bookmark_borderRaphaela Edelbauer: DAVE

Mit DAVE bewegt sich die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer in einem gänzlich anderen Genre als mit ihrem so entlarvenden wie witzigen wie sinnlichen Vorgängerroman Das flüssige Land über die verdrängte braune Vergangenheit Österreichs (vgl. Rezension vom 7.5.2020) und auch als mit dem 2023 erschienenen Nachfolgeroman Die Inkommensurablen über das Freudsche Unterbewusstsein der kakanischen Bevölkerung kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Rezension folgt!). Die Geschichte von DAVE spielt in der sogenannten „nahen Zukunft“ und gehört damit einer unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpfenden Science-Fiction an, der Near-Future, mit der etwa auch Zoë Beck in Memoria (vgl. Rezension vom 18.12.2023) oder Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) experimentiert.

Und doch finden sich beim Lesen von DAVE Ähnlichkeiten zu Edelbauers auf den ersten Blick historisch verwurzelteren Stoffen, man könnte von einer metaphorischen Verwandtschaft all ihrer Texte sprechen. Denn alle entwerfen sie eine Welt, die zu bröckeln beginnt, die um die Figuren herum immer poröser wird, in der Gewissheiten erschüttert werden und in der das Ich sich zusammen mit dieser im Einsturz begriffenen Welt aufzulösen droht. Die künstliche Intelligenz DAVE ist so fluide wie die Erinnerung und das Unterbewusstsein in Edelbauers anderen Romanen, und auch sie entspringt einer Welt, in der Verunsicherung und Manipulation in einer mehr als riskanten Beziehung stehen.

In einer solchen Umgebung erstaunt es nicht, dass auch der Ich-Erzähler selbst, der sich Syz nennt, ein unzuverlässiger Erzähler ist. Syz ist Programmierer und trotz seiner seit Kindertagen manifesten mathematischen Begabung, von der man im Laufe der Erzählung erfährt, nur ein Rädchen im Getriebe eines riesigen von der Informationstechnik beherrschten Komplexes, in dem eine Unzahl an Menschen arbeiten und existieren. Es ist eine Welt, deren dystopische Fremdheit und Entfremdung einem nach und nach immer plastischer vor Augen tritt, und die aus nur einem, dafür aber monströsen Gebäude zu bestehen scheint, in dem die Menschen von einer angeblich durch eine Katastrophe unbewohnbar gewordenen Außenwelt abgeschottet ihr gesamtes Dasein verbringen. Der Komplex ist nach einer strengen Hierarchie in verschiedene Etagen gegliedert, unten befindet sich alles, was zur materiellen Produktion gehört, oben residieren die Rechner und diejenigen, die sie bedienen, die Techniker und Informatiker. Auf dieser Ebene befindet sich auch, als quasireligiöses Zentrum, das wie ein Hochsicherheitstrakt abgesperrte Labor, in dem die Computer mit DAVE stehen, dem Programm, das zur heilbringenden künstlichen Intelligenz transformiert werden soll.

Der unscheinbare Syz, dessen Begabung aus einem anfangs unklaren Grund bisher in keiner gehobenen Position in dieser computerbeherrschten Hierarchie gemündet ist, sieht sich auf einmal mit einer streng geheimen und verantwortungsvollen, ja höchst riskanten Mission betraut. Ohne dass diese Information die Mauern des heiligen Zentrums verlassen darf, soll von seinem persönlichen Gedächtnis ein Abbild gemacht und Schritt für Schritt, in immer größerer Perfektion und Datenfeinheit, DAVE eingespeist werden. Der Computer soll nach einer ganz individuellen Menschenpersönlichkeit geformt werden, damit auf diese Weise endlich der entscheidende Entwicklungsschritt gelingen kann, nämlich eine bewusste K.I. hervorzubringen, die sich von den Vorgängern, die alle mehr oder weniger schnell und genau rechnende, aber letztlich unpersönliche Datenspeicher waren, grundlegend unterscheidet. Syz, der nach und nach begreift, in was für ein gefährliches Projekt er da involviert ist, gerät in einen Strudel von Ereignissen, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und sein Gewissen, seine Identität, sein ganzes Leben in Zweifel stürzen. Er beginnt, heimlich Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, was mit seinem verschollenen Vorgänger passiert ist, der vor ihm für DAVEs Bewusstseinsspeisung zuständig war, und worum es sich bei DAVE wirklich handelt: um ein fortschrittliches Projekt, um eine gemeinnützige Forschung zur Rettung der Menschheit, um ein perfides Instrument zur Überwachung und Unterdrückung oder schlichtweg um heillosen Größenwahn.

Die hier nur in den gröbsten Zügen zusammengefasste Handlung liest sich wie ein Thriller, und mindestens ebenso spannend sind die vielfältigen wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurse, die Raphaela Edelbauer in ihren Text hineinstrickt: Geschichtliches zur K.I. und zum Thema Mensch und Maschine, das die Menschheit schon seit Jahrhunderten fasziniert und provoziert, Mathematisch-Philosphisches zum Paradox der Möglichkeit eines künstlichen Bewusstseins, detailreiche Hintergründe zu Mnemotechniken und Gedächtnistheorien, deren praktische Anwendung anschaulich in die Handlung eingebaut wird. Das ist literarisch bewundernswert zusammengefügt, einzig die sehr mit Fremdwörtern angereicherte Sprache und der inzwischen ja leider häufiger zu lesende transitive Gebrauch von „erinnern“ haben mein stilistisches Empfinden beim Lesen mitunter leicht irritiert. Was mir umso mehr gefallen hat, ist der auch in diesem Buch, das ja augenfällig stark dystopische Züge aufweist, unterschwellig nie versiegende Humor, der immer wieder für befreiende und entlarvende Momente sorgt. Die erste Begegnung zwischen Syz und der Frau, mit der sich im Roman eine Liebesgeschichte andeutet, gestaltet die Autorin in einem Dialog, der exemplarisch für ihren intelligent-humorvollen Stil ist:

„Hast du Sofware- oder Maschinendesign studiert? Wofür schule ich dich überhaupt ein?“ —
„Weder noch — ich gehöre zu den unteren zwanzig Prozent“, sagte sie grinsend und ließ sich auf einen Stuhl an einem freien Tisch fallen. „Ich bin Medizinerin.“ — „Du arbeitest mit Menschen?“

Raphaela Edelbauer, DAVE

Eine grundlegende Skepsis gegenüber einer durchdigitalisierten, von künstlichen Intelligenzen bevölkerten Gesellschaft scheint im Text immer wieder durch. Edelbauer denkt das, was gegenwärtig passiert, konsequent weiter und malt es in drastischen Farben aus, um zu erproben, ob die in DAVE angestrebte Optimierung selbst lernender Datensysteme in der Form erstrebenswert oder aber überhaupt möglich ist.

„Wenn DAVE jedes Detail der Welt kennt, jeden Blickwinkel gleichzeitig einnimmt, ist er gelähmt, weil keine Handlung, kein Satz mehr vor den anderen Vorrang besitzt“, sagte Garaus [ein Freund von Syz].

Raphaela Edelbauer, DAVE

Das Argument wird schon länger diskutiert, wenn es etwa um die Problematik ethischer Verantwortung bei autonom fahrenden Automobilen geht. Doch die Gefahren, die für die Gesellschaft entstehen können, wenn Computer die menschliche Intelligenz immer genauer nachbilden oder sogar übertreffen können, sind vielleicht weniger akut als der Umkehrschluss. Denn liegt nicht ein weit größeres und wahrscheinlicheres Risiko in dem Umfang, in dem die Gesellschaft computerförmig gemacht wird? Diese Entwicklung ist längst in Gang gesetzt, schleichend, unsichtbar hinter den scheinbar so rationalen Prozessen der digitalisierten, smarten Systeme verborgen. Wenn wir Menschen uns mehr oder weniger freiwillig in Algorithmen pressen lassen, unser Denken, unser Handeln an deren rein zahlenbasierte — und menschlicher Manipulation ausgelieferter — Logik anpassen, ist das im Grunde weitaus erschreckender und ethisch fragwürdiger als der eher unwahrscheinliche Coup einer zum Leben erweckten K.I. Auf science-fictionalem Wege weitergedacht mündet eine solche Algorithmengläubigkeit darin, dass wir, wie Syz in Edelbauers Roman, in den Alptraum einer Simulation geraten — und zwar mit vollem Bewusstsein. DAVE führt uns zugespitzt den Schrecken einer ewigen Gleichförmigkeit und Wiederholung in einer solchen nur aus Algorithmen bestehenden Welt vor Augen, die uns zu Gefangenen ohne jede Autonomie und Entscheidungsfreiheit macht, welche ja gerade die zentralen Werte unseres Menschseins sind.

Raphaela Edelbauer lässt ihre Leser jedoch zum Glück nicht ohne jede Hoffnung. Das ambitionierte Projekt DAVE ist keineswegs so perfekt durchdacht, wie es seine Erfinder glauben lassen. Und dann ist da immer noch die letztlich unkalkulierbare Variable des Menschlichen, die auch der optimiertesten Technik Hals über Kopf einen Strich durch die Rechnung machen kann:

„Das Beharren auf Schönheit ist eine der fünf Kardinalsünden, die die Vollendung DAVEs verhindern.“ Weitere waren außerdem: der Schlaf, die Trödelei, das Tippen mit weniger als acht Fingern sowie natürlich der Geschlechtstrieb.

Raphaela Edelbauer, DAVE

Bibliographische Angaben
Raphaela Edelbauer: DAVE, Klett-Cotta 2021
ISBN: 9783608964738

Bildquelle
Raphaela Edelbauer, DAVE
© 2024 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderZoë Beck: Memoria

Wieder greift Zoë Beck gesellschaftlich brisanten Stoff auf und formt daraus eine spannende Krimihandlung mit durchaus beklemmenden Zügen, so nah ist ihr Near-Future-Szenario wieder an unserer Realität. Während es im Vorgängerroman Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) um ein totalitäre Gestalt annehmendes Gesundheitssystem ging, versetzt sie uns diesmal bereits mit der Eingangsszene — ein verheerender Waldbrand — in eine von den nicht mehr fernen Folgen des Klimawandels in Aufruhr versetzte Welt. Doch Gänsehaut macht vor allem, dass diese Katastrophe in der Welt der Protagonistin Harriet schon fast zu einer neuen Normalität geworden ist. Wie beiläufig erfährt man, dass Temperaturen über 40 Grad nicht zum ersten Mal über die Katastrophenapp angekündigt werden, und auch die sozialen Verhältnisse in Deutschland, wo der Roman spielt, haben sich nun in aller Sichtbarkeit prekarisiert: Harriet wohnt, auch das gehört zur neuen Normalität, obwohl längst erwachsen und berufstätig, in einem kleinen Wohnheimzimmer mit rationierten Strom- und Warmwassertarifen und arbeitet als gelernte Klavierbauerin im Sicherheitsdienst eines Kaufhauses, dessen Waren sie sich selbst, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, nicht im Traum leisten kann.

Durch die eingangs geschilderte Brandkatastrophe gerät Harriet nun in einen Strudel von Ereignissen, die sie in ihre Vergangenheit zurückversetzen und irritierende Bruchstücke von teils widersprüchlichen, teils auch sehr gewaltsamen Erinnerungen wachrufen, die ihr gesamtes gegenwärtiges Leben umstürzen. Harriet beginnt, allem zu misstrauen, nicht zuletzt sich selbst und ihrem eigenen Gedächtnis. Doch mutig, wie Zoë Becks Protagonistinnen es sind, folgt sie auf eigene Faust den Spuren in ihre Vergangenheit und in die tieferen Schichten ihres beschädigten Gedächtnisses. Sie geht von Frankfurt nach München, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist und in der sie als junges Mädchen eine vielversprechende Karriere als Konzertpianistin begonnen hatte; und sie stellt im Umfeld ihres an Demenz erkrankten Vaters Nachforschungen zum Abbruch ihrer Pianistenkarriere und zum Unfalltod ihrer Mutter an.

Was einen außer der spannend konstruierten Geschichte in Atem hält, die man zusammen mit der Protagonistin Seite um Seite und Bruchstück für Bruchstück zu rekonstruieren versucht und die übrigens in der hörenswerten Audiofassung von Milena Karas mit Gespür für den richtigen Tonfall gelesen wird, ist das Geschick der Autorin, gleich mehrere gesellschaftsrelevante Stoffe auf glaubhafte und nachvollziehbare Weise zusammenzubringen. Klimakrise, K.I. und Gedächtnisforschung, Mobbing, Gewalt an Frauen und überhaupt eine beklemmende Auffächerung der verschiedenen Gesichter der Gewalt — auf dem Wege der Fiktion wird deutlich, wie all dies viel mehr miteinander zusammenhängt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Das ist erschreckend, spannend und nicht zuletzt höchst erkenntnisreich.

Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Memoria, Suhrkamp 2023
ISBN: 9783518472927

Hörbuch: Argon Verlag 2023
Gelesen von Milena Karas
ISBN: 9783839820339

Bildquelle
Zoë Beck, Memoria
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderJana Taysen: Wir Verlorenen

Jana Taysen hat einen spannenden Abenteuerroman geschrieben, der in den gegenwärtigen Zeiten der Pandemie für junge Leser eine geradezu bibliotherapeutische Wirkung entfalten könnte.

Versetzt in eine postpandemische Welt, in der „die Plage“, ein noch weitaus tödlicheres Virus als Covid-19, nicht nur die Bevölkerung radikal dezimiert, sondern auch alle gesellschaftlichen Institutionen und Infrastrukturen zum Einsturz gebracht hat, erleben wir zusammen mit der jungen Protagonistin Smilla die Schrecken und Strapazen, aber auch die ganz praktischen Herausforderungen einer Welt, in der man auf beinahe nichts mehr von dem, was uns heute selbstverständlich vorkommt, vertrauen kann.

Ohne Eltern und in liebe- und sorgenvoller Verantwortung für ihre kleine Schwester ist Smilla gewissermaßen über Nacht erwachsen geworden und hat sich, als sich die Gelegenheit bot, einem Familienclan angeschlossen, da es alleine für zwei Mädchen in der neuen Welt zu gefährlich geworden ist. Denn jeder Einzelne, der die Plage überlebt hat, kämpft nun einen nicht minder gefährlichen Kampf ums tägliche Überleben. Auseinandersetzungen um Essen, Kleidung, Medizin oder einen sicheren Schlafplatz sind an der Tagesordnung, marodierende Banden ziehen umher und es gibt sogar Gerüchte über Menschenhandel und Kannibalismus. So schließt man sich am besten einer Gruppe an, in der man gemeinsam füreinander sorgt, seine individuellen Fähigkeiten und seine Arbeitskraft einbringen kann und schließlich auch die Möglichkeit des zwischenmenschlichen Austauschs hat.

Trotz aller Nähe ist die Gruppe, mit der Smilla zusammenlebt, für sie doch ein Zweckbündnis, immer wieder merkt sie, dass sie eben doch nicht vorbehaltlos zur Familie gehört. Ohnehin ein sehr reflektiertes Mädchen, gerät Smilla daher in einen inneren und bald auch äußeren Konflikt, als sie durch Zufall Falk über den Weg läuft, dem sie einst in ihrem früheren Leben Nachhilfe gegeben hatte. Verwirrende Gefühle, eine neu erwachende und mehr als riskante Sehnsucht nach Freiheit, Ausgelassenheit und Liebe, Heimlichkeiten, Misstrauen, ein böser Verdacht… Immer tiefer verstrickt sich Smilla in einen Gewissens- und Loyalitätskonflikt und gerät bald auch selbst in große Gefahr.

Das vor allem dank seiner ambivalenten Figuren überzeugende und überaus fesselnd geschriebene Buch wirft auf anschauliche Weise Fragen auf, die gerade heute viele junge Menschen bewegen dürften: Welche Werte gelten in einer Welt, die sich in einem radikalen Wandel befindet? Wem kann man vertrauen? Wie verhalte ich mich zur Natur? Was ist wirklich von Bedeutung? In Smillas Welt gelten auf einmal ganz andere Maßstäbe, mit denen auch andere ethische Prinzipien einhergehen. Nachhaltigkeit, Solidarität und ein Leben im Einklang mit der Natur sind auf einmal keine Fragen eines ökologischen Lifestyles mehr, sondern handfeste Kriterien, um zu überleben. Und auch wenn sich vielerorts Egoismus und Stammesdenken durchgesetzt haben, ist die Suche nach einem moralischen Kompass doch essentiell, das bekommt nicht nur Smilla am eigenen Leib zu spüren. Ohne einen solchen bleibt man letztlich verloren, das gilt in Smillas Welt wie in unserer eigenen.

Die Autorin lässt diese komplexen Fragen vielschichtig aus der Handlung entstehen und bindet sie in glaubhafte, nur ganz selten ein klein wenig ins Thesenhafte geratende lebhafte Dialoge ein, die nachdenklich machen und die Leser animieren, Selbstverständlichkeiten in unserem Dasein zu hinterfragen. So ermöglicht dieser Text aus der Perspektive eines zugleich starken und sich doch immer wieder in Frage stellenden, auch sehr sensiblen Mädchens eine identifikatorische Lektüre, die noch dazu unheimlich spannend geschrieben ist. Am Ende ist man dann doch erleichtert, die faszinierende und beunruhigende Rolle Smillas, in die man sich hineinversetzt hat, wieder abzustreifen und kritisch, aber auch mit einer gewissen Dankbarkeit auf die Welt unserer Gegenwart zu schauen.

Bibliographische Angaben
Jana Taysen: Wir Verlorenen, Kirschbuch Verlag (2020)
ISBN: 978-3948736064

Bildquelle
Jana Taysen, Wir Verlorenen
© 2020 Kirschbuch Verlag in der QualiFiction GmbH, Hamburg

bookmark_borderCécile Wajsbrot: Zerstörung

Zwei gegensätzliche Gefühle durchfahren einen bei der Lektüre dieses unheimlich eindringlichen bzw. unheimlichen und eindringlichen neuen Romans der Französin Cécile Wajsbrot: der mehr als beunruhigende Schauder, dass diese Dystopie einer jede Erinnerung auslöschenden, Reflexion und Komplexität durch Unterhaltung und banale Eindeutigkeit ersetzenden Diktatur im Paris des 21. Jahrhunderts sich als Folge von Entwicklungen darstellt, die wir Leser selbst in unserer unmittelbaren Gegenwart wahrnehmen können, sowie das ehrfürchtige und hingerissene Staunen angesichts der Poesie und metaphernreichen Vielstimmigkeit der Sprache, die all die Zwischentöne kunstvoll heraufbeschwört, die in der fiktionalen Realität des Romans in Auflösung begriffen, der titelgebenden Zerstörung anheimgefallen sind.

Form und Inhalt greifen in diesem poetischen Meisterwerk ineinander. Das Thema des Romans spiegelt sich in der Erzählsituation, die bis zuletzt von Ambivalenz (bzw. Polyvalenz) durchdrungen ist. Mysterium und Zweifel sind dem allmählichen Verstehensprozess eingeschrieben, Hoffnung und Misstrauen wechseln einander ab. Die Erzählerin, oder besser Sprecherin, ist eine namenlose Frau, Schriftstellerin und Literaturliebhaberin, die allein in einer Pariser Wohnung lebt. Eine mysteriöse Organisation, die ihre Ziele geheimhält, hat sie telefonisch kontaktiert. Sie lässt sich rekrutieren, getrieben vom „aufrichtigen Wunsch, zu widerstehen, de[m] Wunsch, etwas zu teilen…“ (Zerstörung, S. 35) Denn Paris, ja ganz Frankreich, wurde von einer diktatorischen Macht usurpiert, die schleichend die Herrschaft ergriffen hat und nun das öffentliche und private Leben der Menschen immer weiter kontrolliert, überwacht, einschränkt, bereinigt. Persönliche Bilder werden beschlagnahmt, Bücher eingezogen, Namen getilgt, die Erinnerung an alles, was älter als zehn Jahre ist, ausgelöscht, das Stadtbild verändert, Häuser abgerissen, Museen, Theater und Bibliotheken gesperrt. Durch diese Bilder fühlt man sich unweigerlich an die Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts erinnert; droht sich hier die überwunden geglaubte Geschichte alptraumhaft zu wiederholen?

Die massive Zerstörung der traditionsreichen Stadt, ihre Verwandlung in eine einzige Baustelle, die ihren Bewohnern den Boden unter den Füßen entzieht, ist eine eindringliche Metapher, die das Bild des porösen, brüchigen, immer mehr Leerstellen und Abwesenheiten schaffenden Untergrunds mit dem fortschreitenden Verlust des kollektiven und individuellen Gedächtnisses zusammenbringt. Die andere Metapher, die das Buch leitmotivisch durchzieht, ist die der Sonnenfinsternis, die auch mit dem Raum der Nacht verschmilzt, aus dem heraus die Erzählerin spricht:

Ich bin in der Nacht — nicht nur in der mich umgebenden, die Sie gerne als einzigen Rahmen meiner Nachrichten sehen möchten (…), sondern auch in jener inneren, die meine sämtlichen Gedanken einhüllt.

Zerstörung, S. 31

Denn akustischen Kontakt zu ihren Auftraggebern hat sie nur des Nachts; der Kern ihres Daseins hat sich in die Dunkelheit verlagert, wenn sie über das Medium eines „Soundblogs“ eine Art Stimmen-Collage quasi ins Nichts hinein entstehen lässt. Dabei vermischt sich ihre eigene Stimme — suchend, fragend, zweifelnd, sich widerspenstig erinnernd — mit den Stimmen anderer namenloser Menschen, deren Gespräche sie aufgenommen und in ihren Text integriert hat. Dieses Sprachmaterial soll roh und unbearbeitet, nicht schriftlich fixiert und literarisiert sein, und bringt doch eine sehr literarische, ästhetisch-philosophische Textform hervor, die uns extrafiktionaler Leserschaft im zum Glück noch nicht verbotenen Medium Buch vorliegt. Allerdings ist man als Leser sehr versucht — und sollte sich unbedingt versuchen lassen –, sich den Text laut auf der Zunge zergehen zu lassen, erinnert die Form doch immer wieder an ein langes Prosagedicht.

Die Erzählerin erlaubt sich immer wieder kleine Akte des Widerstands gegenüber ihren Auftraggebern; so reist sie etwa unangekündigt nach Berlin, in dem noch kein diktatorischer Umsturz stattgefunden hat, vielleicht, weil hier die Erinnerung an die überwundenen Diktaturen der Nationalsozialisten und der DDR noch nicht ausgelöscht wurde? Dennoch kehrt sie in die Unfreiheit ihres eigenen Landes zurück, in banger Erwartung, am Widerstand teilnehmen zu können; und tatsächlich scheint die Widerstandsbewegung allmählich aus der Sonnenfinsternis herauszutreten, als stumme Menge, die ihr einvernehmliches Schweigen als womöglich einzig wirksame Waffe gegen die lärmende Diktatur einsetzt. Doch ist dieser von der ominösen Organisation diktierte Widerstand wirklich ein Widerstand, oder nur ein riesengroßer Fake, mit dem im Gegenteil jeder weitere Widerstand gebrochen wird?

Die große Faszination des Textes, seine poetische Kraft, beruht in der verdichteten Sprache, die niemals eindimensional ist, die Kehrseite eines Wortes immer mitassoziiert und viele weitere Schattierungen mitdenken lässt. Wenn etwa von den körperlosen Stimmen die Rede ist, die in der neuen Welt der Erzählerin bedeutsam sind, wird das mythologische Bild des in die Unterwelt hinabsteigenden Aeneas heraufbeschworen, und mit ihm der Tod, aber auch die Kraft des Gehörten, das frei von der sensationsheischenden Ebene des Visuellen ist; doch ebenso klingt in der Körperlosigkeit immer wieder auch die Entpersönlichung und Entmenschlichung, die Technisierung der Welt an. Ebenso zwiespältig ist die Anweisung der körperlosen Auftraggeber, die sich einen spontanen, ganz auf die Gegenwart gerichteten, vom Ballast der Tradition und der Künstlichkeit des Schriftlichen freien Text von ihr wünschen. Geht es ihnen um Befreiung oder nicht doch um Bereinigung? Entsteht so die Aufrichtigkeit des nackten, ungeschliffenen Gedankens oder eine ephemere, dem sofortigen Vergessen ausgelieferte Mündlichkeit, ein gedächtnisloser Abgrund, in dem wir uns verlieren?

Unbestreitbar ist, dass sich die Erzählerin trotz oder gerade durch den beengten Rahmen, der sie ganz auf sich selbst zurückwirft — „hier, in dieser Nacht, in der ich mit dem Widerhall meiner eigenen, wieder anders klingenden Stimme konfrontiert bin“ (Zerstörung, S. 98) –, auf das Wesentliche konzentriert und einen neuen und unverstellten Blick auf die Dinge freilegen kann. Und dabei spielt die allseits bedrohte und verpönte Erinnerung eine zentrale Rolle:

Die Menschen, die ich befrage (…) sind genauso verloren wie ich. Und in ihrem Verlorensein greifen sie oft auf die Vergangenheit zurück, auf ihre Erinnerungen. (…) um sich zu vergewissern, dass sie wirklich existieren.

Zerstörung, S. 54 f.

Die Stimmen, die sie aufnimmt und in ihre eigenen Gedanken einbaut, sind Stimmungs- und Diskursbilder des frühen 21. Jahrhunderts, und legen somit Zeugnis ab von einer Zeit, die unsere Gegenwart ist:

— Schließen.
— Davon war die Rede.
— Das Wort war allgegenwärtig.
— Die Grenzen.
— Die Türen.
— Sicherheit.
— Vorgeschobene Riegel.
— Schließen.
— Die Sache war allgegenwärtig.
— Aber man nannte sie In-den-Griff-Bekommen, Misstrauen.
— Und man sprach nicht von Intoleranz.
— Man sprach von Achtung.
— Achtung der Gesetze, des Rechts, des Territoriums.
— Nie der Person.

Zerstörung, S. 75

Stets ist diesen Stimm-Collagen eine hinterfragende, kritische Stimme eingeschrieben. Sie zeigen die Suggestions- und Manipulationskraft bestimmter Worte; verkümmerte, sinnentleerte, gewaltsame Parolen werden durch die stilistischen Operationen der Autorin als solche entlarvt und in ein vielschichtiges Klanggebilde eingebettet, das die hinter den vereinfachten Worthülsen und Slogans sich verbergenden Problematiken durchscheinen lässt. Jedoch ist dieses Unterfangen ein Wettlauf gegen die Zeit; die Distanz zwischen der Vergangenheit, welche die Stimmen evozieren, an die sie sich noch erinnern können, und der sich unaufhaltsam verabsolutierenden Gegenwart, die gedächtnislos in eine gewichts- und gesichtslose Zukunft steuert, nimmt immer mehr ab.

Die Erzählerin erkennt in diesen Diskursen, die unserer eigenen Gegenwart so unheimlich ähneln, im Nachhinein Symptome oder Zeichen, die die Zerstörung vorbereitet haben. Es geht um das Ausspielen der Sicherheit gegen die Freiheit, um Polarisierung, Gewalt, um Oberflächlichkeit und den Wunsch nach Vereindeutigung, um Rankings und Akkumulation statt Ästhetik, Reflexion und Komplexität, um steigendes Misstrauen, sinkende Solidarität, Beziehungslosigkeit und Virtualität:


— Man glaubte, mit der ganzen Welt in Kontakt zu sein. (…)
— Während man sich doch immer mehr hinter seinen Bildschirmen isolierte.
Abschirmte.

Zerstörung, S. 156

Im Unterschied zu den Stimm-Kompositionen der Erzählerin ist das Stimmengewirr der virtuellen Netzwerke ein akkumuliertes Chaos, das zwar allerhand Warnungen hervorstieß, die man in dem dabei entstehenden Lärm jedoch nicht mehr wahrnahm. Es gab keine reflexive Distanz mehr, „so dass schließlich der Kommentar unmittelbar auf das Geschehen folgte, quasi gleichzeitig eintrat“. (Zerstörung, S. 188) All das schuf eine Atmosphäre der Zerstörung, die schließlich in der dystopischen Situation mündete, die in der Gegenwart des Romans längst eingetreten ist.

Auch wenn es ihr zunehmend schwerer fällt, schreibt bzw. spricht die Erzählerin gegen das Vergessen an und setzt auf diese Weise einen Verstehensprozess über die Frage in Gang, wie sich die Diktatur etablieren konnte und nach welchen Prinzipien sie funktioniert. Selbstkritisch hinterfragt sie auch ihr eigenes Verhalten und erkennt, dass sie zu leichtfertig war, auch in ihrem früheren Schreiben. Ihr Stil ist jetzt ein anderer, beim Sprechen, aber auch bei ihren neuen Schreibversuchen. Immer wieder schleicht sich auch ein Gefühl der Ohnmacht ein, steht die Frage im Raum, wann die Kräfte des Widerstands aufgebraucht sind, wie lange eine Extremsituation der Bedrohung und Ungewissheit den Einzelnen über sich selbst hinauswachsen lässt und wann sie ihn zerbricht. Mögliche Antworten findet man in dem im Roman omnipräsenten Kontext der Literatur(geschichte), aus der sich erhellende oder ermutigende Vergleiche schöpfen lassen. Solange man sich an die düsteren Zeiten, die bestimmte Literatur verboten, zensierten oder verbrannten, noch erinnert, kann man sich auch Beispiele von Schriftstellern ins Gedächtnis rufen, die trotz dieser Schikanen weiter geschrieben haben, von verfemten Werken, die sich einen festen Platz im Geist ihrer künftigen Leserschaft erobert haben. Zudem ist die Fiktion der Ort, an dem man über die Wirklichkeit hinausgehen kann:

— (…) Warum sollte man sich für Geschichten interessieren, die es nicht gibt, für Ereignisse, die nie passiert sind?
— Weil sie manchmal mehr Existenz haben als die, die passiert sind.

Zerstörung, S. 41

Die Literatur, so lautet vielleicht die zentrale Botschaft des Romans, ist wie die Erinnerung unabkömmlich für den Fortbestand einer Gesellschaft. Gedächtnis, Tod und Imagination sind dabei eng miteinander verwoben:

Auf Friedhöfen ist das Denken freier. (…) wo das Erinnern erlaubt ist, geht der Geist auf Reisen.

Zerstörung, S. 125

Hier ist Cécile Wajsbrot — Tochter polnischer Juden, die während des Nationalsozialismus nach Frankreich geflohen waren, der Vater kam in Auschwitz um — auch geprägt von ihrer eigenen Geschichte. Erinnerungsarbeit und der Umgang mit den Traumata der Geschichte sind Themen, die sie bereits in ihren Vorgängerromanen behandelt hat. In vielem erinnert auch das lyrisch-romaneske Ich ihres neuen Romans an die Autorin, die Komparatistik in Paris studierte, u.a. als Rundfunkredakteurin arbeitete und sich heute als Übersetzerin, Romanautorin und Essayistin dem Lesen und Schreiben widmet.

— Die Ereignisse wiederholen sich nicht.
— Oder vielmehr, ihre Form verändert sich, sodass sie nicht wiederzuerkennen sind.
— Oder vielmehr, man erkennt sie wieder — wenn es zu spät ist.

Zerstörung, S. 3

Der Roman mit seinem offenen, aber beunruhigenden Ende wirft viele Fragen auf, auch die nach der Verantwortung:

Wir dachten, die Dinge stünden schlecht, taten aber, als stünden sie gut, und waren anschließend erstaunt, dass sich nichts änderte.

Zerstörung, S. 85

Unsere Demokratie und unsere Freiheit haben keine Ewigkeitsgarantie, und ihre Unterhöhlung ist ein schleichender Prozess. Umso wichtiger ist es, auf die kleinen Diskrepanzen und Misstöne zu achten, um nicht irgendwann überrumpelt zu werden. Gerade das Feld der Sprache sollte man nicht unterschätzen. Worte können eine performative Kraft entwickeln, im Guten wie im Schlechten, und in der Ausdrucksweise spiegelt sich auch das gesellschaftliche Bewusstsein einer Gesellschaft:

— Endlich äußern wir uns.
— Ohne Filter.
— Also ohne nachzudenken.
— Lassen freien Lauf.
— Dem Hass.
— Dem Groll.
— Dem Offenkundigen.
— Das tut gut.
— Es ist befreiend.
— Wir meiden komplizierte Wörter. (…)

Zerstörung, S. 147

Einer solchen Verarmung und Verrohung der Sprache, die wir als „hate speech“, in Form der enthemmten Beleidigungen und vorschnellen Urteilsbildungen der sozialen Medien längst kennen, setzt die Autorin ebenso wie ihre Erzählerin die reflektierte, vielstimmige Poesie ihrer eigenen Sprache entgegen — eine résistance poétique:

So sprachen sie nicht, sie drückten sich einfacher aus, aber ich will ihre Worte hier nicht wiedergeben, ich lehne es ab, mich von ihrer Sprache anstecken zu lassen. (…) Hinter den besänftigenden Worten kam der Hass zutage, hinter den einvernehmlich gewordenen Ideen tauchte ihr ursprüngliches Ansinnen auf — die Zerstörung. (…) Ich habe angefangen zu schreiben (…), und ich lasse mich mit Genuss in die Windungen der Sprache gleiten, die von den Schriften der Vergangenheit genährt sind.

Zerstörung, S. 66-69

Cécile Wajsbrot: Zerstörung, Wallstein (2020)
Aus dem Französischen von Anne Weber
ISBN: 9783835336100

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