Kehrtwende gehört auch das Bemühen um eine gute Beziehung zu ihrer künftigen Schwiegermutter Lynn, was sich als ziemlich aussichtsloses Unterfangen herausstellt.

Lynn, die reiche, gebildete und inzwischen schwer erkrankte Witwe und Mutter zweier erwachsener Söhne kämpft — wie im Grunde schon ihr Leben lang — um ihre Autonomie und wehrt sich vehement dagegen, irgendeine Schwäche einzugestehen, weder gegenüber ihren Mitmenschen noch gegenüber sich selbst. Deshalb will sie auch auf keinen Fall, dass sich irgendwer um sie kümmert, schon gar nicht ihre so blutjung und kraftvoll mit allen Möglichkeiten im Leben stehende Schwiegertochter. Mehr pro forma protestiert sie anfangs auch gegen die ruandische Krankenpflegerin Emily, die sie erst einmal nur als Putzhilfe akzeptiert. Nach und nach begreift man beim Lesen die tiefere Ursache für die harsche Ablehnung ihrer Mitmenschen und die unter der Oberfläche deutlich knirschenden Beziehungen in ihrer Familie, nämlich ihr Hadern mit dem eigenen Lebensentwurf, der nie mit ihrem als junge Frau angestrebten Idealbild in Einklang zu bringen war. Um mit dieser Enttäuschung umzugehen, schafft sie sich ihren eigenen Raum der Kunst und entwirft an einem Ort, zu dem sie niemand anderem Zugang gewährt, expressive Gemälde. Ein weiterer Raum eröffnet sich ihr mit Emily, die sich in Bezug auf ihre eigene Geschichte noch verschlossener zeigt als Lynn. Doch genau darin liegt wohl der Schlüssel zu ihrer sich ganz behutsam anbahnenden Beziehung; wie zwei scheue Wildtiere zähmen die beiden sich gewissermaßen gegenseitig, mit äußerster Vorsicht und im Notfall jederzeit die Krallen ausfahrend oder die Flucht ergreifend.

Emilienne schließlich, die sich in England Emily nennt, hat es als einzige ihrer Familie, ja ihres Dorfes geschafft, dem brutalen Völkermord an den Tutsi zu entkommen: lebend, aber alles andere als unversehrt, körperlich und vor allem seelisch tief verwundet, versucht sie, an einem anderen Ort, weit entfernt von ihrer Heimat, die ihr keine mehr ist, ein neues Leben aufzubauen. Doch natürlich holt sie die Vergangenheit immer wieder ein, gegen die tiefen Traumata können ihre Verdrängungsstrategien nichts ausrichten. Denn wie soll sie sich eine Zukunft gestalten und neue Beziehungen zu Menschen knüpfen, wenn kein Vertrauen mehr übriggeblieben ist? Trotzdem versucht Emilienne in einem bewundernswerten Kraftakt, auf eigenen Füßen zu stehen und von niemandem abhängig zu sein. Für ihr kleines Londoner Zimmerchen arbeitet sie sich klaglos als Putzkraft auf und erwirbt sich nebenbei noch eine Qualifikation zur Krankenpflegerin. Dieser Weg führt sie dann auch zu Lynn, deren anfängliche Schroffheit ihr, die schon alles Menschen(un)mögliche erlebt und ausgehalten hat, nichts mehr anhaben kann, ja ihrem eigenen emotionalen Schutzwall sogar entgegenkommt:

Statt einer Antwort gab Lynn ein ungeduldiges Schnauben von sich und wedelte herablassend mit der Hand. „Angenehm mild heute“, bemerkte sie dann und spähte flüchtig aus dem Fenster, als wäre das Wetter und nicht ihr Gesundheitszustand der Grund dafür, dass sie hier saßen und miteinander Tee tranken, ungeachtet der Kluft zwischen ihnen — eine Kluft der Generationen, der Ethnien und der persönlichen Geschichten, die sie einander noch nicht offenbart hatten.

Wayne, Der silberne Elefant, S. 164

Jede Szene ist mit Bedacht konstruiert und genau beobachtet; psychologisch spannend und lebendig wird erzählt, wie es zwischen den Figuren immer wieder zu leichten Misstönen kommt und wie sich daraus größere Missverständnisse entwickeln. Tragikomisch wirken auch die stolpernden Versuche, den anderen zu verstehen oder sich dem anderen verständlich zu machen, die durch Vor-Urteile oder regelrechte Abwehr des anderen verkompliziert werden. Und doch zeichnen sich mehr und mehr gewisse Gemeinsamkeiten ab, die über die scheinbar unüberwindlichen sozialen, kulturellen und generationellen Unterschiede hinaus eine zwischenmenschliche Verständigung möglich machen. So erwacht eine leise Neugier am Gegenüber, der andere wird als Mensch mit einer eigenen Geschichte beachtet und geachtet:

Emily erfasste schlagartig, dass sie hier eine Frau vor sich hatte, die in zwei getrennten Welten lebte: eine, die man mit den Augen sehen konnte, und eine, zu der nur ihre Gedanken Zutritt hatten, in etwa so, wie Emily es von sich selbst kannte.

Wayne, Der silberne Elefant, S. 159

Aus der hier anklingenden Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild, das im Grunde den ganzen Roman beherrscht, bezieht die Autorin das Konfliktpotential und die Dynamik ihrer Erzählkonstruktion. So lehnt etwa Lynn ihre künftige Schwiegertochter Vera gerade deshalb ab, weil sie in ihr die Verkörperung des Ideals sieht, an dem sie in ihrem Leben gescheitert ist, scheint Vera doch wie selbstverständlich weibliche Schönheit und Attraktivität mit Selbständigkeit, Berufstätigkeit und Freiheit vereinbaren zu können. Im zusätzlichen Bewusstwerden ihres mit der Krankheit zunehmenden Autonomieverlusts bricht eine alte und nie verheilte Wunde in ihr auf: Sie, die einst emanzipierte Studentin, die Historikerin werden wollte, hatte stattdessen die Rolle der liebenden Ehefrau und Mutter übernommen. Lynns Schmerz und ihre Wut, die sich eigentlich gegen sie selbst richtet, rührt darin, dass sie sich entgegen ihrem jugendlichen Optimismus irgendwann doch zwischen zwei unvereinbaren Welten entscheiden musste. In ihrem eifersüchtigen Zorn übersieht sie dabei — und das ist der erzählerische Kniff, den Wayne mehrfach anwendet –, dass auch Vera alles andere als glücklich und frei ist, dass sie sich vielleicht sogar weitaus ähnlicher sind, als Lynn sich das vorstellen kann.

Durch den wechselnden Fokus auf die verschiedenen Figuren, das subtile Nebeneinander von Innenschau und Dialogen, von inwendig Gefühltem und nach außen Getragenem, gelingt es der Autorin, sowohl die individuellen Gefühle und Perspektiven erlebbar zu machen, als auch eine ästhetische Distanz zu wahren, die den Leser über das identifikatorische Mitgefühl mit den Figuren hinaus Zusammenhänge begreifbar macht, problematische Denk- oder Verhaltensweisen entlarvt, tieferliegende Ursachen erkennen lässt und auf diese Weise genau vor den vorschnellen Urteilen bewahrt, denen die Protagonisten immer wieder in die Falle gehen.

Wichtig erscheint es mir noch, auf die erzähltechnische Funktion des Genozids in Ruanda hinzuweisen, der über die Geschichte Emiliennes, die in einzelnen schockierenden und aufwühlenden, sehr intensiven Rückblicken in die Romanhandlung eingebunden ist. Emiliennes Schicksal, die Grausamkeiten, die sie erlebt hat, ihre Traumata, sind objektiv keinesfalls vergleichbar mit der Lebensgeschichte der gutsituiert in England aufgewachsenen Lynn. Doch da die Autorin den Frauenschicksalen auf einer subjektiven Ebene nachspürt, fügen sich die drei gänzlich unterschiedlichen Biographien eben doch zueinander und erlauben den Blick auf eine gemeinsame Herausforderung, der sich drei Individuen auf ganz unterschiedliche Weise und mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen stellen: Sie teilen die Gewissheit ihrer Verwundbarkeit, ihre Angst und zugleich Sehnsucht, Vorsicht und Misstrauen in Vertrauen umzuwandeln und sich einem anderen zu öffnen. Der silberne Elefant ist kein Roman, der den Konflikt in Ruanda historisch-kritisch aufarbeitet. Er enthält aber doch ein empathisches Sich-Annähern auf literarischer Ebene, mit den Mitteln der Fiktion, die dem Ausmaß der Gewalterfahrung vielleicht nur ansatzweise einen realistisch überprüfbaren Ausdruck verleihen kann, es dafür aber in eine individuelle Geschichte transformiert, die ihrer Heldin eine Stimme gibt und sie zu so viel mehr macht als einem Opfer.

Sie wusste nicht, woher dieser plötzliche Eifer kam; möglicherweise aus dem Antrieb heraus, etwas zu konstruieren oder zu rekonstruieren: ein Leben, eine Geschichte. Ein winziger silberner Elefant erinnerte sie flüchtig an ihre eigene Geschichte, an einen Park, den sie besucht hatte. Sie ließ ihn kurzerhand in ihrer Hosentasche verschwinden.

Wayne, Der silberne Elefant, S. 162

Genau das steht auch im Zentrum des ganzen Romans: in mehreren Varianten ein Leben, eine Geschichte zu konstruieren oder rekonstruieren, die uns Leser auf intelligente und erkenntnisreiche Weise unterhält und zugleich immer wieder innehalten und uns über den eigenen Lebensentwurf nachdenken lässt: darüber, wo er im Verhältnis zu den vielfältigen anderen möglichen Lebensentwürfen steht, welcher Grad an Autonomie, welche Grenzen der Freiheit unser Leben bestimmen und auf welche Weise wir unsere beruflichen und familiären Vorstellungen und Wünsche verwirklichen oder miteinander auszubalancieren verstehen.

Bibliographische Angaben
Jemma Wayne: Der silberne Elefant, Eisele Verlag (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula C. Sturm
ISBN: 9783961611058

Bildquelle
Jemma Wayne, Der silberne Elefant
© 2021 Eisele Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

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